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INHALT


1. Notizen zum Roman Der Turm  von Uwe Tellkamp 

2. Annie Proulx lesen 

3. Der andere Gore 

4. Der Riesenroman 

5. Saul Bellows Mr. Sammlers Planet 


6. Walter Kempowski lesen? 

7. Todorov 

8. Doderers Die Merowinger oder Die totale Familie 

9. Das Rätsel Robert Walser 

10. Schreiben bis zum Selbstmord 

11. Literatur am Abgrund 

12. Svevos Kurze sentimentale Reise 

13. Chinas große Romane 

14. Postdemokratie von Colin Crouch 

 

15. Camilo José Cela, Der Bienenkorb 

 

16. Hans Henny Jahnn, Fluss ohne Ufer 

 

17. Themen und Motive in E.M. Forsters Maurice 

 

18. Virginia Woolf, Die Jahre 

 

19. André Gide, Die Verliese des Vatikan 

 

20. André Gide, Die Falschmünzer 

 

21. Cesare Pavese, Unter Bauern 

 

22. Carlo Emilio Gadda, List und Tücke 

 

23. Anton Tschechow, Die Steppe 

 

24. Otto Julius Bierbaum, Prinz Kuckuck 

 

25. Giorgio Bassani, Hinter der Tür 

 

26. Walter Benjamin, Städtebilder 

 

27. Karl Philipp Moritz, Anton Reiser 

 

28. Kurt Tucholsky, Ein Pyrenäenbuch 

 

29. Herman Bang, Das weiße Haus 

 

30. Ulrich Bräker, Der arme Mann im Tockenburg 

 

31. Herman Bang, Das graue Haus 

 

32. Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas 

 

33. Truman Capote, Die Grasharfe 

 

34. James Baldwin, Giovannis Zimmer 

 

35. Peter Altenberg u. der bürgerliche Selbsthass 

 

36. James Baldwin, Eine andere Welt 

 

37. James Baldwin, Gesammelte Erzählungen 

 

38. Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon 

 

39. Yukio Mishima, Geständnis einer Maske 

 

40. Eine bedenkliche Lektüre: Ihara Saikaku 

 

41. Andrew Holleran, Nächte auf Aruba 

 

42. Andrew Holleran, Tänzer der Nacht 

 

43. Jan Roß, Was bleibt von uns? 

 

44. Gustav Meyrink, Des dt. Spießers Wunderhorn 

 

45. Tomasi di Lampedusas Erzählungen 

 

46. Harry Graf Kessler u. Otto von Dungern 

 

47. Joseph Roth, Briefe aus Deutschland 

 

48. Edmund White, Selbstbildnis eines Jünglings 

 

49. E. White, Und das schöne Zimmer bleibt leer 

 

50. Gerbrand Bakker, Oben ist es still 

 

51. Tim Teeman, In Bed with Gore Vidal 

 

52. Eça de Queiroz lesen 

 

53. Max Dauthendeys Erzählungen 

 

54. Mark Twain, Der geheimnisvolle Fremde 

 

55. Mark Twain, Briefe von der Erde 

 

56. Robin Alexander, Die Getriebenen 

 

57. Adalbert Stifter, Der Waldgänger 

 

58. A. Rödder, Eine kurze Geschichte der Gegenwart

 

59. H. v. Doderer, Die Wasserfälle von Slunj 

 

60. Schlag nach bei Pongs 

 

61. Doderers frühe Prosa 

 

62. Liselotte v. d. Pfalz: Autonomie im Lamento 

 

63. Dramatische Höhepunkte bei Saint-Simon  

 

64. Johannes Urzidil, Die letzte Tombola

 

65. André Maurois, Balzac - Eine menschliche Komödie

 

66. Lutz Unterseher, Antifritz - Hommage an Prinz Heinrich von Preußen

 

 

 1. Notizen zum Roman Der Turm von Uwe Tellkamp

 

Thomas Manns „Buddenbrooks“ trägt den Untertitel „Verfall einer Familie“. Tellkamp hat unter seinen Titel gesetzt: „Geschichte aus einem versunkenen Land“. Ebenso treffend könnte es heißen: Verfall einer Gesellschaft. Damit würde das Prozesshafte der Handlung, nein: der Handlungen noch besser charakterisiert sein. Es ist bei Tellkamp, als würde alles, Personen, Orte, Geschichten, in das Element Zeit getaucht, wie Gegenstände in ein Säurebad und alles veränderte sich darin radikal, erst zögernd, dann beschleunigt, zuletzt sich überstürzend.
      Fast unüberschaubar sind Zahl und Geflecht der Personen. Dabei gehören sie überwiegend der gleichen Schicht an, einem im weitesten Sinn bürgerlichen Milieu, das sich nicht mehr durch Besitz, sondern durch herausgehobene Bildung und berufliche Funktion innerhalb der sozialistischen Gesellschaft definiert. Diese Ärzte, Wissenschaftler, Schauspieler, Betriebsleiter wohnen in den großbürgerlichen Villen am Dresdner Weißen Hirsch. Sie sind nicht einmal Erben der verschwundenen oder vertriebenen Erbauer, in keinem Sinne, beinahe nur Zwischennutzer, eingewiesen von der Kommunalen Wohnraumbewirtschaftung. Die zusammengewürfelten Mietparteien teilen sich alles mehr schlecht als recht, Bäder, Toiletten, Durchgangsräume. In den frühen Jahren spürt man noch den intensiven Zusammenhalt, er wird schwächer in den Jahren sich zuspitzender Entwicklung. Fluchtpläne, die Angst vor der „Firma“, Perspektivlosigkeit – die nachbarschaftliche Solidarität löst sich auf, um im Herbst 1989 noch einmal für kurze Zeit zurückzukehren.
      Tellkamps Personen, selbst weniger bedeutende Nebenfiguren, nehmen zumeist eine gerade sie persönlich kennzeichnende Entwicklung in diesem „Mahlstrom“ vom späten Breschnew zum mittleren Gorbatschow. Wie dieses Individuelle nebenbei im Hauptgang der großen Entwicklung herausgearbeitet wird, gehört zu den großen Qualitäten des Romans. Ich will es nur an zwei kleinen Beispielen aufzeigen. Der Soldat Pfannkuchen (ein Spitzname) tritt uns zuerst als durchsetzungsstarker Rabauke mit krimineller Vorgeschichte entgegen, ein Mann kluger Instinkte und bar jeder Kultur. Seine verschlagene Vitalität kommt in den fürchterlichen Jahren bei der NVA zu einem deutlichen Bewusstsein seiner selbst, zu Ansätzen von Solidarität – und im Wendeherbst warten bei seiner Entlassung schon die Kumpane von früher. Sie werden die neue Freiheit auf ihre Weise zu nutzen wissen … Oder die Kaminski-Zwillinge, Studenten und Söhne eines Parteibonzen. Als neue Mitbewohner dringen sie zu Beginn des Romans in den Wintergarten ein und stören ein privates Frühstück befreundeter Hausgenossen; der Wintergarten sei für die gesamte Hausgemeinschaft da - und am Ende verfügen sie, schon im Geist des Modrow-Gesetzes, allein darüber.
      Humor ist ein wesentliches Ingrediens der Erzählung. Man erzählt sich typische DDR-Witze jener Zeit. Ein Einkaufsbummel über den Striezelmarkt endet mit der sehr komischen Qualitätskontrolle nicht gebrauchsfähiger Rührbesen. Wir erfahren, wie ein typischer Leipziger Messemantel beschaffen ist; seine vielen Geheimtaschen dienen dem Abtransport erbeuteter Westbücher. In der Adventszeit entbrennt ein erbitterter Wettstreit unter den Universitätskliniken: Welche hat den schönsten Weihnachtsbaum? Man greift zu drastischen Mitteln. Es wird gern Sächsisch gesprochen. Tellkamp zeichnet es phonetisch sehr präzise auf.
      Auch der Schrecken ist im Roman vertreten, und nicht zu knapp, vor allem in der zweiten Hälfte. Die Armee und die Industrie sind die Orte, an denen er unumschränkt herrscht. Andere Motive des Werks, die immer wieder variiert werden, wie Themen eines sinfonischen: die Welt der Ämter, die Zensur, die Fixierung in so vielem auf den anderen deutschen Staat, vor allem auf seine Produkte.
      Zwei kritische Anmerkungen noch. Tellkamp ist ein großer Sprachvirtuose, unbestritten. Doch lässt er sich etwas zu oft dazu verführen, seine brillante Sprachkunst vorzuführen. Ihre Fontänen springen hoch und höher – bis sie nur noch ermüden. Das andere ist ein konstruktives Element, das man so oder ähnlich in vielen Romanen findet (nur bei Tellkamp, der so viel zu bieten hat, würde man gern darauf verzichten). Der Autor liefert mir an zwei Stellen zu viel dramatische Zuspitzung. Einmal sind es die erotischen Nebeninteressen der Eltern von Christian Hoffmann, der Hauptfigur. Sein Vater, Arzt, hat ein langjähriges Verhältnis zu einer Sekretärin, sogar eine Tochter von ihr. Die Geliebte erträgt die dauernde Zurücksetzung nicht, unternimmt einen Suizidversuch, der scheitert, und geht dann eine neue Beziehung ein, zu einem Kollegen von Hoffmann senior, dessen Frau sich ihrerseits … Ach, es ist alles noch komplizierter und doch insoweit nur ein Familienroman höchst konventioneller Bauart, entbehrlich. Christian selbst soll am Schluss als Soldat gegen Demonstranten in Dresden vorgehen, unter denen sich – Leser, deine Ahnungen trügen dich nicht – just seine Mutter befindet, die gerade von Polizisten zusammengeknüppelt wird; woraufhin der Held abschließend zusammenbricht, eine etwas zu gewollte Parallele zum kollabierenden Staat.
      Im Übrigen ist das Buch ein großes, bereicherndes Leseerlebnis. Der Verlag hat wohl die Unterstellung vorausgesehen, es handele sich um eine Art Siegerliteratur, und hat auf die Rückseite gesetzt, was Jens Bisky, Sohn von Lothar Bisky, befand und woran ich mich jetzt anschließe: „Wenn in Zukunft einer wissen will, wie es denn wirklich gewesen ist in der späten DDR, sollte man ihm rasch und entschlossen den neuen Roman von Uwe Tellkamp in die Hand drücken: ‚Nimm und lies.’“ 

 


2. Annie Proulx lesen


Über meinem Schreibtisch hängt das Filmplakat von „Brokeback Mountain“. Meine Augen lösen sich gelegentlich vom Monitor und ruhen auf dem Plakat. Da lese ich unter anderem: nach der Kurzgeschichte von Annie Proulx. Erst dieser Film hat sie bei uns bekannter gemacht, in den USA ist sie schon länger erfolgreich. Sie hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und wichtige Preise bekommen.
      Sie kommt aus Neuengland (geboren 1935), hat Vorfahren in Kanada und lange als Journalistin und Sachbuchautorin gearbeitet. Erst ab Mitte der Achtziger schrieb sie Belletristik. Seit 1995 lebt sie im Westen der USA (Denver und Wyoming). Sie wurde und wird als der „weibliche Hemingway“ vermarktet. Womit man ihr Unrecht tut: Sie selbst und ihr Werk stehen auf eigenen Füßen. Richtig ist nur: Auch sie lässt sich intensiv auf raue, ungeschminkte Wirklichkeit ein.
      Zuerst las ich den Sammelband „Brokeback Mountain“. Er war schon 2001 unter dem Titel „Weit draußen“ in deutscher Übersetzung erschienen und wurde nach dem Filmerfolg bei Neuauflage umbenannt. Alle elf Geschichten spielen in Wyoming. Zartbesaitete seien vor der Lektüre gewarnt: Dieser Westen ist das Gegenteil einer Idylle. Eine großartige, feindselige Landschaft, ein unverträgliches Klima, schwieriger Broterwerb, aktuelle Strukturprobleme und mitten darin zugespitzte Charaktere – das ist die Welt von Annie Proulx. Sie liebt vor allem Männer, die auf spektakuläre Weise scheitern, nachdem sie sich lange an allem gerieben haben.
      In „Der halbgehäutete Ochse“ ist es ein alter Mann, der nach dem Tod seines Bruders erstmals nach Jahrzehnten wieder nach Hause fährt. Die lange Fahrt von der Ostküste nach Wyoming wird für ihn zu einer zunehmend chaotischeren Reise in die Vergangenheit. Und auf den letzten paar Meilen gerät er in eine tödliche Falle, die er sich selbst gestellt hat.
      Dann in „Tief im Schlamm“ das glanzlose Elend der Rodeos, dargestellt an einem Einzelschicksal, eine überzeugende Sozial- und Charakterstudie. Oder die unverdrossene Berufsodyssee eines typischen modernen Westlers, von Pleite zu Pleite, garniert mit weiteren Katastrophen („Lebenslauf“). Das großartige „In der Hölle will man nur ein Glas Wasser“ sollten sie nur lesen, wenn sie sich vollkommen stabil fühlen … „Ein Paar Sporen“ entpuppt sich als verhextes Teufelzeug. Um radikal-ökologischen Fundamentalismus bis zum bitteren Ende geht es in „Die Gouverneure von Wyoming“. Und in den Gegenspielern der Hauptfigur erkenne ich hier einmal Figuren, die nicht zwangsläufig scheitern müssen.
      Wer die Erzählung „Brokeback Mountain“ liest und den Film noch vor sich sieht, wird weitere Aufschlüsse erhalten. Was treibt Ennis am Ende des Films mit diesen beiden Hemden? Jetzt weiß ich es. Noch mehr Hintergrundinformationen bekommt man durch Proulx’ Aufsatz „Verfilmt werden“, mit dem der Band schließt. Bei seiner Lektüre lernt man diese sympathische ältere Dame selbst ein wenig kennen.
      Man kann auch mit ihrem ersten Erzählband „Herzenslieder“ beginnen. Er spiegelt auf ähnliche Weise das ländliche Neuengland und einige seiner Originale wider. Doch genug für heute und den Anfang.


3. Der andere Gore

 

Um gleich reinen Tisch zu machen: Gore Vidal galt jahrzehntelang als entfernter Verwandter des jüngeren Al Gore, als Vetter x-ten Grades. Inzwischen sollen neue genealogische Untersuchungen ergeben haben, dass beide nicht miteinander verwandt sind. Ob dies zutrifft oder nicht, kann hier nicht erörtert werden. Al Gore jedenfalls hatte ein starkes Interesse an diesem Forschungsergebnis. Sein „Cousin“ hatte ihn in seinen Schriften allzu ungünstig beurteilt. Man kann dies und außerdem viel Wissenswertes über den gesamten Gore-Clan nachlesen in Gore Vidals Buch „Das ist nicht Amerika!“, erschienen 2000 im Knaus Verlag. Besonders der Aufsatz „Die Gores“ dürfte für den späteren Friedensnobelpreisträger unerfreulich zu lesen gewesen sein. Dabei ist beider politischer Standort nicht weit auseinander. Beide sind linksliberal, Gore Vidal dabei radikaldemokratisch.
      Al Gore erscheint in dieser Darstellung als blasser, wenig begabter, dabei sehr fleißiger Opportunist. Belegt wird dieses harte Urteil durch eine Fülle von biographischen Details, die zumindest hierzulande bisher nicht bekannt waren. Spitzzüngig ist die Rede von Al Gores „hart erarbeitetem Mangel an Spontaneität“ oder der „uncoolen Unverblümtheit seines Ehrgeizes“. Gore Vidal beleuchtet Ehe und Vermögensaufbau des lieben Vetters und mokiert sich über dessen Rolle im Vietnamkrieg – er war beim Militär Journalist und ließ sich für die Medien vor den Toren Saigons mit einer Waffe in der Hand fotografieren. Auch als Vizepräsident unter Clinton fällt Al Gore durch. Wen’s interessiert, bitte selbst nachlesen.
      Wer aber ist Gore Vidal? Geboren 1925, wuchs er in einem der wenigen Familienclans auf, die das politischen Leben der USA seit Generationen dominieren, genealogische Forschungen hin oder her. Sein Vater war Leiter der Luftfahrtbehörde unter F. D. Roosevelt. Seine Mutter heiratete nach der Scheidung den Bankier Auchincloss, der selbst nach weiterer Scheidung die Mutter von Jacqueline Kennedy ehelichte. Daher rührt die Vertrautheit Gore Vidals mit den Verhältnissen des Kennedy-Clans. Sein großes Vorbild war indessen sein Großvater Thomas Prior Gore, von Geburt an blind, dennoch jahrzehntelang Senator für Oklahoma. Dessen weitere politische Karriere scheint durch Präsident Roosevelt beendet worden zu sein.
      Gore Vidal nahm am Zweiten Weltkrieg teil und veröffentlichte einen viel beachteten Kriegsroman. Später sollte er auf Betreiben seines Großvaters selbst für den Senat kandidieren. Doch er publizierte zuvor einen Roman über das damalige Tabu-Thema Homosexualität und zerstörte sich damit jede Chance in der Politik. Er war dann in Hollywood als Drehbuchautor tätig, war Co-Autor bei „Ben Hur“, schrieb Romane und Essays, lebte jahrzehntelang die Hälfte des Jahres in Italien --- und kandidierte tatsächlich zweimal erfolglos für den Kongress (Repräsentantenhaus und Senat). Ein Leben selbst wie ein Roman.
      Was kann man einem deutschen Leser als Erstes empfehlen? Vielleicht den Roman „Das goldene Zeitalter“, ebenfalls 2000 im Knaus Verlag erschienen. Es ist ein ebenso kritisches wie detailreiches Werk über die Mächtigen in Amerika von Roosevelt bis Eisenhower und verarbeitet eine Fülle von sehr wertvollem Hintergrundwissen. Wir erleben 570 Seiten lang die realen Präsidenten, Minister und ihre Umgebung im Kontakt mit fiktiven Personen, vor allem aus der Welt der Medien, ein überzeugend gelungener Kunstgriff. Roosevelt erscheint, für mich überraschend, als gewissenloser, machtgieriger Opportunist. Seine Zeit bedeutet für Gore Vidal den Beginn moralischen Verfalls in der Politik, Dabei befindet er sich wie einige seiner Romanfiguren in dem Dilemma, dass er einen anderen Ausgang des Weltkrieges nicht wünschen kann, Strategie und Taktik Roosevelts vor und im Krieg aber vehement verurteilt. Truman kommt nicht besser weg, nur Eisenhower findet relative Gnade. Was er über die Vorgeschichte der Atombombenabwürfe auf Japan berichtet, ist ebenso fesselnd zu lesen wie die Beschreibung der seltsamen Praktiken, mit denen der Öffentlichkeit der Anblick von Roosevelts gelähmten Beinen erspart wurde.
      Gore Vidals Stärke ist nicht die Darstellung des Individuums und seiner inneren Verfassung. Er interessiert sich primär für das Funktionieren von Gesellschaft, für die Organisation und den Missbrauch von Macht. Dieses Motiv steht auch hinter vielen seiner Essays, in denen er die amerikanische Innen- und Außenpolitik der letzten Jahrzehnte einer zumeist gnadenlosen Überprüfung unterzieht.
      Gore Vidal - ein großer satirischer Romancier und Essayist und Moralist, in Deutschland noch zu wenig bekannt.

 

 

4. Der Riesenroman: Harold Brodkey und Die flüchtige Seele

 

Mögen Sie auch Riesenromane, so lang wie die Bibel, an denen man wochen- und monatelang lesen kann? Kommt auf den Inhalt an, werden Sie sagen – und auf die Form. Solche Riesenepen erreichen uns heutzutage vor allem aus den USA. Zwei sehr lohnende Beispiele aus meinem Bücherschrank: Saul Bellows „Die Abenteuer des Augie March“ (862 Seiten als Taschenbuch) und William Gaddis’ „Die Fälschung der Welt“ (1241 Seiten). Als ich vor einiger Zeit bei Zweitausendeins auf Brodkeys Roman „Die flüchtige Seele“ stieß (1343 Seiten als Taschenbuch) und im Inhaltsverzeichnis blätterte, schien er mir in der Nachfolge solcher Werke zu stehen. Wir wollen sehen …

Harold Brodkey (1930 – 1996) erregte in den fünfziger und sechziger Jahren Aufsehen mit einer Reihe exzellenter Kurzgeschichten. Dann ging jahrzehntelang das Gerücht um, er arbeite an einem wirklich großen Roman. Endlich erschien 1991 „Die flüchtige Seele“ und bewirkte sofort Aufsehen, Kontroversen, Lob und Enttäuschung. Die deutsche Übersetzung von Angela Praesent erschien 1995 bei Rowohlt, 1997 auch als Taschenbuch, das schon wenige Jahre später verramscht wurde.
      Zum Inhalt nur so viel: Er ist stark autobiographisch und offenkundig in der Nachfolge Prousts geschrieben. Der Roman kann hier aufgrund von Länge und komplizierter Struktur nicht ausreichend analysiert werden. Dafür präsentiere ich Ihnen einige charakteristische Stellen, wie man sie leicht zu Hunderten finden kann. Machen Sie sich selbst ein Bild von Sprache und Zugriff dieses Berserkers. Fangen wir an! Der Erzähler genießt die Gastfreundschaft von Verwandten und notiert dazu (S. 852):
      „Wir alle sind Schlachten führende Generäle im Laufe der oft höflich uneingestandenen Irreversibilität der Momente auf dem Terrain der eigenen Gefühle und derjenigen anderer – ein perverses Fieber des Tatendursts, der Sprache und des Willens – die rauschhafte Erfahrung, nicht heimgeschickt zu werden: dies findet in einer wogenden, nicht nährenden, vielleicht ‚verfremdeten’ Landschaft statt, voll herrlich eisiger, weißflockiger Illusionen, die mehr oder minder zivilisiert in Erscheinung treten, als SemiIllusionen, als Übersehen von Dingen, als Semi-Kämpfe, Semi-Nachsicht, Nervosität und Neuheit.“
      Stellen wie diese sind es wohl, die die „Frankfurter Rundschau“ im Blick hat, wenn sie urteilt: „Große Romankunst des 20. Jahrhunderts“. Da erstirbt einem doch jede Kritik … Zweites Beispiel: Der Erzähler hat Sex mit seiner Freundin Ora. Ich wähle eine der harmlosesten Stellen aus (S. 291):
      „Mit postkoitaler Gewissheit spürte ich, dass Wahnsinn ihrer Schönheit zugrunde lag und sie schuf … Ein vor ihren Augen flirrender Fächer. Sie besaß diese andere Würde – bei ihr eine Form von Bescheidenheit, ein Prahlen mit Identität. Um dem Entsetzen zu entgehen – und sie zeigte ihre Gefühle dem Entsetzlichen gegenüber nicht offen, nahm jedoch entsetzliche soziale Situationen hin -, befürwortete sie die Liebesschnulze-mit-Sex als allerneueste Selbstverständlichkeit.“
      Sagen Sie nichts dagegen, sonst komme ich Ihnen mit Salman Rushdie. Der versteht schließlich davon mehr als Sie und ich. Und er befindet: „’Die flüchtige Seele’ präsentiert mit waghalsiger Offenheit Dinge, die gewöhnlich in intimer Verborgenheit ruhen.“ Na und, sagen Sie und sind immer noch nicht überzeugt? Dann versuchen wir es mal mit dem Thema Krieg (S. 581):
      „Oder man war letztlich doch, bei aller ehern verderbten Zielstrebigkeit, von einer gewissen Unschuld – überwiegend, oder hin und wieder, zwischen Phasen des persönlichen Zusammenbruchs, als ein Teil des kurios erweiterten und beileibe nicht kollektiv einmütigen Bewusstseins davon, dass die kollektiv patriotischen Ziele himmelschreiend kriminellen Charakters, jedoch edel formuliert – in einer Hinsicht – und dem Tod und der Verstümmelung geltend, kaum je mit realistische Präzision angestrebt wurden …“
      Sie sehen, Brodkey macht es sich und uns nicht leicht. Und wird dafür wieder gebührend von Salman Rushdie gelobt, der dem Ruhm des Romans wesentlich mit auf die Beine geholfen hat: „Dieses Buch ist hundert kleinere, weniger riskante Bücher wert.“ Und ich bekam es für wenige Euro! Als letztes Zitat noch einmal etwas über Sex mit Ora. Die Beschreibung solcher Vorgänge ist nämlich des Autors eigentliche Passion. Da gibt es Stellen, hm, leider muss ich sie mir hier versagen: Nur als kleine Kostprobe (S. 507):
      „Das Arbeiten mit Pinsel, Messer, Nadel, Axt, das Kapitän-und-Mannschaft-sein, das Hacken und Ausstoßen, Hüsteln und Stocken – ich räuspere mich sehr oft: es kommt nicht darauf an, dass ich mich so danach sehne, stillzustehen und den Löwen Gottes im Raum zu spüren und mysteriöserweise Gottes Atem in mir – das Beben und die schüchterne Verwegenheit des Chorals dessen, was (so gesehen) mehr als die Summe von Molekülen ist – ich habe vor allem den menschlichen Weg gewählt: ich möchte, dass Ora überlebt.“
      So sieht also ein großer amerikanischer Roman aus, für dessen Übersetzungsrechte ein deutscher Verlag gewöhnlich tief in die Tasche greifen muss. Ein Buch, das so dick und so tiefsinnig ist, kann nicht schlecht sein. Ich habe einige Zeit suchen müssen, bis ich eine distanzierte Kritik gefunden habe. Bei Wikipedia gibt es am Schluss des Artikels über Brodkey einen Link, und zwar zur Besprechung des Buches im Deutschlandradio von Jochen Schimmang. Wer mehr wissen will – dort sind Schwächen und Stärken erschöpfend behandelt. Und lesen kann man den Roman natürlich auch. Er ist sogar ein hervorragender Lesegenuss – für Masochisten.



5. Saul Bellows Roman Mr. Sammlers Planet

 

Mr. Sammler kommt aus Krakau. Er war vor dem Krieg Korrespondent in London, er hat den Holocaust in Polen überlebt, seine Frau ist darin umgekommen. Wir schreiben 1969 und Mr. Sammler lebt in New York. Die Rente aus Deutschland stockt sein Neffe Dr. Gruner, ein Chirurg, laufend auf. Mr. Sammler ist Mitte siebzig und geht in Manhattan spazieren. Er beobachtet die Stadt und die Menschen.
      Er wohnt bei seiner verwitweten Nichte Margot. Sie ist das Musterbeispiel einer schusseligen liberalen Bildungsbürgerin. Sammlers Tochter Shula lebt in eigener Wohnung. Ihr Vater hält sie für verrückt. Sie hat die fixe Idee, Sammler schriebe an einer Biographie über H.G. Wells. Ungebeten stiehlt sie ein wertvolles Manuskript, das er nicht einmal benötigt. Dr. Gruner, den Sammler schätzt, hat alte Geschäftsverbindungen zur Mafia. Gruners Tochter Angela, gescheit und attraktiv, ist eine ausgeprägte Nymphomanin. Ihr Bruder Wallace ist ebenso unzurechnungsfähig wie Shula, dabei hoch intelligent und sehr rührig. Er sammelt in seiner Biographie BeinahePositionen: Er ist beinahe Physiker, beinahe Rechtsanwalt, beinahe Doktor der Verhaltenswissenschaften geworden. Jetzt ist er Pilot mit fabelhafter Geschäftsidee für ein weiteres Fiasko.
      Mr. Sammler erlebt sein eigenes Fiasko bei einem Vortrag in der Columbia University. Er wird in der damals üblichen Weise niedergeschrieen und am Weiterreden gehindert. Im Autobus kommt Mr. Sammler ungewollt einem Seriendieb auf die Spur und dadurch selbst in Gefahr. Die Aktivitäten seiner Verwandten verwirren sich zu einem Handlungsknoten, in dessen Zentrum Mr. Sammler alle Hände voll zu tun bekommt. Dann stirbt sein Neffe, seine einzige Stütze, an einer Gehirnblutung. Mr. Sammler spricht das Totengebet und schließt: „Denn das ist die inneliegende Wahrheit – dass wir alle wissen, Gott, dass wir wissen, dass wir wissen, wir wissen, wir wissen.“ Damit endet der Roman.
      Im Übrigen ist Mr. Sammler ein skeptischer Humanist und Philosoph. Er reflektiert permanent die Bedingungen der eigenen Existenz wie die seiner Umwelt. Welche seiner Gedanken im Buch habe ich mir angestrichen? Zum Beispiel über die Studenten: „In ihrer Verachtung der Autorität achteten sie auch keine Menschen.“ Oder über das Sexualleben: „Nichts schien verletzender, als von einem Laster befallen zu sein, das kein Spitzenlaster war.“ Oder über die menschlichen Typen auf dem Broadway: „Nicht nachgeahmt sind der Geschäftsmann, der Soldat, der Priester und der Spießer. Der Standard ist ästhetisch.“ Oder eine Prophezeiung: „Eine Oligarchie von Technikern, Ingenieuren … würde kommen, um riesige, mit zigeunerhaften, narkotisierten, blumengeschmückten ‚ganzen’ Halbwüchsigen gefüllte Slums zu regieren.“ Und: „Ein ‚interessantes’ Leben ist das höchste Ideal der Stumpfsinnigen.“ Sein eigenes Ideal: „Das Beste, was ich gefunden habe, ist Abgeschiedenheit. Nicht wie sich Misanthropen lossagen, durch Urteilen, sondern durch Nicht-Urteilen.“
      Bellows Roman ist ein Buch über die Achtundsechziger in New York und ihre Welt und zugleich viel mehr: ein Werk über den Einsamen in der Moderne.


