Die Geheimnisse von Pfullendorf
Es war ein kühler Septembertag, windig und regnerisch. Um fünf Uhr nachmittags sagte sich Augustin, Pfullendorf werde hoffentlich bald am Horizont auftauchen. Er war durchnässt und durchfroren. Er befühlte seine Halswirbel: Die Wirbelsäule schmerzte unter der Last des Rucksacks. Eine öde Hochebene war das! Und anödend diese Straße neben dem Zaun, an dem er seit zwanzig Minuten entlangging. Pfullendorf schien eine ziemlich große Garnison zu sein. Ein paar junge Soldaten vertrieben sich die Zeit damit, einen Lastwagen auf Touren zu bringen und durchs Depot zu jagen. Dann stellten sie ihn in der Garage ab. Mit viel Krach schloss sich das Tor. Die jungen Männer verschwanden in einer Kaserne. Jetzt lag das weite Gelände wieder ganz still da, wie tot.
Die Stadt lag dann unten in einem Loch, ein schwäbisches Nest mit viel altem Fachwerk. Die alten, tiefen Klötze standen mit dem Giebel zur Straße und ließen seitlich einen kleinen Raum zwischen den Häusern frei, einen finsteren Spalt, in den die Sonne nicht hineinschien und in dem die ewige, kalte Feuchtigkeit nie austrocknete. Die Fassaden unter den steilen Dächern und hohen Giebeln wirkten stumpf. Vorsicht, Dachlawinen! erschreckten einen auch im Sommer gewisse fürsorgliche Blechtafeln. In jedem zweiten oder dritten Haus war eine Kneipe oder ein Gasthof. Die Stadt lebte zur Hauptsache von der Garnison, aber die Soldaten zeigten wenig Lust, die Kneipen und die Stadt am Leben zu halten: es war überall ziemlich leer.
Augustin überquerte die stillgelegte Eisenbahnstrecke und ging auf gut Glück in einen Gasthof hinein. Im Schankraum war es leer – bis auf den mageren jungen Hering hinter dem Tresen: Das war der Wirt. Nein, er vermiete keine Zimmer, aber im ersten Stock sei eine Pension, da solle er fragen. Die Treppe führte gleich vom Gastraum hinauf. Oben öffnete eine tiefsinnig lächelnde Fünfzigerin die Etagentür und zeigte ihm lächelnd ein Zimmer am Ende des langen, dunklen Flures. Dabei sagte sie ihm, sie und ihr Mann seien eigentlich die Wirtsleute hier im Hause, aber sie hätten sich teilweise zur Ruhe gesetzt und den Gastbetrieb unten verpachtet. Er nahm das Zimmer sofort, schon um nicht länger angelächelt zu werden. Das Zimmer entsprach seinen Erwartungen: Es war ebenso dunkel wie der Flur, mit vierzig Jahre alten Möbeln vollgestellt und durch den ganz nahen Dachrücken des Nachbarhauses zusätzlich verdüstert. Wie die Biberschwänze dort draußen vor Feuchtigkeit glänzten … Augustin wurde es klamm zumute, er zog die Vorhänge zu und knipste die spärliche Deckenbirne an. Eine freistehende Duschkabine rundete das Bild provinzieller Behaglichkeit ab. Er beschloss, sofort heiß zu duschen und auf diese Weise der inneren Verkühlung zu begegnen. Dann legte er sich eine halbe Stunde ins Bett. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis er seine Kuhle am Rande des großen Doppelbetts erwärmt hatte. (Überhaupt war es kühl im Zimmer und roch muffig.) Die folgende Viertelstunde genoss er wirklich.
Um sieben ging er zum Essen hinunter. Er war nicht hungrig. Er aß bloß vorsorglich und weil er es auf Reisen immer um diese Zeit tat. Der Appetit würde sonst vielleicht in der Nacht kommen und ihn nicht weiterschlafen lassen. Der Wirt saß jetzt mit Gästen an einem Tisch zusammen, einem freudlosen Paar in den Vierzigern, dürftig gekleidete Leute, hager und faltig. Sie hatten sich zu ihrer Zerstreuung auf ein Würfelspiel mit dem Wirt eingelassen. Offenbar waren sie dabei zu verlieren. Dem jungen Wirt stand die Spielfreude ins Gesicht geschrieben. Kurz und heftig schüttelte er den Becher, energisch ließ er die Würfel über die Tischplatte rollen. Sein Geschäft belebte sich, es ging vorwärts mit dem Umsatz, er hatte alles unter Kontrolle. Mann und Frau wechselten sich beim Würfeln ab, sie spielten gemeinsam gegen den Wirt, lustlos, wie es schien. Sie rauchten ununterbrochen. Das Nikotin half ihnen, dem drohenden Spielverlust ins Auge zu sehen, so wie das Spiel das triste Lokal erträglicher machte. Und hierher gekommen waren sie vermutlich nur, um den Verdruss auf den Ämtern zu vergessen, spekulierte Augustin weiter. Ihn zu bedienen, unterbrach der Wirt das Spiel, und als er das Bier gezapft hatte und für den Wurstsalat in die Küche gegangen war, schlug die Frau dem Mann vor, aufzuhören und ins Dorf heimzufahren. Für die Taxe werde das Wechselgeld hoffentlich noch reichen. Während er aß, erfolgte die Abrechnung. So und so viele Biere und Schnäpse, eine Schachtel Zigaretten, die verlorenen Spielrunden abzüglich der gewonnenen … Der Wirt nahm den Schein, um ihn zu wechseln. Freude wallte sichtlich in ihm auf. Um sie zu verbergen, gab er sich diensteifrig, schmeichlerisch. Aber es war nur wie die Haut auf überkochender Milch. Die Frau lachte, als das Wechselgeld auf dem Tisch lag. Der Mann räusperte sich trocken, wie es starke Raucher tun. Dem Wirt war es sogar ein Vergnügen, die Taxe herbeizutelefonieren. Der Fahrer rief zur Tür herein, der Wagen sei da. Sie gingen hinaus, der Mann humpelte. Der Wurstsalat war nicht schlecht gewesen, aber in dieser Umgebung hatte er Augustin nicht geschmeckt. Er spülte den Rest Bier hinunter und ließ den Wirt wieder allein in der Gaststube.
Sein Zimmer war durch eine vergilbte, früher weiß lackierte Doppeltür mit dem folgenden verbunden. Er nahm ohne weiteres an, dass die Tür verschlossen sei. Wie mochte es dahinter aussehen? Er bückte sich, um durchs Schlüsselloch zu schauen. Aber es war bereits zu dunkel, um mehr als nur einige graue, unscharfe Konturen gleich hinter der Tür wahrzunehmen. Er fror schon wieder und beschloss, obwohl es noch nicht acht Uhr war, zu Bett zu gehen. Der Roman lag auf dem Nachttisch bereit. Wie an jedem Abend auf seinen Reisen verirrte er sich in den unendlichen Perioden, berauschte sich an der Fülle raffinierter Gleichnisse, die wie ein feines Netz über die unfassbare Wirklichkeit ausgesponnen waren, und ließ den Band nach zwei Seiten auf die Bettdecke sinken, ermüdet und zugleich euphorisiert wie nach dem Genuss eines schweren Südweines. Er behielt ihn noch in der Hand, sein Blick verlor sich, wie vorher sein Geist in den überlangen Schachtelsätzen, in der Gestaltung des Einbandes, einer gleichsam das ganze Buch umhüllenden dichten Hecke aus stilisiertem rot blühendem Weißdorn, vegetabilisch wuchernd wie das wirkliche Leben, das faszinierende und monotone Leben draußen. In zwei, drei Minuten würde er den Band weglegen und einschlafen.
Wirkliche Stimmen drangen vom Flur herein, zwei männliche fragende und eine weibliche, die er schon kannte. Die Pensionswirtin führte zwei neue Gäste aufs Zimmer. Er hörte, wie der anstoßende Raum aufgeschlossen wurde, Schritte in ihm auf und ab gingen. Die Inhaberin entfernte sich über den Flur. Drüben wurde noch nicht gesprochen. Wieder nur deutlich hörbare Schritte – und dann sah Augustin, wie die Klinke der Verbindungstür versuchsweise von der anderen Seite betätigt wurde. Die Tür ließ sich nicht öffnen, die Klinke schnappte zurück. Nach einigen nur gemurmelten Sätzen hörte er deutlich eine tiefe, vermutlich noch junge Stimme sagen, heute Morgen habe er den Kaffee nicht vertragen, sein Magen reagiere jetzt wieder sehr empfindlich. – „Oh, wenn ich gewusst hätte, dass du magenkrank bist, hätte ich dir Kaffee aus Holland mitgebracht.“ Der Sprecher schien von der Güte seines Kaffees überzeugt. Er sprach nachdrücklich, mit dem harten und optimistischen Tonfall der Niederländer. Er war, dem Klang der Stimme nach zu urteilen, nicht mehr ganz so jung wie sein Reisebegleiter, und seine Stimmlage war etwas höher.