6. Walter Kempowski lesen?

 

Am 11. April 2007 konnte man noch einmal Walter Kempowski zu seinen Lebzeiten im Fernsehen begegnen (Sendung „Kulturzeit“ auf 3SAT). Es war kein Interview, er sprach frei über das, was ihn noch bewegte. Es hieß einleitend, er sei krank. Er sagte einmal schlicht, er sterbe gerne. Manchmal war er schwer zu verstehen. Was er sagte, bewegte wiederum mich sehr, zu meiner eigenen Überraschung. Ich gehörte nicht zu seinen Lesern.
      Kempowski war für mich bisher eine Art Thomas Mann seiner Zeit – ja, eben, seiner Zeit, nicht meiner. Seine Themen – Zweiter Weltkrieg, Flucht und Vertreibung – interessierten mich weniger. Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit, die sich bewusst von ihrer Vorgeschichte abgewendet und ganz Neues gelebt und gestaltet hat. Die jüngste Konjunktur für das Dritte Reich und seinen Untergang – Hitler als Clown! – scheint mir eher dem Unterhaltungsbedürfnis als einem nach Aufklärung geschuldet. War das eben eine Blasphemie?
      Der Wiederaufbau war schon fast abgeschlossen, als ich anfing, meine Augen offen zu halten. So viele neue Häuser überall und keine Lücken mehr in den Straßenzeilen, Kriegsruinen eine große Seltenheit.
      Aus Gründen, die hier zu weit führen würden, gab es bei uns daheim kaum Vertriebene. Ich erinnere mich allein an einen Ostpreußen. Ja, seine Frau war auf der Flucht umgekommen, das wusste ich – doch seine Tochter hatte bereits einen Einheimischen geheiratet. Der Ostpreuße selbst lebte in wilder Ehe mit einer Kriegerwitwe. So etwas kam öfter vor, trotzdem galt es als anstößig. Man zerriss sich die Mäuler, und zwar wegen der schönen Kriegerwitwenpensionen. Die wollten die Frauen angeblich nicht verlieren und bevorzugten daher die sonst so verpönte „Onkelehe“.
      In der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft gab es Männer, Söhne, Brüder, die im Krieg gefallen waren. Ich hatte sie nicht gekannt, für mich bekamen sie keine Bedeutung. Kinder sind auch grausam: Lücken werden von ihnen als etwas Natürliches empfunden, sie wachsen in sie hinein und füllen sie aus. Diese verhärmten Frauen und Mütter mussten nach meinem Gefühl immer schon so verschlossen gewesen sein, ich kannte sie nicht anders. GEFALLEN – das Wort fiel öfter. Für mich hatte es keinen schrecklichen, eher einen verfremdenden Klang. Ich war ja selbst oft gestolpert und dabei gefallen. Mit diesem Wort konnte ich nie die Vorstellung von Tod verbinden. Über die Toten selbst wurde im Übrigen kaum einmal gesprochen. Ich glaube, dafür war der Schmerz noch zu groß.
      Das hat mich also vor allem geprägt: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Studentenbewegung. Davon komme ich nicht mehr los. Was habe ich mit Kempowski zu schaffen? Er sagte, er empfinde am Ende seines Lebens Schadenfreude. Er, der erfolgreiche Schriftsteller mit den ansehnlichen Auflagen, fühlte sich seit Jahrzehnten falsch eingeschätzt. Er habe, so gab er zu verstehen, sein umfangreiches Werk – vierzig Bände! – gegen den Geist der Zeit geschrieben, nicht für die Heutigen, sondern für die Kommenden. Ich durfte mich mitangesprochen fühlen, als einer der Heutigen. Nein, es waren und sind nicht meine Themen, ich bin ein Kind der Friedenszeit. Ich habe immer viel gelesen und dabei Entdeckungen für mich gemacht: Robert Walser, Cesare Pavese, Italo Svevo … Und nun noch Kempowski? Eher nicht.
      Oder vielleicht doch? Von dem Mann ging jetzt eine große Faszination aus. Etwas traf bei mir ins Schwarze: seine Hartnäckigkeit, sein Bewusstsein, eine Aufgabe gehabt und sie im Wesentlichen erfüllt zu haben. Er hatte sich jahrzehntelang verpflichtet gefühlt, etwas festzuhalten vom Lauf seiner Zeit für die späteren. Es war das Ethos des Schriftstellers, das sich in seinen Worten so unaufdringlich wie unverblümt aussprach. Davor empfand ich Hochachtung.
      Er hatte gewusst, er hatte etwas zu sagen, zu erzählen. Also kann ich doch wenigstens einmal in seine Bücher hineinsehen. Vielleicht spricht mich die Art und Weise an, wie er seine Gegenstände behandelt hat. Ist Stil nicht oft entscheidender als Stoff?
      Man kann es seltsam finden, dass einer über einen Schriftsteller schreibt, den er noch nicht gelesen hat.


7. Todorov

 

Todorov, 1947 in Graz geboren, ist in München aufgewachsen. Hier hat er seine Lehrzeit mit Autoknacken und Einbrüchen verbracht. Er hat dafür dreieinhalb Jahre bekommen. In der Jugendstrafanstalt Ebrach liest er die großen Russen, vermutlich auch Dostojewski. Wieder in München, trifft er auf seine alte Gang. Man verabredet einen Überfall auf einen Geldtransporter. Es kommt etwas dazwischen.
      Todorov plant ein noch größeres Ding. Das hat es hierzulande noch nie gegeben: Banküberfall mit Geiselnahme. Er tut sich mit Hans-Georg Rammelmayer zusammen, den er Hansi nennt. Am 4.8.1971 stürmen sie die Filiale der Deutschen Bank in der Prinzregentenstraße, nehmen Geiseln, verlangen zwei Millionen und ein Fluchtauto.
      Draußen vor der Absperrung drängeln sich bald Tausende. Strauß, damals Justizminister in Bayern, ist auch da. München leuchtet wieder, wenn auch etwas fahl. In der Bank trinken sie Sekt und Kognak mit den Geiseln. Ein feiner Restaurateur schickt Verpflegung. Todorov kommt einer jungen Frau näher als sonst bei ihm üblich.
      Sieben Stunden dauert es schon, da geht Rammelmayer mit einer Geisel zum bereitgestellten Auto. Die Polizei schießt sofort, Rammelmayer auch. Dann ist nicht nur Hansi tot, sondern auch die Frau neben ihm. Strauß ruft: „Patscht hat’s!“ (Es ist die Generalprobe für das Olympiamassaker ein Jahr später.) Die Polizei stürmt die Bank. Todorov schießt – in die Luft, wie er später sagt. Tatsächlich hat er keinen getroffen. Das Gericht will ihm das mit der Luft nicht glauben und verurteilt ihn wegen versuchten Mordes an einem Polizisten zu Lebenslänglich. Prozessführung und Urteil waren sehr umstritten.
      Todorov hat zweiundzwanzig Jahre verbüßt, die meiste Zeit in Straubing. Er holt im Knast das Abitur nach und studiert an der Fernuniversität Hagen sechs Semester Sozialwissenschaften. Er sympathisiert mit der RAF und hat Kontakt zu führenden Mitgliedern. Er führt eine Homoehe hinter Gittern, dreizehn Jahre lang. Der Partner, ein farbiger US-Soldat, ist ein verurteilter Doppelmörder. Als dessen Zeit um ist, wird er sofort in die USA abgeschoben. Todorov hat noch lange Jahre abzusitzen.
      Todorov erzählt seine Autobiographie detailreich und zugleich lakonisch, mit einem Unterton, gemischt aus Trauer und Selbstbewusstsein. Wir erfahren viel über das Gefängnisleben, über Mithäftlinge, Ausbruchsversuche und gerissene Anwälte. Wie überlebt ein Lebenslänglicher? Körperliches und geistiges Training sind wichtig. An diesem extremen Ort spielt Phantasie eine Hauptrolle. Und wie kommt Todorov nach der Entlassung in die Freiheit zurecht? Weniger gut, aber das ist eine neue Geschichte.
      Ich selbst habe keine Bank überfallen, nie Geiseln genommen, nicht mal mit der RAF sympathisiert – und doch habe ich beim Lesen oft Nähe gespürt. Wie Todorov das Vergangene verarbeitet, das gefällt mir. Was geschehen ist, wird nüchtern und im Bewusstsein eigener Schuld anerkannt, ohne Selbstkasteiung, ohne Selbstrechtfertigung. Er trägt es und lebt weiter. Seine kleinen Fluchten im Knast, seine Überlebensstrategien, sie sind mir vertraut. Das bürgerliche Leben ist nur ein erweitertes Gefängnis mit gelockertem Strafvollzug.
      Motive aus dieser Autobiographie sind in das Drehbuch zum Film „Gefangen“ von Jörg Andreas eingegangen.

 


8. Doderers Die Merowinger oder Die totale Familie

Erschienen ist der Roman erstmals 1962. Muss man das heute noch lesen, wurde ich gefragt. Nein, man muss nicht, aber man kann und darf.
      Die Herrschaften im Titel sind nicht das echte fränkische Königsgeschlecht, sondern deutsche Adlige aus Franken. Doderer deutet das Unwahrscheinliche an: Sie könnten tatsächlich von Chlodwig abstammen. Diese Merowinger des 20. Jahrhunderts besitzen ein Stadtpalais in Würzburg und ein Landgut außerhalb sowie rentable überseeische Wertpapiere. Sie heiraten auch Bürgerliche und haben noch immer eine ausgeprägt kriegerische Ader. Chef des Familienclans ist Childerich III.. Er hat eine spezielle Marotte: Durch ein aberwitziges System von Heiraten und Adoptionen will er alle nur denkbaren Verwandtschaftsgrade in seiner eigenen Person vereinen. La famille, c’est moi! Dieses Streben nach familiärer Totalität ruft die verwandten „Karolinger“ auf den Plan. Es kommt zum Stammeskrieg, am Ende wird Childerich entmannt.
      All das enthält viel drastische Komik. Sie hat etwas Gewaltsames, zumindest leicht Gezwungenes. Man müsste dieser Teile wegen das Buch noch nicht lesen. Der Erzähler nimmt Partei für den abtretenden Adel und gegen die Plattheit des triumphierenden bürgerlichen Zeitalters. Auch hierin folgt er seinem Vorbild Proust.
      Unbedingt zu empfehlen sind jedoch die Kapitel, in denen der Psychiater Professor Horn sein Unwesen treibt. Horn ist Spezialist für die Behandlung von Wutanfällen und hat in seiner Praxis regen Zulauf von einkommensstarken Privatpatienten. Er behandelt anfangs mit Nasenzange und kleinen Schlagwerkzeugen, mit denen der Hinterkopf des Kranken „bepaukt“ wird. Dabei wird zu bombastischer Musik von Meyerbeer ein Tisch umschritten, auf dem scheußliche Nippesfiguren zum Zugreifen und Zerdeppern verleiten …
      Der Professor geht nach einiger Zeit aus Profitgier zur Reihenbehandlung über. Die „Hornsche Reihe“ ermöglicht die Simultanbehandlung mehrerer Kranker, nun Elemente genannt. Selbstverständlich hat ein Professor keinen Mangel an medizinischen Hilfskräften. Das Grammophon wird durch eine originale oberbayrische Musikkapelle ersetzt. An die Mieter darunter wird eine „Lärmmiete“ gezahlt. Diese verfallen ihrerseits der Habgier und gründen einen Verein, der das Hornsche Verfahren zum Discountpreis anbietet. Es kommt zur Katastrophe – dem „Untergang Professor Horns im Toben der Elemente“.
      Doch der Professor hat schon etwas anderes erdacht: das „Wuthäuslein“, eine Kabine, in der jeder für sich eingesperrt und mit apparativem Schnickschnack bearbeitet wird. Und Horn denkt noch weiter, an die Zusammenkopplung fahrbarer Wuthäuslein zu ganzen Zügen, die auf Schienen durch Hallen und Gänge rollen, wie in einer Geisterbahn.
      Ich habe den Roman erstmals 1977 am Strand von Saint Malo gelesen und dabei vor Vergnügen gekräht. Auch jetzt habe ich mich wieder sehr amüsiert. Diese Satire auf Pseudowissenschaft, technisierte Medizin und Geldgier hat sich jung und frisch erhalten.

 

 

9. Das Rätsel Robert Walser

 

 Robert Walser gehört zu den am besten erforschten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Figur übt einen starken, eigentümlichen Reiz auf die Nachwelt aus und er hinterließ viel biographisches Material. Als Autor war er zu Lebzeiten relativ erfolglos und kam erst ab den Siebzigern in Mode. Seine Werke haben seitdem auch Filmregisseure zu eigenen Arbeiten herausgefordert.
      Für die weniger Kundigen sein Leben in Stichworten: Geboren 1878 in Biel, Schweiz. Nach der Schule mehrjährige Odyssee durch die Welt der kaufmännischen Angestellten. Ab 1905 als freier Schriftsteller in Berlin. Dort u.a. drei kleine Romane, die in Fachkreisen Anerkennung fanden, doch vom breiten Publikum nicht entdeckt wurden. 1913 Rückkehr in die Schweiz. In ärmlichen Verhältnissen erst in Biel, später in Bern. Lebte vom Verfassen kurzer Prosatexte für Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1929 dauernd in psychiatrischen Anstalten untergebracht. Seine Internierung gilt heute als medizinisch unbegründet. Gestorben 1956.
      Kaum erforscht ist meines Wissens Walsers Sexualleben. Keine Sorge, ich will hier nicht die Schlafzimmergeheimnisse eines seit fünfzig Jahren toten Schriftstellers lüften. Da gibt es wahrscheinlich nichts zu lüften und genau das ist das Bemerkenswerte und kann einen weiteren Zugang zu seinem Werk eröffnen. Er selbst hat sich während seiner Unterbringung gegenüber einem Arzt dazu so geäußert: Er habe zeitlebens nie sexuellen Kontakt zu irgendeinem Menschen gehabt, weder zu Frauen noch zu Männern.
      Dabei gibt es durchaus Frauen in seinem Leben. Zunächst die Lieblingsschwester Lisa. Wir haben zahllose Zeugnisse der Zuneigung. Und seine Schwester berichtet einmal von anstößigem, obszönem Verhalten des Bruders. War Walser inzestuös veranlagt? Dafür finde ich keinen eindeutigen Beleg. Dann Frieda Mermet, Leiterin einer Anstaltswäscherei. Er war mit ihr jahrelang befreundet, bevor er selbst Insasse wurde. Frieda Mermet sagte von ihm, er benötige keine Frau. Ihre Rolle war eher mütterlich. Schließlich die mysteriöse Edith, der wir in den Schriften aus seiner späten Berner Zeit so oft begegnen. Wer war sie? Vielleicht eine Saaltochter in einem Lokal, in dem er seinen zeitweise beträchtlichen Weinkonsum betrieb. Ihr gegenüber schlüpfte er schreibend gern in die Rolle von Sacher-Masoch. Oder war sie nur Fiktion, ohne reales Vorbild? Aus seiner Biographie kennen wir keine pikanten Details.
      Kann man ausschließen, dass Walser vielleicht insgeheim homosexuell war? Ja, es scheint mir so. Wir finden bei ihm eine aufschlussreiche Textstelle dazu in seinem frühen stark autobiographischen Roman „Geschwister Tanner“. Der Held Simon ist eine Zeitlang ganz ehrbar mit einem Krankenpfleger befreundet. Als dieser ihn küsst, genießt Simon es spontan und betrachtet gleich hinterher die Szene mit den missbilligenden Augen der Außenwelt. Er entzieht sich weiterer Annäherung. Dies ist nur scheinbar brav, angepasst und konventionell.
      Die gerade erwähnte Stelle hat jenseits des Sexuellen viele Parallelen in Walsers Leben und Werk. Immer wieder finden wir Situationen, in denen Verlockung in Bedrohung umschlägt. Und immer wieder ordnet er sich Autoritäten unter, um sich bald danach ironisch von ihnen zu distanzieren. Das begann schon mit seinem Zug durch die Büros, Banken und Schreibstuben der Jahrhundertwende. Sich an verhasster Arbeit abzuarbeiten, sich dem Widerwillen freudig hinzugeben und sich irgendwann lachend davonzumachen – das ist ein Grundmuster seines Verhaltens. Er trieb es einmal auf die Spitze. Er hatte schon etwas publiziert, da trat er unter falschem Namen in eine Dienerschule ein und übte die Tätigkeit eines Kammerdieners danach tatsächlich auf einem feudalen Schloss in Oberschlesien einige Monate aus. Nicht um später à la Wallraff darüber zu schreiben. Er schrieb „Jakob von Gunten“, sein wunderlichstes Buch, Poesie des Ausgeliefertseins, der Unterdrückung und Herabwürdigung – und des Genusses daran.
      War Walser masochistisch? Vielleicht. Und in diesem Fall ein Masochist als Platoniker.
      Einer sagte mal, die Schweizer seien ein Volk von gesitteten Mäusen. Walser ist die Maus, die sich in die Katze verguckt und dann über sie lacht.


10. Schreiben bis zum Selbstmord

 

Das sind Fragen, die einen beschäftigen können: Gibt es Beziehungen zwischen literarischer Produktion und Neigung zum Selbstmord? Kündigt sich der spätere Freitod in den Werken an? Welchen Einfluss hat die Neigung zum Suizid auf die Qualität der Werke?
      Wer fällt mir spontan ein? Tucholsky, Stifter, Pavese. Fangen wir mit Tucholsky (1890 -1935) an. Wir wissen nicht einmal mit Bestimmtheit, ob er sich tatsächlich absichlich getötet oder nur versehentlich in der Dosis geirrt hat. Ersteres erscheint mir noch immer wahrscheinlicher. Viele kennen seine berühmte Treppe, diese Skizze aus dem schwedischen Exil mit den drei Stufen: Leben – Schreiben – Schweigen. Das kann man als Ausdruck einer präsuizidalen reaktiven Depression auffassen. Tatsächlich hatte er als deutsch-jüdischer Emigrant ohne materielle Absicherung Gründe, depressiv zu sein. Er hatte alles verloren: frühere Publikationsmöglichkeiten und die Illusion, mit dem Geschriebenen etwas bewirkt zu haben. In seinen Schriften vor 1933 kündigt sich für mich die spätere Verzweiflung nicht an. Sicher, da ist viel Skepsis und gelegentlich lyrische Melancholie, doch Selbstmord ist noch kein Thema. Er resultiert erst aus dem Scheitern als Schriftsteller.
      Löst es immer noch Befremden aus, über Stifters (1805 – 1868) Tod die Wahrheit zu sagen? Der gute alte Seelenfrieden-Stifter ein Selbstmörder? Immerhin hat schon Thomas Mann von seinem „blutig-selbstmörderischen Ende“ gesprochen. Gewiss, er war krank, doch nichts berechtigt uns zu der Annahme, er sei nicht bewusst von eigener Hand gestorben. Ein Unfall, ein Missgeschick, bei dem er sich nachts mit dem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten hat? Das ist absurd. Der Kontrast zwischen dieser Todesart und den Tendenzen seines Werkes springt ins Auge, er ist hochgradig verdächtig. Verrät nicht bereits sein Werk bei aller thematischen und stilistischen Größe permanente Anspannung? Da wurde etwas nur mühsam gebändigt. Er schrieb gegen die Mächte da unten an, er bannte sie für lange Zeit – bis es nicht mehr gelang.
      Cesare Pavese (1908 – 1950) war in den ersten Nachkriegsjahren Italiens wichtigster und angesehenster Romancier. Seine neorealistischen Werke haben sich bis heute lebendig erhalten. Liest man sein langjähriges privates Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“, lernt man einen von Selbstzweifeln und Selbsthass Geplagten, einen zunehmend Zerrissenen kennen. Seine Bücher erscheinen einem dann wie Stücke lebendigen Fleisches, aus ihm selbst herausgeschnitten. In ihnen werden Not, Untergang und Tod lange den wichtigsten Nebenpersonen zugeordnet. Oft berichtet ein Ich-Erzähler von ihnen, von seiner eigenen Schuld, seinen Schuldgefühlen. Da gibt es einen querschnittsgelähmten jungen Mann, dem der beste Freund die Freundin ausspannt. Es gibt eine sehr traurige, verspätete Hochzeitsreise nach Genua, auf der der Mann die Frau seelisch so sehr verletzt, dass sie bald dahinkümmert und stirbt. In „Die Selbstmörder“ hat der Ich-Erzähler einen Jugendfreund zum Freitod verführt, er erzählt es später seiner Geliebten, die sich ihrerseits bald mit Gas vergiftet.
      In Paveses letztem Roman „Die einsamen Frauen“ tritt erstmals bei ihm eine Ich-Erzählerin auf. Sie kehrt nach Turin, der Stadt ihrer wie des Autors Kindheit, zurück und findet nur Beziehungslosigkeit und Leerlauf vor. Am Anfang der Geschichte misslingt einer jungen Frau ihrer Umgebung der Selbstmord in einem Hotel und am Ende tötet sie sich doch. Dazwischen eine Handlung voller Desillusionierung, auf eine so karge, verzichtende Weise erzählt, dass es schon wieder betörend zu lesen ist.
      Pavese fuhr bald nach Erscheinen des Buches – auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angelangt – in seinem Wohnort Turin mit der Straßenbahn zu einem Hotel. Er nahm ein Zimmer und rief von dort mehrere Frauen seiner Bekanntschaft an. Keine wollte jetzt noch zu ihm kommen. Da schluckte er die bereitgehaltene Überdosis Tabletten. Zehn Tage davor hatte er sich notiert: „Ich habe ein paar Jahre meine Schäden ignoriert, habe gelebt, als existierten sie nicht … Ich habe auf dieser Erde nichts mehr zu wünschen übrig außer jener Sache, die fünfzehn Jahre Bankrott nunmehr ausschließen. Dies der Abschluss des nicht beendeten Jahres, das ich nicht beenden werde.“
      Die letzte Eintragung in seinem Tagebuch ist vom 18.8.50 – neun Tage vor seinem Tod – und lautet in der Übersetzung von Charlotte Birnbaum folgendermaßen:

„Die im Geheimsten gefürchtete Sache geschieht immer.
Ich schreibe: o Du, habe Mitleid. Und dann?
Es genügt ja ein wenig Mut.
Je bestimmter und genauer der Schmerz ist, umso mehr schlägt der Instinkt des Lebens um sich, und die Idee des Selbstmords sinkt.
Es schien leicht, wenn man daran dachte. Und doch haben es kleine Frauen getan. Es braucht Demut, nicht Stolz.
All das macht Ekel.
Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.“ 

 


11. Maurice Sachs – Literatur am Abgrund

 

Maurice Sachs (1906 – 1945) war ein französischer Literat, hoch begabt und zu seiner Zeit auch berüchtigt. Man wird nicht leicht eine zweite Schriftstellerbiographie finden, die so viel Unheil und Verwirrung enthält. Fast alle europäischen Plagen der ersten Jahrhunderthälfte sind da vorhanden – und noch einige persönliche Komplikationen zusätzlich. Als Hauptwerk hat er uns die Autobiographie „Der Sabbat“ hinterlassen, zu verstehen im Sinn von Hexensabbat. Sachs schrieb sie in der ersten Hälfte des Jahres 1939 als umfassendes Schuldbekenntnis, als Analyse eigener schlechter Anlagen sowie der Zeitumstände, unter denen sie zur Entfaltung kamen. Er wollte sich von dieser Last befreien und neu beginnen. Es ist ihm zwar ein bedeutendes Buch gelungen, nicht jedoch der persönliche Neuanfang. Sein Absturz war unaufhaltsam. „Der Sabbat“ konnte erst posthum erscheinen.
      Eigentlich hieß er Ettinghausen. Sachs war der Mädchenname seiner Mutter. Die Verwandtschaft bestand aus sehr wohl situiertem jüdischem Bürgertum, nur sein Zweig des Familienstammbaums neigte zur Zerrüttung und Verarmung. Scheidungen kamen hier gehäuft vor, sein eigener Vater verschwand früh und endgültig. Der Großvater mütterlicherseits war ein reicher Diamantenhändler und ermöglichte dem Enkel während des 1. Weltkrieges den Besuch eines Eliteinternats. Maurice warf sich früh auf die Literatur, er interessierte sich fast nur für sie.
      Er attestiert sich ein angeborenes amoralisches Empfinden und schildert breit und oft amüsant, wie die Verhältnisse im Nachkriegsfrankreich die Entfaltung dieser Anlage begünstigten. Das Land befand sich nach dem gewonnenen Krieg zehn Jahre lang in einem Taumel von Euphorie und Vergnügungssucht. Die Wirtschaft boomte, die Künste blühten. Er gehörte der Generation Versailles an, der damals alles möglich schien. Einen ersten Einschnitt gab es, als seine Mutter nach betrügerischem Bankrott ihren Wohnsitz dauernd nach London verlegte. Maurice, damals sechzehn, brach die Schule ab und folgte ihr für ein Jahr. Er wurde Gehilfe in einer Buchhandlung.
      Zurück in Paris schloss er sich dem Kreis um Cocteau an, der damals die literarische Szene beherrschte. Es war die Zeit einer katholischen Renaissance, die einen Teil der Intelligenz für sich gewann. Mit noch nicht achtzehn konvertierte der junge Sachs und ließ sich kurz darauf in ein Priesterseminar aufnehmen, ein Schritt, der Aufsehen erregte. Noch größer war der Skandal ein halbes Jahr später: Sachs empfand schon das Unüberlegte seiner Berufswahl und bandelte, als er mit seiner Großmutter den ersten Urlaub in einem Badeort verbrachte, unter den Augen der Öffentlichkeit mit einem jungen Mann an. Er kehrte nicht ins Seminar zurück und absolvierte nun seinen Militärdienst.
      In den späten zwanziger Jahren war Sachs erst Verleger, dann Kunsthändler. Sein privates Leben war geprägt von Alkoholexzessen und von Promiskuität. Gleichzeitig häufte er einen immensen Schuldenberg an. Er stellte Wechsel aus, die er nicht einlösen konnte, und er stahl.
      Ein Ausweg bot sich an. Er übernahm die neu einzurichtende Abteilung für moderne Kunst in einer New Yorker Galerie. Sie wurde zufällig am Tag nach dem Schwarzen Freitag eröffnet. Die geschäftlichen Aussichten verdüsterten sich rasch. Sachs fand etwas anderes: Er wurde Redner und reiste für eine der großen Agenturen quer durch die Staaten, um Vorträge über Themen zu halten, von denen er in Wahrheit so gut wie nichts verstand: aktuelle europäische Politik und Wirtschaft. In dieser Zeit lernte er die Tochter eines führenden presbyterianischen Geistlichen kennen. Mit ihrer Heimatstadt „Morpheus“ meint Sachs vermutlich Seattle. Die junge Frau wollte Seattle entkommen und Sachs träumte von einer Politikerkarriere, für die er eine Gattin benötigte. Die beiden verabredeten eine Scheinehe, Sachs konvertierte erneut. Dann kam es zur Parodie einer Hochzeit. Allmählich empfanden beide das Leere, Sinnlose ihrer Beziehung. Sachs ließ seine Frau sitzen und ging mit einem jungen Kalifornier durch. Ihn täuschte er über die in Frankreich bestehenden materiellen Aussichten und nahm ihn mit nach Europa.
      Während der Weltwirtschaftskrise litten sie in Paris Mangel an allem und flüchteten sich vorübergehend aufs Land. Sachs’ unsinnige Ausgaben dort zwangen sie nach Paris zurück. Sie trennten sich schließlich, der Amerikaner kehrte in die Staaten heim. Einige Zeit später brach Sachs vollständig zusammen. Die Jahre zwischen seiner Entziehungskur und der Niederschrift werden von ihm nur noch kurz gestreift. Er war damals Autor von Stücken, Übersetzer und Lektor.
      Diese Bekenntnisse sind in einem Stil verfasst, der sprachliche Eleganz, Detailreichtum und tiefe Einsicht in Zusammenhänge verbindet. Sachs steht in der Nachfolge vieler französischer Schriftsteller, von La Rochefoucauld über Rousseau bis zu Gide, der wiederholt persönlich auftritt. Es sind also gerade die moralisch empfindenden Autoren, die Sachs stark beeinflusst haben …
      Und dann kam der 2. Weltkrieg. Sachs war unter der deutschen Besatzung Schwarzmarkthändler in Paris. 1942 schickte er dem Verlag, der die Autobiographie erworben, doch bisher nicht veröffentlicht hatte, ein Nachwort zum Buch. Er schrieb darin, es sei ihm in Paris nicht möglich, sein Leben von Grund auf zu ändern. Daher werde er das Land verlassen und weiter östlich andere Bedingungen suchen.
      Sachs, der homosexuelle Jude, ging als „Fremdarbeiter“ nach Deutschland. Freiwillig? Ich habe darüber nichts gefunden. Nicht ausgeschlossen, dass er sich schon in Paris mit denen eingelassen hatte, denen er dann in Hamburg diente. Er war wohl Kranführer im Hafen – und stand gleichzeitig auf der Gehaltsliste der Gestapo. Er unterhielt Kontakte zu Kreisen des Widerstands und man beschuldigt ihn, Mitglieder der Hamburger Weißen Rose ans Messer geliefert zu haben. Er erlebte die Zerstörung der Stadt durch die Bombenteppiche und war ab Herbst 1943, ohne dass wir die Hintergründe kennen, Insasse im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, einem Konzentrationslager der Gestapo. Hier soll er gleichzeitig wieder Spitzel gewesen sein.
      Und er schrieb und schrieb in seiner Zelle, auf das Kriegsende hoffend. Als die Briten vor der Einnahme Hamburgs standen, verlegte die Gestapo die Häftlinge nach Kiel. Manche kamen auf dem furchtbaren Todesmarsch um. Maurice Sachs wurde am 14. April 1945 in der Nähe von Neumünster erschossen, da er, wie einige sagen, nicht mehr marschfähig war. Andere behaupten, er wurde umgebracht, da er zu viel wusste. Tatsächlich ging die Justiz später daran, Schuldige zu ermitteln und zu bestrafen.
      Am Haus Jungfernstieg 50 in Hamburg erinnert heute eine Gedenktafel an die Weiße Rose und an die acht in der Haft zu Tode Gekommenen.