Sie gingen dann bald fort. Jetzt werden sie essen gegangen sein, dachte Augustin. Das kann dauern, wenn sie zurückkommen, schlafe ich sicher schon. Und was geht es mich an, ob der eine magenkrank ist und der andere einen guten Kaffee kennt. Er legte das Buch auf den Nachttisch zurück und löschte das Licht.
Er war schläfrig und wusste, dass er in wenigen Minuten in tiefem Schlaf liegen würde. Wie gewöhnlich genoss er den Akt des Einschlafens und versuchte, ihn zu verlängern, dieses angenehme Entgleiten aus der Wirklichkeit des Tages. Wie eine Schlittenfahrt, dachte er, die man als Kind gemacht hat. Wenn man beinahe unten angekommen ist, bedauert man es und bremst ein wenig. Ich war noch so klein, Tante Cilly ist mit mir den Hügel zum Fluss hinuntergerodelt. Wie lange ist sie schon tot? Ungefähr dreißig Jahre … Im Roman hatte er vorhin gelesen, die Toten existierten allein noch in den Köpfen der Überlebenden – und dort leben sie dann hartnäckig viele Jahre weiter, bei besserer Gesundheit als vor ihrem Tod. Eigentlich komisch … Er wurde sich bewusst, wieder in seinem alten Bett zu liegen, dem Eichenbett, das sie in dem Jahr gekauft hatten, als er auf die Oberschule wechselte. Es stand jetzt bei den Eltern im Dachgeschoss, genau unter dem schrägen Fenster. Er sah die Sterne vom Bett aus und mitten unter ihnen Tante Cillys Kopf, wie der Vollmond in einer Mainacht. Das Gesicht der Tante sah ganz wie zu Lebzeiten aus, dennoch fürchtete er sich. Der Totenkopf – denn es war doch wohl einer – sagte: Ich war die erste, die dir weggestorben ist, die erste in einer langen Reihe. Sie haben dich nicht zur Beerdigung mitgenommen, weil du angeblich noch zu klein dafür warst. Schau, wie viele wir geworden sind, wir werden immer mehr. Damit geht es wie damals beim Schlittenfahren, es fängt langsam an, und dann geht es schneller und immer schneller … Die Sterne verwandelten sich jetzt in die Köpfe Verstorbener, lauter Menschen, die er einmal gekannt hatte. Ganz unten sein Volksschullehrer, der alte Nazi, sein Gesicht zuckte wie früher. Weiter oben die Kollegin, die sich vor zwei Jahren umgebracht hatte: mild, stumm, leidend. Dazwischen alte Leute aus der Nachbarschaft, dann ein Junge, der ihn ausgelacht hatte, weil er das Wort Peugeot nicht richtig aussprechen konnte. Er war dann in Spanien beim Baden ertrunken … Träumend empfand er wachsende Beklemmung. Die Toten schienen sich am Himmel nur aus einem Grund versammelt zu haben: um dort auf ihn zu warten. Und lebte er nur deshalb noch, um sich ihnen eines Tages anzuschließen? Die Toten waren seine Feinde. Er spürte den Sog, der von ihnen ausging. Der alte Lehrer sagte: Zähle uns, zähle deine Toten. Wie viele sind wir, sind wir in der Überzahl oder sind es deine noch lebenden Bekannten, die Freunde, die Feinde und auch die, die dir gleichgültig sind? Ich stelle dir jetzt diese Aufgabe, zähle gut … Dem Träumenden wurde bewusst, dass dieses Zahlenverhältnis sich mit jedem weiteren Jahr zuungunsten der Lebenden verschieben musste. Er begann zu zählen, Zahlen in seinem träumenden Bewusstsein zu formulieren: Sechsundzwanzig, dreizehn, siebenundzwanzig, zweiunddreißig, elf, siebenunddreißig … Und siebenunddreißig Jahre war er ja selbst, eine Tatsache, die panische Angst in ihm auslöste.
„ … Fünfundvierzig. Fünfzig.“
„Danke. Stimmt genau.“
Augustin war wach. Stimmen im Nachbarzimmer hatten ihn aus seinem Traum geholt. Es war eben zwölf Uhr vorbei. Langsam erholte er sich von dem Schrecken, der sich wie ein unterirdischer See in ihm ausgebreitet hatte. Sie sprachen jetzt drüben nicht mehr.
Aber es war nicht wirklich still. War einer von ihnen gestolpert? Vielleicht mit dem Fuß gegen ein Möbelstück gestoßen? Warum keuchte man so? Jetzt lachten beide drüben, ohne dass vorher ein Wort gefallen war. Sollte er etwa Ohrenzeuge einer Paarung sein? Kaum glaublich, die Abgesandten Sodoms waren schon bis Pfullendorf vorgedrungen. Wenn das Mayer-Vorfelder wüsste …
Er kannte die Geräusche. Der dazu gehörende Film war oft genug vor ihm abgespult worden. Bei Bildausfall konnte er sich das Fehlende anhand der Geräusche in seiner Vorstellung ergänzen. Jedoch nahm sein Vergnügen, entstanden aus der überraschenden Situation, unterhalten von seiner Neugier am Besonderen, immer mehr ab, je länger der Akt dauerte. Ihm schien allmählich, sie lachten drüben auch über ihn. Tucholskys Verse von den Hotelgästen in ihren monogamen Betten kamen ihm in den Sinn. Er versuchte, mit Hilfe der Literatur Abstand zu gewinnen, seine unbeteiligte Überlegenheit zurückzugewinnen. Erotische Zitate schossen ihm durchs Hirn. Von wem war noch, ganz schön keck, „des Hinterfleisches kühle Doppelblust“? Ja, doch, von Thomas Mann, tatsächlich.
Ich kann doch nicht einfach zu ihnen hinübergehen … Außerdem haben sie sicher alles verriegelt. Er knipste das Licht an, verließ das Bett und durchquerte leise das kalte, muffige Zimmer. Zum zweiten Mal hier versuchte er, durchs Schlüsselloch zu spähen. Niemand sieht ja, wie ich mich bücke und damit erniedrige … Natürlich hatten sie das Schlüsselloch verhängt: Das Weiße vor ihm wird ein Handtuch sein.
Er schlüpfte wieder unter die eigene warme Decke und tröstete sich damit, dass der Akt an sich nicht in jedem Fall ästhetisch wirke. Es war schon viele Jahre her, da hatte er an einem Sonntagnachmittag auf einer Lichtung zwei Männer beobachtet und zum ersten Mal gesehen, wie ein Mann in einen anderen eindrang. Er hatte es komisch gefunden und nicht das Bedürfnis verspürt, anstelle eines von beiden zu sein. Aber half ihm diese Erinnerung jetzt, wieder einzuschlafen? Nein, um seinen Frieden zu finden, bedurfte er harmonischer Bilder. Pfullendorf hatte sie ihm bisher weiß Gott nicht geboten …
Vorige Woche in Ochsenhausen war selbst das Wetter besser gewesen. Unter einem rein blauen Himmel schlenderte er durch die Höfe des barocken Klosters. Kein Mensch begegnete ihm auf den weißen Kieswegen. Die Mönche waren lange fort, und aus der Mädchenschule drang kein Laut. Dann war er in der Kirche. Er saß im Mittelschiff und konnte sich nicht satt sehen an den vielen barock ummantelten und umspielten romanischen Pfeilern. Es war wie ein ganzer Wald blühender Obstbäume, ein lautlose Fröhlichkeit. Nachher saß er in den Wiesen unterhalb vom Kloster, heiter, seinen Roman in der Hand, ab und zu einen Satz lesend. Er hätte später nicht sagen können, worum es im Text ging. Der Inhalt sank sofort in die tieferen Schichten seines Bewusstseins und verband sich dort mit anderen Eindrücken: der weißgelb prunkenden Klosterfassade, dem farbigen Dämmerlicht in der Kirche und dem Geruch von frisch gemähtem Gras ...
Er wohnte im Adler. Beim Frühstück grüßte ihn dort ein kurz Geschorener mit den Augen – kein Mönch, er war einer aus seiner Zunft, der Reiseführer einer Gruppe gut situierter Damen. Das Zimmer ging auf die viel befahrene Bundesstraße hinaus. Abends stand er lange am Fenster, solange es noch hell war, und beobachtete den Verkehr, zumal die vielen Motorradfahrer. Für sie war die Strecke vom Allgäu bis auf die Alb sozusagen nur eine einzige lang gezogene Kurve, in die sie sich mit Genuss hineinlegten. Seine Augen folgten den lang gestreckten, abgewinkelten Gestalten, wie sie dahinflogen, diese modernen Zentauren. Die roten Tanks und Verkleidungen ihrer Maschinen kontrastierten mit dem düster glänzenden Schwarz ihrer Monturen und betonten es noch. Augustin liebte das Drohende ihrer Erscheinung, die formalisierte Aggression, wie er es bei sich nannte. Das gewaltsame Potential war ganz in Ästhetik verwandelt. Es war nur noch ein Bild, das die allgemeinen auf Selbstzerstörung gerichteten Sehnsüchte auf sich zog wie ein Brennpunkt und dann in sich aufhob. Die Zentauren bedrohten in Wirklichkeit niemand, es sei denn sich selbst. In der Dämmerung wurden sie seltener, mit der einbrechenden Nacht verschwanden sie ganz. Augustin ging dann beruhigt schlafen.