12. Svevos Kurze sentimentale Reise

 

Die Geschichte spielt in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wie der Autor selbst ist Herr Aghios kränklich, und auch ihn hat die emsige Fürsorge der Familie zu einem etwas unselbständigen Wesen gemacht. Nun geht Herr Aghios noch einmal allein auf große Fahrt – groß für seine jetzigen Verhältnisse. Er soll persönlich einen hohen Geldbetrag von Mailand nach Triest bringen. Es wird auch ein Test sein, ob er noch zum selbständigen Leben fähig ist.
      Die Reise beginnt am Mailänder Hauptbahnhof. Herr Aghios hat es eilig, die Gattin im Gedränge des Bahnsteigs entschwinden zu sehen – so groß ist sein Bedürfnis nach Autonomie. Als er ihrer noch einmal ansichtig wird, presst sie gerade die Hand auf ihr Herz und winkt ihm zu. Er denkt erst: Was für eine übertriebene Geste, bevor er begreift: Sie meint ja die Brieftasche. Bald darauf stellt er für sich fest: „Je mehr ich mich von ihr entferne, desto mehr liebe ich sie.“
      Herr Aghios und die Frauen: Freude und Hoffnung! Lassen wir ihn durch Svevo zu Wort kommen: „Diese Freude und Hoffnung war so umfassend, dass die Frau – die Frau als Vorstellung, die Frau ohne Beine und Mund sozusagen – darin nicht fehlen konnte. Schattenhaft war sie noch mit vielen anderen Phantomen verwoben und nahm unter ihnen einen wichtigen Platz ein. Aber man begehrt ja eine Frau nicht immer in der gleichen Weise. Gewiss dient sie vor allem der Liebe, manchmal aber auch begehrt man sie, um sie zu beschützen und zu retten. Sie ist ein schönes, aber auch ein schwaches Lebewesen, das man liebkost, wenn man kann, und auch dann noch liebkost, wenn man es nicht kann.“ Hier, bei dieser treffenden Charakterisierung von Alterserotik, bemerken wir bereits die Methode: Svevo und Herr Aghios ironisieren sich gegenseitig in einem langen inneren Monolog.
      Herr Aghios lamentiert darüber, dass man die schönen jungen Frauen schon mit einem gut geölten Schnurrbart für sich gewinnen kann – wenn man jung ist. Dabei sei es doch wissenschaftlich erwiesen, dass die alten Männer dieser Frauen viel mehr bedürften als die jungen: eine Frage der Gesundheit. Apropos Schnurrbart: „Der Schnurrbart zeichnet jene Tiere aus, die sich in Löchern vergraben (hatte diese Kanaille von seinem Sohn erklärt); er dient dazu, sie darauf aufmerksam zu machen, wenn das Loch sich verengt, und soll sie davor schützen, zu ersticken.“
      Der alte Herr reflektiert seine Umgebung, vor allem seine Mitreisenden. Mit einigen kommt er in nähere Berührung. Ein in Geschäften reisender Kaufmann, Inspektor einer Versicherungsgesellschaft, wird ihm bald verhasst. Sie geraten beide in ihrem leicht absurden Alltagsgespräch auf eine abschüssige Bahn, torkeln, schlagen verbal um sich. Herr Aghios denkt mit Svevos Kopf, der zugleich sich selbst im Blick hat: „Wenn er Streit wollte, wäre es nicht nötig gewesen, der eigenen Familie zu entfliehen.“
      Viel erfreulicher gestaltet sich der Kontakt zu dem jungen Bacis. Freilich ist Bacis in großen Nöten, die Herrn Aghios erst nach und nach offenbart werden und dem Leser hier einmal gar nicht. Die beiden müssen in Venedig umsteigen und vertreiben sich die Zeit mit einer sehr komischen touristischen Erkundung der Lagunenstadt. Bacis stürzt schon beim Einsteigen in die Gondel. Herr Aghios besucht einen Juwelier, der ihn früher einmal übers Ohr gehauen hat, und der Gondoliere weiß auch, wie er den alten Mann rupfen kann.
      Herr Aghios und Bacis nehmen den Nachtzug nach Nordosten. Herr Aghios hat einen Traum, in dem er zum Mars fliegt und in dem die „Aufrichtigkeit des Fleisches“ eine wesentliche Rolle spielt. Und am anderen Morgen ist Bacis weg und die Brieftasche – nein, sie ist noch da, nur wesentlich erleichtert. Auch Bacis war eine Kanaille. „Adieu, Freiheitsgefühl des Reisens, adieu, Bereitschaft zur Güte. Er glich einer jener Gestalten, zu denen sich die schwarzen und drohenden Rauchwolken so eindrucksvoll verdichten …“
      Die Lokomotive läuft keuchend im Triester Bahnhof ein, und mitten im Wort Triest bricht der Text ab. Er wurde zu Svevos Lebzeiten nie veröffentlicht, ist Fragment geblieben. So erklärt sich auch, warum in ihm die Sonne an einem Abend zweimal untergeht. Svevo, der drei Jahre nach der Niederschrift durch einen Autounfall umkam, war bei der Korrektur nur bis zur Mitte gekommen. Wie eben die meisten von uns in ihren Angelegenheiten.


13. Chinas große Romane

Feuerwerk und Buchdruck – China hat sie früher als das Abendland gekannt. China war über Jahrtausende eine dem Westen materiell und geistig überlegene Hochkultur. Zwei Zahlen, die den Hintergrund beleuchten können: 1820 waren 36% aller auf der Erde lebenden Menschen Chinesen und erwirtschafteten 32% des gesamten Weltbruttosozialprodukts. Dabei war das frühe 19. Jahrhundert schon eine Zeit des Niedergangs, der sich danach rasch beschleunigte. Chinas Glanzzeiten lagen länger zurück. In ihnen hat sich eine reiche Literatur entwickelt, die zu entdecken sich lohnt.
      DIE RÄUBER VOM LIANG SCHAN MOOR ist der früheste der drei großen Romane, die unbedingt zum Kanon der Weltliteratur gehören. Sein Verfasser ist der im 13. Jahrhundert lebende Schi Nai An. Das Werk wurde bald zum Volksbuch, es spielt im frühen 12. Jahrhundert. Es ist die Geschichte des sehr erfolgreichen Rebellen Sung Kiang, seiner sechsunddreißig Häuptlinge und ihres immer mehr anschwellenden Anhangs. Vor dem Hintergrund von Korruption und Misswirtschaft errichteten sie in einem Sumpfgebiet der Provinz Schantung ein autonomes Räuberstaatswesen, das erst nach langer Zeit und nur durch Begnadigung seiner Mitglieder überwunden werden konnte. Wir haben es mit einer Fülle von sehr farbigen Einzelfiguren und äußerst spannenden Handlungssträngen zu tun. Sie nehmen jeweils von lokalen Missständen ihren Ausgang und münden alle in den Zusammenschluss der Räuber in einer unbezwingbaren Bergfeste im Moor. Karl May ist im Vergleich dazu ein unbedeutender und blasser Autor.
      KIN PING MEH, vermutlich von Wang Schi Tschong, ist ein Werk des 16. Jahrhunderts und spielt ebenfalls im frühen 12. Jahrhundert. Es ist eine Familienchronik, die vor allem innerhalb des privaten Haushalts spielt. Hsi Men ist ein reicher Kaufmann, der sich sechs Frauen hält und durch seine Gier nach immer mehr Genuss sich und seinen Hausstand ruiniert. Wir erfahren viel übers damalige Wirtschaften, über Erotik und Intrigen in einem solchen Familienverband. Balzac erscheint uns nach der Lektüre wie ein später Nachfahre des Autors. Der Roman ist ein großartiges Sittengemälde und eine ergreifende bürgerliche Tragödie.
      DER TRAUM DER ROTEN KAMMER ist das jüngste und modernste Werk innerhalb dieses literarischen Triumvirats. Ob Tsao Hsüe Kin (1719 – 1763) als alleiniger Verfasser anzusehen ist, soll hier nicht untersucht werden. Erschienen ist das Buch erstmals 1791 im Druck. Auch dies ist ein Familienroman, eine Art chinesische Buddenbrooks, im 18. Jahrhundert angesiedelt. Wir erleben wieder eine begüterte Großfamilie, ihre inneren Konflikte, ihren Verfall. Das Buch ist tief vom Geist des Buddhismus und des Taoismus geprägt und vor allem ein Werk des Protests gegen eine konfuzianisch ausgerichtete, hierarchische und patriarchalische Elite und ihren Umgang mit individuellen Regungen. Es ist ein großer Seelenroman, der auch noch bei modernen Europäern einen tiefen und nachhaltigen Eindruck hervorrufen kann. In seinem Detailreichtum und in seiner psychologisch-metaphysischen Tiefe ist es ein unvergleichliches Werk.
      Alle drei Riesenromane, jeder zwischen 800 und 900 Seiten stark, sind von Franz Kuhn ins Deutsche übertragen und im Insel Verlag erschienen.

 


14. Postdemokratie von Colin Crouch

 

Das Unbehagen an gegenwärtiger Politik äußert sich vielfältig, in fast allen westlichen Ländern: Rückgang der Wahlbeteiligung, pessimistische Erwartungen, Verachtung für die politische Klasse. Viele sehen Symptome, wer erklärt Ursachen, Zusammenhänge? Der britische Politologe Colin Crouch hat es mit seinem langen Essay „Postdemokratie“ versucht. Das Buch ist zuerst 2003 italienischer Übersetzung erschienen, 2004 in Großbritannien und 2008 auf Deutsch in der Reihe edition suhrkamp (160 Seiten, 10 Euro).
      Crouch untersucht primär die Verteilung von Macht in den heutigen demokratischen Gesellschaften. Er interessiert sich für die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Schichten, die er ungeniert Klassen nennt. Den Begriff Klasse definiert er wissenschaftlich kühl so: „ … bezeichnet …Zusammenhänge zwischen ökonomischen Positionen und dem Ausmaß an Zugang zu politischer Macht, über den die entsprechenden Gruppen verfügen.“
      Bevor er sich dem Klassenkampf von heute im Einzelnen widmet, entwirft er ein Panorama der Postdemokratie. Dabei verwendet er den aus der Geometrie stammenden Begriff Parabel. Die vordemokratische Vergangenheit siedelt er am Beginn der aufsteigenden Kurve an, den Scheitelpunkt im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, die Gegenwart auf dem Weg der Kurve vom Scheitelpunkt weg. Wir finden hier das uns nur zu Bekannte besonders prägnant formuliert. Beispiel Wahlen: „ … ein Gemeinwesen …, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten vorher ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, ja sogar apathische Rolle … Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“
      Crouch schiebt einen Rückblick auf die Hochzeit der Demokratie ein. Unverkennbar gehören seine Sympathien der klassischen Sozialdemokratie, er war früher selbst für Labour politisch aktiv. Doch ist er nicht blind für die Widersprüche der damaligen Politik. Er spricht offen aus, dass die Ölkrisen der Siebziger das Ende des keynesianistischen Handelns herbeiführten, das der Inflation nicht mehr Herr wurde und die Gesamtwirtschaft nicht länger nachfrageorientiert steuern konnte. Dies war die Stunde der Neoliberalen, nun „verlagerte sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Dynamik unter dem Einfluss der globalen Deregulierung der Finanzmärkte vom Massenkonsum auf die Aktienmärkte.“
      In dieser neuen Periode ändert sich die Inszenierung von Politik grundlegend. Politik versteht sich nun als Produkt, das verkauft werden muss. Der Politiker orientiert sich daher an der Werbeindustrie. Wie dies und die fatalen Folgen herausgestellt werden, gehört zu den überzeugendsten Abschnitten des Buches.
      In vier weiteren Abschnitten geht der Autor als Diagnostiker in die Tiefe. „Das globale Unternehmen“ ist für Crouch die heute schlechthin dominierende Kraft. Besonders lesenswert ist der Abschnitt über „Phantomunternehmen“. Die Entwicklung führte vom japanischen Modell der engen Bindung der Beschäftigten an einen Konzern mit spezifischer Unternehmenskultur und –philosophie zum angloamerikanischen, in dem sich alles sehr schnell ändert (Fusionen, Übernahmen, Ausgliederung von Subunternehmen, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse) und endet bei jenen Firmen, die nicht einmal ein Kerngeschäft behalten. Es sind „Firmen, die nur noch temporäre anonyme Finanzakkumulationen für die elektronische Koordination einer Vielfalt weitgestreuter Aktivitäten darstellen … Seine Fähigkeit, sich selbst zu dekonstruieren, stellt die extremste Form dar, nach der die Unternehmen die zeitgenössische Gesellschaft dominieren.“ Konstant bleibt jedoch die „Identität der wenigen wirklich wichtigen Investoren“.
      Im Kapitel „Soziale Klassen im postdemokratischen Zeitalter“ findet der Leser einen besonders beunruhigenden Gedanken. Es geht um die Rolle und Wertschätzung von Bildung. Crouch weist unbarmherzig darauf hin, dass Bildung als Allheilmittel in aller Munde ist, dass Bildung jedoch die Konkurrenz zwischen den Schichten und Individuen nicht beseitigen wird. „In der Realität kann man dieses Dilemma nicht auflösen.“ Vielleicht haben die bildungsfernen Schichten genau dies begriffen. Man muss an Gerhard Schröders „faule Säcke“ denken, wenn Crouch konstatiert: „Im politischen Diskurs wird es (das Dilemma) kurzzeitig überspielt, indem man die Eltern ermuntert, den Lehrern die Schuld für den vergleichsweise geringen Erfolg ihrer Kinder zu geben.“
      „Zur Lage der Parteien“ möchte man am liebsten vollständig zitieren. Crouch wählt wieder etwas aus der Geometrie, um Neuartiges zu veranschaulichen. Es ist die Ellipse, die jetzt statt des früheren inneren Kreises das Machtzentrum einer Partei darstellt. Die typische Partei der Zukunft hat „eine sich selbst reproduzierende innere Elite …, die weit von der Basis der Massenbewegung entfernt, gleichzeitig jedoch sehr eng mit einer ganzen Anzahl von Unternehmen vernetzt ist, die wiederum die Mittel bereitstellen, mit der die Partei externe Dienstleister für Meinungsumfragen, Politikberatung und Wahlkampagnen bezahlt; im Gegenzug wird die Partei sich diesen Unternehmen erkenntlich zeigen, sobald sie die Macht erlangt.“ Die zunehmende Korruption erklärt Crouch schlüssig aus dem enormen Geldbedarf für die modernen Wahlkämpfe.
      Dann folgt „Postdemokratie und die Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen“, besonders wichtig für uns als Bürger im Alltag – und zu komplex und detailliert, um im Rahmen einer Buchbesprechung dargestellt zu werden.
      Abschließend versucht Crouch, Ratschläge für unseren Umgang mit dieser Entwicklung zu geben. Vielleicht überzeugt er als Therapeut weniger denn als Diagnostiker. Er setzt vor allem auf die Kraft neuer sozialer Bewegungen, ohne auf Parteien verzichten zu wollen. Wenn er als Beispiele die ökologische und die Frauenbewegung anführt, kann man einwenden, dass gerade diese beiden parallel zum Aufstieg der Postdemokratie ihren Aufschwung nahmen – ohne die dargestellte politische Entwicklung nachhaltig abzuschwächen. Crouch selbst verweist ja darauf, dass Labour mit der Bildung von Regenbogenkoalitionen in Südengland seinerzeit gescheitert ist.
      Überzeugender erscheint eine andere Überlegung des Autors. Er verweist auf die Bedeutung von Chaos und Konfrontation im politischen Prozess. So sieht er bereits den Aufstieg der Demokratie im 20. Jahrhundert mit den großen Krisen eng verbunden: Faschismus, Krieg, Wiederaufbau. Nur kann sich das kaum einer wünschen: erst die Welt in Trümmer fallen zu sehen, um sie danach gerechter wieder aufzubauen.

 

 

15. Über Camilo José Cela: Der Bienenkorb

 

Mit diesem Werk, erschienen 1951, erhielt auch die spanische Literatur ihren modernen Großstadtroman, etwas verspätet z. B. gegenüber der angelsächsischen („Manhattan Transfer“ von 1925) oder der deutschen („Berlin Alexanderplatz“ von 1929). Dafür erinnert sich der literaturkundige Leser bei der Lektüre von Celas Roman vielleicht an den frühesten europäischen Großstadtroman überhaupt, der gleichfalls in Madrid spielt: „Der hinkende Teufel“ des Franzosen Alain-René Lesage von 1707. In beiden Werken wird eine ganze Stadt transparent, die Häuserwände, die Dächer, die Köpfe und Herzen der Bewohner.

Celas Personal umfasst Hunderte von Madrileños, fast nur aus den unteren und mittleren Schichten. Alle haben fortlaufend kurze Auftritte, verschwinden, kommen wieder. Mal sind sie allein, mal begegnen sie uns schon bekannten Personen oder es werden neue eingeführt. Die Schauplätze sind fast so zahlreich wie die Figuren. Das ergibt ein verwirrendes Kaleidoskop. Kann man nach einmaligem Lesen zu annähernd präziser Nacherzählung imstande sein? Eher nicht. Darauf kommt es auch nicht an – es ist das Bild der Stadt in ihrer problematischen Vitalität, das der Text heraufbeschwören will.

Diese vielen Einzelszenen spielen zu Beginn des Winters 1943/44. Es ist kalt in Madrid, die Menschen frieren, manche hungern. Sie verfolgen die Nachrichten von den Fronten des Weltkriegs. Die Deutschen werden ihn also verlieren … Die Stadt leidet noch unter den Nachwirkungen des Bürgerkriegs, sie leidet auch unter Spaniens erzwungener Autarkie. Wer überlebt hat, richtet sich mit seinen Mitteln in der Gegenwart ein. Dazu gehören auch die überkommenen Ideen und Gewohnheiten, die allerdings nicht mehr unerschütterlich zu sein scheinen. Eher erinnern sie an lose in den Angeln hängende Tür- oder Fensterflügel …

Vor diesem historischen Hintergrund ist Celas Madrid jedoch zugleich eine beinahe überzeitliche Großstadt, mit Armut und Reichtum, Geiz und Verschwendung, Übelwollen und Güte, mit klugen und weniger klugen Zeitgenossen. Zwei Schauplätze vor allem lassen einen bedeutenden Teil der Romanfiguren zusammenkommen: ein Café und ein Stundenhotel. Wer da verkehrt, hat Verwandte oder Freunde, die in anderen Häusern der Stadt leben - wir begegnen ihnen dort - und die wiederum andere kennen, über deren Schicksale und Wesenszüge uns der Autor gleichfalls unterrichtet. So erweitert sich der Kreis über Madrid hinaus auf ganz Spanien.

Celas Sprache und Stil sind zwischen dem Elegischen und dem Sarkastischen angesiedelt. Immer wieder blitzt Kritik an den Zuständen in Staat und Gesellschaft auf, etwa an Bigotterie und Vetternwirtschaft. Der Roman erschien aufgrund dieser Tendenz zunächst nur in Argentinien. Heute gilt er als das Hauptwerk des Autors, der 1989 den Nobelpreis für Literatur bekam. 1982 wurde Der Bienenkorb von Mario Camus hervorragend verfilmt (Goldener Bär in Berlin 1983).

 

 

16. Über Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer

 

2009 jährte sich Jahnns Todestag (29. November) zum 50. Mal. Das war für mich ein Anlass, mir über sein Hauptwerk und dessen Struktur einige Gedanken zu machen. Dabei imaginierte ich einen Leser, der die Trilogie schon kennt und mitreden kann und dem ich gleichzeitig alles Grundlegende erst erklären darf. Einen solchen Leser gibt es natürlich nicht, doch dieser Ansatz scheint mir gut zu dem außerordentlich facettenreichen und in sich widersprüchlichen Werk zu passen.

„Fluss ohne Ufer“ ist nach Botho Strauß „eines der mächtigsten Prosawerke deutscher Sprache.“ Und es ist eine gigantische Ruine. Jahnn hat die Kulturen des Alten Orients geliebt und studiert, Ägypten, Mesopotamien. Seine Trilogie hat Ähnlichkeit mit einer Stufenpyramide, die halb erhalten dem Wüstensand entrissen wurde. Um den Titel eines Romans von Rosendorfer zu zitieren: Als Epiker war Jahnn ein „Ruinenbaumeister“. Auch sein erstes großes Epos „Perrudja“ blieb, zu zwei Dritteln fertig, liegen. In diesem Fragmentarischen spiegeln sich vor allem die instabilen Zeitumstände wider. Jahnn hat unter folgenden Bedingungen geschrieben: Exil während des 1. Weltkriegs in Norwegen, Weimarer Republik, Exil auf Bornholm, Nachkriegsnot und Wirtschaftswunderzeit. Er hat permanent für seine Kräfte zu viel angestrebt und doch sehr viel mehr erreicht als die große Masse seiner Autorenkollegen.  

Im ersten Teil „Das Holzschiff“ bleibt einer als blinder Passagier an Bord eines Schiffes, das geheime, wahrscheinlich tödliche Fracht geladen hat. Die Tochter des Kapitäns ist seine Verlobte. Während der Fahrt verschwindet die junge Frau. Es kommt zur Meuterei an Bord, in deren Folge das Schiff untergeht. Das ist durchgehend in einem merkwürdig unwirschen Ton erzählt, der etwas Erhaben-Abweisendes hat. Es liest sich, wie Musik von Hindemith manchmal klingt. Es ist ohne ein Gran Humor oder Ironie, ohne Konzession an Eingängigkeit, nur hoher, schroffer Ton. So läse sich ein Abenteuerroman, verfasst von Stefan George.

Zweiter und Hauptteil: „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn“ – das ist der blinde Passagier, der wie die Mehrzahl der Besatzung gerettet wurde. Horn schreibt als Ich-Erzähler, und zwar in einem nun vollkommen anderen Stil. Es ist anspruchsvolle und zugleich elegant-flüssige Prosa, zeitlos modern (falls es das gibt), zum tage- und wochenlangen Lesevergnügen verführend. Der Matrose Tutein gesteht Horn, dessen Verlobte an Bord ermordet zu haben. Horn und Tutein schließen auf der Basis dieses Verbrechens einen Bund, den sie über Jahrzehnte aufrechterhalten, auf drei Kontinenten, immer fern der Heimat. Sie leben von der Schiffskasse, die ihnen zugefallen ist.

Zunächst halten sie sich in Südamerika auf, bereisen dann ausgiebig mit vielen Zwischenstopps die afrikanische Küste und die Kanaren. Es ist die Phase, in der ihr Bund  seine ersten Bewährungsproben bei verschiedenen fellinesken Abenteuern besteht. Jahnn hat diese Weltgegenden nie gesehen. Er schreibt aus der Perspektive eines nach Exotik dürstenden halbwüchsigen Viellesers des frühen 20. Jahrhunderts. Das Ambiente ist also farbig und künstlich und man hört oft Papier rascheln.

Horn und Tutein lassen sich für lange Jahre an einem norwegischen Fjord nieder. Hier verwendet Jahnn viele Aufzeichnungen, die er selbst als Flüchtling dort niedergeschrieben hat. Wir lernen eine Bevölkerung kennen, die seltsam gespalten zwischen Archaikum und Moderne haust und die absonderlichsten Gestalten hervorbringt. Die beiden Gefährten gehen im Kontakt mit dieser Welt jeweils eigenen Interessen nach und entfremden sich zeitweise einander. Beide bleiben jedoch gesellschaftliche Außenseiter. Horn beginnt zu komponieren. Tutein zeichnet. An einem kritischen Wendepunkt siedeln sie überstürzt in eine schwedische Kleinstadt über. Hier kommt es vorübergehend zur größtmöglichen Annäherung an eine normale bürgerliche Existenz. Tutein wird Pferdehändler, Horn verlobt sich und zeugt einen Knaben, ohne je mit Bestimmtheit davon zu erfahren; wir wissen es aus dem Epilog. Die neuen privaten Bindungen sind nicht von Dauer, sie gehen in einem Sturm von Affekten unter. Horn und Tutein nehmen eine wechselseitige Bluttransfusion vor und ziehen weiter.

Eine fiktive Ostseeinsel, Bornholm nachgebildet, ist ihre letzte Station. Ihre Beziehung ist nun unauflöslich geworden. Horn und Tutein blicken zurück in die Zeit vor jener Schiffsreise ohne Wiederkehr. Jahnn verwendet hier seine eigenen Erinnerungen an Hamburg und Mecklenburg um 1900. Horn wird als Komponist berühmt. Tutein kränkelt und stirbt. Horn macht aus dem Leichnam eine ägyptische Mumie und verwahrt sie in einer hermetisch verschlossenen Truhe. Und dann erscheint Ajax von Uchri, ein junger Mann aus der Heimat, Vollender von Horns Schicksal. Ab hier erreicht Jahnn die Meisterschaft seines eigenen Stils. Er wird schreibend bei Lebzeiten klassisch. Die Handlung schreitet in genau abgezirkelten Schritten voran, mit erbarmungsloser Konsequenz Horns schließlichem Untergang entgegen. Das ist perfekt geschrieben, vollkommen gelungen, wie eine barocke Fuge. Und es weht einen kalt an, wie alles allzu Große. Horn beschreibt diesen Katarakt von Katastrophen parallel zum Geschehen und immer atemloser, dabei stilistisch absolut sicher, bis Ajax kommt, um ihn zu töten. Genau hier bricht die Niederschrift ab, endet der zweite Teil.

Ich gestehe, dass mir die Fragmente des posthum veröffentlichten Epilogs lieber sind als der grandiose Schluss des Mittelteils, jene 450 wirklich makellosen Seiten. (Die gesamte Trilogie hat in meiner Ausgabe gut 2000 Seiten.) Jahnn konnte das Werk nach seiner Rückkehr nach Hamburg nicht mehr vollenden. Er war erschöpft, verbraucht, auch durch langen Drogenkonsum. Doch gelangen ihm noch viele Einzelabschnitte, in denen er das weitere Schicksal von Nebenpersonen darstellt. Es sind die Überlebenden und Nachgeborenen. Diese Szenen kommen mir menschlicher vor als der Zweikampf Horn – Ajax. Menschlich, das ist ein billiges, abgegriffenes Wort, gewiss. Wer jedoch als Leser all das vorher durchwandert hat, diese Höhen und Tiefen, die idyllischen Flecken, die Wüsteneien – der darf beim Lesen dieser letzten 400 Seiten aufatmen. Der Bürgerschreck Jahnn wird bürgerlich – und bleibt originell, ein großer Erzähler und Psychologe. 

Etwas konnte ich in diesem Abriss nicht unterbringen: Jahnn als den genauesten, fesselndsten Schilderer von Natur, den wir im Deutschen im 20. Jahrhundert gehabt haben. 

 

 

17. Themen und Motive in E.M. Forsters Maurice

 

1. Maurice zwischen den Klassen

Im Eingangskapitel soll der vorpubertäre Maurice von seinem Lehrer über die Wunder menschlicher Fortpflanzung aufgeklärt werden. Der Pädagoge fragt zunächst, ob der Junge erwachsene Männer in seiner Umgebung hat. „Mutter hat einen Kutscher und George für den Garten, aber Sie meinen natürlich Gentlemen …“ (S. 13) Maurice weiß also schon, wer gesellschaftlich für ihn in Frage kommt. Dass es aber gerade der heranwachsende George ist, der ihn am meisten anzieht, erfahren wir im 2. Kapitel. Nur ist George gerade auf Betreiben des Kutschers entlassen worden. (Als zeitweilig-faktisches Familienoberhaupt wird Maurice sich dafür später an ihm rächen.) Maurice’ Schwestern sind sich auch bewusst, was sie ihrer Stellung schuldig sind:  „(Sie) nahmen ihm seinen Überzieher ab und ließen ihn für die Dienstboten auf den Boden der Eingangshalle fallen.“ (S. 18).  