Er schlief endlich auch in Pfullendorf wieder ein. Am anderen Morgen erwachte er zur gewohnten Zeit. Nebenan war es still. Er frühstückte allein und fragte sich, ob er die Akteure des nächtlichen Hörspiels noch sehen würde. Absichtlich zog er die Mahlzeit in die Länge, blätterte in der bereitliegenden Lokalzeitung und schwatzte beim Zahlen noch ein wenig mit der Wirtin. Kein anderer Gast zeigte sich. Er war schon beinahe mit Packen fertig, als er erste dumpfe Geräusche wie ein verschlafenes Gähnen oder das Stöhnen der Matratze beim Aufsitzen des Schläfers von nebenan vernahm. Die Zimmertür wurde leise geöffnet und wieder geschlossen. Schritte auf dem Flur. Einer von ihnen wird zur Toilette gegangen sein. Augustin warf den Rucksack über, und als er die Spülung rauschen hörte, machte er sich zum Abmarsch bereit. Sie begegneten einander da, wo der Flur sich verbreiterte. Es muss der Magenkranke sein, war Augustins erster Gedanke. Und der zweite: noch jung und schon verbraucht. Er beeilte sich, den Schlüssel abzugeben und fortzukommen. Auf der Straße stellte er fest, dass es heute kühl und trocken war. Seine nächtliche Erregung wich einer missgelaunten Nüchternheit. Dafür zwei Stunden Schlaf versäumt zu haben!
Er verließ die Stadt auf dem kürzesten Weg und schlug die Richtung nach Meßkirch ein. Auf einem langen, geraden Waldweg sah er schon von weitem ein parkendes Auto. Es nahm fast den gesamten Querschnitt ein. Ich werde darum herumgehen müssen, schimpfte Augustin still vor sich hin. Hätte er es nicht weniger störend abstellen können, der Waldarbeiter, dem es gehören wird. Näher gekommen erkannte er jedoch auf dem Beifahrersitz einen männlichen Rückenakt, sichtbar durch die Windschutzscheibe von den Schulterblättern bis zu den behaarten Backen hinab. Vor ihm, undeutlich da unten auf der zurückgeklappten Lehne: die Partnerin in diesem Stummfilm – oder der Partner. Eine bocksfüßige Gegend. Augustin spürte die Versuchung, ins Innere des Wagens hineinzusehen, und widerstand ihr.
Im nächsten Dorf verfolgten ihn zwei spielende junge Hunde, und als er nicht mitspielen wollte, versuchten sie, ihn anzufallen. Er hielt sie sich mit Drohgebärden vom Leib und flüchtete schließlich in die nahe Kirche. Augustin lachte, er lachte am heiligen Ort.
Er war einer von den Seilbahntouristen, die von oben auf den See schauen und vor Entzücken fünf Sekunden die Luft anhalten - da unten ein blauer Fjord zwischen steilen schwarz-grünen Kanten. Dann wenden sie sich zur anderen Seite, erblicken die entfernteren Gipfel des Hochgebirges und atmen aus - majestätisch! Noch einmal der See als Ganzes, die Grenzberge im Süden, die Berge im Norden ... Und nun?
Er war erst gestern angekommen und gleich heute Morgen heraufgefahren. Der See lag 500 Meter über dem Meeresspiegel, der Gipfel 1900 Meter hoch. Die Hochalm war mit Gastronomie und Hotellerie gut bestückt. Die Vierergondeln spuckten im Takt ihre menschliche Fracht aus. Die Wege kreuz und quer über die besonnten Wiesen belebten sich zusehends. Der Fremde sah von Nordwesten lang gezogene Wolkenbänke heransegeln. Wie lange wird sich das Wetter noch halten?
Man fährt nicht schon um halb elf wieder hinunter. Wenn er zu Fuß den direkten Weg zum See nimmt, ist er um zwei Uhr nachmittags dort - viel zu früh. Also noch länger hier oben bleiben? Nein, auf dem Gipfel ist es ihm zu betriebsam. Er wählte den Höhenweg nach Nordosten, nachdem er die Karte studiert hatte. Die gerade durchgezogene rote Linie auf ihr versprach leichtes Fortkommen. Es geht immer geradeaus, nur durch dichte Wälder. Es wird dort ruhiger sein, vielleicht einsam. Am Spätnachmittag sollte er nach langem Abstieg an einem der Bahnhöfe der Seitenbahn ankommen.
Er verlor rasch an Höhe und verschwand im Fichtenwald. Mit den Wiesen ließ er die anderen Seilbahntouristen zurück. Aufatmend ging er schneller und kam auf dem nun eben verlaufenden Forstweg gut voran. Es war wirklich einsam hier, nicht einer mehr begegnete ihm. Der Himmel bezog sich erst unmerklich, dann war es nur noch grau über ihm. Hier am Boden war es jetzt viel kühler geworden. Er ging noch schneller. Der Weg verlief nicht immer so gerade, wie es die Karte darstellte. Es war eine Frage des Maßstabs. Welche Maßstäbe soll man für sich wählen, dachte er, eine im Leben manchmal entscheidende Frage.
Die Abzweigungen häuften sich, die Farbmarkierungen verloren sich. Er glaubte, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Aus dem Forstweg war längst ein schmaler Pfad geworden. Bei jeder neuen Gabelung wurde er unsicherer. Er musste sich auf seinen Instinkt verlassen. Der Wald hörte nicht auf. Am meisten beunruhigte ihn, dass er durchaus nicht an Höhe verlieren wollte.
Dann ging es doch hinab. Er gewann wieder Zuversicht - und stand binnen kurzem am oberen Rand einer steilen Felswand. Umkehren, den richtigen Weg suchen - oder irgendeinen Weg, wenn er nur hinunterführt. Der Alptraum begann erst jetzt. Er probierte immer neue Wege, neue Richtungen. Keine führte zurück in die Zivilisation. Die meisten Pfade endeten im Nichts. Es war schon mitten am Nachmittag. Nur einem Piefke kann so etwas passieren ... Leise Panik machte sich breit. Diese Zwangsvorstellung, niemals mehr ins Tal zu kommen – eigentlich hasst er das Gebirge.
Einmal stürzte er, verletzte sich zum Glück nicht. Nur die blaue Jeans war über und über mit gelbem Schlamm bedeckt. Er hastete weiter und ging vermutlich im Kreis. Nach weiteren zwei Stunden lichtete sich der Wald seitlich in der Tiefe. Er verließ den Pfad und drang zwischen den Fichten ins Helle vor. Wie schön, die Wiesen eines Bauernhofs, so sanft, und dahinter das Talbecken, endlich. Er kletterte über den Stacheldrahtzaun und entdeckte erst dann die Bullen auf der Weide. Sie hatten ihn noch nicht gesehen. Er schlich sich von der Wiese und zerriss sich beim erneuten Zaunübersteigen weiter unten einen Ärmel seiner Jacke. Immerhin stand er nun auf einem asphaltierten Feldweg. Die Dörfer an der Bahn mussten nach seiner Vermutung rechts liegen. Ein Bauernhof war noch zu passieren. Mit weichen Knien ging er so leise wie möglich daran vorbei – nicht dass er die Hunde weckte.
Das Dorf sah wie andere in Kärnten aus. Eine Ortstafel suchte er vergeblich. Wo zum Teufel war er herausgekommen? Hat dieses Nest überhaupt einen Bahnhof? Er ging durch Neubauviertel mit kleinen Häusern, wie sie überall in der westlichen Welt stehen. Diese Ruhe auf den Straßen, kein Mensch in den Gärten zu sehen - es war zu ruhig. Sollte inzwischen hier unten etwas Unausdenkbares geschehen sein?
Dann entdeckte er doch zwei Einheimische. Sie und er saßen auf der Terrasse. Das Haus war erst vor kurzem bezogen, der Garten noch nicht angelegt. Sie jausten und wirkten sehr gelassen. Die beiden redeten nicht miteinander. Die Dame des Hauses blätterte in einer Illustrierten.
Und er, der Fremde, außer Puste, schmutzüberkrustet, ziemlich derangiert, ruft ihnen zu: "Verzeihung, wenn ich Sie störe, ich bin fremd hier, ich habe mich in den Bergen da oben verirrt ... Würden Sie mir bitte den Namen Ihres Dorfes sagen? Nur den Namen, ich weiß nämlich nicht, wo ich heruntergekommen bin. Wenn Sie mir den Dorfnamen sagen, finde ich ihn dann schon auf meiner Karte ..." Mein Gott, er ist doch nicht vom Mond gefallen, sie zeigen ihr Befremden allzu deutlich.
Eine Viertelstunde darauf war er am Bahnhof, gerade recht zur Abfahrt des nächsten Zuges. Eigentlich unglaublich, wie reibungslos die Welt hier unten immer noch funktioniert.
Er hatte Theologie studiert und schien es nicht zu bereuen. „In Rom war ich auch“, sagte er, „drei Jahre lang. Das Seminar war an der Via Veneto, stell dir vor! Und hinterm Haus ein Friedhof, da trafen sich abends die Herren, ein munteres Treiben, kann ich dir sagen, jede Nacht römischer Karneval … Nein, ich hab da nie mitgemacht. Sie haben uns schon um zehn eingeschlossen, und die Fenster auf der Rückseite waren vergittert.“
Freiheit statt Sozialismus! Das hatte er sich ein Dutzend Mal auf die Innenseite seiner Schlafzimmertür geklebt. Sollte ich nachher in mein Hotel zurückfahren? Ich ekelte mich allerdings vor dieser Absteige am Heumarkt, nicht mal frische Bettwäsche gab es … Da blieb ich lieber bei ihm. Immerhin war er freundlich, und er fing nicht von Politik an. Nur dass er Franz Josef Strauß persönlich kenne, sagte er mir. Strauß sei privat ganz anders, als man ihn sich denke, ein höflicher Mann, umgänglich, kultiviert.
Am anderen Morgen trennten wir uns noch nicht. Er fuhr mich zum Hotel, und wir brachten mein Gepäck zum Bahnhof, schlossen es ein. Dann gingen wir italienisch essen, gut und teuer, er war auch ein Gourmet. Zum Nachtisch gab es frische Erdbeeren mit schwarzem Pfeffer. Ich hatte noch vier Stunden bis zur Abfahrt.
Er fuhr mit mir zum Volksgarten, wo auf einer Wiese eine Art Karneval gefeiert wurde. Karneval im September? Eine Erste Kölner Hunnenhorde hatte ihr Lager aufgebaut und viele andere Vereine dazu geladen. Es war prachtvolles Sommerwetter und zwischen zivilen Besuchern stolzierten die phantastisch Kostümierten einher. Die Hunnenmänner hatten gelb geschminkte Gesichter, trugen schwarze Perücken und sehr lange falsche Schnurrbärte. Ob die Kostüme - viel Fell, viel Leder - stilecht waren? Noch imponierender wirkten die Frauen mit ihrem reichen Schmuck und meist königlicher Haltung. Das Biwak bestand aus fellbedeckten Hütten, Verzeihung: Jurten. Zu den Gästen gehörten angebliche Gladiatoren, die auf ihr martialisches Äußeres und ihre schmucken Kostüme so stolz waren, dass sie sich, wenn überhaupt, nur puppenhaft bewegten. In ihrer Mitte saß ein fetter, gemütlicher Nero, der allenfalls sich selbst eine Zigarette, aber kaum Rom angezündet hätte. Andere Vereine traten auf der Bühne auf: ein brasilianisches Folkloreballett aus Königswinter, verwegen kostümiert, und eine große Truppe schwarz Angemalter, die sich Vringsveedeler Dschungelbrööder nannte. Ich amüsierte mich sehr, wir blieben Stunde um Stunde.
Mein Theologe wurde von einem recht zivilen Ehepaar ins Gespräch gezogen. Bei Kölsch besprach man auf Kölsch die erregenden Vorgänge um ein allen, nur mir nicht, bekanntes Paar, das sich gerade getrennt hatte. Bei dem in Rede stehenden Kerl schien es sich um einen Zuhälter zu handeln. Die dicke, schwitzende, schon merklich alkoholisierte Bürgersfrau sprach sich lüstern über alle Einzelheiten aus, sie wusste genau, wo er seine Pferdchen stehen hatte und wie die Geschäfte dort liefen. Leider verstand ich von ihrem Redeschwall nur die Hälfte.
Zu den Besuchern gehörten auch einige Ledermänner in ihrem kleinen Schwarzen, mit den übrigen Trachtenträgern hier konnten sie es nicht aufnehmen. Einer von ihnen mischte sich oft unters Volk. Hier tat er einem Ehemann mit Gipsarm schön, dort leistete er bei einer Ehefrau Aufklärungsarbeit und ließ sich dann mit zwei Kindern auf den Schultern knipsen. Der Kindermund: „Mami, du hast vorhin gesagt, der Onkel ist schwul, was ist denn das?“ Schließlich versuchte er, eine wunderschön blau gewandete Hunnenprinzessin für sich einzunehmen. Er schien ihr aber ein wenig lästig zu fallen. Sie äußerte nur immer wieder höflich „Warum nicht … warum nicht …“ und entzog sich ihm dann, die Spröde.
Es war auch für mich nicht bei einem Kölsch geblieben. Mir ging schon alles im Kopf herum: falsche Hunnen und ein echter Theologe, Brasilianer und Gladiatoren, Nero und Franz Josef Strauß, Freiheit statt Sozialismus auf der Via Veneto und lustiges, schwitzendes rheinisches Volk unter einer wie südlich sengenden Sonne im Kölner Volksgarten … Und dann war es Zeit für mich, wieder heimzufahren in den ach! so nüchternen Norden.
„Da ist noch das Beinhaus“, sagte Ben, „der Karner … Interesse?“ So abgehackt zu fragen, war sonst nicht seine Art. Es war ihm nur zu spät, erst beim Reden, eingefallen, dass er Max den Anblick von Totengebein vielleicht ersparen sollte.
Sie waren eben aus der Kirche gekommen und standen jetzt wieder auf dem Vorplatz. Weißer Sand und weiß strotzend die Blütenkerzen der Rosskastanien. Es war ein warmer Nachmittag Anfang Mai.
„Aber ja, gern. Nach Sankt Julian kommen wir noch früh genug.“ Max schien sehr gelassen. Sie gingen langsam hinein, ließen die Eisentür hinter sich offen stehen.
Während es drüben im gotischen, wieder einmal barockisierten Kirchenschiff angenehm kühl gewesen war – und es hatte nach den Blumen vom Altar und nach frischer Farbe gerochen -, stand im kreisrunden Beinhaus nur trockene Stickluft, den ganzen Tag erwärmt von den hoch gelegenen Fensteröffnungen. Sie brauchten nicht einmal herumzugehen, nur sich umzuwenden, und hatten als halbrundes Panorama das knöcherne Inventar vor sich.
Eine Registratur des Todes. Die vielen elfenbeinernen Schädel, Hunderte, vielleicht Tausende. Gesondert die langen und die kurzen Röhrenknochen. Beckenschaufeln und Schlüsselbeine. Alles für sich, in schöner Ordnung dicht gepackt auf Podesten und Hängeböden. Gesichert durch dünne Drahtvorhänge. Das Sortieren und Einordnen musste mühsam und zeitraubend gewesen sein.
Für Ben war es nicht der erste Karner, in dem er sich umsah, nur der erste auf dieser Fußreise. Und wohl auch der letzte, sagte er sich, zehn von den vierzehn Tagen sind schon um. Bin eigentlich ganz froh, dass die Zeit mit ihm so schnell vergeht … Nicht dass sie sich gestritten hätten, dass etwas zwischen sie getreten wäre. Sie kamen wie immer gut miteinander aus. Nur: Ben kam nicht über den Anfang hinweg. Sie hatten sich in T. treffen sollen und Ben hatte stundenlang im Hotel auf ihn gewartet. Keine Nachricht von ihm, keine Erklärung für sein Ausbleiben. Am Ende würde er, Ben, morgen früh allein Richtung Osten aufbrechen müssen … Und da verspürte er statt Beunruhigung und Ärger – Vorfreude. Am Abend traf Max doch noch ein.
Einen Augenblick lang den eigenen seelischen Apparat nicht genügend unter Kontrolle gehabt, und nun plagte Ben sich mit der jäh aufgetretenen, unwillkommenen Selbsterkenntnis, dass er die Reise lieber allein statt mit dem alten Freund unternommen hätte.
In Max ging jetzt im Beinhaus anderes vor. Er dachte sofort wieder daran, dass er seinen künftigen Leichnam nicht der Wissenschaft zur Verfügung stellen konnte, aus den bekannten Gründen - sie nahmen keine AIDS-Leichen. Schade, damit wäre er die Sorge um sein Skelett los gewesen. Wie die Knochen hier gestapelt waren, das war doch entwürdigend. Blieb also nur Einäschern übrig, das war für ihn auch nicht verlockend. (Es war ruhmlos, er dachte es nicht, fühlte es nur.)
Seine Verstimmung nahm zu, die Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit Ben kehrte zurück. Noch ein Angebot abgelehnt … Er hatte den Freund gebeten, ihm etwas zu benennen, das er ihm testamentarisch vermachen könne. Und Ben hatte nichts bezeichnen wollen. Stattdessen vom Wert immaterieller Erinnerungen gesprochen. Und dass es ohnehin noch lange nicht so weit sei, denn er sei ja noch immer ohne Symptome. Nicht nur Sterben, auch die Vorbereitung darauf schien Max jetzt mühselig und verdrießlich. Wie lange kannten sie sich denn schon, zehn Jahre, fünfzehn Jahre? Im Grunde hat ihn von dem, was ich tue (denkt Max), nie etwas überzeugt …
Ben versuchte unterdessen, im Geist die früheren Eigentümer der Knochen wiedererstehen zu lassen. Selbstverständlich sah er nur jüngere Männer vor sich, lauter Renaissancemenschen, und er wollte sich auch ihre Stellungen zueinander vergegenwärtigen, ihre Leidenschaften, ihr Lieben, ihr Hassen, Eifersucht, Rivalität. Sich vorzustellen, dass die Reste der größten Feinde von damals jetzt eng aufeinander lagen, liegen mussten … Nähe, du bist der Fluch der Materie … Und nicht mal im Tod gibt es Einsamkeit?