Die Halls gehören der oberen Mittelschicht an. Maurice` jüngst verstorbener Vater war Börsenmakler, der Großvater mütterlicherseits ist reich. Sie wohnen in einem Londoner Vorort, der bereits um 1900 die charakteristischen Merkmale westlicher suburbia voll ausgebildet hat: Komfort in zersiedelter Gegend, Distanz zu den Entwicklungen im Stadtzentrum, unterkühlte soziale Kontakte – „eine Gegend … wo ein Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern nicht zu erkennen war.“ (S. 18) Der engste Vertraute, der Arzt „Dr. Barry … interessierte sich nur in Maßen für sie, wie auch sonst niemand ein wirkliches Interesse für die Halls aufbringen konnte.“ (S. 21)

In Glaubenssachen herrscht in dieser Welt die gleiche komfortable Unverbindlichkeit. Kapitel 7 enthält en passant Forsters Abrechnung mit einem Christentum, das nur noch aus Fassade besteht. „Glaube … trat nicht in Erscheinung, bis er auf eine Gegenkraft stieß, erst dann schmerzte er wie ein nutzloser Nerv.“ (S. 54)  Die Schmerzgeplagten organisieren sich in der „Gesellschaft zur Verteidigung der Religion“. Als Student in Cambridge scheitert Maurice  kläglich bei dem Versuch, gegenüber dem Hellenen Clive für seine christlichen Überzeugungen einzutreten. Es sind weniger Clives Argumente, die zersetzend auf jene dürftigen Überbleibsel von Religion wirken, als vielmehr Clives überlegener Geist an sich und seine privilegierte Stellung als junger Landadliger.

Maurice legt im Roman einen langen Weg zurück, der ihn vom Gärtnerburschen George zum Wildhüter Alec, seinem Geliebten, führen wird. Dabei nimmt er diesen weiten Umweg über Clive Durham – Durham, der ihn aus einem schlechten Christen in einen wenig begabten Platoniker verwandelt, bis er Maurice nicht mehr nötig hat. So wie George der Vorläufer von Alec ist, hat auch Clive einen, der den Weg zu ihm bereitet: der junge Risley, auch adlig, Verwandter des Dekans, sophisticated und leicht als Homosexueller zu erkennen. Diese Abfolge von Vorläufer und Hauptperson zeigt bereits ein wesentliches Strukturmerkmal in Forsters Romankunst auf - die Entsprechung.

Maurice achtet die Gesellschaftsordnung, doch ist er kein Snob. Gerade das lässt ihn bei den Durhams Erfolg haben. „Sie konnten lediglich diejenigen Leute nicht ausstehen, die sich zu sehr um sie bemühten … da Dankbarkeit für sie, merkwürdigerweise, ein Zeichen von schlechter Erziehung war.“ (S. 113) Für diese Gutsherren ist Religion nur noch ein Mittel, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Dass Clive kein Christ ist, lässt seine Mutter kalt – dass er das vor der Dorfgemeinde offenbart, indem er zu Weihnachten nicht am Abendmahl teilnimmt, ist ein Skandal und rüttelt an den Grundfesten der Ordnung. (Kap. 7) Als es später darum geht, dem liberalen Abgeordneten den Parlamentssitz abzujagen, ist Clive allerdings wieder an der Seite der konservativen Tradition, Christentum hin, Platonismus her.

Maurice’ Klassenbewusstsein ist stabiler gegründet als seine christliche Pseudoreligion und überdauert auch seinen Hellenismus – gäbe es da nur nicht die sexuellen Präferenzen. Er macht sich nach Clives Rückzug von ihm Vorwürfe: „Ein Gefühl, das einen Gentleman zu einer Person niederen Standes treibt, verurteilt sich selbst.“ (S. 179) Er engagiert sich durchaus – „er unterstützte sogar die Sozialarbeit der Kirche“. (S. 170). Man sieht ihn in den Slums mit den Jugendlichen Fußball spielen, er bringt ihnen Rechnen und Boxen bei – und urteilt über die soziale Frage so hart wie ein Marktliberaler von heute: „Die Armen wollen kein Mitleid … Sie fühlen anders als wir. Sie leiden nicht, wie wir es an ihrer Stelle täten.“ (S. 198)

Nur allmählich, im Zusammenhang mit seiner eigenen Krise, in dem Maß, wie er sich der Sexualmoral der Gesellschaft entfremdet, ändert sich seine Einstellung. Er spekuliert über die Thebaische Legion und hält, bezogen auf sie, Männerliebe für den Kitt zwischen den verschiedenen sozialen Klassen. Dazu sein Psychiater: „Eine interessante Theorie.“ (S. 251) Doch kurz darauf beklagt Maurice ihm gegenüber sein Unglück: „ … wie konnte ein Bursche vom Lande so viel über mich wissen? Warum ist er ausgerechnet in der Nacht über mich gekommen, als ich am schwächsten war? Ich hätte ihm nie erlaubt, mich anzufassen, wenn mein Freund (d.h. Durham) im Haus gewesen wäre, denn ich bin schließlich, verdammt noch mal, mehr oder weniger ein Gentleman – Internat, Universität und so weiter. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich ausgerechnet mit ihm zusammen war.“ (S. 254)

Auf dem Heimweg vom Arzt setzt sich der Erosionsprozess fort. Maurice begegnet zu Fuß dem König und der Königin in ihrem Wagen und „verabscheute sie in dem Moment, als er seinen Kopf entblößte.“ (S. 254) Zu Hause lässt er gegenüber seiner Tante die für sie unfassbare Bemerkung fallen, „Dienstboten seien vielleicht auch aus Fleisch und Blut.“ (S. 256) Noch schlimmer: Nachdem er, der Broker, das Wesen der Geldanleger durchschaut zu haben glaubt, „ fing (er) an, über die Moral seines Berufes wie ein neunmalkluger Student im ersten Semester zu diskutieren, aber die Leute in seinem Eisenbahnabteil nahmen ihn nicht ernst.“ (S. 260)

Ganz frei geworden von Clive und dessen Hellenismus, durchschaut er am Ende aus eigener Verstandeskraft die verborgenen Mechanismen kirchlicher Machtausübung: „ … jetzt erkannte er, dass kein menschliches Geheimnis existiert, das von orthodoxem Denken nicht unter einem verkehrten Gesichtspunkt ausgespäht wird, dass Religion weitaus scharfsinniger ist als Wissenschaft und dass es das Großartigste auf der Welt wäre, wenn sie der Einsicht auch ein entsprechendes Urteil folgen lassen würde.“ (S. 282) Mr. Borenius, der Pfarrer des Gutsbezirks, sieht ebenso klar und durchschaut Maurice: „… ehe nicht alle sexuellen Vergehen – und nicht wenige von ihnen sind strafbar – ausgemerzt sind, wird die Kirche England niemals zurückerobern.“ (S. 283) Wie aktuell das klingt: Rückbesinnung auf traditionelle Werte! Glaubensfragen sind auch Machtfragen, und Eros kann ebenso Störenfried wie Erkenntnisstifter sein.

 

 2. Clives Verwandlung

Lange nachdem er Forsters Roman verfilmt hatte, äußerte sich James Ivory öffentlich über ein zentrales Element der Handlung des Buches so: Die Verwandlung Clive Durhams in einen Heterosexuellen sei für den Leser frustrierend, Forster habe das nicht genügend herausgearbeitet. Ihnen selbst, den Filmleuten, sei es übrigens nicht besser gelungen. Ivory lässt Clive vom Pfad nach Sodom abbiegen, als er miterleben muss, wie Risley in einem Prozess à la Oscar Wilde zugrunde gerichtet wird. Bei Forster bleibt Risley unbehelligt, wir begegnen ihm zuletzt in einem Sinfoniekonzert.

Tatsächlich reibt sich der Leser die Augen – Clive, der sich früh als homosexuell empfand und auf platonische Liebe beschränkte, macht als junger Anwalt eine Grippe durch und danach richtet sich sein Begehren nur noch auf Frauen. Er ist nicht etwa bisexuell geworden, er schreibt Maurice ausgerechnet aus Griechenland nur die zwei Sätze: „Ich bin gegen meinen Willen normal geworden. Ich kann es nicht ändern.“ (S. 138) Ivory gibt vor der Kamera dazu etwas gequält zu verstehen, solche seltenen Einzelfälle kämen eben vor.

Der Text enthält indessen verschiedene Hinweise auf Clives allgemein problematischen Charakter. So ist bei ihm Mutterhass unübersehbar. Seine engere Beziehung zu Maurice in Cambridge beginnt mit einem langen Gespräch, in dem er gesteht: „Ich habe meine Mutter satt bis hier. Das ist mein eigentliches Problem, und dabei würde ich gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.“ (S. 52) Der Kälte gegenüber der Mutter entspricht eine generelle Bindungsschwäche, wenn nicht –unfähigkeit. Seine Kommilitonen sagen über ihn: „Durham ist in Ordnung, solange man ihn amüsiert, dann aber lässt er einen fallen …“ (S. 54) - und „er hasste es, irgend jemandem verpflichtet zu sein.“ (S. 76) Andererseits leidet er, freudianisch gesprochen, unter seinem starken Über-Ich. Er nennt das dann Hölle. Als er den familiären Anforderungen nicht entsprechen kann, beklagt er sich bei Maurice darüber: „Die absolute Hölle, das pure höllische Elend.“ (S. 52). Es scheint seine private Hölle zu sein, und Maurice billigt er in ihr kein Bürgerrecht zu: „Du hast nie etwas getan, wofür du dich schämen müsstest, du weißt also nicht, wie die Hölle wirklich beschaffen ist.“ (S. 77) Maurice bestätigt es ihm am Ende dieses Streits: „Ach, geh doch zur Hölle, das ist alles, wofür du taugst.“ (S. 78) Clives Waffen gegen sich selbst sind Selbstdisziplin und Askese. Seine Hellsichtigkeit, seine Selbsterkenntnis versagen, wenn es um Leibliches geht, er resigniert: „Geheimnisse des Körpers sind unergründlich. (S. 141) So viel glaubt er dennoch davon zu verstehen, dass er sich von Maurice unterscheidet: „Ich war nie so wie du.“ (S. 152)

Forster hat also Material ausgebreitet, das ein geschickter Psychiater oder Psychoanalytiker aufarbeiten könnte. Mag sein, dass er uns ein brauchbares Psychogramm erstellen würde. Indessen kann man noch anders vorgehen und zu einem rein finalen Erklärungsmuster gelangen. Der Roman heißt nicht „Maurice und Clive“, sondern „Maurice“. Er zeigt, wie ein junger Mittelschichtler sich aus dem Standesdenken seiner Zeit löst und dadurch sein persönliches Glück findet. Das Buch ist auch politisch zu lesen. Vergegenwärtigen wir uns, dass Forster die meiste Zeit seines Lebens das war, was man später einen Sozialliberalen nannte. Im Bündnis von Intelligenz und Mittelschicht mit den unteren Klassen sah er den Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt. Maurice nimmt von seinem ersten Besuch auf dem Landsitz der Durhams an die Rückständigkeit der ländlichen Verhältnisse wahr, die Vernachlässigung der öffentlichen Einrichtungen, die ökonomische Krise des Landadels und seinen überholten Führungsanspruch. Von „Stillstand“ und „einem unwürdigen Zustand“ ist die Rede (S. 103). Beim ersten Tee auf Penge gewinnt Maurice diesen Eindruck: „Überall standen Leute herum, die den Eindruck erweckten, als seien sie etwas Außergewöhnliches oder als wären sie aus einem ganz außergewöhnlichen Grunde hier.“ (S. 104) Dementsprechend sein Empfinden, als er am Ende des Buches zu Alec zurückkehrt, der im Bootshaus von Penge auf ihn wartet: „ … es berührte ihn einmal mehr, wie heruntergekommen alles war, wie wenig geeignet, Maßstäbe zu setzen oder die Zukunft zu bestimmen.“ (S. 286)

Auf eine kurze Formel gebracht: Clive wird normal, da er aus dem Leben von Maurice verschwinden muss. So will es die Architektur des Werks.

 

 3. Wie man ein Happy End herstellt

Dummheit, Dunkelheit und Prüderie, das sind die Fußfesseln dieses Prometheus. Von Maurice als Knaben heißt es: „Er war von Natur aus träge.“ (S. 32) Seine Erziehung ist eher geeignet, die Schwächen dieser Veranlagung zu verfestigen. Die Vorbereitungsschule entlässt ihre Zöglinge „gesund, aber geistig träge“ (S. 9) Die Oberschule wird von Forster noch sarkastischer dargestellt. Dumm, aber reproduktiv, scheint das Ziel dieser Pädagogik zu sein, das eine uneingestanden, das andere offen herausgestellt. Auf den Versuch, ihn sexuell aufzuklären, reagiert Maurice seinerseits mit Stumpfsinn, der sich mit nur scheinbarem Verständnis maskiert.

Er leidet extrem unter der kindlichen Angst vor der Dunkelheit. Er ist so empfindsam, dass er leicht weint. Sein gewöhnlicher Aufenthaltsort ist „das Tal der Schatten des Lebens“ (S. 24). Die eine wirkliche Aufklärung verhindernde Prüderie verrät sich schon im 1. Kapitel. Sein Lehrer bezeichnet die Vereinigung von Mann und Frau als „Krönung des Lebens“ und zugleich seine Darstellung davon im Sand als „furchtbare Zeichnungen“. Die Oberschule unterbindet infolge gewisser Vorkommnisse in der Vergangenheit jegliche sexuelle Aktivität ihrer Schüler, auch bloßes Reden darüber.

Er hat Träume, er hat Idole, er entdeckt – durch Raufen – den eigenen kräftigen Körper. Und dann beginnt er allmählich zu steigen, d.h. zu reifen. Wie stellt Forster das dar? Durch ein sehr einfaches Mittel. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, dass im Verlauf der Handlung zweimal ein Mann nachts durch ein Fenster zu einem anderen Mann einsteigt. Maurice besucht auf diese einer gewissen ländlichen Komik nicht entbehrenden Weise Clive und wird später ebenso von Alec aufgesucht. Beide Ereignisse markieren einen Einschnitt, haben Konsequenzen. Im ersten Fall gerät Maurice auf einen Abweg, erst die Wiederholung führt zum befriedigenden Ergebnis. Nach diesem Muster – Lernen am Erfolg, zuerst die nicht recht geglückte Generalprobe, dann die zufriedenstellende Premiere – sind weite Teile der Handlung konstruiert. Die Wiederholung als bessere Entsprechung ist das Strukturelement schlechthin. Wir wollen uns einige Beispiele dafür ansehen.

Maurice konsultiert wegen seiner Homosexualität zwei Ärzte, Dr. Barry, der alles nur für Humbug hält, und dann den Psychiater Lasker Jones, der mittels Hypnose die Entwicklung beschleunigt und Maurice sich selbst akzeptieren lässt. Dazu sind genau zwei Sitzungen erforderlich, die erste mit unsicherem Ergebnis, die zweite mit so eindeutigem, dass sich jede weitere Behandlung erübrigt. Ähnlich Maurice’ Kontakt mit der Musik Tschaikowskys. Die Pathétique kommt ins Spiel, als Maurice in Risleys Zimmer die ersten Worte mit Clive wechselt. Sie erklingt bei einem öffentlichen Konzert wieder, bei dem nicht ganz zufällig Risley wieder zur Stelle ist und nun damit beginnt, den jungen Hall mit praktischen Tipps zu versehen. Unnötig zu sagen, dass Risley selbst genau zweimal persönlich auftritt, ebenso wie Mr. Ducie, der Lehrer aus der Vorbereitungsschule. Bei seinem nicht sehr erfolgreichen Aufklärungsversuch spricht er scherzhaft eine Einladung zum Essen aus – in zehn Jahren soll Maurice mit seiner Gattin zu ihm kommen. Ducie stößt nach Ablauf dieser Zeit stattdessen im British Museum auf Maurice und Alec, die gerade dabei sind, ein Paar zu werden.

Vorher passiert noch viel. Es wird zweimal vorzeitig wegen Krankheit abgereist, zweimal reist Maurice an einem Tag zwischen Penge und London, zweimal sitzt einer in einer entscheidenden Situation auf einer Stuhllehne neben dem anderen. Als es in Penge im Salon durchregnet, kommen die Dienstboten erst nach dem zweiten Klingeln, und das wird von Clives Mutter in sich selbst wiederholender Weise noch betont: „Wir mussten zweimal klingeln, zweimal klingeln …“. Und sie stellt gleich auch noch die Verbindung zu Erotik und Klassenfrage her: „ … wie haben unsere kleinen Idyllen auch im Souterrain, müssen Sie wissen.“ (S. 203) Forsters Motivarbeit funktioniert präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Er wendet seine Methode der Verdoppelung sogar auf Namen an. Clives Schwester heiratet einen in London ansässigen Mr. London, und die Maklerfirma, in der Maurice arbeitet, nennt sich Hill & Hall.

Weiter: Maurice ist der achte Freund, dem sich Clives Braut am Telefon vorstellt. (Ein Paar entspricht der Zahl zwei, und ihre zweifache Verdoppelung ergibt acht.) Maurice scheint darauf anzuspielen, wenn er von Alec, dem Spielführer beim Kricket Gut gegen Dorf, als achter Mann aufgestellt werden will. (Aber Alec akzeptiert es nicht, stellt ihn als fünften auf!) Clives Grippe, während der er seine Abreise nach Griechenland plant, findet ihre Entsprechung, als Maurice und Alec das Museum betreten: „Alec … nieste wie ein Löwe.“ (S. 262) Maurice zeigt ihm dort assyrische Stiere, d.h. er geht mit ihm hinter das antike Griechenland und den Platonismus zurück zu einem noch Ursprünglicheren. Als sie das Museum miteinander versöhnt verlassen, heißt es von Alec: „ … er gehörte zu jenen, die ein Gift einfach ausscheiden können.“ (S. 270) Das ist eine diskrete Anspielung darauf, dass Clive im Verlauf seiner Erkrankung von der platonischen Liebe zu Maurice „geheilt“ wurde, er hat sie gleichfalls wie einen Giftstoff ausgeschieden. 

Bevor es richtig hochzeitlich wird, werden Blumen in die Handlung gestreut, es sind genau zwei Arten, zuerst die verkümmerten, von Insektenfraß entstellten Heckenrosen, dann die einen herrlichen Duft verströmenden Nachtkerzen. Zwei Nächte verbringt Maurice im Roman mit Alec, die erste führt in die Krise, die zweite aus ihr heraus. Mit dem Beginn der dritten Nacht endet der Roman. Und in diesem Zusammenhang werden die Nachtkerzen ausnahmsweise ein drittes Mal eingesetzt, wie der Schlusstusch im vierten Satz einer Sinfonie. Forster war sich seiner Mittel sehr bewusst.

Ivorys Verfilmung nimmt dieses Spiel mit der Wiederholung auf und zwar mit einem besonders symbolträchtigen Detail, das im Roman nicht vorkommt. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft spielen Maurice und Clive auf dem Klavier eines Kommilitonen Auszüge aus der Pathétique. Dann unterbricht sich Clive und nimmt sich, mit Billigung des Zimmerinhabers, aus dessen Obstschale einen Apfel, eine Anspielung sowohl auf Liebe wie auf Erkenntnis. Bei Alecs erstem Auftritt handelt der junge Wildhüter genauso, wenn auch hinter dem Rücken der Herrschaft.

Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die Tatsache, dass Maurice die geglücktere Wiederholung seines Vaters zu sein scheint. Auf S. 180 sitzt „der Geist seines Vaters“ im Büro des jungen Börsenbrokers auf einem Stuhl ihm gegenüber: „Mr. Hall senior hatte weder gekämpft noch nachgedacht; es hatte nie eine Gelegenheit dazu gegeben; er hatte die Gesellschaft unterstützt und war ohne eine Krise von unerlaubter zu erlaubter Liebe übergewechselt. Jetzt, da er zu seinem Sohn hinüberblickt, packt ihn der Neid, die einzige Qual, die in der Welt der Schatten fortdauert. Denn er sieht, wie das Fleisch den Geist erzieht, so wie der seine niemals erzogen worden ist, und wie es das träge Herz und das seichte Bewusstsein gegen seinen Willen vervollkommnet.“ Das also ist das Thema dieses großen Romans: der Fortschritt infolge Erziehung des Herzens durch das Fleisch.

 

(Alle Zitate nach der Übersetzung von Nils-Henning von Hugo, erschienen als Taschenbuch im Fischer Taschenbuch Verlag 2005)

 

 

18. Über Virginia Woolf: Die Jahre

 

  Gegen Ende des Romans denkt Lady Lasswade auf einer Abendgesellschaft von einem ihr noch Unbekannten: „Er muss ein Ausländer sein, denn er ist ganz unbefangen.“ Diese Stelle erinnert an eine in E. M. Forsters Maurice. Dort erklärt der Psychiater und Hypnotiseur Lasker Jones: „England neigte noch nie dazu, die menschliche Natur zu akzeptieren.“ In beiden Werken geht es auch um die Macht von Konventionen, um Denkverbote, Sprachhemmung, und zwar vor dem Hintergrund einer hoch entwickelten, materiell reichen Industriegesellschaft mit ausgeprägten Klassenunterschieden. Beide, Woolf wie Forster, gehörten der gleichen Generation an. Um 1880 geboren, waren sie midvictorians, nicht als Schriftsteller, doch nach ihrer ursprünglichen Sozialisation. Sie wurden zu Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, nahmen das Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht noch wahr - und den beginnenden Abstieg. Beide verarbeiteten die damit verbundenen Prozesse in ihren Büchern, beide gehörten der Bloomsbury Group an. Forster hat seinen Roman nicht bei Lebzeiten zu veröffentlichen gewagt. Die Jahre, erschienen 1937, wurde Virginia Woolfs letzter Roman – und einer ihrer erfolgreichsten, gemessen an den Verkaufszahlen.

Die Jahre hat die Kritik irritiert. Es steht bis heute in der literaturgeschichtlichen Wahrnehmung im Schatten von Mrs. Dalloway, Die Wellen, Die Fahrt zum Leuchtturm. Der formale Bruch mit ihrem früheren Erzählen ist offensichtlich. An die Stelle der 24-Stunden-Epen à la James Joyce scheint wieder eine traditionelle Form getreten zu sein – die fortgesetzte Schilderung einer Familiengeschichte über fünfzig Jahre hinweg (1880 – 1930). Dieser erste Eindruck täuscht jedoch in einem wesentlichen Punkt – der Roman ist vor allem Auseinandersetzung mit dem Werk von Marcel Proust. Woolf bezieht sich in der Anlage der Familiensaga wiederholt auf vergleichbare Konstellationen in der Recherche. Es gibt außerdem Details, die nicht anders denn als Zitate oder Anspielungen aufgefasst werden können. Gleichzeitig hat die Autorin Prousts Konzeption in zumindest einem wesentlichen Punkt verändert. Und sie gelangt am Ende auch nicht zu dessen Heilsgewissheit einer beglückenden immerwährenden Gegenwart. Nicht die Zeit an sich ist ihr Thema, sondern: Was fangen wir mit der Zeit an – und was die Zeit mit uns?

Im Roman geht es um die Geschichte der wohlhabenden Offiziersfamilie Pargiter, genauer: die Lebenswege von vier Töchtern und drei Söhnen. Dazu treten noch drei Kusinen – Verwandte der Mutter oder des Vaters - sowie in der folgenden Generation Tochter und Sohn eines der Pargiter-Söhne. Das sondierende und sich selbst, seine Umwelt und beider Veränderungen in der Zeit spiegelnde Bewusstsein des Ich-Erzählers bei Proust verteilt Woolf auf diese zwölf Protagonisten, die abwechselnd zu Wort kommen, d.h. ihren Bewusstseinstrom dem Leser offenbaren. Dabei sind die Gewichte sehr ungleich verteilt. Eleanor, die Älteste, scheint über weite Strecken die Hauptperson zu sein, ihre Schwestern Delia, Milly und Rose treten viel seltener auf, die Kusinen Kitty (Lady Lasswade), Maggie und Sally wiederum etwas häufiger als diese. Von den Söhnen spricht uns der Offizier Martin direkter an als Edward, der Altphilologe, oder der Anwalt Morris, ohne dass man diese beiden für weniger bedeutend halten dürfte. Am Schluss verlagert sich das Schwergewicht der Beobachtung auf Morris’ Kinder, die Ärztin Peggy und den aus Afrika zurückgekehrten Farmer Norman.

Es gibt elf meist mittelgroße Kapitel, die als Überschrift eine Jahreszahl tragen. Herausgehoben, schon durch ihre Länge, sind das Anfangs- und das Schlusskapitel 1880 und Gegenwart (1930). Im ersten stirbt die Mutter der Pargiter-Kinder, im letzten treffen sie sich auf einer Soiree, die bis zum Morgengrauen dauert. (Es gibt noch eine zweite, die ebenso prägnant den Leerlauf von Geselligkeit, den Überdruss an ihr und seine partielle Überwindung zum Thema hat - die Nähe zu Proust ist wieder unverkennbar.) Die kürzeren mittleren Kapitel drängen sich in der Periode von 1907 bis 1918. Gewöhnlich wird ein Kapitel durch eine Art Streiflicht eingeleitet, in dem die sinnlich wahrnehmbaren äußeren Umstände – Jahres- und Tageszeit, Wetter, Bewegungsmuster von Lebewesen – dem Leser wie in Rundpanoramen sehr einfühlsam vermittelt werden.

Wer ein genaues Abbild der Entwicklung von Gesellschaft und Zivilisation in England zwischen 1880 und 1930 erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar spielen die Kapitel an den verschiedensten Orten in London oder auf dem Land, in reichen und ärmlichen Häusern, in Parks und Gärten, doch im Mittelpunkt steht fast immer das sich und die anderen reflektierende Bewusstsein der jeweiligen Hauptperson. Davon gibt es allerdings bemerkenswerte Ausnahmen. Wenn Woolf z.B. Sallys Zimmer in einem billigen Logierhaus charakterisiert, tut sie das auch mit Geräuschen, die von der Straße heraufdringen, einschließlich der Klänge der Straßenmusiken und der Rufe der ambulanten Händler, womit sie uns erneut zeigt, wie genau sie Proust studiert hat. Wiederum an Proust lehnt sich unverkennbar die Episode 1917 an, sie gibt die Situation eines deutschen Luftangriffs auf London wieder und das Verhalten der ihr Unterworfenen. Auf Proust und sein Motiv der Aeroplane wird noch einmal angespielt, wenn Eleanor später auf die Flugzeuge hinweist, die man aus ihrer neuen Wohnung sehen kann.

Zwei Drittel der Hauptpersonen sind weiblich. Sind Die Jahre ein Frauenroman? Ja und nein. Die fortschreitende Emanzipation der Frauen und ihre mannigfaltige Abstufung ist nur eines der großen Themen des Romans. Eleanor, die ledig bleibt, investiert Kapital in den Wohnungsbau für sozial Schwache, sie arbeitet in einer philanthropischen Organisation mit. Delia schwärmt für die Freiheit Irlands und heiratet einen irischen Landjunker, der sich später nach der Krone Britanniens zurücksehnt. Auch Milly verheiratet sich aufs Land. Rose, wiederum unverheiratet, geht im politischen Kampf so weit, dass sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Kitty wird Lady Lasswade. Maggie heiratet einen nach England eingewanderten Franzosen, ihre etwas phantastische Schwester Sally wird zu einer in ärmlichen Verhältnissen lebenden alten Jungfer. Nur die alleinstehende Peggy aus der nächsten Generation hat einen wirklichen Beruf: Ärztin.

Auch Edward und Martin bleiben unverheiratet. Martin scheint Frauengeschichten gehabt zu haben. Edward hat Kusine Kitty nicht bekommen und sich damit ein für allemal beschieden. Norman, am Romanende auch schon ein Dreißiger, lernt da unter den Gästen eine junge Frau kennen, die er vielleicht heiraten wird. Es ist bemerkenswert, dass die Mehrzahl des Familiennachwuchses keine Ehe eingeht. Und damit sind wir bei einem damals heiklen Thema: verborgene Homosexualität. Woolf selbst hatte mindestens eine längere lesbische Beziehung, behandelt das Thema aber im Roman mit größter Delikatesse, sehr midvictorian. Frauen lieben hier keine Frauen, allenfalls berühren sie einander zärtlich. Edward wird als Student, so können wir vermuten, von einem Kommilitonen begehrt. Später scheint er sich verdächtig zu machen, indem er in Kittys Loge zu Siegfried einen attraktiven jungen Mann mitbringt – aber die Erzählerin verwischt die Spur alsbald wieder: Der Begleiter ist ein Verwandter von Kittys Mann. Ähnlich merkwürdig einige Details über Norman. Zurück aus Afrika besucht er Sally und sie zitieren Stellen aus alten Briefen. Norman hat ihr mal von einem Ausflug in die nächste Stadt berichtet, da hat er in einer Bar einen Mann kennengelernt und – nichts weiter. Norman denkt stattdessen befriedigt daran, dass er seiner Kusine damals manches verschwiegen hat. Auf der Soiree in 1930 geht er einerseits sehr zielgerichtet vor, in Bezug auf jene junge Dame, und lässt sich andererseits von einem unbekannten jungen Mann beeindrucken, will ihn ansprechen und schafft es vor dessen Aufbruch nicht. („Er fühlte sich zugleich angezogen und abgestoßen.“) Alle diese nur angedeuteten Ansätze realisiert der Pole Nicholas, stellvertretend, und tut es doch wiederum nicht, denn es geschieht nichts weiter, als dass Sally ihn 1917 vor den anderen als homosexuell outet. Da scheint Sodom und Gomorrha von Proust auf, aber ad usum Delphini. Onkel Edward könnte Charlus sein und Neffe Norman Saint Loup – aber sie leben schließlich in England … Daher Kittys erster Eindruck von Nicholas: Er muss ein Ausländer sein.