Ohne sich darüber zu verständigen, brachen sie den Aufenthalt im Karner plötzlich ab und gingen schnell hinaus, Ben voran. Draußen wies er auf die Blütenkerzen und sagte: „Aber hier ist es schön … Noch kein Anzeichen des Verblühens. Sie sind jetzt auf dem Höhepunkt.“
Die gute Frau Brand, wie Hartmann sie gern nannte (Brand nur mit d, wie sie selbst betonte), unsere Vermieterin also, sie brachte uns mitsamt dem Gepäck zum Bahnhof. Wir wechselten wieder einmal die Unterkunft – erst zwei Wochen an den Seen, dann tiefer ins Gebirge hinein, das war bei uns so üblich. Sie blieb auch beim Abschied, was sie vorher durchgehend gewesen war: auf sehr konventionelle Art geschäftsmäßig freundlich. Das könne noch nicht alles gewesen sein, sagte Hartmann, als sie weggefahren war und wir die pompöse Front des alten Kaiserbahnhofs durchschritten. - Wie meinst du das, nicht alles gewesen? – Nun, sie hat so eine Aura … Was sollte ich dazu sagen?
Die kleine Seitenbahn brachte uns bis ans Ende des Hochtales. Die Berge dort wirkten niedriger als jene weiter unten, obwohl sie tatsächlich viel höher waren. Auch die Station klein, bescheiden verziert, wenn auch alles wieder in diesem Schönbrunner Gelb; die Pension, in der wir reserviert hatten, gleich an der übernächsten Ecke der Hauptstraße. Wie wenig hier los ist, sagte ich. – Zwischensaison, meinte Hartmann, pass auf, zwei Drittel der Gasthäuser sind geschlossen.
Wir klingelten. Durch die Sprechanlage erklang zu unserem Befremden keine Stimme, nur ein Klopfen, wie es vielleicht ein Fingerknöchel auf einer Stahlplatte hervorruft. Der Türsummer dagegen summte ordnungsgemäß. - Sie hat ja gesagt, es sei im ersten Stock, gehen wir einfach rauf, entschied ich. - Die, die uns die Etagentür öffnete, grüßte mit Kopfnicken und blieb im Übrigen weiterhin stumm. Wir setzten einfach voraus, es sei Frau Matschke, mit der ich neulich telefoniert hatte, und nicht irgendeine Hilfe. Dafür sprach das Besitzergehabe ihrer Handbewegungen, sonst eher wenig. Sie war klein, mager, ältlich und wirkte klagsam allein schon durch ihre verschlossene Trauermiene. Jene Frau Brand dagegen – wie hatte sie eigentlich ausgesehen, ich wusste es schon nicht mehr. Frau Matschke, uns den Vortritt lassend, dirigierte uns in ein Zimmer. Wir erkannten es sogleich als für uns bestimmt, denn hinter der offen stehenden Verbindungstür rechts lag der versprochene zweite Raum, spiegelbildlich identisch und haargenau wie der erste möbliert: billiger Landhausstil, pseudorustikal die rotkarierte Bettwäsche.
Welches Zimmer nimmst du, fragte ich Hartmann. Er ging nicht darauf ein und wollte stattdessen wissen, wo unser Privatbad sei. – Vielleicht über den Flur? – Ich wollte die erste Zimmertür öffnen – sie war bei unserem Eintreten von Frau Matschke hinter uns geschlossen worden -, aber Hartmann rannte hinüber ins zweite Zimmer und rief von dort: Sie ist nicht mehr da, deine Frau Matschke … Ich ging nachsehen, es war so. Hartmann wollte wissen, wie ich überhaupt mit ihr hatte reden können, wenn sie doch stumm war. – Immer vorausgesetzt, entgegnete ich, diese hier ist wirklich Frau Matschke … Da bemerkten wir – und ich dachte: wie in schlechten Romanen - die kleine Tapetentür. Ich trat auf sie zu, doch bevor ich ihre Klinke herunterdrücken konnte, sprudelte Hartmann schon die Unglücksbotschaft heraus: Unser Gepäck! Wo sind die Koffer? – Wir gestanden es uns beschämt ein: von uns vorhin vergessen worden im Kofferraum des Brandschen Wagens. Indessen erwies sich jetzt, dass die Tapetentürtheorie richtig war: Frau Matschke kam gerade durch jene Öffnung zu uns zurück. Meine Verlegenheitsfrage, wann Frühstückszeit sei, blieb ohne Antwort. Frau Matschke schien sogar etwas verstimmt und verschwand sogleich erneut, die Tür geräuschlos hinter sich zuziehend. Hartmann, sagte ich, dieses Zimmer nimmst du.
Da wir nichts auszupacken hatten, beschlossen wir, essen zu gehen – und machten noch vor dem Aufbruch die nächste erregende Entdeckung: Wir waren so gut wie ohne Mittel. Auch hier die Erklärung einfach: Wertsachen und Hauptteil der Barschaft befanden sich noch im Safe des Hotels der Frau Brand (Brand nur mit d, zum Teufel damit!). Hartmann, sagte ich, wenn wir so vergesslich geworden sind, wie konnten wir es dann wagen, überhaupt noch zu verreisen? – Müßig, das jetzt zu erörtern. Du musst die Brand sowieso wegen der Koffer anrufen. - Ich wollte mir zu meiner Befriedigung sagen, für ihn sei sie nun nicht mehr die gute Frau Brand, da hielt er mir schon das kleine handliche Gerät hin, fertig eingestellt, sie herbeizitierend.
Und da war sie wieder, die mir vertraute, mäßig lebhafte, immerzu freundliche Stimme der Frau Brand. Gut, dass Sie anrufen, schnitt sie mir etwas brüsk meine Einleitung ab, wir haben da noch einen Punkt zu klären … Richtig, Frau Brand, genau genommen sind es deren zwei. Die Koffer werden sie vielleicht schon entdeckt haben, ja? – Wenigstens diese Wirtin war nicht stumm, doch ihre Rede von nun an nicht durchgehend verständlich. Zu den Koffern äußerte sie sich ungefähr so: Tzumm didirum pasta me, obscuran in effigie? Tzumm didiram, Señor Schmidt! – Ich bat sie, deutlicher zu sprechen, mit nur mäßigem Erfolg: Signore Schmidt, obscuran, obscuran! – Auf gut Glück argumentierte ich so: Verzeihung, Esperanto spreche ich nicht und verstehe es auch kaum … - Womit ich sie doch ein wenig verärgert zu haben schien, ihr Tonfall nun unverkennbar gereizt: Tem dorum avricem, Gospodin Schmidt! – Der Rest hörte sich beinahe wie Kyrie eleison an – ich hatte genug. Meine Irritation zu verbergen suchend sagte ich, die Verbindung scheine gestört, ich würde sie morgen wieder anrufen, und beendete das Gespräch sofort.
Hartmann, kann es sein, wir befinden uns in einem aberwitzigen Traum? – Seine Antwort: Dann würde unser Erwachen erst recht fürchterlich sein. – Was er vorschlage? – Richten wir uns damit ein, sagte er und wies über die Einrichtung beider Zimmer hin, mit einer Gebärde wie segnend.
In jenen Jahren sah man das auffallende Paar häufig auf den Straßen von ***. Es waren, wie leicht zu erkennen, Mutter und Sohn, sie eine stattliche Frau jenseits der sechzig, er in seinen Zwanzigern, so schien es zunächst. Ich zögere nicht, den großgewachsenen jungen Mann schön zu nennen. Wir, die beiden und ich, wohnten in zwei benachbarten Stadtteilen, die ein Wäldchen trennte. Hohe, alte Buchen ließen es aus der Distanz viel größer erscheinen, als es tatsächlich war. Ging ich zu Fuß von meiner Wohnung ins Zentrum der kleinen Stadt, kam es vor, dass Mutter und Sohn plötzlich auf der Bühne erschienen und mir ins Blickfeld gerieten – sie waren gerade aus dem Wald gekommen und hatten den engen Durchlass unter der Eisenbahnbrücke davor passiert. Jenseits von ihr bog die Straße scharf rechts ab. Auf diese Weise hatte für mich das Paar oft einen etwas theatralischen Auftritt und ebenso traten sie heimwärts wie auf eine Regieanweisung hin plötzlich ab.