So unentschieden, nur andeutend und letztlich unbefriedigend, bleibt auch der Schluss des Romans. Die erstarrten Vertreter der älteren Generation wiederholen sich ständig in allem, in ihren Gedanken, Gefühlen, Aussprüchen. Peggy hat eine blasse, sich rasch wieder verflüchtigende Vision von einem anderen, nützlicheren, befriedigenderen Leben. Ihrem Bruder Norman geht es ähnlich. Nicholas wird daran gehindert, eine Rede zu halten – er hätte ohnehin nichts Wesentliches mitzuteilen gehabt. Gegen Morgen werden die Kinder des Hauswarts mit Torte traktiert, dann sollen sie etwas singen und zerstören die Illusion von sozialem Ausgleich mit einem kakophonischen Duett in Geheimsprache. Das Buch schließt mit einer morgendlich stillen Straßenszenerie: „Die Sonne war aufgegangen, und der Himmel über den Häusern hatte ein Aussehen von außerordentlicher Schönheit, Einfachheit und Frieden.“ Ein Stillleben - der Triumph des einfachen Lebens über Ideologien, Hochkultur und jede Form von Raffinement? Das Buch scheitert letztlich auf hohem Niveau.

 

 

19. Über André Gide: Die Verliese des Vatikan

 

Das nicht allzu große Werk – 208 Seiten in meiner Taschenbuchausgabe – repräsentiert erstaunlich viele Gattungen. Es ist ein satirischer Kriminal-, Familien-, Entwicklungs- und Reiseroman mit zugleich religiös-philosophischer wie literarischer Thematik. Noch vielgestaltiger ist das Personal, das dem Leser hier bereits vorgeführt werden soll. Die Hauptfigur ist ein in Paris abenteuernder junger Rumäne namens Lafcadio Wluiki, unehelicher Sohn des französischen Diplomaten Justus-Agenor Graf von Baraglioul, dessen legitimer Spross Julius sich als konservativ-bigotter Schriftsteller in Paris einen Namen gemacht hat, während des Alten Tochter die bei Pau wohnende frömmelnde Gräfin Valentine de Saint-Prix ist. Sohn Julius ist verheiratet mit Margarita, deren eine Schwester, Arnica mit Namen, ebenfalls in Pau lebt. Sie ist die Gattin von Amadeus Fleurissoire, einem der beiden Fabrikanten des „Römisch-Plastischen Kartons“, aus dem Devotionalien hergestellt werden. Veronica, die zweite Schwester von Margarita, hat den atheistischen Naturwissenschaftler Anthimos Armand-Dubois geheiratet und lebt mit ihm in Rom. Es fehlen noch Geneviève, Tochter von Julius und Margarita, und der geniale Verbrecherkönig Protos. Ziemlich viele Hauptfiguren für ein so schmales Werk – und nun geht es los mit der Handlung!

Der Rheumatiker Anthimos streitet sich zu Beginn wegen seiner Freigeisterei mit Veronica sowie der Familie des Schwagers, die zu Besuch gekommen ist. Dabei attackiert er mit seiner Krücke eine Marienfigur und erlebt kurz darauf a) seine vollständige Genesung und b) die nicht weniger wundersame eigene Bekehrung. Er bricht mit den Freimaurern, gibt Wissenschaft wie publizistische Tätigkeit auf und dient der Kirche fortan als Musterbeispiel gottgefälligen Lebens. Da er infolgedessen materiell verarmt und die versprochene Unterstützung der Kirche ausbleibt, ziehen er und Veronica nach Mailand und leben dort in ärmlichen Verhältnissen.

Lafcadio weiß nicht, dass er der Sohn des alten Grafen Baraglioul ist. Dieser fühlt sein Ende nahen und sendet Sohn Julius aus, um Kontakt zu dem ihm noch unbekannten Halbbruder aufzunehmen. Der junge Rumäne kommt gerade noch rechtzeitig ans Sterbebett. Er wird testamentarisch großzügig versorgt, darf sich jedoch nicht als Baraglioul betrachten.

Lafcadios früherer Schulfreund Protos erschwindelt sich als falscher Kanoniker in Pau eine beträchtliche Summe von Valentine de Saint-Prix. Er redet ihr ein, Papst Leo XIII. würde von Freimaurern gefangen gehalten und auf dem Stuhl Petri säße ein Doppelgänger im Dienst der Gottlosen. Valentine setzt daraufhin den ängstlich-tollpatschigen Amadeus zur Befreiung des echten Papstes nach Rom in Marsch.

In Rom treffen alle aufeinander: Lafacadio auf dem Weg nach Asien, Amadeus, der in ein Bordell verschleppt wird, Protos, der Amadeus unschädlich machen will, Julius mit Frau und Tochter – er nimmt an einem Soziologenkongress teil – und schließlich auch Anthimos mit Veronica. Protos, erneut priesterlich verkleidet, veranlasst Amadeus, mit der Eisenbahn zwischen Rom und Neapel hin- und herzufahren. Unterwegs begegnet er Lafcadio, der ihn in einem Anfall so experimenteller wie grundloser Mordlust aus dem Zug stößt. Damit kommt die verwickelte Handlung noch mehr in Fahrt und am Ende des Kuddelmuddels – aber halt, das soll der Leser jetzt noch nicht erfahren. Übrigens habe ich oben eine weitere wichtige Person noch nicht erwähnt: Carola Venitequa …

Wesentliches Merkmal der handelnden Personen, meist mit vordergründig anspielungsreichen Namen, sind ihre variablen Identitäten. Diese scheinen, gerade wie die Heiligenfiguren, ebenfalls aus einer Art Römisch-Plastischem Karton hergestellt. Anthimos wandelt sich vom Saulus zum Paulus und am Ende wieder zum Saulus. Sein Schwager legt den umgekehrten Weg zurück. Selbst der arme Amadeus gewinnt als Pilger auf besonderer Mission überraschende Einsichten und ihn verwirrende Tiefblicke. Lafcadios geistiges Gepäck scheinen die Werke von Nietzsche und Dostojewski zu sein. Insgesamt kann das 1914 erschienene Buch als unterhaltsamer Ausdruck der kulturellen Krise der Jahre vor dem 1. Weltkrieg betrachtet werden. Es spiegelt außerdem – obwohl schon 1893 angesiedelt - den innerfranzösischen Gegensatz zwischen Laizisten und Ultramontanen nach dem Ende der Dreyfusaffäre wider. Gides Prosa gleitet klassizistisch elegant über die Verwerfungen der Zeit hinweg, wie in einem atemberaubenden Solotanz. In den späteren römischen Abschnitten trägt ihn diese zuvor souverän gehandhabte Technik allmählich aus der Bahn glaubwürdigen Erzählens. Die Maskeraden werden immer toller, der allzu häufige Kostümwechsel scheint nur noch aus der Freude an ihm selbst herzurühren. Man glaubt sich zeitweise in Offenbachs „Pariser Leben“ versetzt. Amadeus ähnelt nun in Neapel dem Operetten-Baron von Gondremark. Ein weiterer Mangel des Buches: Lafcadios überragender geistiger Horizont passt offenkundig schlecht zu seinen neunzehn Jahren. 

Trotz dieser Einschränkungen bleiben „Die Verliese des Vatikans“ eine amüsante und geistig anregende Lektüre, auch bei wiederholter Begegnung. Ihre wesentliche Bedeutung für Gide selbst dürfte darin bestanden haben, dass sie eine Vorübung für sein späteres Meisterwerk „Die Falschmünzer“ gewesen sind. Der Autor erkannte dem Buch von 1914 nur den Rang einer längeren Erzählung zu, denn das Werk von 1925 hat folgende Zueignung: „Dieses Buch, meinen ersten Roman, widme ich Roger Martin du Gard, im Geiste einer tiefen Freundschaft.“

 

 

20. Über André Gide: Die Falschmünzer

 

Auch ein Nobelpreiskomitee findet mal einen geeigneten Preisträger, 1947 zum Beispiel André Gide. Es attestierte ihm damals, er habe „Fragen und Verhältnisse der Menschheit mit unerschrockener Wahrheitsliebe und psychologischem Scharfsinn dargestellt“. Diese Begründung überzeugt noch immer. Als Autor ist Gide längst Klassiker geworden, seine Sprache wirkte schon zu Lebzeiten klassizistisch. Seine Methode indessen, die Kombination von Rationalismus und Zweifel, ist zeitlos modern. Dualität und Ambivalenz sind die Hauptmerkmale seines Werks, die Klassizität des Stils überbrückt den Abgrund der Inhalte und verdeutlicht ihn zugleich.

Ohne Zweifel sind „Die Falschmünzer“ sein Hauptwerk. Bereits an dessen Form lässt sich die erwähnte Dualität nachweisen. Der Roman enthält zum einen eine leicht nachvollziehbare und mehr oder weniger chronologisch fortlaufend erzählte Handlung, die Ereignisse um eine Gruppe miteinander bekannter oder verwandter Menschen in Paris während einiger Monate im frühen 20. Jahrhundert. Zum anderen jedoch haben wir es im Text mit einer bis zum Erscheinen dieses Buches unbekannten Dokumenten- und Stimmenvielfalt zu tun, die die relativ einfache Handlung jedoch nicht verdunkelt, sondern in allen Verästelungen ihrer Motivation erst transparent macht. So treten neben die unterschiedlichen, oft nicht scharf voneinander geschiedenen Erzählperspektiven noch Briefe und längere Tagebucheintragungen.

Der äußeren Form entsprechend verhalten sich die Inhalte durchweg dialektisch zueinander. „Die Falschmünzer“ sind einmal die Erlebnisse zweier insgesamt positiv gezeichneter Oberschüler – Bernard und Olivier -, die gerade ihr Abitur machen und hoffnungsfroh ins selbständige Leben hinaustreten – sie sind aber auch ein Buch über die Krisen der Älteren, über Treulosigkeit und Ehebruch, das Elend des Greisenalters und über frühreife Kinder, die zu Grausamkeit und Verbrechen neigen. Auf einer anderen Ebene - und zugleich mit der ersten vielfach verknüpft - geht es um Literatur, um Literaten. Oliviers Onkel Edouard scheitert an dem Versuch, einen revolutionär neuartigen Roman über Falschmünzerei zu schreiben (was Gide, dem Edouard nachgebildet ist, in einem weiteren Sinn durchaus gelungen ist). Sein Kontrahent, in der Literatur wie in der Liebe, ist Graf Passavant (Hauptvorbild: Jean Cocteau), der Mittelpunkt eines ebenso erfolgreichen wie zynischen Literaturbetriebs.

Zwei weitere Felder, die Edouards Bewusstsein spiegelt: der rigid-puritanische Protestantismus (dem er, wie Gide selbst, entstammt) mit seiner Überlebtheit und Hohlheit – und praktizierte Homosexualität und ihre relative Akzeptanz. Edouard und Passavant konkurrieren um Olivier – aber Bernard ist ein frühreifer Womanizer, der erst die von Edouard verschmähte Laura anbetet, um danach deren jüngste Schwester zu deflorieren. An diesem Detail wird erneut Gides Kunst, die Motive antagonistisch einzusetzen, deutlich.

Spätestens jetzt stellt sich die Frage, in welchem Jahrzehnt der 1925 erschienene Roman angesiedelt ist. Vieles spricht zunächst für die frühen Zwanzigerjahre: der überhitzte Literaturbetrieb, das locker sitzende Geld, der moderne Straßenverkehr mit Automobilen und Taxis, der etwas nonchalante Umgang mit Sexualität überhaupt … Andererseits lässt Gide mit Alfred Jarry einen realen Literaten auftreten, der schon 1907 gestorben ist. Ferner wird als länger zurückliegend der Untergang des Luxusdampfers „Bourgogne“ (1898) erwähnt. So spielt der Roman eben in einer immerwährenden Dritten Republik …

… deren zeitlose Modernität evident wird, wenn Gide sich nebenbei mit den Themen Freier Wille bzw. Frauenemanzipation beschäftigt. Hier muss einfach mal zitiert werden (nach der Übersetzung von Ferdinand Hardekopf), und zwar Edouards alten Lehrer La Pérouse: „Ja, es ist mir klargeworden, dass das was wir unseren Willen nennen, die Drähte sind, die uns Marionetten bewegen und an denen der liebe Gott zieht. Sie verstehen noch nicht ganz, was ich meine? So will ich Ihnen ein Beispiel geben. Ich sage jetzt zu mir: ‚Ich werde meinen rechten Arm hochheben.’ Und ich hebe ihn hoch.“ (Er tat es.) „Aber ich konnte das nur, weil der Draht schon gezogen war, um mich denken und sagen zu lassen: ‚Ich werde meinen rechten Arm hochheben’ … und der Beweis dafür, dass ich nicht frei bin, besteht darin, dass, wenn ich den andern Arm hätte hochheben müssen, ich zu Ihnen gesagt hätte: ‚Ich will meinen linken Arm hochheben’ … Nein, ich sehe, dass Sie mich nicht verstehen! Sie sind eben nicht frei, mich zu verstehen …“ Die Stelle erinnert verblüffend an Versuchsanordnungen der heutigen Neurobiologie.

Oder über Sarah, nachdem deren älteste Schwester Rachel Bernard zum Teufel geschickt hatte: „Rachels fromme Resignation war in ihren Augen nichts als Narrheit. Und in Lauras Verheiratung sah sie nur ein elendes, zur Sklaverei führendes Geschäft. Ihre eigene Lebenserfahrung hatte sie (zu dieser Schlussfolgerung war sie gelangt) recht wenig zur ‚ehelichen Unterwürfigkeit’ prädestiniert. Sie vermochte nicht einzusehen, inwiefern ein etwaiger Ehemann ihr geistig überlegen sein sollte. Hatte sie nicht ihre Examina bestanden, ebensogut wie die männlichen Kandidaten? Hatte sie nicht über alle Fragen ihre persönlichen Ansichten, ihre ganz bestimmten Ideen? War sie nicht überzeugt von der Gleichwertigkeit der Geschlechter? …“

„Die Falschmünzer“ sind ein Buch für im Laufe eines langen Lebens gelegentlich wiederholbare Lektüre. In seinen frühen Jahren wird der Leser einbezogen in die Abenteuer anderer junger Menschen, wird neugierig gemacht auf die Welt und bekommt Mut für die Zukunft. Bei jeder weiteren Begegnung vertieft sich der Eindruck von Klarheit und Energie. Ich selbst wandle heute ein Wort des alten Gide über Vergil so ab: „Und ich greife wieder zu Gide, der mich nicht eigentlich mehr überrascht, aber doch ständig entzückt.“

 

 

21. Über Cesare Pavese: Unter Bauern

 

 Pavese (1908 – 1950) gilt als der führende italienische Neorealist im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Seine Romane und Erzählungen werden – auch außerhalb Italiens – bis heute viel gelesen. Die Sekundärliteratur nimmt an Umfang noch immer zu. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Einordnung seiner Werke in größere Zusammenhänge, mit dem Einfluss der amerikanischen Literatur auf Pavese, seiner Darstellung der italienischen Gesellschaft der Dreißiger und Vierziger, mit dem Gegensatz Stadt – Land, nicht zuletzt mit der Rolle mythischer Bilder und Vorstellungen bei der Gestaltung von Figuren und Erzählsträngen. Es scheint, Pavese war ein stark auf die Gemeinschaft und ihre Fragen bezogener Autor. Dabei gerät die andere Seite ein wenig aus dem Blickfeld: das Unverwechselbare, individuell Persönliche seiner Gestalten, insbesondere seiner Ich-Erzähler.

„Unter Bauern“, erschienen 1939, ist Paveses erster Roman. Er wird bis heute vor allem als soziale Milieuschilderung verstanden, in der die Individualpsychologie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den Vorrang des individuellen Dramas herauszuarbeiten, für welches das soziale Milieu wenig mehr als eine brauchbare Kulisse bedeutet.

Der Klappentext von Fischer zur Taschenbuchausgabe von 1983 ist ein vielsagendes Beispiel für die tradierte Überinterpretation. Er beginnt schon mit einem krassen sachlichen Fehler: „In dem … Roman ‚Unter Bauern’ fixiert Cesare Pavese einige noch heutzutage antreffbare archaische Sozialstrukturen in abgelegenen Dörfern der Piemonteser Alpen.“ Tatsächlich spielt der Roman in der Langhe, Paveses Heimat, einem fruchtbaren Hügelland im Südosten des Piemont, ca. 100 Kilometer vom Rand der Alpen entfernt. Im Zeitgeistjargon von damals fährt der Klappentexter fort: „ … interessiert sich Pavese mehr noch als für die eigentliche Romanhandlung für die politischen Hintergründe, vor denen die Handlung abläuft.“ Das ist eine Behauptung, die durch den Text nirgendwo gestützt wird, Pavese berührt den politischen Rahmen der Mussolini-Zeit nicht einmal. Und weiter: „Pavese legt die Wurzeln des ‚ganz gewöhnlichen Faschismus’ bloß und deutet vorwegnehmend die kriegerischen Ereignisse der folgenden Jahre …“ Abgesehen davon, dass an die Stelle der „archaischen Sozialstrukturen“ hier auf einmal die Wurzeln des modernen Faschismus treten, ist es einfach grotesk, anzunehmen, Pavese habe mit seinem kleinen Vorkriegsroman bereits Verlauf und Ergebnis des 2. Weltkriegs mitverarbeiten können. Sein fatales Notizheft aus den Kriegsjahren, erst 1990 publiziert, zeigt bekanntlich einen Pavese, dem Mussolini nicht vollkommen unsympathisch ist und der dessen Endsieg durchaus für möglich hält. Dieser Pavese wurde dann von seinen Verteidigern auf die in solchen Fällen übliche Weise als eine im Grunde unpolitische Persönlichkeit erklärt. - Versuchen wir uns an einer neuinterpretierenden Nacherzählung von „Unter Bauern“.

 

  1. Tag

Zwei junge Männer haben zwei Wochen lang eine Gefängniszelle in Turin geteilt und werden zusammen entlassen. Man hat dem Bauernburschen Talino die Brandstiftung nicht nachweisen können, ebenso ist Bertos Verwicklung in einen Einbruch unaufgeklärt geblieben. Berto, der Ich-Erzähler, ist Turiner. Bereits mit seinem ersten Satz stellt er klar, wer hier Handelnder und wer Objekt ist: „Noch an der Tür fing er an, mich einzuwickeln.“ Berto meint, „ein Mann wie er müsse auch diese Erfahrung (vordergründig: die Gefängnisentlassung) machen“ und erntet verschmitztes Lachen, „als seien wir Mann und Frau auf einer Wiese … und klammerte sich an mich … Da begann Talino wieder zu lachen, als steckten wir unter einer Decke.“ Diese Assoziationen müssen einem erst einmal kommen, damit man sie zurückweisen kann. Talino will ihn mit aufs Dorf nehmen, da er selbst sich angeblich vor seinem Vater fürchtet und Berto als Mechaniker die Dreschmaschine bedienen könnte. Berto scheint es darauf anzulegen, Talino loszuwerden: Er gibt ihm Geld für einen Bordellbesuch und stellt nur vage in Aussicht, abends am Bahnhof zu sein.

Berto sucht nun seinen Kumpan und Zimmergenossen Pieretto und trifft stattdessen Pierettos Geliebte Michela. Er schläft mit ihr und verlässt sie unmittelbar danach, obwohl er den Platz des einsitzenden Freundes auf Dauer einnehmen könnte. Michela glaubt, ihn zu gewinnen, indem sie wiederholt sagt: „Wenn Pieretto das wüsste!“ Aber Berto sieht darin desillusioniert nur den Verrat: „Selbst ihr Geruch war mir widerlich.“ Wir haben hier bereits das für Pavese typische und an Dostojewski erinnernde Trio aus einer Frau und zwei Männern, von denen einer aus Solidarität mit dem anderen sich zurückzieht. Berto geht also zum Bahnhof, „ohne mir dessen recht bewusst zu werden“.

 

2. Tag

Während der Nachtfahrt hält Berto sich vor Augen, „dass ich meine Jacke nur über die von Pieretto hätte hängen müssen.“ Er hat es nicht getan, stellt sich nun Michela allein in ihrem Bett vor und blendet unmittelbar über zum Reisegenossen: „Talino hatte den Kopf zum Schlafen auf sein Bündel gelegt …“ Er vergleicht den Bauernburschen mit einem Kalb – „aber in manchen Augenblicken dachte ich, es seien ihrer sogar zwei.“ Berto, der sich in Turin in wenig glänzenden Verhältnissen befand, hält sich immer wieder seine städtische Herkunft zugute, doch diese ländliche Idylle verlockt ihn auch ein wenig.

In Bra müssen sie anderntags umsteigen, und der Turiner Ablauf wiederholt sich leicht variiert. Talino geht in den Puff, Berto wartet in einem Café. Er flirtet mit der Kellnerin und macht die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der ihn beim Billard schlägt. Nachher ist der Zug aufs Dorf weg, sie treffen auf dem Markt einen von Talinos Bekannten. Dieser Eisenwarenhändler heißt auch Berto und wird vom Ich-Erzähler mit respektvoller Sympathie geschildert. Der Händler geht mit ihnen essen und bespricht mit Talino die Folgen der Brandstiftung.

Vom Lokalzug aus blicken sie, kurz vor Talinos Dorf, auf „eine mächtige Kuppe … rund wie die Brust einer Frau.“ Der Zug verschwindet in einem Tunnel, im Abteil wird es dunkel, Berto spricht „versehentlich“ einen mitfahrenden Milizionär an und bekommt zur Antwort: „Ich bin nicht Talino … Bleibt bloß auf eurem Platz sitzen.“ Es wird hell, Berto sieht am Fenster Talino, der „wie eine Frau mit beiden Händen winkte.“ Bei der Darstellung des Fußmarsches vom Bahnhof geht es noch wiederholt um den einer Frauenbrust ähnelnden Berg. Er erscheint abwechselnd groß und klein, wie die Vorwegnahme der Desillusionierung, die für Berto an dem Schauplatz erfolgen wird, den er nun betritt. Beim Eintreffen auf dem väterlichen Hof die nächste Anspielung auf – problematische – Sexualität: Vinverra „kratzte sich unter der Hose.“

Im Verlauf des ersten Abends auf dem Hof konstituiert sich das nächste Trio: Talino – Berto – Gisella (eine von Talinos Schwestern.). Berto interessiert sich gleich für Gisella, die ihrerseits mit Talino zankt. Die beiden jungen Männer schlafen auf dem Heuboden. Berto macht sich klar, dass er hier nicht nur der Maschinist ist, sondern vor allem Talinos Leibwächter: Alle Familienmitglieder fürchten die Rache des Brandgeschädigten.

 

 3. Tag

Berto bereitet sich aufs Korndreschen vor und setzt die Dreschmaschine instand. Weit mehr Raum nimmt im Text seine Annäherung an Gisella ein. Sie ist die Herrin über die Äpfel, er trifft sie am Brunnen, ist voller Verlangen nach ihr – und zeigt schon wieder erste ambivalente Regungen. Sie hat, findet er, ein „Mondgesicht“, ganz wie Talino, der ihm die ältere Schwester Pina schmackhaft machen will. Jetzt ist erstmals die Rede von Ernesto: „Gisella hatte was mit Ernesto …“ Das ist ein junger Bauer aus der Umgebung, ebenfalls Maschinist und eigentlich fürs Dreschen am Ort zuständig – doppelte Konkurrenz.

Talino geht mit Berto ins Dorf. Dort lernt er den Stellmacher kennen, der ist blond, eine bei Pavese gelegentlich vorkommende erotische Signalhaarfarbe. Wieder auf dem Hof angelangt, kommen Berto und Talino dessen Mutter „wie Brüder“ vor. Beim Abendessen mustert Berto Gisellas Schwestern und stellt bei sich wenig galante Vergleiche an. Pina erinnert ihn an ein „Stierkalb … wäre sie nicht eine Frau gewesen.“ Und bei einer Umarmung Miliotas würde er einen Armbruch riskieren. Alles läuft für ihn auf Gisella zu, die dann aber zum verabredeten Treffen nicht erscheint. Berto sagt sich: „Jetzt wärest du über jeden froh, der käme.“ Als er danach Talino im Heu betrachtet: „Das sollte Gisella sein.“

 

 4. Tag

Berto vergleicht am Morgen Gisella mit ihrer älteren Schwester Adele und sagt sich: „Nach dem ersten Kind ist es mit ihnen vorbei.“ Er findet an allen Töchtern Vinverras „Vierschrötigkeit“, nur bei Gisella nicht, und sie ist „die weißeste“ von ihnen. Andererseits hat er am Vorabend den schlafenden Talino betrachtet und „seine widerliche weiße Haut“ festgestellt. Später am Tag wird er Pina sagen: „Es ist gar nicht so schön, wenn Frauen eine weiße Haut haben. Ein bisschen braun müssen sie sein.“

Gisella geht zu Pans Stunde mit ihm in den Wald, „mitten zwischen den zwei runden Brüsten … nur Bäume und der heiße Himmel waren zu sehen, die beiden Hügel waren nicht hoch genug dazu.“ Fraglich, ob es zur sexuellen Vereinigung kommt. „Ich stürzte mich über sie, und wir rangen miteinander … sie redete wie verrückt, und kaum ließ ich sie los, legte sie ein Bein über das andere.“  Erst später entkleidet sie sich auf seinen Wunsch. „Und sie ließ sich betrachten. Ihre Haut war so weiß und fest, dass es eine Lust war.“ Dann aber bemerkt er im Genitalbereich eine auffallende Narbe. Er fragt, ob sie schon ein Kind hatte, und das ist der Beginn einer heftigen Auseinandersetzung. Sie versichert immer wieder, sie sei mit vierzehn in einen Rechen gefallen. Dann lässt sie ihn allein am Bach zurück, mit seinen Unlust- und Schuldgefühlen: „… ich … überlegte mir, dass ich irgendwen hintergangen hatte. In solch einem Augenblick vergeht einem der Spaß an den Frauen.“ Er will sie nicht sitzen lassen wie Michela, „wahrscheinlich, weil sie natürlicher war und … sich wie ein Mann bewegte und auch so schaute.“ Nach dem Baden verirrt er sich – man möchte fast sagen: zielbewusst - und kommt bei einem Hof heraus, den er sogleich für den seines Konkurrenten Ernesto hält: „Ernesto musste in Ordnung sein, wenn er Maschinist war und Gisella ihm gefiel.“ Tatsächlich ist es ein anderes Gehöft. Auf dem Weiterweg wägt er erneut ab, will zurück nach Turin. Gisellas Aktien notieren jetzt tiefer, denn „auch sie war letzten Endes zu ungeschliffen.“ Immerhin nimmt er sich vor (und spielt dabei mit den zwei Bedeutungen): „Ich sollte dem Alten sagen, dass er mich mit ihr anstatt mit Talino schlafen lässt.“

Früher hat er zu Talino gesagt: „Drei sind kein Paar.“ Aber er kann sich nicht denken, ohne sich zugleich zu zweien in Beziehung zu setzen. Am Abend meint er über Gisella, „wir waren wie füreinander geschaffen.“ Und kurz darauf betrachtet er wieder Talino, „und es wollte mir nicht in den Kopf, dass er, wenn auch nur ganz wenig, Gisella glich.“ Dann begleitet er den Bruder auf einem nächtlichen Ausflug – Talino verheimlicht, dass er den von ihm eingeäscherten Hof besichtigen will – und Berto versteht sich selbst wieder einmal nicht – „ich wusste selbst nicht, warum ich ihm folgte.“

Spät in der Nacht heimgekehrt, träumt Berto einen Angsttraum, der eigentlich der von Gisella sein müsste: Er fällt in einen Brunnen und fürchtet, in Rechen zu fallen. Ist es die Penetrationsfurcht eines passiven Charakters?

 

 5. Tag

Es ist Sonntag. Berto begegnet früh Gisella in der Küche und sieht ein bisschen zu genau hin: „Da tritt sie dicht an mich heran, um sich umarmen zu lassen, und schaut mich dabei so durchdringend an, als sei ihr Gesicht nicht das ihre und sie wolle sehen, wieso ich es überhaupt küssen mochte. In solchen Augenblicken tun mir die Frauen leid. Ich weiß nicht warum, aber sie tun mir eben leid.“

Wie die anderen geht er ins Dorf, bleibt aber der Messe fern - außerhalb der Kirche blüht die Geselligkeit. Berto geht ins Wirtshaus, lässt sich vom Anblick der Wirtin, einer Witwe, faszinieren und hört aus ihrem Mund, was es mit Gisellas Narbe auf sich hat: Talino hat sie brutal vergewaltigt. Unmittelbar danach lernt Berto auf der Straße Ernesto kennen, die einzige im Roman rein positiv dargestellte Figur, fast schon zu positiv und im Vergleich zu Talino eher blass. (Er hat Vorläufer – der Billardspieler und der Eisenwarenhändler in Bra, der Stellmacher im Dorf.) Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut, nur dass Bertos Gedanken von ihm zu Gisella und zurück zu Ernesto gehen: „ … als ich ihn anschaute, sah ich Gisella vor mir … Wir schauten uns an … und ich dachte an Gisella.“

Zurück auf dem Hof wähnt Berto sich mit dem Wissen um den Ursprung der Narbe erstmals Herr der Lage, eine Fehleinschätzung, denn es kommt rasch zum Streit, als er Gisella auf den Sachverhalt anspricht. Kurz darauf nimmt die Katastrophe ihren Lauf, die beiden Dreiecksbeziehungen, in die Berto sich hineingestellt hat, ergänzen sich zu einem höchst instabilen Viereck.

Ernesto kommt mit dem Korn, das am Montag gedroschen werden soll. Berto gefällt die Vorstellung, „Ernesto sei der Bruder der Mädchen, und nicht Talino.“ Die beiden Maschinisten rauchen noch miteinander, lachen miteinander, dann wird von der ganzen Hof- und Dreschgemeinschaft wie im Fieber abgeladen. Drei durstige Männer werden nacheinander von Gisella am Brunnen mit frischem Wasser versorgt. Berto schmeichelt sich später damit, ihn habe Gisella noch etwas freundlicher behandelt als Ernesto. Mit Talino gerät sie dagegen wieder in Streit, sie „riss den Eimer zurück und schrie: ‚Doch nicht so, du machst ja das ganze Wasser schmutzig.’“ In einem Anfall unbeherrschbaren Jähzorns stößt er ihr die Heugabel in den Hals.

Es ist bald klar, dass Gisella verbluten muss, auch wenn sie im Haus noch länger versorgt wird. Im Folgenden erweist sich Berto merkwürdig passiv. Pavese hat bis dahin die im Ich-Erzähler divergierenden Gefühle gewissermaßen externalisiert, indem er ihn die positiven Ernesto, die negativen Talino zuordnen ließ. Der Preis dieser Passivität ist der schließliche Triumph des Bösen. Bertos Rolle ist damit ausgespielt, Ernesto ist es, der die tödlich Verwundete auf ihr Zimmer trägt. Bertos Schuldbewusstsein regt sich schon, als die Carabinieri eintreffen: „Bei ihrem Anblick klapperten mir die Zähne, als sei ich Talino …“ Dann sucht er vor sich selbst eine weniger belastende Erklärung.

Die Geschichte ist mit der einsetzenden Agonie Gisellas im Grunde zu Ende, Pavese führt sie als Neorealist nur sozusagen der guten Ordnung halber bis an ihr definitives Ende fort. Berto rationalisiert währenddessen seine Schuldgefühle noch eine Weile mit unlogischen Zuweisungen. So ist er böse „auf alle die anderen, die das im voraus gewusst, und mir nichts davon gesagt hatten.“ Oder sagt umgekehrt auf Vinverras Äußerung, Talino wäre besser im Gefängnis geblieben: „Besser wäre ich im Gefängnis geblieben.“

 

 6.Tag

Nicht Berto, Ernesto war bei Gisella in ihrer Agonie. Berto findet ihn am anderen Morgen bei der Toten und tritt seine Arbeit als Maschinist an ihn ab. Bevor er den Hof verlässt, schläft und träumt er noch einmal auf dem Heuboden. Plötzlich ist der zwischenzeitlich flüchtige Talino wieder da – Berto: „Noch heute weiß ich nicht, warum ich mich nicht auf ihn gestürzt und ihn zu Boden geworfen habe.“ Aufgrund dieser Hemmung kann Talino noch einmal entkommen. Berto, fertig zum Weggehen, sieht vom Hof aus nur noch Vinverras älteste Tochter Adele herunterschauen. „Dass sie es meinetwegen tat, glaube ich aber nicht.“ Es gibt keine Verbindung mehr zwischen diesen Bauern und ihm, dem isolierten modernen Großstädter. Berto ist ausgeschlossen worden, er ist endlich ganz frei.

 

Wer ist dieser Berto? Er ist einer voll ambivalenter Gefühle. Er pendelt bindungsunfähig zwischen den Geschlechtern. So wie es bei Freud denjenigen gibt, der am Erfolg scheitert, kann man von Berto sagen, er sei der Typ, der sich durch Scheitern erst verwirklicht. Berto ist außerdem der für das Werk Paveses typische Held. Ihm sehr ähnliche Figuren sind z.B. die Ich-Erzähler aus den Erzählungen „Die Selbstmörder“ und „Hochzeitsreise“. In dem kleinen Roman „Am Strand“ spaltet er sich in mehrere Figuren auf, die den gleichen Part abwechselnd übernehmen. Auch Corradino in „Die Familie“ ist ihm nahe verwandt. Die Reihe könnte durch viele Erzählungen und die meisten seiner Romane fortgesetzt werden. In „Die einsamen Frauen“ hat diese zentrale Figur das Geschlecht gewechselt. Hier ist es die Ich-Erzählerin Clelia, die sich sonderbar unberührt durch die bessere Turiner Gesellschaft treiben lässt. Sie spielt, wie Berto mit Gisella, mit dem Polier Becuccio, der seinerseits auf Distanz geht. Das diskret Homoerotische aus „Unter Bauern“ verwandelt sich in „Die einsamen Frauen“ in öfter und offen thematisierte lesbische Beziehungen. In beiden Romanen wird am Schluss ein Menschenopfer gebracht, in „Die einsamen Frauen“ stirbt Rosetta von eigener Hand, ganz ähnlich wie der Autor Pavese bald nach Erscheinen des Buches.

Dass man den Ich-Erzähler nicht mit dem Schriftsteller gleichsetzen darf, ist eine Binsenweisheit. Gleichwohl ist die Nähe des Menschen Pavese zu seinen Hauptfiguren unverkennbar. Die stärksten Belege dafür findet der Leser in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“. Hier zum Abschluss einige Zitate daraus aus den Jahren 1936 - 1939, die eine vor allem individualpsychologische Deutung seiner Werke unterstützen:

 

"Es liegt im Unrecht-Erleiden – genau wie in einem Wintermorgen – eine Trostlosigkeit, die uns merkwürdig belebt.

… eine Frau, die das vernunftbegabteste Tier ist, das es gibt …

Das Einzige, was klar ist, ist, dass die Toten verwesen. Mit all diesem Gift im Leibe.

Die Kunst des Lebens besteht darin, dass man den liebsten Menschen die eigene Freude am Zusammensein verbirgt; sonst verliert man sie.

… dass Verliebtsein eine persönliche Tatsache ist, die das geliebte Objekt nichts angeht.

Versuch einmal, jemandem Gutes zu tun. Nach einer Weile wirst du sehen, wie du dieses ebenso bedrückte wie strahlende Gesicht hassen wirst.

Dass wir nie mehr eine Frau erobern werden (auch keinen Mann), ist klar …

Meine Geschichten sind immer nur Liebesgeschichten oder solche der Einsamkeit.

… die einzig wahre Erkenntnis findet statt durch Liebes-Identifikation …

Da man eine Frau ja doch früher oder später sitzen lassen muss, kann man sie genauso gut sofort sitzen lassen."

 

(Die Zitate folgen in „Unter Bauern“ der Übersetzung von Arianna Giachi, in „Das Handwerk des Lebens“ der von Charlotte Birnbaum.)

 

 

22. Über Carlo Emilio Gadda: List und Tücke

 

„List und Tücke“ ist 1988 als Quartheft 134 bei Wagenbach erschienen und antiquarisch noch leicht für wenig Geld zu bekommen. Es ist eine Auswahl von sechs Erzählungen (Übersetzung: Toni Kienlechner) aus dem 1963 bei Garzanti Editore in Mailand herausgekommenen größeren Sammelband „Accoppiamenti giudiziosi“ und eignet sich hervorragend als Einstieg in das Werk eines der originellsten Schriftsteller Italiens im 20. Jahrhundert. Der Leser gewinnt rasch einen Eindruck vom vertrackt satirischen „Makkaroni“-Stil des Autors, von seinen Stoffen, seinen typischen Verwicklungen ohne Lösungen. Sagt ihm diese Prosa zu, mag er sich an die weiteren auf Deutsch vorliegenden Romane und Erzählungen machen.

Die Texte Nr. 1 und 3 sind Auszüge aus dem bisher nicht komplett auf Deutsch erschienenen Roman „La meccanica“. „Papa und Mama“ schildert die verzweifelt komischen Anstrengungen eines Mailänder Elternpaars anno 1915 beim Eintritt Italiens in den 1. Weltkrieg: Wie halten sie den hoffnungsvollen Sprössling von der Front fern? Wir sehen eine noch bürgerlich geordnete Welt vor uns, die gerade erst begonnen hat, via Schiefe Ebene ihrem Untergang entgegenzusausen. „Vetter Friseur“ behandelt das gleiche Thema, nur - soziologisch gesehen - eine Etage tiefer und mit stärker betonter Erotik. Zugleich ist es das ernsthafteste Stück der Sammlung, der Autor verarbeitet hier auch das Desillusionierende seines eigenen Kriegseinsatzes.

„Wohlbedachte Paarungen“ (Nr. 2) gehört zu den zwei oder drei stärksten Texten im Buch, besonders aufgrund des hier zur Hochform auflaufenden glänzend ironischen Stils. Ein reicher alter Textilfabrikant, kinderlos und sehr krank, unternimmt verschiedene Anläufe, sein Vermögen – die „Substanz“ - über den Tod hinaus zusammenzuhalten. Seine Besessenheit, das angehäufte Kapital auf Dauer vor Zersplitterung zu bewahren, stößt auf viele Widerstände: untüchtige Nachkommen in den Seitenlinien, gesetzliche Einschränkungen im Erbrecht, die sehr unsicheren Zeiten überhaupt …

„Eine gute Ernährung“ (Nr. 4) spielt in den mageren Zeiten des 2. Weltkriegs. Die Inhaberin eines Mädchenpensionats füttert den ohnehin stattlichen Verehrer ihrer allzu biederen Tochter noch weiter heraus – und der vergnügt sich nach der Tafel mit einer sehr emanzipiert freizügigen Malerin.

Das kurze „Nach dem Zapfenstreich“ (Nr. 5) bietet kaum mehr als ein Stimmungsbild lustigen Rekrutenlebens. Dagegen ist „Schwiegervater / Schwiegersohn“ als letzter Text der Sammlung ohne Zweifel auch ihr düsterer Höhepunkt. Die beiden Herren im Titel sind Mussolini und einer seiner Minister, über die ein Veteran des 1. Weltkriegs allerhand Abfälliges denkt, während er sich mit Damen sehr verschiedenen Naturells in einer römischen Pension konfrontiert sieht. Es ist der Winter 1940/41, Italien ist in den 2. Weltkrieg eingetreten und die geplante Eroberung Griechenlands gerät zum Fiasko.

Was macht den spezifischen Reiz der Gaddaschen Erzählkunst aus? Dass und wie sie über die Katastrophen einer bürgerlichen Welt lacht, von der sie doch selbst untrennbar Teil ist. 

 

 

23. Über Anton Tschechow: Die Steppe

 

 Tschechow schrieb „Die Steppe“ mit achtundzwanzig (1888). Von den Stücken, die ihn berühmt machen sollten, existierte erst „Iwanow“ (1887). Er hatte schon zahlreiche Kurzgeschichten meist humoristischen Inhalts veröffentlicht, sich insoweit einen Namen gemacht und Geld zum Lebensunterhalt verdient. Jetzt wollte er seine erste längere Erzählung schreiben und sie sollte ernsthaften Charakters sein. Obwohl er selbst mit dem Ergebnis nicht vollkommen zufrieden war, wurde sie ein großer Publikumserfolg, auch von der Kritik gut aufgenommen.

„Die Steppe“ ist eine längst klassisch gewordene Reiseerzählung. Sie folgt dem Muster: Einer reist von A nach B, nimmt unterwegs manches auf, mit dem er sich auseinandersetzt und kommt in B nicht mehr als ganz derselbe an, der von A aufgebrochen ist, jetzt erst bereit zur weiteren Entwicklung. Hier ist der reisende Held ein Neunjähriger, der noch nie sein heimatliches Nest verlassen hat. Jegoruschkas Mutter ist Witwe, sie hat ihren Bruder Iwan Iwanytsch veranlasst, das Söhnchen in die nächste größere Stadt zu bringen, damit er dort das Gymnasium besuchen kann. Der Onkel sowie sein Begleiter Vater Christofor sind in der Hauptsache unterwegs, um Wolle zu verkaufen. Bei der Ausfahrt aus der Stadt fängt Jegoruschka zu weinen an …

Er wird bald durch das Erlebnis der Landschaft abgelenkt. Es ist die südrussisch-ukrainische Steppe, das Schwarzerdegebiet, zu Tschechows Zeit erst zu einem kleinen Teil dem Getreideanbau nutzbar gemacht. Der Leser bekommt mit Jegoruschka einen starken Eindruck von der Weite und Monotonie der Landschaft, ihrer charakteristischen Fauna und Flora, ihrer Melancholie. Wir befinden uns auf dem Boden der heutigen Ukraine, immer wieder ist von „Kleinrussland“ und „Kleinrussen“ die Rede, das sind die in der Zarenzeit im Russischen üblichen Bezeichnungen. Die Erzählung ermüdet den Leser jedoch nicht mit allzu viel Geographie. Vater Christofor, der alte Geistliche, wird zwischendurch mit kräftigen Strichen porträtiert. Dann erreichen sie die erste Station, ein von Juden betriebenes Gasthaus an der Landstraße. Jegoruschka lernt den Wirt und seine Familie kennen.

Bald darauf lässt der Onkel den Neffen mit einem Sammeltransport reisender Fuhrleute vorausfahren. Er selbst unternimmt noch einen Abstecher zu geschäftlichen Zwecken. Mit diesem geschickten Kunstgriff vermehrt Tschechow das Personal der Erzählung beträchtlich. Die Episode mit den Fuhrleuten wird zum Hauptteil und tragenden Element des gesamten Textes. „Jegoruschka lag auf der letzten Fuhre und konnte daher die ganze Wagenkarawane überschauen.“ Sie bestand aus etwa zwanzig Fuhren, die Fuhrleute, je einer für drei Wagen, gingen zu Fuß nebenher. Gewöhnlich wird wegen der sommerlichen Hitze nur am Vormittag und dann wieder in den Abend hinein gefahren. Die sehr langen Rastzeiten bieten dem Jungen Gelegenheit, die einzelnen Ruheplätze zu erkunden und vor allem die Verhaltensweisen der Fuhrleute zu studieren und eine eigene Position einem jeden gegenüber einzunehmen. Das gute halbe Dutzend, alle arme Bauern, wird nicht als Kollektiv dargestellt, sondern besteht aus lauter sich scharf voneinander abhebenden Individuen mit unterschiedlicher Mentalität und Vorgeschichte. Auf ihre Weise führen die Fuhrleute auf den einzelnen Stationen gewissermaßen ein Stück von Tschechow auf. An einem Sonntag erreicht man ein Dorf, Jegoruschka sieht sich beim Kaufmann und in der Messe um.

In der dritten Nacht endet die fahrende Idylle mit einem schweren Gewitter. Dann ist der Onkel wieder da und der Neffe fieberhaft erkältet. Sie sind schon am Ziel – beinahe – und übernachten in einem Gasthaus der Stadt, Jegoruschkas künftigem Wohnort. Am anderen Tag ist er wieder gesund, und der Onkel bringt ihn in der neuen Familie unter. So gut der Kleine sich unterwegs gehalten hat – als Onkel und Priester gehen, muss er erneut weinen: „Und Jegoruschka fühlte, wie mit diesen Leuten für ihn auf immer gleich einem feinen Nebel das entschwand, was bisher sein Leben gewesen war.“

So sehr sich die Steppe und ihre Bewohner seitdem auch verändert haben, so frisch hat sich die Erzählung dennoch erhalten. Sie scheint sozusagen ein unsterbliches Roadmovie zu sein.

(Die Zitate folgen der Übersetzung von Johannes von Günther.)

 

 

24. Über Otto Julius Bierbaum, Prinz Kuckuck

 

Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910) war ein recht erfolgreicher Vielschreiber – als Lyriker, Dramatiker, Librettist und nicht zuletzt als Romanautor. Zu seinen Hauptwerken zählt „Prinz Kuckuck – Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings“. Dieser satirische Gesellschaftsroman erschien 1907 und war mit einer Auflage von etwa 100.000 Exemplaren eine der meistgelesenen Neuerscheinungen belletristischer Art am Vorabend des 1. Weltkriegs.

Die Taschenbuchneuausgabe von 1981 umfasst drei Bände mit zusammen annähernd 800 Seiten. Der Leser wird darin mitgenommen auf eine Hetzjagd durch die verschiedenen Milieus der damaligen Gesellschaft, gewissermaßen eine Jagd per Automobil, wenn das gewagte Bild erlaubt ist – Bierbaum hat übrigens auch das erste automobile Reisebuch in deutscher Sprache geschrieben. Motor der Geschichte hier ist der Lebenslauf eines gewissen Henry Felix Hauart – Rufname Felix -, das nichteheliche Kind einer schönen, klugen Jüdin. Für die Vaterschaft stehen zwei reizende Antisemiten zur Auswahl: ein tyrannischer russischer Fürst und ein deutscher Musiker wie ein Richard Wagner-Nachtmahr. Die Jüdin gibt das äußerlich wohlgeratene Kind erst in Pflege, dann zur Adoption frei. Hauart, sein neuer Vater in München, entstammt der Hamburger Kaufmannschaft, ist reich, sensibel, an Kunst interessiert und steht unter dem Eindruck Nietzsches und des Vitalismus. Seine Erziehung verfehlt ihr Ziel, aus dem Adoptivsohn einen kultivierten, sich selbst kontrollierenden Ausnahmemenschen zu machen, vollständig. Felix wird zu einem gut aussehenden, sehr vitalen und amoralischen Monster, das nicht einmal durchweg unsympathisch ist.

Die Adoptiveltern fallen ihm als Erste zum Opfer. Mit dem Riesenerbe versehen, tritt Felix ohne jeden Vorsatz einen Vernichtungsfeldzug gegen die Bastionen der zeitgenössischen Kultur an. Materiell hervorragend ausgestattet, doch innerlich haltlos, treibt er dahin. Die pietistische Hamburger Verwandtschaft, die Universität, die Literatur, das Militär, der Adel, die katholische Kirche, die Politik – das sind die wesentlichen Stationen. Die Abläufe ähneln sich. Überall reüssiert Felix allzu rasch, erweist sich bald als fataler Blender und zieht weiter. Um sein zunehmend verfehltes Leben zu kompensieren, nährt er bei sich den Wahn, er sei ein illegitimer Spross des Hauses Habsburg. Am Ende bringt er sich um – natürlich im Automobil.

Selbstverständlich ist das ein Kolportageroman. Bierbaum ist nicht Thomas Mann oder André Gide. Er häuft Motiv auf Motiv, übersteigert die Effekte und lässt buchstäblich nichts aus, was den Leser aus den gebildeten Ständen der ausgehenden Kaiserzeit lustvoll schaudern lassen könnte. Zwar ist die Gesinnung des Buches auch aus heutiger Sicht untadelig – Bierbaum ist ein liberaler, obrigkeitskritischer Humanist und durchaus kein Antisemit. Aber bedient er nicht insgeheim durch seine Konstruktion des Romans doch den versteckten Antisemitismus eines „aufgeklärten“ Bürgertums? Denn an wen da so viele Glücksmöglichkeiten vergeblich verschwendet werden, das ist eben ein Prototyp: der uneheliche Halbjude. So gesehen erweist sich der Erfolg des Buches als eine Art fatales Vorwort zum Scheitern der Weimarer Republik und zur Liaison der Bürgerlichkeit mit der Barbarei. Der Roman ist noch in einem anderen Sinn wilhelminisch bis auf die Knochen, eben durch seinen Überreichtum im Formalen, eine Stoff- und Detailfülle, die allzu ornamental wirkt.

Gleichwohl kann man „Prinz Kuckuck“ noch immer mit einigem Gewinn und Genuss lesen. Man braucht sich nur von den Fesseln eines guten literarischen Geschmacks zu befreien und sich vor Augen zu halten, welche Einblicke in das reale Leben seiner Zeit der Roman bietet. „Prinz Kuckuck“ ist kulturhistorisch eine fast unerschöpfliche Fundgrube – und zugleich schmackhaft wie ein leicht umstrittener Likör mit etwas zweifelhaften Zutaten. 

 

 

25. Über Giorgio Bassani: Hinter der Tür

 

Noch eine Schulgeschichte? Ja, und zwar eine, die es in sich hat. Bassanis kleiner Roman spielt 1929/30 in Ferrara. Der Ich-Erzähler tritt zu Beginn in die erste Klasse der gymnasialen Oberstufe ein. Ihre Zusammensetzung ist neu, er muss seinen Platz dort erst finden. Das ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen – er placiert sich, in zutreffender Einschätzung seiner Lage, allein auf einer Bank ganz hinten. Er ist der einzige Jude in der Klasse, begabt, seine Familie wohlhabend und kultiviert. Rasch wird er vom Klassenlehrer umgesetzt und landet neben Carlo Cattolica, dem absehbaren Primus der Klasse, einer aus sehr gutem Haus und eisern an seinem Vorwärtskommen arbeitend. Cattolica ist der Sprössling eines gehobenen Bürgertums, das auch unter Mussolini die bestimmende Kraft ist und diese Stellung auf jeden Fall behalten will. Die neuen Banknachbarn bleiben Konkurrenten und werden nicht warm miteinander.

Dann kommt ein Neuer in den Klassenverband, Luciano Pulga, zwar Arztsohn, doch unverkennbar einem zweifelhaften, gefährdeten Kleinbürgertum zugehörig. So wie sich Cattolica ins Zeug legt, um oben zu bleiben, so strampelt Pulga, um nicht unterzugehen. Der Erzähler empfindet ihm gegenüber von Anfang an eine mit Abneigung seltsam vermischte Sympathie. Er lässt sich von ihm vereinnahmen, sie verbringen viel Zeit miteinander, machen gemeinsam Schularbeiten. Pulga revanchiert sich für erwiesene Wohltaten, indem er dem anderen Einblicke in eine mehr oder weniger verruchte Erwachsenensexualität verschafft.

Pulga ist nicht nur miserabler Schüler aus liederlichem Haus, er ist in seinen Einstellungen stark ambivalent, auch dem neuen Schulfreund gegenüber, und er ist zugleich ein scharfer, gnadenloser Beobachter. Währenddessen wartet Cattolica auf eine Gelegenheit, den Erzähler zu demütigen und seine Kameradschaft zu dem Arztsohn zu zerstören. Er lässt ihn in seiner Wohnung hinter einer Tür mit anhören, was Pulga vor anderen dort, nicht zum ersten Mal, über den jüdischen Schüler und seine Familie äußert. Der Lauscher erblickt sich in einem ihn rasch verstörenden Zerrspiegel. Pulga fügt äußerst hämisch viele einzelne zutreffende Beobachtungen zu einem abstoßenden Gesamtbild zusammen. Da ist jetzt ein mediterraner Gossen-Goebbels am Werk, der auf privater Ebene sein Gift verspritzt.

Die krude Mischung aus Authentischem und boshaft Entstelltem hat für den Erzähler verheerende Folgen. Er verliert den Rest kindlicher Unbefangenheit, das Vertrauen in die Solidität der eigenen Familie, sein Selbstvertrauen dazu. Am Ende sitzt er in der Klasse wieder da, wo er anfing: allein ganz hinten. Die Erfahrung dieses Schuljahres wird für ihn ein lebenslang unbewältigtes Trauma bleiben.

Der literarische Wert von Bassanis Kurzroman besteht vor allem in der gelungenen Verknüpfung sehr unterschiedlicher Motive zu einem organischen Geflecht, in dem sich der Schüler wie in einem Netz verfangen muss. Der Antisemitismus ist dabei noch relativ diskret, stärker schon sind die Spannungen, die das Gegeneinander der Klassen mit sich bringt. Durchdrungen wird alles von psychoanalytisch grundierten Schuldkomplexen, die umso stärker wirken, als sie nicht ausgebreitet werden, sondern angedeutet bleiben. Ein starker, kleiner Roman, der scheinbar betulich beginnt und den man mit wachsender Spannung wie Beklemmung immer rascher zu Ende liest.

 

 

26. Über Walter Benjamin: Städtebilder

 

Der schmale Auswahlband in der edition suhrkamp verfolgte nach Angaben des Verlages folgendes Ziel: „Die suhrkamp texte sind Studienausgaben, die es vor allem jüngeren Lesern leicht machen sollen, einen Autor durch charakteristische Arbeiten kennenzulernen und über sie Zugang zu seinem Gesamtwerk zu finden …“ Seit der mir vorliegenden Ausgabe von 1963 ist der Ruhm des Autors noch beträchtlich gewachsen. Benjamin gilt allgemein seit Jahrzehnten als einer der Koryphäen des 20. Jahrhunderts in Bezug auf Kunsttheorie wie Geschichtsphilosophie, dazu als ein tiefsinniger schreibender Flaneur. Ist er auch im 21. Jahrhundert noch ein mit Gewinn lesbarer Autor? Ich studiere die Aufsätze nach so vielen Jahren noch einmal …

Den Anfang macht ein längerer Text über Moskau. Benjamin ist im Winter 1926/1927 dort gewesen. Lenin war schon tot, Stalin im unaufhaltsamen Aufstieg begriffen, Trotzki noch in Moskau. Ein historisch besonders folgenreicher Abschnitt der Geschichte der UdSSR – die neue Gesellschaft hatte sich nicht nur etabliert, sondern infolge der Neuen Ökonomischen Politik auch relativ stabilisiert, bevor Zwangskollektivierung, Hungersnöte und forcierter Ausbau der Schwerindustrie neue Krisen und Umwälzungen über das Riesenland brachten. Wie viel hat Benjamin von all dem erfasst, das sich an der Oberfläche dem Besucherblick darbot oder etwas tiefer erst vorbereitete? Er macht dem Leser gleich zu Beginn Folgendes klar: „Mag man Russland auch noch so wenig kennen – was man lernt, ist, Europa mit dem bewussten Wissen von dem, was sich in Russland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Russland zu. Darum ist andererseits der Aufenthalt für Fremde ein so sehr genauer Prüfstein. Jeden nötigt er, seinen Standpunkt zu wählen. Im Grunde freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu haben, ehe man kommt. Sehen kann gerade in Russland nur der Entschiedene … Nur wer ‚an Hand der Fakten’ sich entscheiden will, dem werden diese Fakten ihre Hand nicht bieten …“

Das ist ein Plädoyer für Voreingenommenheit, Parteilichkeit. Skeptisch liest man weiter und findet, zunehmend erstaunt, eine Art ewiges Moskau beschrieben – oder das, was Benjamin dafür hielt. Dieses traditionelle Russland wird sehr anschaulich dargestellt: die Winterkälte und ihre Konsequenzen, der Kleinhandel auf den Straßenmärkten, Bettler, Schlittenfahrten, Weihnachtsbräuche, Holzspielsachen, altertümliche Firmenschilder … Aktuelle Bezüge tauchen nur am Rand auf, interessieren vor allem unter ästhetischem Blickwinkel. Die „Wohnungsnot“ führt dazu, dass abends „beinahe jedes Fenster hell erleuchtet“ ist. Und weiter: „Wäre der Lichtschein, der von ihnen ausgeht, nicht so ungleichmäßig, man glaubte, eine Illumination vor sich zu haben.“  Eine detailliertere Darstellung mit aktuellen Bezügen gibt Benjamin zur Lage der orthodoxen Kirche in der Stadt und hier erweist sich in der Tat, welchen Standpunkt er mitgebracht hat, einen betont kirchenfeindlichen. „Die Kirchen sind fast verstummt. Die Stadt ist so gut wie befreit von dem Glockengeläut, das sonntags über unsere großen Städte eine so tiefe Traurigkeit verbreitet …“ In diesen Kirchen wurde bis vor kurzem „noch mit fanatischer Inbrunst gebetet.“ Ja, dort wurde, „wenn es sich trifft, auch über Pogrome beraten.“ Tatsächlich kam der russische Antisemitismus, wie bekannt, bald ganz ohne Kirchen aus.

Man soll Benjamin, der selbst ein so beklagenswertes Schicksal gehabt hat, aus solchen naiven Sätzen nicht nachträglich einen Strick drehen wollen. Er war kein Gide, kein Dos Passos, und er war früher als jene Autoren in Stalins Moskau, konnte sich leichter täuschen. Bedenklicher ist jedoch, wie er im Vergleich zu einem idealen Moskau sein heimatliches Berlin sehen wollte: „Berlin ist eine menschenleere Stadt … die Breite der Bürgersteige ist fürstlich … Fürstlich vereinsamt, fürstlich verödet sind die Berliner Straßen …  wie ausgestorben und leer ist Berlin … Verglichen mit den Moskauer (Straßen) sind sie wie eine frisch gefegte leere Rennbahn, auf der ein Feld von Sechstagefahrern trostlos voranhastet.“ Diese Sätze wurden etwa zur gleichen Zeit wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“ geschrieben! Bei Benjamin äußert sich hier eine feuilletonistisch aufgeplusterte Sehnsucht nach Gemeinschaftserlebnissen. Sie verkennt, wie notwendig zum Ausgleich für die Enge der Berliner Mietskasernen die von James Hobrecht vorgegebene großzügige Struktur des öffentlichen Raums war. Benjamin kommt auch nicht auf den Gedanken, dass die Fülle auf den Moskauer Trottoirs und der auf ihnen von unzähligen Landbewohnern emsig betriebene Handel Symptome einer ökonomischen Krise sein könnten. Tatsächlich waren in Russland seit dem Krieg die Handelsbeziehungen zwischen Stadt und Land schwer gestört. Agrarische Überbevölkerung, zu niedrige Preise für Landprodukte und mangelnde Versorgung mit Industriewaren bildeten den Hintergrund für das malerische Bild, an dem Benjamin sich in Moskau erfreute. 