Ob wir uns stadteinwärts oder –auswärts begegneten, ich überholte sie immer, da sie langsam einherschritten, und warf dabei ein, zwei Blicke auf sie. Alles an ihnen strahlte Würde, Anmut, gesittetes Wesen aus. Der junge Mann blickte dabei viel auf seine stets unbewegt erscheinende Mutter. Sie sprachen gewöhnlich nicht miteinander. Allerdings richtete sie in der Fußgängerzone schon mal das Wort an ihn, selten zwar und wenn, dann immer knapp, gebieterisch, mit leichter Schärfe. Er zuckte nun zusammen, wie eben einer, der sich zusammenzunehmen hat. Dies geschah immer dann, wenn er auch nur Miene machte, ein etwas lebhafteres, weniger folgsam gravitätisches Verhalten anzunehmen. Ich begriff allmählich, dass er geistig behindert war und auf der Stufe eines Sieben- oder Achtjährigen verharrte. Wie ein solcher gehorchte er sogleich und kehrte zu unauffälligem Betragen zurück. Sie hatte ihn vollkommen unter Kontrolle, und ich fand weiterhin, sie gäben ein harmonisches Bild ab, das außerdem zu Herzen ginge. Nie sah ich einen von beiden allein. Sie machte ihre Besorgungen, er begleitete sie stumm und trug einen Teil ihrer Einkäufe auf dem Heimweg.
Das ging so Jahre hin, dann war von heute auf morgen die Mutter nicht mehr zu sehen. Der Sohn hatte von nun an zum Begleiter und Führer einen alten Herrn, in dem ich seinen Vater vermuten durfte. Sie verkehrten anders miteinander, lockerer. Der Sohn schien neuerdings an viel längerem Zügel zu gehen und es zu genießen. Er war oft munter, fröhlich, wechselte unterwegs das eine oder andere Wort mit dem Alten. Wenn ich an ihnen vorüberging und sie fast wie beliebige Mitbürger wirkten, sah ich in dem Sohn keinen sehr jungen Mann mehr vor mir wie früher. Sowie seine Mimik sich belebte, bemerkte ich die Falten, das schon etwas Verlebte und der Zucht und Ordnung langsam Entwöhnte. Er war ein Mann von bald vierzig Jahren, sein Vater mochte Mitte bis Ende siebzig sein.
Es kam zu öffentlichen Szenen, die der Alte sichtlich fürchtete. Sein Sohn lief dabei hin und her, spektakelte ein wenig, gebärdete sich wie ein Pubertärer. Einmal spielte sich das in einem Schlachterimbiss ab. Ich stand an einem Verzehrtisch und wurde Zeuge, wie andere Gäste leicht angerempelt wurden, und hörte den Sohn lauter werden als dort üblich. An ihm war jetzt etwas Aufsässiges. Sein Vater machte dem rasch ein Ende, indem er seine Bestellung am Tresen abbrach, ihn am Arm packte und ihn wegzerrte und vor sich hertrieb: „Los, raus jetzt!“
Einige Wochen später gingen beide noch einmal vor mir heimwärts, und zwar auf der anderen Straßenseite, so dass ich sie eine Zeitlang schräg von hinten in ihrem Dahinziehen betrachten konnte. Sie trugen Einkaufstaschen und dem Alten fiel das Vorankommen erkennbar schwer. Er ging sehr langsam, blieb oft stehen und setzte seine Last ab, um neue Kräfte zu sammeln. Sein Sohn schritt viel rascher aus, gewann Abstand, hielt ebenfalls inne, sah sich nach dem Vater um, rief ihm etwas zu, lachte spöttisch und zuckte mit den Schultern. Hier geht etwas zu Ende, sagte das lebende Bild vor mir. Sie zottelten weiter, erreichten den Durchlass unter der Brücke, wandten sich nach rechts, den hohen, alten Buchen zu, und waren sogleich aus meinem Blickfeld verschwunden – für immer, wie ich heute weiß, ohne erfahren zu haben, welches ihr Weiterweg im Leben war. Vermisst habe ich sie noch lange Zeit.
Die Bäckerei ist groß und liegt an einem der zentralen Hamburger Plätze. Man sucht sie gern auf, um etwas an Ort und Stelle zu verzehren, Kuchen oder Torte zum Kaffee, ein belegtes Brötchen oder etwas kleines Warmes. Vorne im Geschäftsraum ist immer Gedränge. Wer es ruhiger haben will, steuert die kleine Empore an der Rückwand an. Wieder einmal sitzt da dieser verbraucht wirkende alte Mann und wartet auf eine Bekannte, die hier Küchenhilfe ist. Vielleicht waren sie früher Kollegen … Ich lasse mich an einem weiter entfernten Tisch nieder.
Heute hat der Siebziger sich einen Sechziger zur Gesellschaft mitgebracht. Sie reden leise miteinander. Bevor die Küchenkraft erscheint, trifft noch ein alter Mann ein - ein alter Herr, sollte ich vielleicht schreiben, er ist besser gekleidet als die zwei anderen. Auch er wirkt leidend. Er sieht aus wie ein Witwer, der gerade vom Notar kommt, wo er seinen missratenen Sohn enterbt hat. Unter den freien Tischen wählt er – man weiß nicht warum - gerade den neben den zwei Alten.
Die Küchenmamsell kommt und begrüßt ihren alten Freund überschwänglich. Sie ist viel jünger und vor allem eines: laut. Sie freut sich geräuschvoll über den Besuch, tätschelt ihm die Wangen, lobt sein angeblich frisches Aussehen. Alle auf der Empore müssen alles mitbekommen. Dann aber unterbricht sie sich: Ich muss jetzt aufhören, ich bin dem da zu laut ... Der einzelne alte Herr hat sich eben beschwert. Tatsächlich geht sie bald zurück an die Arbeit und auf der Empore ist es wieder still.
Etwas später brechen die zwei alten Männer auf und der Ältere ruft im Weggehen dem Herrn am Nebentisch weithin vernehmlich zu: Ich wünsche Ihnen viel Ruhe. – Daraufhin der mit äußerstem Nachdruck: Und ich Ihnen GANZ viel Ruhe! – Jetzt wendet sich der Dritte um und dem Fremden zu: Und ich Ihnen auch GANZ, GANZ viel Ruhe! Wie hasserfüllt das klingt … Alle drei starren sich an, stoßen zischend Luft aus, wackeln mit den Köpfen, wie Gänseriche. Aber natürlich gehen sie nicht aufeinander los. Es war nur einer der seltenen Momente, wo das erschöpfte, verbitterte Alter von heute sich vergeblich im hitzigen Aufbrausen der Jugend von damals zu erneuern versucht.
Die zwei sind fort und der ältere Hanseat sieht sich auf der Empore um: ob die peinliche Szene einen Zeugen hatte.
Die ungute Szene spielt in Halle-Neustadt, nahe dem Südpark. Der gut Informierte weiß das richtig einzuschätzen.
Ich soll also dem alten Mann beim Einkaufen helfen. Wir verlassen das Haus und draußen zeigt er auf den Eisenzaun, der die Müllcontainer umgibt: „Dagegen hat der Junge mit einem Stock geschlagen … und als er die Ratte gesehen hat, hat er seinen Pulli hochgezogen, um Hals und Nacken zu schützen, falls sie angreifen würde. Sie ist aber weggelaufen.“
Wir betreten den viel zu großen Supermarkt und suchen und suchen … Wo finden wir die Margarine, wo die Flüssigseife? Endlich ist die Einkaufsliste abgearbeitet und wir stellen uns am Ende einer Kassenschlange an. Das wird lange dauern …
Mein Blick geht zu der SB-Kasse neben uns, auch dort muss man anstehen. Eine Clique von Oberschülern hält den Betrieb auf, sie haben in der Pause wenige Artikel für sich ausgesucht, jeder zieht Seines über den Scanner und dabei flachsen sie ständig miteinander. Ein Großer, Kräftiger fällt mir auf, er ist außergewöhnlich hübsch, wie eine frisch aufgeblühte Rose. Sein Haarschnitt ist von der Schädeldecke zum Nacken hin stufenförmig abgetreppt; der Kopf sieht aus wie eine umgestülpte Zikkurat, denke ich – hat er das nötig? Wirkt aber interessant. Und wie harmonisch, friedfertig Gesicht und Mimik erscheinen ...
Jetzt ereilt den Rosenjüngling ein Hustenanfall, er scheint sich beim Palavern verschluckt zu haben und erleichtert sich, indem er ein Quantum Spucke auf die Kassenablage drüben würgt. Ich kann nun unsere Waren aufs Laufband legen und den alten Mann bezahlen lassen.
Draußen auf dem Gehweg neben dem Kaufpalast eine lebende Barrikade: Zwei Frauen ratschen miteinander, jede hat einen angeleinten Hund dabei. Die Tiere mögen sich nicht, streben auseinander, so weit es geht. Die Einkaufstaschen tragend weiche ich auf die Fahrbahn aus. Der alte Mann humpelt an seinem Stock dicht an einem Hund vorbei, der sich dadurch bedroht fühlt und sofort aggressiv wird. Er kläfft, reißt das Maul auf, versucht zuzuschnappen – es ist gerade noch mal gutgegangen. Der alte Mann schimpft, die zwei Frauen haben kein Einsehen, entschuldigen sich nicht.