Nicht nur Berlin, auch Marseille kommt im Vergleich mit Moskau schlecht weg. Benjamin betrachtet das Lumpenproletariat dieser kapitalistischen Hafenstadt so: „Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte.“ Starker Tobak für einen Marxisten! Doch der Ästhet in ihm kommt noch auf seine Kosten: „ … immer hat der südliche Händler den Bettlermantel so um sich geschlagen, dass mit tausend Augen das Schicksal uns daraus ansieht.“ Auf dieses etwas süßliche Lob folgt eine herabsetzende Bemerkung über die heimischen Bettler, die statt seelenvoller Augen „Senkel und Dosen mit Stiefelwichse“ feilhalten. 

Weimar ist eine weitere Station. Benjamin schwelgt dort in der unkritischen Goetheseligkeit seiner Zeit. Er besucht Goethes sehr schlichtes Arbeitszimmer und stellt sogleich einen Vergleich mit den Räumen seiner eigenen Zeitgenossen an: „Hier hat der Greis mit der Sorge, der Schuld, der Not die ungeheuren Nächte gefeiert, ehe das höllische Frührot des bürgerlichen Komforts zum Fenster hineinschien …“ Die unfreiwillige Komik solcher Formulierungen ist so evident, dass man gern weiterliest …

… und somit zur berühmten „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ gelangt. Hier versucht sich der Proust-Übersetzer Benjamin offenkundig in der Nachfolge des Franzosen. Proust hat ja seinen großen Roman als ein optisches Werkzeug bezeichnet, mit dessen Hilfe der Leser die eigene Existenz deutlicher in den Blick bekommt. Benjamin ahmt ihn dabei nun bis in den Satzbau nach. Wie bei Proust sind für Benjamin die Namen als Stellvertreter der Realitäten ein bedeutender Stoff. Er gebraucht ebenfalls eine Überfülle von Metaphern, nur dass der Unterschied in deren Anwendung durch die beiden Autoren rasch ins Auge fällt. Wo Proust die Metaphern meist geschickt in kleine Handlungsabläufe einbettet, finden wir bei Benjamin gewöhnlich nur auf die Dauer ermüdende Stillleben. Aus der Laterna magica im großen Roman wird im Berliner Westen ein Gartenpavillon mit bunten Fenstern und ähnlichen Effekten. Die Tante Léonie aus der „Recherche“ wird durch eine Berliner „Tante Lehmann“ ersetzt, der guten Franҫoise entspricht zwangsläufig eine „alte Dienerin“. Benjamin würde dieser gern ähnliches Gewicht verleihen wie Proust jener, doch es bleibt bei der bloßen abschließenden Versicherung seines Gefühls, Vestibül und Dienerin hätten ihm wohl mehr zu sagen gehabt als Salon und Tante – nachdem der vorangegangene Text sich fast ausschließlich mit der Tante beschäftigt hat. Der beabsichtigte marxistische Effekt will sich so nicht einstellen. Durchaus nicht im Prouststil ist es allerdings, wenn der Autor Benjamin das Lächeln des Kindes, das er einmal war und jetzt deutlich vor Augen haben will, analysiert. Das wirkt konstruiert, unglaubwürdig.

Das gescheite Nachwort von Peter Szondi kann die Mängel der Texte nicht ausbügeln. Ja, es kommt mir selbst nicht vollkommen aufrichtig vor. Wenn er Benjamin bescheinigt, dieser schätze im Süden ein „Kollektivleben, das sich seinem Ursprung noch nicht entfremdet hat“,  und dabei auch den Marseille-Text als Beleg anführt, übersieht er geflissentlich, dass gerade die französische Hafenstadt wie ihre Bewohner durchgehend abschätzig dargestellt werden. Benjamin spricht z. B. von „den monotonen Wohnvierteln, die etwas von der Traurigkeit von Marseille wissen.“

In den Text über Moskau interpretiert Szondi etwas Systemkritisches hinein, das der Wortlaut bei Benjamin kaum hergibt. Szondi führt als Beleg für Benjamins angebliche Abneigung gegen den beginnenden Leninkult folgenden Satz an: „Da der Verkaufszweig der Ikonen zum Papier- und Bilderhandel rechnet, so kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so dass sie überall von Lenin-Bildern flankiert sind, wie ein Verhafteter von zwei Gendarmen.“ Wie wir oben gesehen haben, ist Benjamin jedoch Sympathie mit der russisch-orthodoxen Kirche durchaus fremd. Hier warnt er also nicht zwischen den Zeilen vor den Folgen des Leninkults, er billigt im Gegenteil die missliche Situation des alten Glaubens in der Gegenwart. Sollte Szondi sich darüber getäuscht haben? Der Stelle mit den Leninbildern entspricht ja einige Seiten weiter eine andere: „Der Untertan des Zaren war in dieser Stadt von mehr als vierhundert Kapellen und Kirchen, will sagen von zweitausend Kuppeln rings umstellt … Eine Ochrana der Architektur war um ihn.“ Also ist es nur gerechtfertigt, dass die Verhältnisse einmal vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Oder, noch einmal mit den Worten Benjamins: „Nur wer, in der Entscheidung, mit der Welt seinen dialektischen Frieden gemacht hat, der kann das Konkrete erfassen.“ Erst als der Hitler-Stalin-Pakt kam, sah sich Benjamin genötigt, seine Position zu ändern.

Bücher haben ihre – wechselvollen – Schicksale. Die Rezeption der Werke Benjamins kann im neuen Jahrhundert nicht mehr die von 1970 sein. Reizvoll und aufschlussreich sollte nun sein zu untersuchen: Wie war es möglich, dass wir nicht früher über das Seichte, das Unbegründete und den Pseudo-Tiefsinn bei Benjamin gestolpert sind? 

 

 

27. Über Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

 

Deutet man die Anzeichen recht, scheinen Buch und Autor seit einiger Zeit wieder zunehmend auf Interesse zu stoßen. Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) nannte sein Hauptwerk „Anton Reiser“ einen psychologischen Roman, doch handelt es sich tatsächlich um seine Autobiographie bis zum Alter von etwa zwanzig Jahren. Darin zeichnet er die Entwicklungslinien nach, seine Herkunft, die Milieus seiner Kindheit und Jugend, vor allem auch die zahlreichen Verletzungen und wie er sie verarbeitet oder nicht verarbeitet hat. Zwar ist das Buch auch von historischem Interesse, es führt uns recht farbig das alte Deutschland vor Augen, jenen Agrarstaat vor einem Vierteljahrtausend mit seinen noch kleinen Städten, seiner ständisch gegliederten Gesellschaft, einem sehr archaischen Schulwesen. Von alledem hat sich kaum etwas erhalten, insofern hat die Lektüre durchaus ihren exotischen Reiz. Doch das ist nicht die Hauptsache …

Die Bedeutung von Moritz liegt vielmehr darin, dass er der erste wahrhaft psychologische Schriftsteller im deutschen Sprachraum war und gerade auf diesem Gebiet bis heute aktuell geblieben ist. Er analysierte bereits die Wechselwirkungen sozialer, kultureller und individuell-persönlicher Faktoren und die sich aus ihnen ergebenden Prozesse. Dabei hatte er einen scharfen Blick für Strukturen – und es sind gerade die strukturellen Parallelen, die bis in die Gegenwart reichen und uns Moritz als einen modernen Schriftsteller erscheinen lassen.

Karl Philipp Moritz kam von weit unten und stieg relativ weit auf, doch nicht leicht und geradlinig, sondern mit vielen Brüchen, Krisen und auch glücklichen Zufällen. Geboren in Hameln verbrachte er Kindheit und Jugend zum größten Teil in Hannover. Sein Vater war Musiker und Schreiber beim Militär des Kurfürstentums. Der junge Moritz lernte das unbedingt Notwendige in einer Schreibschule und wurde dann Hutmacherlehrling in Braunschweig. Der Meister schickte ihn nach einiger Zeit zurück und Moritz gelang es, in Hannover das Gymnasium besuchen zu dürfen. Seine Eltern zogen zur gleichen Zeit ohne ihn aufs Land, von da an war er im Wesentlichen für sich selbst verantwortlich. Er bezog ein Stipendium, logierte mal hier, mal da, aß an Freitischen. Insgesamt war seine materielle Lage miserabel und sowohl sein Bildungsgang wie seine seelische Entwicklung verliefen chaotisch. Um 1776 beginnt er durch das nördliche und mittlere Deutschland zu wandern. Er will Berufsschauspieler werden, scheitert bei einer Reihe von Versuchen, studiert Theologie in Erfurt. Damit endet der Roman. Später wird der Autor in Berlin Lehrer, macht Reisen nach England und Italien, lernt Goethe gut kennen und wird durch Protektion und Fürsprache des Weimarer Hofs Professor an der Berliner Akademie der Schönen Künste, schreibt gelehrte Werke. Moritz stirbt als Hofrat schon mit knapp siebenunddreißig.

Sein ursprünglich geringer sozialer Status und die damit verbundenen Schwierigkeiten, eine seinen Begabungen angemessene Bildung zu erhalten, das ist das große Hauptthema im „Anton Reiser“. Dazu tritt ein arg gestörtes Eltern-Kind-Verhältnis. Beide zusammen bewirken ein mangelndes Selbstwertgefühl, das immer wieder thematisiert wird. Reiser, das Alter Ego von Moritz, flüchtet sich in „Affektation“ – ein häufig vorkommender Begriff – und sucht Kompensation in der idealen Welt des Theaters. Mit dieser unzureichenden Motivation muss er bei fehlenden weiteren Voraussetzungen zwangsläufig als Schauspieler scheitern. Daran ändert auch die ausgeprägte Empfindsamkeit nichts, die bei Moritz offenbar nicht nur ein zeittypisches Phänomen, sondern tief in der Charakterstruktur begründet ist. Wie die Affektation zum Schauspiel führt, so die Empfindsamkeit zur Dichtung, zur Lyrik – mit ähnlich unbefriedigendem Ergebnis. Moritz analysiert diese Fehlentwicklungen breit und schonungslos und leitet daraus eine allgemeine ästhetische Theorie ab.

Der zweite wesentliche Motivstrang der Erzählung ist die heute so kaum noch vorstellbare starke Religiosität dieser Zeit und die allmähliche Ablösung von ihr. Moritz wuchs in einer Welt des Pietismus auf, sein Vater war überdies Anhänger der aus Frankreich stammenden asketisch-mystizistischen Sekte der Quietisten. Für den jungen Moritz bestand, sobald er denken konnte, ein enges Verhältnis zu einem persönlichen Gott, dem er unmittelbar Rechenschaft abzulegen hatte, nicht bloß über die Taten, sondern auch über alle Seelenregungen. Er beginnt sich früh zu erforschen und prüft, wann er aufrichtig ist und wann er bloß posiert oder sonst Opfer seiner Einbildungskraft ist. Auf diese Weise erfolgt gewissermaßen die Geburt der Psychologie aus dem Geist eines pietistischen Protestantismus. Allmählich gewinnt die Psychologie das Übergewicht gegenüber der Religion und am Ende ist Moritz ein bürgerlicher Schriftsteller der Aufklärung geworden.

Auf die im Buch enthaltenen zahllosen scharfsinnigen Gedanken und Einsichten kann im Rahmen dieser kurzen Einführung nicht näher eingegangen werden. Es ist insoweit eine wirkliche Fundgrube für den psychologisch interessierten Leser. Moritz geht immer vom konkreten Erleben aus und unterzieht es dann einer Kritik, die ihn zu einer Erkenntnis führt, die allgemein als Theorie angewendet werden kann. Als ein Beispiel dafür mag die Darstellung einer Flucht in die Natur – vor dem Spott seiner Mitschüler - dienen, die bis an den Rand der Selbstvernichtung führte. Reiser empfindet dabei:

„Das stärkere Selbstgefühl verschlingt das schwächere unaufhaltsam in sich – durch den Spott, durch die Verachtung, durch die Brandmarkung des Gegenstandes zum Lächerlichen. – Das Lächerlichwerden ist eine Art von Vernichtung und das Lächerlichmachen eine Art von Mord des Selbstgefühls, die nicht ihresgleichen hat. – Von allen außer sich gehasst zu werden ist dagegen wünschens- und begehrenswert. – Dieser allgemeine Hass würde das Selbstgefühl nicht töten, sondern es mit einem Trotz beseelen, wovon es auf Jahrtausende leben und gegen diese hassende Welt Wut knirschen könnte …“

Und bald darauf:

„Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Gedanken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen, die, sowie sie herrschend wurde, in seiner Seele eine fürchterliche Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unerträglich war. – Das Kleine nahet sich dem Hinschwinden, der Vernichtung – die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden, Leerheit und Traurigkeit hervorbringt – das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl und klein – Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit – Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang …“ Gegen diese „Idee des Kleinen“ nun „… suchte er in seiner Seele wieder eine gewisse Ideenfülle hervorzubringen, um sich gleichsam nur vor der gänzlichen Vernichtung zu retten …“ Das ist zugleich Ätiologie wie Therapie der Depression und zwar aus einem sozusagen präexistenzialistischen Geist heraus, der dem 20. Jahrhundert schon recht nahe ist.

Um jedoch die Verbindung zum 18. Jahrhundert wiederherzustellen: „Anton Reiser“ ist auch ein beeindruckender Nachweis des bürgerlichen Kulturstrebens seiner Zeit, des kulturellen Sendungsbewusstseins jener Schicht, der Moritz angehörte. Wie viel ungeheure Produktivität ist bei seiner Generation im Spiel … Moritz hatte Iffland zum Schulkameraden und später Goethe zum Förderer.

Abschließend bemerkt: Moritz schreibt durchaus anregend und in einem flüssigen Stil, gelegentlich ironisch, manchmal auch humoristisch. So findet sich z.B. gegen Ende des Buches die Anekdote, wie bei einer dramatischen Aufführung des Werther-Stoffes dem Helden der Selbstmord nicht gelingen wollte. Die Pistole versagte, d.h. gab keinen Mucks - woraufhin er sich eben mit dem Brotmesser tötete. Aber der Darsteller des Wilhelm kam trotzdem mit seinem Satz: „Gott! Ich hörte einen Schuss fallen!“ auf die Bühne. Mit diesem unterhaltsamen und charakteristischen Detail verlässt der Autobiograph endgültig das Theater. Mit dem sentimentalen Posieren hat er abgeschlossen, jetzt ist er bereit für seine Existenz als Schriftsteller.

 

 

28. Über Kurt Tucholsky: Ein Pyrenäenbuch

 

 1927 erschien der kleine Band „Ein Pyrenäenbuch“. Dafür war Tucholsky im Spätsommer und Frühherbst von seinem damaligen Wohnort Paris aus zwei Monate lang durch das Grenzgebirge gereist, vor allem auf französischem Boden, in Spanien nur wenig. Er war vom Atlantik bis zum Mittelmeer unterwegs mit dem Zug, mit dem Bus, dem Taxi, zu Fuß und auch zu Pferd oder mit dem Esel. Wir staunen ein wenig: Hätten wir den etwas korpulenten Mann für derart beweglich, beinahe sportlich gehalten? Er hat Berge bestiegen (Pic du Midi, Cantadou), eine Schlucht mühsam erkundet usw. Er renommiert damit nicht, macht sich auch schon einmal über sich selbst lustig, so bei einem Ritt durchs Gebirge: „Ich saß oben wie ein Stück Butter auf einer heißen Kartoffel …“

Sein Reisebuch steht in einer langen Tradition, die bis zu Laurence Sternes „Empfindsamen Reise“ zurückreicht und natürlich Heine miteinschließt, den er einmal ausdrücklich zur Lektüre empfiehlt. Tucholsky erkundet in fünfundzwanzig Einzeltexten vielerlei: die Bergnatur, Städte, Gasthöfe, Hotels, Bäder, Historisches. Im Vordergrund stehen allerdings die Menschen, denen er begegnet. Er ist sich auch selbst Thema. Er reflektiert viel, ein Text hat den Titel „Über Naturauffassung“. Insgesamt erweist sich Tucholsky wieder als der bewährte Stilist, Humorist, Ironiker und Ankläger, den wir aus seinen Texten über deutsche Zustände damals kennen. Hin und wieder ist er sich für kleine Albernheiten nicht zu schade, die man für überflüssig halten kann. Und es fehlt auch hier nicht seine bekannte, wenig durchdachte Abneigung gegen Briten und US-Amerikaner.

Die Reihenfolge der Einzeltexte folgt im Wesentlichen dem Verlauf der Reise von West nach Ost. Ein erster Schwerpunkt ist Text Nr. 2: „Stierkampf in Bayonne“. Er sieht ihn sich genau an, ist angewidert und zugleich ein klein wenig fasziniert. In Nr. 5 widmet er sich ausführlich dem Volk der Basken, bevor er in Nr. 9 zu dem Zentrum seines Buches schlechthin kommt: Lourdes. Seine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Wallfahrtsort nimmt etwa ein Viertel des gesamten Bandes ein. Dabei wählt er in den vier Unterabschnitten jeweils einen eigenen Ansatz. Zunächst wirft er ein kurzes Schlaglicht auf die seinerzeit enge Verbindung zwischen Amtskirche und Militär. Dann folgt eine längere, reportageartige Darstellung des alltäglichen Ablaufs des Betriebes rund um die Quelle, gefolgt von der Geschichte der Wallfahrt von Bernadette Soubirous an. Abschließend entwickelt Tucholsky seine Theorie, wie Lourdes funktioniert: für ihn im Wesentlichen ein Phänomen der Massensuggestion. – Weitere Schwerpunkte bilden seine Eindrücke von Andorra (Text Nr. 19), das sich seitdem sehr verändert haben dürfte, und wie er auf den Spuren von Toulouse-Lautrec wandelt (Nr. 24).

„Ein Pyrenäenbuch“ hat lange nicht die Auflagenhöhen von „Rheinsberg“ und „Schloss Gripsholm“ erreicht. Dennoch ist es für den Journalisten und Literaten Tucholsky letztlich charakteristischer als jene beiden Kurzromane. Wer den Autor schon als großen Feuilletonisten schätzt, sollte um dieses Reisebuch keinen Bogen machen oder es wieder einmal zur Hand nehmen. 

 

 

29. Über Herman Bang: Das weiße Haus

 

„Das weiße Haus“ ist ein Pastorenhaus auf der dänischen Insel Alsen um 1860. Es ist im Kern das Elternhaus Bangs, der den autobiographischen Roman 1898, auf der Höhe seines Ruhmes, veröffentlicht hat (deutsch erstmals 1910). Der Titel könnte auch lauten: „Die Mutter“, denn um ein Porträt der früh verstorbenen Mutter des Autors geht es vor allem, daneben um den Pfarrhaushalt und einige charakteristische Bewohner des Dorfes, mit denen die Mutter verkehrt. Der Vater, der Pastor also, wird nur skizziert als eine Autorität, die man zwar fürchtet, die jedoch mehr über den Dingen schwebt als tatsächlich interveniert. Hier dürfte auch Rücksicht auf den eigenen Vater genommen worden sein, denn der Pastor Bang, seelisch von allzu zarter Gesundheit, war zeitweise in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht gewesen und relativ früh in einer Anstalt gestorben.

Der kurze Roman stellt die Pastorin auf zweierlei Weise dar. Er lässt sie zum einen ihre Rolle als Familienmutter im Haus spielen oder begleitet sie auf ihren Gängen durch das Dorf – und zum anderen geht er ihrem Denken und Fühlen auf den Grund, indem er sie in vielen Dialogen mehr und mehr Erstaunliches äußern lässt. Die kleinen Episoden verlieren so allmählich ihre idyllische Tendenz und machen uns mit einer Frau vertraut, die vollkommen ernüchtert, ja enttäuscht ist. Ihre Einstellung zum Leben überhaupt erweist sich zunehmend als radikal desillusioniert – und das ausgerechnet in einem Pastorenhaus. Darin - und in genauer Milieuschilderung – liegt die besondere Qualität des Buches.

Nicht nur der Pastor, auch die Pastorin selbst weist Züge einer gewissen Lebensuntauglichkeit auf. Sie schläft lange, ist kaum von Nutzen im Haushalt und pflegt allerlei kleine Schrullen und Leiden. In ihrem Verhalten ist sie merkwürdig kindlich, oft wie ein altkluges Kind. Sie stützt sich vor allem auf ihre junge Freundin Tine, die Tochter des Küsters und Schullehrers. Die vitale, tüchtige Tine ist zweifellos die zweite Hauptperson des Romans. Dann gibt es noch die Kinder – hier vor allem den ältesten Jungen, dessen Namen nie genannt wird. Er ist frühreif, talentiert und ein wenig überdreht, wie die Mutter, der er offenbar nachschlägt. Bang porträtiert sich hier wohl selbst, auch wenn er tatsächlich nicht der Erstgeborene war.

Das sind traditionell die großen Tage im Jahresablauf auf Alsen: Weihnachten, der Geburtstag der Mutter, der Besuch der Tanten oder der von Jugendfreundinnen. Als der Weihnachtsbaum abbrennt, ruft die Mutter: „Wie herrlich, wie herrlich“ – eine erste verdächtige Stelle. Die Mutter empfängt und repräsentiert beim Geburtstag, wie es sich gehört, aber dann: „Als sie glücklich alle wieder fort waren, wusch sich die Mutter die Hände im Teich.“ Sie liest viel, sie liest alles, was sie bekommen kann, und bleibt davon unbefriedigt: „Aber die Wahrheit sagen sie nicht …“ Sie selbst glaubt sie zu kennen: „ … es gibt nichts anderes als den Trieb, und er allein ist Herr und Meister. Der Trieb brüllt zum leeren Himmel auf – er allein.“ Später klingt es ähnlich, wenn sie gegenüber dem Pastor nur ein Gesetz gelten lässt: „ … dass sich das Leben fortpflanzen will … Der Zweck ist, dass gezeugt werden muss … Wenn man sich der Leere des Lebens klargeworden ist, muss man sie ausfüllen … mit etwas Gleichgültigem. “ Er: „Ist denn auch Aufopfern gleichgültig?“ – „Ja – völlig.“

Allmählich kristallisiert sich ihr besonderer Heroismus heraus. Sie sagt: „Sterben, Tine, das ist auch nicht das Schwerste -, es ist viel schwerer, jeden Tag versuchen zu leben …“ Das Buch endet denkbar nüchtern, die letzten zwei Sätze bezeugen einen Heroismus der Nüchternheit: „Zünden Sie die Lampe an, Tine“, sagte sie. „Die Kinder müssen ins Bett, und die Leute müssen versorgt werden.“

„Das weiße Haus“ ist ein impressionistischer Roman, durchtränkt vom Geist des späten 19. Jahrhunderts, und die Mutter ist das Musterbeispiel einer Dekadenten des Fin de siècle. Bezeichnend dafür ist ihr in Rezensionen gern zitierter Satz: „Erst paart sich das Tier, und dann ekelt sich der Mensch.“ Sie scheint den Gehalt von Büchern schon zu kennen, die um 1860 noch gar nicht geschrieben waren - Schopenhauer einmal ausgenommen -  und die sie auf dem Buchmarkt vermisst. Auf der anderen Seite ist der historische Hintergrund des Romans eindeutig fixiert: Die Mutter bezieht sich im Gespräch auf die Skandale der Regierung Frederik VII. (1848 – 1863). Bang porträtiert also seine Mutter, indem er ihr Bewusstsein um Inhalte des eigenen in seinen mittleren Jahren erweitert. Wirkt das Buch insofern ahistorisch? Das mag jeder Leser für sich selbst entscheiden. Es kann sein, dass er den glasklaren Stil so sehr bewundern wird, dass er nur noch ein bruchloses Bild vor sich sieht: eine Idylle am Abgrund, düster-schönes spätes 19. Jahrhundert.

 

(Zitiert nach der Übersetzung von Gisela Perlet.)

 

 

30. Über Ulrich Bräker: Der arme Mann im Tockenburg

 

Ulrich Bräker (1735 – 1798) war keine der großen Gestalten der Literatur seiner Zeit. Dennoch sind er und sein Hauptwerk, eine Autobiographie, bis heute unvergessen. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: reiches sozial- wie kulturgeschichtliches Material, die teilweise fesselnde Lebensgeschichte und eine vielschichtige Darstellung und Selbstinterpretation.

Bräker entstammte ärmlichen Verhältnissen im Ostschweizer Gebirgstal Toggenburg. (Die Schreibweise Tockenburg wird bei der Angabe des Titels bis heute meist beibehalten.) Er war das älteste von elf Kindern eines Salpetersieders, der glücklos zeitweise eine kleine Landwirtschaft betrieb. Die Familie beschäftigte sich auch mit dem Spinnen von Baumwollgarn, wechselte wiederholt den Wohnort, und vorübergehend wurde ans Auswandern nach Amerika gedacht. Der junge Bräker hütete erst Ziegen und beschreibt diese Jahre im „Armen Mann“ als bukolische Idylle. Dann war er einige Zeit Knecht, bis er beim Vater dessen Handwerk erlernte. In diese frühen Jahre fallen erste intensive Beziehungen zu Menschen jenseits der Familie. Da gibt es einen Jugendfreund, auf den sich die vielleicht dunkelste Stelle des Buches bezieht. Die beiden unterhalten auch einen lebhaften Briefwechsel. Dazu der alte Bräker: „Er war mir darin noch viel lieber als in seinem persönlichen Umgang … bis einst ein unverschämter Nachbar allerlei wüste Sachen über ihn aussprengte; denn obschon ich’s nicht glaubte, verringerte sich nun … meine Zuneigung gegen ihn von dem Augenblick an. Ein paar Jahre nachher (es war vielleicht ein Glück für uns beide) fiel er in eine Krankheit und starb …“ Worin dieses „Glück“ bestanden haben mag, man erfährt es nicht.

Der erste erotische Begegnung mit dem anderen Geschlecht – das ist eine alte Vettel, mit der sich die Bräkers zeitweise die Wohnung teilen müssen. Ulrich Bräker stellt sie so dar: oft nackt und betrunken und ihm schamlos nachstellend. Ganz anders wenig später sein Ännchen, die unerfüllt gebliebene Jugendliebe. Gewiss dürfte die hübsche Wirtstochter ein frisches, angenehmes Wesen gehabt haben, doch scheint der Autor Bräker die Innigkeit der Gefühle später entsprechend literarischer Muster ein wenig zu vertiefen. Tatsächlich hat sich Ännchen rasch neu orientiert - und er ihren Verlust leicht verschmerzt.

Das Werk umfasst 81 meist nur kurze Kapitel. Dabei bilden die Kapitel 33 – 58 den Schwerpunkt des Buches. Ihretwegen vor allem ist es bis heute lohnende Lektüre geblieben. Die Abenteuer vom Herbst 1755 bis zum 26. Oktober 1756 stellen mit Bräkers großer, unfreiwilliger Wanderung durch das damalige Mitteleuropa den Hauptstoff seines Buches wie Lebens dar. Von einem Landsmann unter Vortäuschung schöner Perspektiven an einen preußischen Werbeoffizier vermittelt, diente er diesem anfangs in Schaffhausen und Rottweil als Diener. Er hat wenig zu tun, lebt angenehm. Nach Berlin beordert – wohin er wie stets zu Fuß reist -, wird er nun gegen seinen Willen als Rekrut betrachtet und für den drohenden Siebenjährigen Krieg gedrillt. Berlin unter Friedrich dem Großen, das sind in seiner Rückschau vor allem die dürftige materielle Lage der Soldaten, die Leiden der Kranken und Siechen in der Charité, der Spießrutenlauf anderer, Eindrücke aus einem Tollhaus und von der großen Heerschau – bevor es ins Feld geht. Er schildert die Märsche durch Brandenburg und Kursachsen, die Plünderungen, das große Heerlager bei Pirna. Wie viele andere wartet er auf die Gelegenheit zum Desertieren. Sie kommt im Verlauf der Schlacht beim böhmischen Lobositz. Gerade dieser Abschnitt (Kap. 55, 56) ist aufgrund von nüchterner Detailgenauigkeit wie dichter Atmosphäre hervorragend für den Schulunterricht geeignet. Da hat einer den Krieg beschrieben, wie er damals wirklich war – Krieg von unten gesehen.