Jetzt kommen die Oberschüler des Wegs und mischen sich ein. Sie nehmen Partei für Hunde und Frauen. Ich bin schon weitergegangen, drehe mich um und muss wartend die Tirade des alten Mannes mit anhören. Das Wort Gesocks fällt. Der Rosenjüngling drängt sich aus der Gruppe heraus und ruft: „Du, pass auf – ich stech dich!“ Dabei macht er eine nicht mißzuverstehende Gebärde, seine Hand langt am Körper entlang, nähert sich, schon im Weitergehen mit der Gruppe, der Hosentasche. Er wird doch nicht im Ernst ---
Da kommt eine Abzweigung und die Schüler – uns überholend und nahe ihr Pausenende - gehen in die andere Richtung. Wir haben zum zweiten Mal Glück gehabt. Zurück bleibt in mir das Bild einer allzu früh entblätterten Rose.
Nachher schrieb Bodo einen Brief an seinen Freund Winfried in Nürnberg. Darin hieß es:
… Nun war ja mein Bruder neulich hier, Ferdinand, der Halbbruder, den Du nicht kennst. Mechthild war mit den Kindern in Düren geblieben, glücklicherweise. Auch nach zehn Jahren verdecken ihr Lächeln, ihr Plaudern die Irritation nur schlecht, die meine bloße Gegenwart bei ihr auslöst. Und aus Kleinkindern mache ich mir auch nicht viel …
Ferdinand gab sich wie immer, ganz der kluge ältere Bruder, recht neugierig, ein wenig gönnerhaft und von großer Gelassenheit. Am letzten Abend gingen wir ins Schauspielhaus. Er wollte Yerma von Garcia Lorca sehen, weiß der Himmel warum. Gerade er leidet doch wohl nicht an Impotentia generandi. Die Aufführung war eindrucksvoll, Zadek hatte selbst inszeniert.
In einem Lokal in der Nähe redeten wir nachher über das Stück und die Darbietung. Ein Jugoslawe hat die Rolle des Juan, und mich hatte es gestört, dass er seinem serbokroatischen Akzent freien Lauf ließ in einem Stück, das in Spanien spielt. Ferdinand sagte, Juan sei ihm von Akt zu Akt sympathischer geworden.
„Tatsächlich, diese negative Figur?“
„Ja, er ist noch schlimmer dran als sie. Ihr fehlen die Kinder, aber er weiß von Anfang an, dass keine kommen werden. Sie kann warten und hoffen und allmählich aggressiver werden – er muss schweigen, stillhalten.“
Er trank einen Schluck. Als er das Glas absetzte, glitt sein Blick schräg von oben nach unten über die junge Kellnerin, die an uns vorbeiging.
„Mach mir ein Kind – das ist alles, was sie ihm zu sagen hat. Vielleicht kannst du es nicht verstehen, aber jeder Mann, der Kinder gezeugt hat, wird zugleich mit diesem Juan attackiert.“
Wir saßen sehr lange in dieser Bier- und Weinstube und tranken. Ich bestellte nur Bier, Ferdinand, der mehr verträgt, genehmigte sich auch den einen oder anderen Schnaps. Wir schwatzten stundenlang, frönten unserer Lust an Gedankensprüngen und gewaltsamen Vergleichen. Bei solchen Biertischgesprächen tritt bei uns die Familienähnlichkeit klar zutage.
Wir saßen dort an einem der großen Fenster, sie sind wahre Schaufenster. Der Blick geht auf den massigen Hauptbahnhof, der wie die Dome des Mittelalters nie fertig wird. So entstehen gerade neue plexiglasüberkuppelte Portale und Seitenkapellen.
Es war Freitagnacht und hatte bis in den Abend stark geregnet. Eine vergnügungssüchtige Masse schob sich über die Gehwege vor den Restaurants und Kinos, wich Pfützen aus und wurde von den Lichtern der Autos und Leuchtreklamen geblendet, deren Widerschein hundertfach auf dem nassen Asphalt aufblinkte. Zeitweise schwiegen wir und hefteten unsere Blicke an einzelne Passanten, bis sie unserer Sichtweite entschwanden.
Nach Mitternacht nahm der Betrieb deutlich ab. Es trieben jetzt nur noch kleine Gruppen an unserem Aussichtspunkt vorbei und zwischen ihnen schlüpften manche Einzelgänger durch. Ferdinand sagte, wir befänden uns gleichsam in einer verglasten Kuppel auf dem Meeresgrund und sähen die Schwärme vorüberziehen.
„Fehlen nur noch die Seeschlangen und andere Meeresungeheuer“, versetzte ich.
Da nahm draußen das Schimmern und Blenden auf einmal zu. Ferdinand reckte den Hals. Ich sah, dass er einen Ledermann im Visier hatte. „Hier hast du schon einen geschuppten und gepanzerten Riesenfisch“, sagte er.
„Das ist Mr. Hauptbahnhof.“
„Kennst du ihn?“
„Nur vom Sehen.“ Ich hätte ihm allerlei erzählen können, Klatsch, der mich erreicht hatte, aber das fiel mir nicht ein. Ferdinand war vorurteilsfrei und das sollte er auch bleiben. Die Wendung, die unser Gespräch nahm, gefiel mir nicht.
„Wo mag er hingehen?“
„In eine Bar in der Nähe. Ein Laden für Lederfetischisten.“
Wie weit es dahin sei? - „Fünf Minuten.“
Er wollte es sehen. „Sitten und Gebräuche fremder Völker haben mich schon immer interessiert.“
„Also gut, folgen wir ihm, dem smarten Psychagogen.“
Unser Aufbruch verzögerte sich etwas. Als wir bezahlt hatten und draußen standen, war es drei Uhr morgens. Wir hatten das Zeitgefühl schon seit längerem verloren. Es war eigentlich zu spät, einem neugierigen Touristen das Lokal zu zeigen. Falsche Eindrücke wird er gewinnen, sagte ich mir, Mechthild wird er zu Hause mit Schauergeschichten versorgen. Denn das stand für mich schon fest: Dass es reiner Wissensdurst war, das ihn jetzt in den abseitigen Keller drängte. So war er immer schon gewesen. In unserer Jugend hatte er ein kleines Labor im Tiefparterre gehabt und gern mit Chemikalien experimentiert. Wenn es richtig gezischt und gestunken hatte, kam er befriedigt herauf. Er wusste es nun genau, ihm konnte man nichts vormachen.
Wir bogen in den Steindamm ein. Schon ziemlich verödet, doch weiter strahlend hell lagen die Tempel des stationären erotischen Gewerbes. Ferdinand, der zum ersten Mal in dieser Gegend war, lachte: „Und zwischen all den Peepshows noch ein richtiger Schlachter!“
Ich sagte, der Steindamm sei die Straße der geheimen Nebenbedeutungen, wo sich das Alltägliche leicht ins Anzügliche verwandle und umgekehrt ebenso. So wie es Fleisch und Fleisch zu kaufen gebe, so würden auch die unterschiedlichsten Hilfsmittel angeboten, Reizwäsche, Dildos und Machoklamotten auf der linken Seite und gegenüber Schuhe für orthopädische Einlagen.
Das ambulante erotische Gewerbe war nur noch durch wenige Damen vertreten. Eine ging so weit, uns anzusprechen, erst Ferdinand, dann mich. „Ein anderes Mal“, sagte mein Bruder, ich schüttelte stumm den Kopf. Wir kamen an geschlossenen Kinos und Restaurants vorbei. Offen waren noch einige türkische Imbissstuben. Den Ledermann sahen wir nicht.
Du, lieber Winfried, kennst ja die ziemlich dunkle Seitenstraße, in die ich meinen Bruder dann führte. Ich sagte ihm, hier würden die ausgefalleneren Bedürfnisse befriedigt. „Da ziehen sich echte Männer vor Damen aus, die nur dafür schon zahlen. Gleich daneben räkeln und spreizen sich falsche Damen in üppigen Roben vor gelangweilten Ehepaaren. Beides ziemlich teuer … Aber da drüben ist es.“
Also die kleine Treppe zum Eingang hoch, den langen Gang ins Hausinnere und die Treppe hinunter. Albert, der im Keller an der Kasse saß, riss die Augen auf.
„Das ist mein großer Bruder, mit ihm war ich im Theater. Schade, dass ihr für solche Fälle keinen Kostümverleih habt.“ Mein eigenes Outfit war der Bar angepasst, als hätte ich den Abstecher von vornherein geplant.
Ich weiß nicht, wo Ferdinand mehr auffiel, im Theater oder jetzt hier. Schon im Schauspielhaus war er durch seine elegante und unter all den Pullovern und Lederjacken provinzlerisch wirkende Abendgarderobe fehl am Platz gewesen. In der Bar stach er zwar farblich nicht ab und doch hätte der Kontrast nicht größer sein können: mein Bruder in feinem, weichem Tuch, satt und gepflegt – um ihn herum Männer in harten Schalen und mit hungrigen Gesichtern. Statt selbst unauffällig beobachten zu können, stand Ferdinand daher eine Zeitlang im Kreuzfeuer der Blicke. Er ist übrigens ein recht attraktiver Mann.
Ich schlug vor, gleich vorn an der Bar Platz zu nehmen. Mein Bruder fand das naheliegend; er wusste nicht, dass ich gewöhnlich nicht dort sitze, sondern stundenlang in den verschiedenen Räumen auf und ab gehe und meist nur kurze Zeit an einem Punkt stehenbleibe. Er sollte keine falschen Eindrücke bekommen, aber allzu realistisch sollten sie auch nicht sein. Ich wollte ihn nicht überfordern.
Es war schon relativ leer. Der gesellige Teil der Nacht war vorüber, jetzt begann das Suchen. Die gesellschaftliche Schminke aus Wohlerzogenheit und Wohlverhalten platzte ab. Die Gesichter darunter zeigten die wahren Interessen, das heftige Begehren, die krasse Ablehnung. Weiter hinten musste man mit Handgreiflichem rechnen. Verdammt, wir hätten so spät nicht hierherkommen sollen! Ferdinand schien zum Glück noch nicht bemerkt zu haben, dass wir uns nur in einem Vorraum befanden, Vorhimmel oder Vorhölle, das kam darauf an … Sein bürgerlich-feierlicher Anzug schützte ihn vor Annäherungen, die ihm gewiss unerwünscht gewesen wären. Im Umkreis der Fetischisten war die korrekte Abendkleidung tatsächlich sein Schutzanzug. Ohne mich hätte Albert ihn gar nicht hereingelassen.
Bald kam Fredi herein, den ich gut kenne. Ich stellte meinen Bruder vor: „Er hat Frau und Kinder im Rheinland gelassen, um uns hier ungestört belauern zu können. Vielleicht schreibt er noch einen Aufsatz und wir kommen in eine Fachzeitschrift.“
Fredi nahm den Hocker neben Ferdinand. Er war vor Jahren aus Köln gekommen und froh, mit einem Landsmann ein rheinisches Palaver beginnen zu können. Sie redeten über Kölner und Aachener Affären, über Museen und Stiftungen. Mir war es recht, ich hörte bloß zu.
Ein neuer Gast traf ein, begrüßte mich und blieb bei uns stehen. Es war ein Maskenbildner, der in meiner Nähe wohnt. Auch ihn machte ich mit meinem Bruder bekannt und sagte, das sei ein Doppelgänger von Andy Warhol. Der Maskenbilder lächelte zugleich verlegen und geschmeichelt. Trotz seines abweichenden Äußeren – Blazer, dunkle Sonnenbrille und auffallend hellblondes, doch schon gelichtetes Haar – gehört auch er zu den Stammgästen. Ich fragte ihn, ob er seinen Prozess inzwischen gewonnen habe, und erfuhr, er habe eine Abfindung vom Theater erhalten. Bald ging er weiter, um die hinteren Räume zu inspizieren.
Wieder kam einer herunter, ich kannte ihn noch nicht. Er nahm am anderen Ende des langen Tresens Platz, wir hatten ihn gut im Blick. Ich werde Dich jetzt nicht mit einer Beschreibung seiner Vorzüge langweilen – sie entstehen oft erst im Geist des Betrachters. Wir nehmen bestimmte, eher banale Eigenschaften wahr (oder suggerieren uns ihr Vorhandensein) und legen ihnen dann eine für uns erfreuliche Bedeutung bei. Davon kann man dem, der nicht so empfindet, so wenig eine wirkliche Vorstellung vermitteln wie ihn die Angst oder das intensive Glück nachfühlen lassen, die wir in einem nächtlichen Traum erlebt haben.
Meine Begeisterung schien aufzufallen. Ich hatte sogar meinen Bruder vergessen. Fredi unterbrach ihr Gespräch: „Er scheint dich ja sehr zu interessieren.“
„Wer ist er?“
„Gabriel, er tritt im Männerstrip gegenüber auf. Er kommt gerade von der letzten Show.“
„Gabriel“, wiederholte mein Bruder, „schön und streng sieht er aus, wie der Erzengel persönlich. Gabriel, gebenedeit bist du unter den Weibern!“
„Nicht so laut. Er trennt den Beruf strikt vom Privatleben“, setzte Ferdi uns ins Bild. „Sein Geld verdient er bei Frauen, Entspannung sucht er anderswo.“
Ferdinand lachte. „Gut gesagt, klare Verhältnisse.“
„Aber du“, wandte sich Fredi wieder an mich, „mach du dir keine Illusionen. Wenn du mit ihm ins Bett willst, musst du dir vorher einen Fummel anziehen. Er schläft nur mit Transvestiten.“
„Aber warum kommt er dann ausgerechnet hierher?“ Ich war überrascht und enttäuscht.
„Keine Ahnung. Vielleicht will er nur in Ruhe was trinken, bevor er allein schlafen geht.“
Unsere neugierigen Blicke und das angeregte Gespräch, das sich nur auf ihn beziehen konnte, beunruhigten Gabriel sichtlich. Er stützte die Ellbogen auf, beugte sich vor und vermied es, zu uns herüberzublicken. Er trank hastig. Das Glas noch nicht ganz leer, wollte er schon zahlen. Mit einem, wie mir schien, ziemlich großen Geldschein in der Rechten versuchte er, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Er wedelte dabei mit stolzer Gebärde.
„Seht euch das an, wie ein Grandseigneur“, höhnte Fredi.
Verstärktes Wedeln. Irgendetwas schien zu pressieren. Waren wir wirklich so lästig? Wir sollten es gleich erfahren. Peter nahm ihm endlich die Banknote aus der Rechten – und Gabriel wischte sich rasch mit dem linken Handrücken den Rotz von der Nase, einen mächtigen Tropfen; Sekunden später wäre er heruntergefallen.
„Scheint sich beim Strippen erkältet zu haben,“ witzelte Fredi, der sich mit seinen Boshaftigkeiten vielleicht für erlittene Schmach zu rächen versuchte.
„Immerhin verraten die gemessenen Bewegungen den Künstler“, ergänzte Ferdinand, „nämlich den Artisten, der seinen Körper beherrscht und alle Gesten gezielt einsetzt. Zuerst Wedeln, dann Wischen – und nicht etwa umgekehrt oder beides zugleich.“ Ich staunte, mein Bruder traf den hier manchmal üblichen Ton ja schon gut.
Wir feixten noch – Gabriel war schon verschwunden -, als Andy Warhols Doppelgänger aus dem Hintergrund zurückkam. Er schlug vor, gemeinsam eine Taxe nach Hause zu nehmen. Weiteres Bleiben lohne sich nicht mehr. Ich sagte sofort ja, ohne meinen Bruder nach seiner Meinung zu fragen. So verabschiedeten wir uns von Fredi und gingen zu dritt hinauf und ins Freie.
Auf der Straße war gerade kein freies Taxi zu sehen. Wir gingen zum Steindamm. An der Ecke bot sich ein seltsames Bild. Ein älterer Mann war gestürzt oder zusammengebrochen, ein jüngerer half ihm beim Aufstehen. Der Ältere war nur noch ein Wrack, der Jüngere hübsch und in schwarzem Leder, sehr schmuck anzusehen. Er stützte den Alten und sprach zu ihm.
Ich wunderte mich: „Ich habe ihn noch nie gesehen. Wo kommt er her?“
Der Maskenbildner kannte ihn: „Er ist ein Drogenhändler.“ Das kam so beiläufig heraus, als könnte man mit Kokain ebenso gut handeln wie mit Bananen. Er hatte auch schon mit ihm geschlafen. „Es war in einer Clique. Da war er ganz kühl und unbeteiligt und nur auf sich bezogen.“
Ich glaube, ich war nicht weniger verdutzt als mein Bruder. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte solche Einblicke nicht bekommen. Wir schwiegen dann und fuhren bald in einer Taxe aus dem verschachtelten Viertel heraus.
„Sag mal, Bodo, wo war eigentlich der Ledermann, der uns den Steindamm hinaufgelockt hat?“ Ich zuckte nur die Achseln. Mein Bruder musste nicht wissen, dass wir ihn wahrscheinlich in einem der hinteren Räume entdeckt hätten.
Der Maskenbildner döste vor sich hin. Noch einmal brach Ferdinand unser Schweigen „Tja, das war also ein Abend bei den Perversen … Nichts für ungut, ihr beiden … Sie sind wirklich anders, aber sie sind es auf noch andere Art, als ich gedacht hätte. Vertrackte Geschichte. Muss ich mal drüber nachdenken …“
Ja, dachte ich, philosophiere du nur in deinem Suff. Ein paar zufällige Brocken hast du da aufgeschnappt. Was wirklich gespielt wird, bleibt dir verborgen, wie hinter einem Vorhang, der nicht aufgezogen wird.
Wir fuhren jetzt über die Alster. Du, Winfried, kennst das von Deinen Besuchen hier: Der Morgen dämmert herauf. Das Licht durchdringt allmählich die tiefhängende Wolkendecke. Zögernd breitet es sich über der stillen, grauen Wasserfläche aus. Weißt Du, was das Schönste dabei ist: noch nicht zu wissen, was der Tag bringen wird ...
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2010
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