Die Jahrzehnte zwischen Heimkehr und Niederschrift werden nur summarisch wiedergegeben. Über ihnen liegt etwas wie „Verlorene Illusionen“. Es geht nüchtern, prosaisch zu, und Bräker leidet darunter. Erst ist er wieder Salpetersieder, dann wird er Zwischenhändler im Textilgewerbe, später auch selbst kleiner Garnproduzent. Er heiratet eine Frau, mit der er nicht harmonieren kann. Sie ist nach seiner Darstellung zänkisch, herrschsüchtig und jedem geistigen Höhenflug des Gatten feind. Er erträgt sie nur, indem er sie als das notwendige Korrektiv zur eigenen, etwas phantastischen Persönlichkeit versteht. Aus der Ehe gehen sieben Kinder hervor, von denen drei früh sterben, darunter die sehr geliebten beiden Erstgeborenen. Lange bedrücken Schulden, Bräker steht zeitweise vor dem Bankrott, er hat Suizidgedanken. Er flüchtet sich nacheinander in Sektiererei, in Lektüre und schließlich ins Schreiben. Dann wird er in eine literarische Gesellschaft aufgenommen, wird als Autor entdeckt, als Naturbegabung aus dem Volk gefördert. Seine Autobiographie erscheint erst in einer Zeitschrift, später als Buch. Mit den Tagebüchern und sonstigen Schriften findet er weniger Anklang. Vorübergehend ist die literarische Desillusionierung so groß, dass er die Lust am Schreiben verliert und sich mit mehr Erfolg als früher seinem Beruf widmet. Nach Selbstkritik (Kapitel 79: „Geständnisse“) erreicht er doch noch einen relativ hohen Grad von Zufriedenheit. Er hat sich beruhigt, wird weiter viel lesen und noch manches schreiben.

Bräker ist noch stark vom Pietismus geprägt. Der persönliche Gott, der Teufel, die Bibel, das sind die Richtmarken, die er auch unter dem geistigen Einfluss der Aufklärung nie aus den Augen verliert. Oft klingt es beschwörend, wenn sich sein Glaube ausspricht, sich selbst mühsam versichernd, dass man auf festem Boden stehe. Es sind unruhige Zeiten, in denen sich weite Teile Europas grundlegend zu verändern beginnen. Die ländlich übervölkerte Ostschweiz wird mit dem Aufblühen der Textilindustrie früher als die meisten anderen Regionen von diesem Prozess ergriffen. Man lebt noch auf und von der Scholle und produziert zugleich in Heimarbeit schon Fertigwaren für halb Europa. Und man ist frühen Wirtschaftskrisen ausgeliefert, die zu Hungerkrisen werden. Immerhin wird die Kartoffel neuerdings angebaut, Baumwolle aus Übersee kommt in die Gebirgstäler und gibt in guten Zeiten Brot. Das Toggenburg ist konfessionell gespalten, hat blutige Wirren hinter sich. Die Herrschaft der St. Galler Fürstäbte hat es nicht geschafft, das Tal ganz zu rekatholisieren. Die evangelischen Bewohner blicken nach Zürich.

Es ist etwas Unentschiedenes, Halbes, fast Zerrissenes an Bräkers Zeit und Welt und seiner Einstellung zu ihnen. Gerade dadurch kann er uns nach gut zwei Jahrhunderten noch berühren. Er schildert sich selbst als „Rätsel“: „So viele richtige Empfindungen, ein so wohlwollendes, zur Gerechtigkeit und Güte geneigtes Herz … Aber dann daneben: Noch so viele Herzensstücke, solch einen Wust von spanischen Schlössern, türkischen Paradiesen, kurz Hirngespinsten … wie sie vielleicht sonst noch in keines Menschen Gehirn aufgestiegen sind.“ Noch nicht modern genug? Dann vielleicht dieses Bekenntnis, das schon so sehr aufs 20. Jahrhundert und das Phänomen Entfremdung vorausweist: „Es wäre wohl gleichviel gewesen, in welchem Berufe ich mich lässig, unvorsichtig und ungeschickt beschäftigt hätte.“

Was noch erwähnt werden soll: Bräker war weitgehend Autodidakt. Und: Die Bandbreite seiner Sprache reicht vom Naturnahen über das religiös Gefärbte bis zum Bildungsbeflissenen. Wie viele originelle Ausdrücke! Da wird nicht hineingeheiratet, nein: „hineingemannet und –geweibet“. Die Lieblingsfundstücke des Rezensenten sind  „widerbefzgen“ und „sondertrutisch“.

 

 

31. Über Herman Bang: Das graue Haus

 

„Das graue Haus“, erstmals veröffentlicht 1901, ist ein exemplarisches Werk der europäischen Dekadenzliteratur. Es knüpft lose an „Das weiße Haus“ von 1898 an. Wenn Bang sich dort als Meister des literarischen Impressionismus erwiesen hat, so geht er mit dem späteren Kurzroman gewissermaßen zum Pointillismus über. Für den Leser ergibt sich daraus ein Problem. Der Text erscheint allzu leicht, verführt ihn zum raschen Darüberweglesen – und dann stellt er fest, dass er Teile der Handlung nicht verstanden hat. Das liegt nicht nur an einem Stil, der vor allem mit Andeutungen und Aussparungen arbeitet, und an einem Text, der im Ganzen einen Teppich aus ineinander verwobenen Miniaturen und Fragmenten von Lebensgeschichten enthält – bereits die Fülle der Personen kann verwirren. Auf gerade hundertzwanzig Seiten treten sechsundfünfzig Gestalten auf, und dazu noch drei Tiere (Pferd, Papagei und Pudel). Zum Glück für den Leser wird jede Person auf die knappste Weise eindeutig charakterisiert. 

Im grauen Haus in Kopenhagen wohnt der reiche alte Arzt Ole Hvide, dem Großvater des Autors nachgebildet. Der Leser begleitet ihn durch einen Tag, etwa zwölf Stunden lang. Zuerst bespricht er sich mit Hausgenossen, dann ist er teils privat, teils beruflich in der Stadt unterwegs, nimmt heimgekehrt an einem Empfang teil, fährt noch einmal aus, um einen Wucherer aufzusuchen, hat dann zu Hause ein Galaabendessen, wird zu einer Sterbenden weggerufen und kommt ein drittes Mal heim zu den problembeladenen Seinen.

Der alte Hvide ist die einzig stabile Persönlichkeit in diesem Mikrokosmos voller Unfrieden und Unglück. Von ihm sagt man: „Es ist doch komisch, dass keines der Kinder sein Genie geerbt hat.“ Er neigt zu bitteren Sentenzen, deren Paradoxa die anderen teils amüsieren, teils verschrecken. Hvides Blick trifft nicht nur auf familiären Verfall, er sieht auch eine ganze Gesellschaftsformation, das liberale Großbürgertum, die aufgeklärte Aristokratie, verschwinden. „Was bleibt von einem Jahrhundert übrig?“ fragt einer. Der Alte: „Die Gitter um ihre Gräber.“ Und: „ … was sie wollten, verkehrte sich ins Gegenteil, und ihre Werke sind so tot wie sie selbst.“ Die Handlung ist kurz vor 1880 angesiedelt, es gibt Anspielungen auf den Russisch-Türkischen Krieg (1877/1878). Darwin ist schon ein berühmter Mann, Weimar mit seiner Klassik eine blasse Erinnerung. Was bleibt von Goethe? „Erst ein paar Bücher, dann ein Buch …, dann ein Name und schließlich einmal nur ein paar Buchstaben, deren Form niemand mehr deuten kann.“ Bei Hvide sind zu Hause die Bronzen, Piedestale und Ehrengaben in Laken eingehüllt. Die Damen der Gesellschaft dagegen beeindrucken sich gegenseitig mit einem Kollier der Dubarry, einem Medaillon von Marie Antoinette, mit Bonapartes Trinkgläsern oder einer Brosche von Zar Nikolaus. Die Herren ihrerseits schwärmen von neu vergoldeten Altarleuchtern in einer Kirche. Aber Hvide sagt: „Es gibt keine Altäre … denn es gibt keine Götter. Wir sind die, die wir sind.“ Wenn ein Hochwürden den „Blick nach oben“ empfiehlt, entgegnet Hvide: „ … lassen Sie sie nach oben schauen. Dann werden sie nie sich selbst gewahr.“

Hvide ist der Prototyp eines karitativen Menschenfeindes. Jenseits der historischen, sozialen Vergänglichkeit bietet ihm die individuelle seiner Umgebung ein reiches Betätigungsfeld. Der eine Sohn ist ein überschuldeter Landwirt, ein Alkoholkranker, der Wechsel mit dem Namen des Vaters unterschreibt. Der andere hat Eheprobleme, die Gattin leidet unter der Leere der Beziehung und sieht sich früh sterben. Hvides alte, zärtlich umsorgte Gattin träumt zu seinem Missvergnügen anhaltend von den „schönen Prinzen in Weimar“ damals … Der apoplektische Finanzmann wuchert noch am Rand seines Grabes, und Hvide versichert den anderen wiederholt: „Ein Loch in der Erde ist so viele Gedanken nicht wert …“ Beim Souper trinken sie die letzte von einmal achtzehn Flaschen besten Tokajers.  

Immerhin gibt es ein Leben vor dem Tod. Mit Lügen macht man es sich erträglich. Es heißt: „Emmely ist ausgeritten“, wenn sie todkrank im Nebenzimmer liegt. Aus dem sturzbetrunkenen Vater im Nachbarraum wird für die anderen ein x-beliebiger fremder „Patient“. Und alle sagen sich resignierend: „Warum sollten gerade sie glücklich werden?“ Womit sie die nachfolgende Generation meinen. Ihr gehört Hvides Enkel Fritz an, in dem der Autor sich wie eine kleine Stifterfigur selbst dargestellt hat. Fritz bleibt weitgehend passiv, er äußert sich kaum, tut, was man ihm sagt, und verweigert die Auskunft über seine Gedanken bei Tisch, das sei eine „Gewissensfrage“. Dafür mustern er und der Sohn einer Gräfin sich „sekundenschnell … etwa so, wie Damen vor einem Souper ihre Toiletten betrachten …“ Viel beachtet wird Fritzens junger Diener: „Was ist denn das für ein hübscher Armenier?“ Er ist der „schlanke Diener, der taillenschlanke Diener“, der die „blanken Augen zu seinem Herrn“ erhebt. Und die Livree sitzt ihm so stramm und überhaupt kommt er viel öfter im Text vor, als für den Gang der Handlung nötig. Der homosexuelle Bang, persönlich ständig in Furcht vor Sittenskandalen oder schon auf der Flucht vor ihnen, hat hier wie in anderen seiner Werke eine Aura geschaffen, an der nichts Eindeutiges auszumachen ist und dennoch alles eines Sinnes ist, sozusagen ein Bild ohne Worte: the unspeakable vice of the Greeks.

Dieser Enkel erscheint den Damen der Gesellschaft so: „Er ist schön wie ein Grabmal.“ Er sollte, meinen sie, „eigentlich eine gesenkte Fackel in der Hand halten.“ Indem die vom Erzähler selbst abgeleitete Figur hier mit Thanatos gleichgesetzt und in Beziehung zu Eros gebracht wird, erweist sich der Autor als Präfreudianer. Was Bang mit „Das graue Haus“ als Ganzem unternimmt, kann man, einen Titel von Lukács variierend, die Grablegung des alten Dänemark nennen. Dänemark, nur zum Beispiel.

 

 

32. Über Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

 

Kleists berühmte Novelle hat nicht nur Zustimmung und Bewunderung hervorgerufen. Schon im 19. Jahrhundert gab es mancherlei Kritik. Fontane z. B. hat sich über das Werk recht abfällig geäußert. Kleists allzu freier Umgang mit der Geographie wurde bemängelt. Dabei sind die historischen Ungenauigkeiten bei weitem gravierender. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich durfte der Autor aus dem historischen Cöllner Kaufmann Hans Kohlhase (hingerichtet 1540) einen havelländischen Pferdehändler Michael Kohlhaas machen. Befremdlich ist allerdings, wenn er sich auf Daten der allgemeinen Geschichte bezieht und diese dann in Widerspruch zu ihrem tatsächlichen Ablauf geraten. Kleists Kohlhaas hat so Kontakt zum Reformator Martin Luther, gestorben 1546, und er greift die Stadt Wittenberg an, äschert dort Häuser ein, woraufhin die Oberen sich hilfesuchend an den sächsischen Kurfürsten in Dresden wenden. Der kurfürstlich-sächsische Hof befand sich zu Luthers Lebzeiten jedoch keineswegs in Dresden. Kleist unterschlägt einfach die Teilung Sachsens seit 1485. Kurfürsten waren seitdem die Ernestiner, die teils in Wittenberg, teils in Torgau residierten. Erst nach der Schlacht von Mühlberg 1547 ging die Kurfürstenwürde mit dem Gebiet um Wittenberg an den bisherigen – albertinischen - Herzog von Sachsen über, wurde Dresden kurfürstliche Residenz.

Hat Kleist die Historie nur als oberflächliche Staffage benutzt? Obwohl Luther in seinem Text eine nicht unerhebliche Rolle spielt, kommen die Reformation selbst bis auf eine dürre Randnotiz und die konfessionellen Kämpfe im „Michael Kohlhaas“ nicht vor. Die bis heute vorherrschende Interpretation des Werks geht mehr oder weniger stillschweigend davon aus, Kleist habe sich bei der Niederschrift eben nicht für die historische Wahrheit interessiert, sondern einen allgemeinen rechtsphilosophischen Stoff gestalten wollen. Die Germanistik tendiert also dahin, sich auf ein etwaiges zeitloses Problem hinter dem Text zu konzentrieren. Aber wie zeitlos ist Kleists Kohlhaas wirklich? Er ist ein wohlhabender Bürger des 16. Jahrhunderts, der zu dem Mittel der Privatfehde greift, als er sein Recht bei der staatlichen Gewalt nicht findet. Damit ist Kohlhaas eine eminent historische, nämlich anachronistische Figur. Die Fehde galt im Mittelalter im Prinzip als legitimes Mittel und die Staatsgewalt versuchte jahrhundertelang, mit dem Ausrufen des Landfriedens die Auswüchse zu bekämpfen. Erst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gelang es weitgehend, das staatliche Gewaltmonopol auf Dauer durchzusetzen und die Fehde als Rechtsinstitut bedeutungslos werden zu lassen. Kohlhaas, der sich der alten Tradition dennoch bedient, ist also ein Zuspätgekommener und nicht etwa Partei in einem zeitlosen Interessenkonflikt. Zeitlos mag sein verletztes „Rechtsgefühl“ sein, die Art und Weise, ihm Geltung verschaffen zu wollen, ist es nicht. Und gerade der Psychologie des Helden gibt der Text insgesamt wenig Raum, umso breiter sind die vordergründige Handlung und die Ränke der Instanzen dargestellt.

Worin mag Kleists innere Motivation bei der Bearbeitung des Stoffes bestanden haben? Vielleicht gibt uns die Verteilung von Sympathien und Antipathien, bezogen auf die Kurfürstentümer Sachsen und Brandenburg, einen Fingerzeig. Alles, was im Text negativ ist –  ob schwankend, unberechenbar, willkürlich, unaufrichtig oder betrügerisch -, es geht von Sachsen aus, spielt sich auf dessen Boden ab oder wirkt von dort ins brandenburgische Territorium hinein. Die korrupte sächsische Tronka-Sippe zieht nicht nur am Dresdner Hof die Fäden, ihr Vertreter in Berlin verhindert zunächst auch, dass sich in Brandenburg Gerechtigkeit durchsetzen kann. Mit Brandenburg und seinen Bewohnern verbinden sich dagegen im Übrigen nur Solidität, gute Nachbarschaft, weise Obrigkeit. Man muss diese Schwarz-Weiß-Malerei vor dem politischen Hintergrund gegen 1810 sehen. Preußen lag nach dem für ihn bis dahin unglücklichen Verlauf der Napoleonischen Kriege am Boden, Sachsen dagegen war innerhalb des Rheinbundes einer der wichtigsten Vasallen Bonapartes und profitierte bis zu einem gewissen Grad von der Kontinentalsperre. Der Preuße Kleist wünschte dringend einen Umsturz dieser Verhältnisse und schrieb nun einen Text, in dem der Untergang des wettinischen Reiches vorhergesagt wird. Die Weissagung der Zigeunerin in Jüterbog ist das zentrale Motiv im letzten Viertel der Novelle, auf sie hin ist die gesamte Novelle konstruiert. Indem Kohlhaas den Zettel mit den Daten des Untergangs verschluckt, geht der Kelch nicht am Haus Wettin vorüber – nur der Zeitpunkt seines dynastischen Endes bleibt offen. Ironischerweise hat der Erzähler Kleist posthum mit der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress als Prophet Recht bekommen, Sachsen wurde amputiert und als Machtfaktor auf Dauer ausgeschaltet.

Die Bereitwilligkeit, mit der die herkömmliche Interpretation überwiegend vom historischen Hintergrund des Stoffes wie der Textentstehung absah und sich auf die Schiene eines zeitlosen Rechtsproblems setzen ließ, ist bezeichnend für die lange Zeit so unpolitische Tradition der Germanistik. Und zu bedauern sind die Generationen von Schülern, die das Weltfremde dieser Deutung und die verborgene Problematik des Textes wohl spürten, in der Regel aber noch zu wenig über die Hintergründe wussten, als dass sie Kritik hätten üben können. „Michael Kohlhaas“ hat vor allem mit der Zeit zu tun, in der die Novelle geschrieben wurde, und maskiert sich zur Tarnung mehr schlecht als recht als historischer Stoff aus einem früheren Jahrhundert.

 

 

33. Über Truman Capote: Die Grasharfe

 

Für den jungen Truman Capote brachte sein 1951 erschienener zweiter Roman „The Grass Harp“ den endgültigen Durchbruch. Schon im Jahr darauf erschien eine deutsche Übersetzung, und, wovon man sich im Internet ein Bild verschaffen kann, das Buch wird bis heute gelesen und besprochen. Falls es überhaupt Literatur gibt, die die Zeiten überdauern kann, „Die Grasharfe“ könnte einmal zu den hundert bleibenden Romanen des 20. Jahrhunderts gehören.

Ein Waisenjunge wächst in den 1930ern im Süden der USA bei Großkusinen auf, zwei ledigen alten Damen, die denkbar verschieden sind: Verena die erfolgreiche, dominante Geschäftsfrau – ihre Schwester Dolly die sich unterordnende, romantisch versponnene Kräutersammlerin. Der junge Collin schließt sich Dolly und ihrer schwarzen Freundin Catherine an. Als Verena die Kräuterarzneien der Schwester kommerziell ausbeuten will, kommt es zum Bruch zwischen ihnen, Dolly zieht mit ihren Freunden, zu denen noch zwei weitere aus der Stadt kommen, um in ein Baumhaus vor der Stadt. Es beginnt ein lokaler Krieg zwischen Kapital und Gefühl, zwischen der gesellschaftlichen Ordnung und dem individualistischen Aufbegehren gegen sie. Am Ende sind sowohl die Ordnung wie auch die Revolte zusammengebrochen. Dolly, die bald sterben wird, kehrt zu einer sehr geschwächten und nun offen selbstkritischen Schwester zurück. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines älter gewordenen Collin, nachdem auch Verena gestorben ist und er selbst längst woanders lebt. Dabei versetzt er sich in den Seelenzustand des Sechzehnjährigen, der er einmal war.

Könnte ein Buch wie dieses nicht auch heute wieder geschrieben werden, gerade in Zeiten, da die Kritik an der Geldwirtschaft so sehr anschwillt? Ja und nein. Ein heutiger Autor würde die Figuren oft anders sprechen lassen. Sie reden, wenn sie sich gegenseitig einander erklären, wie auf dem Theater, einem sehr altmodischen Sprechtheater mit staubtrockenen Dialogen. Zum Glück wird nicht permanent gesprochen, sondern noch mehr gehandelt. Ein zweiter Fehler: Der junge Capote, der als Autor offenkundig Partei ergreift für die Unangepassten, transportiert mit seinem Text selbst konventionelle Vorurteile. So ist Verena eine Zeitlang geschäftlich wie emotional mit einem windigen Anwalt aus Chicago verbunden, der sie bestiehlt und im Stich lässt. Der Anwalt ist Jude, und diese Eigenschaft wird im Roman öfter erwähnt als alle seine übrigen. Das ist noch kein Antisemitismus, es ist nur am äußersten Rand seines Dunstkreises angesiedelt. Und noch ein Griff in das Schatzkästlein traditioneller Wertvorstellungen: Da gibt es den unsympathischen Big Eddie Stover, dumm, gewalttätig, autoritätshörig und, was in diesem Zusammenhang ganz unerheblich ist, ein uneheliches Kind. Mag sein, dass eine detaillierte Untersuchung des Textes noch weiteres Material dieser Art erbringen würde.

Alles Übrige an diesem kurzen Roman ist jedoch wunderbar: die Darstellung einer kompletten Kleinstadtgesellschaft des Südens, das Auftreten so vieler individuell gezeichneter origineller Gestalten, ihre Psychologie und zwischen den Zeilen auch ihre inneren Abgründe, der Handlungsverlauf zwischen Dramatik und retardierendem Element und nicht zuletzt: die Natur als der alles umfassende und miteinander verbindende Urgrund, poetisch und realistisch zugleich uns vor Augen gestellt.

„Die Grasharfe“, um zu ihrem bleibenden Wert zu kommen, steht am Anfang einer Kontinuität, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ländern des Westens begann und bis heute nicht abgebrochen ist. Es ist die Geschichte vom Aufbegehren der Unmaßgeblichen, der Minoritäten, der Seitenströmungen – und von deren Verbundensein mit den Zentren der Zeit, der Gesellschaft, des Lebens. Oder wie der Erzähler es formuliert: „Aus welchen Leiden auch die Welt zusammengesetzt ist – alle Eigenwelten sind gut, sie sind niemals unbewohnbar und gewöhnlich.“

 

  

34. Über James Baldwin: Giovannis Zimmer

 

Die Rahmenhandlung in Baldwins Roman erinnert von fern an die „Symphonie fantastique“ von Berlioz, speziell deren vierten und fünften Satz. Der junge Amerikaner David rekapituliert eine Nacht lang eine katastrophal verlaufene Liebesbeziehung – und es ist zugleich die Nacht vor einer Hinrichtung. In ihr versucht David erfolglos, seine immensen Schuldgefühle in Alkohol zu ertränken. Die Gestalten in seiner Erinnerung ähneln Lemuren, doch es sind reale Erinnerungsbilder, und auch die Hinrichtung wird tatsächlich stattfinden: Giovanni wird am folgenden Morgen in Paris guillotiniert werden. Damals in den Fünfzigern gab es die Todesstrafe in Frankreich noch. Es ist Davids letzte Nacht in der Provence, wohin er sich mit Hella nach dem Mord, der nun gesühnt wird, geflüchtet hat. Hella ist schon auf dem Rückweg in die Staaten. „Na, jetzt weißt du es also“, hat David zu ihr gesagt. Es – das ist seine Neigung zu Männern, die er verdrängt hat, solange es noch möglich war.

„Giovanni’s Room“, erschienen 1956, auf Deutsch erstmals 1963, ist ein früher Coming-out-Roman mit, wie gesagt, katastrophalem Ausgang. Dennoch kann keine Rede davon sein, Baldwin denunzierte seine Figuren. Im Unterschied zu den abstoßenden Schwulen und Lesben der Hollywoodfilme jener Zeit, die so gern massakriert wurden, sind David und Giovanni ebenso glaubwürdig wie Hella und alle drei mit einer Fülle individueller, charakteristischer Details ausgestattet. Dies gilt nicht weniger für die zahlreichen Nebenfiguren. Wir sehen so en passant auch ein Panorama von Frankreich in der Nachkriegszeit vor uns. Baldwin war ein bedeutender realistischer Erzähler der Jahrhundertmitte. Er vereint die verstörenden Selbstanalysen von Figuren voller Selbsthass, wie Pavese sie kurz zuvor gestaltet hat, mit der Sehnsucht nach Erlösung, dem Pathos eines Predigers und dem religiösem Gefühl, die er, Baldwin, als Erbteil seiner afroamerikanischen Herkunft mit nach Europa brachte. Der Autor (1924 – 1987) hielt sich bekanntlich wie David und Hella lange in Frankreich auf, da ihm, dem schwarzen Intellektuellen, dem schwulen Anti-Rassisten das Leben in den USA damals unerträglich schien. Wiederum en passant ist der Roman auch ein Buch über Amerika und Europa, ihre Unterschiede, ihre problematische Beziehung. Daran dass Frankreich dabei keineswegs von ihm idealisiert wird, erweist sich unter anderem Baldwins literarischer Rang.

Es ist nicht nur eine Coming-out-, sondern ebenso eine Dreiecksgeschichte: zwei Männer, eine Frau. Alle drei sind hochproblematisch, leiden an gestörter Identität, suchen im anderen die notwendige Stütze und reißen sich so nacheinander in einen Abgrund. Es ist gerade ihre Ernsthaftigkeit, die das Scheitern unvermeidlich macht und so radikal ausfallen lässt. Hella schwankt lange unentschieden zwischen den verschiedenen einer Frau damals schon möglichen Rollen. Giovanni, lebhaft und attraktiv, ist als Immigrant aus Italien, geflohen vor einer familiären Tragödie, besonders verwundbar. David ist – noch? -  bindungsunfähig. Am Ende der langen Nacht seiner Selbstvergewisserung synchronisiert er sich mit dem zur selben Zeit guillotinierten Giovanni, realisiert die eigene Sterblichkeit:

„Der Körper im Spiegel zwingt mich, ihn zu betrachten. Und ich blicke auf meinen Körper, der zum Tode verurteilt ist. Mager ist er, hart und kalt, die Verkörperung eines Mysteriums. Und ich weiß nicht, was sich in diesem Körper regt, wonach dieser Körper sucht. Er ist in dem Spiegel gefangen, wie er in der Zeit gefangen ist, und er strebt nach Offenbarung.“  (Übersetzung von Hans-Heinrich Wellmann).

„Giovanni’s Room“ – ein großer Entwurf und bewundernswert ausgeführt.   

 

 

35. Peter Altenberg und der bürgerliche Selbsthass

 

Peter Altenberg wurde vor allem von Karl Kraus und Arthur Schnitzler entdeckt. Er war damals bereits Mitte dreißig und eine im bürgerlichen Sinn gescheiterte Existenz. Ihm war wegen Neurasthenie dauernde Berufsunfähigkeit ärztlich längst attestiert worden, er war vollständig von Zuwendungen der Familie abhängig. Nun wird er der Öffentlichkeit als das poetische Wunderkind mitten aus der Wienerstadt präsentiert - und war doch eher typisch für die Untiefen einer literarischen Kaffeehausgesellschaft.

Altenberg ist begabt, originell und ein fleißiger Schreiber. Nach dem ersten Sammelband von 1896 („Wie ich es sehe“) folgen noch viele weitere, meist im Abstand von zwei, drei Jahren. Altenberg wird anerkannt, geschätzt, eine kleine Berühmtheit. Er stilisiert sich immer mehr zum un- und antibürgerlichen Original, zum Dichtergenie. Und er wird zum Stammvater des kunstvollen Feuilletons: Altenberg, Robert Walser, Polgar, Tucholsky, Kästner, so wird die Reihe einmal lauten. Auf dieses Podest kann man ihn stellen, dort kann man ihn stehen lassen – oder auf seinen Boden herunterholen.

Zwei Sammelausgaben aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führen exemplarisch vor, wie man mit Altenbergs Werk heute umgehen kann. Philipp Reclam jun. Stuttgart  veröffentlichte 1968 in seiner Universal Bibliothek die Sammlung „Sonnenuntergang im Prater“. In dem gelben Bändchen finden sich 55 Miniaturen von fast durchgehend hoher Qualität. Es fällt auf, dass die Masse dieser Texte aus den frühen Sammelbänden stammt. Ganz anders „Die Lebensmaschinerie“, 1980 vom Ost-Bruder Reclam Leipzig herausgebracht. Das ist ein Taschenbuch mit knapp 250 Seiten und Hunderten oft sehr kurzer Einzeltexte. In ihm sind alle Schaffensperioden vertreten, die späteren in größerer Zahl, die von den Stuttgartern bevorzugte frühe viel weniger stark.

Der chronologisch angelegte Leipziger Band liefert ein viel genaueres Bild des Gesamtwerks wie auch des Autors selbst und seiner Entwicklung, die ein allmählicher Verfall war. Nicht zu übersehen ist der fortschreitende Qualitätsverlust der Texte. Wo sie vor und um 1900 präzise Beobachtung und geschliffenste Prosa aufweisen, machen sich um 1910 und erst recht in Altenbergs letzten Jahren Zufällig-Banales, Verzicht auf jede Durcharbeitung und ein salbadernder Predigerstil breit. Der Dichter spielt den Sittenrichter, kopiert Abraham a Sancta Clara und Karl Kraus, doch ohne Berufung dazu und vor allem ohne Selbstdisziplin. So liest man sich durch seine öden, oft konfusen Tiraden voller Hass auf die bürgerliche Welt von damals. „Idiot“ ist eine Lieblingsansprache eines imaginierten Adressaten, allein schon bezeichnend für diese Art hohler Kraftmeierei. Zwar schreibt er noch immer einzelne bewundernswerte Texte, doch auch „Die Lebensmaschinerie“ kann das Bild des Werks nur durch behutsame Auswahl zu retten versuchen. Die Herausgeberin Elke Erb schreibt jedenfalls: „Er lässt Glanzstücke neben solchen stehen, die ihn in einem durchaus schäbigen Licht erscheinen lassen. (Im Gegensatz zu Robert Walser wäre eine Gesamtausgabe seiner Skizzen eine Zumutung für den Leser.)“

Aber wie unbürgerlich war Altenberg tatsächlich? Es fällt auf, wie häufig er das eigene Scheitern, gemessen an bürgerlichen Werten und Lebensentwürfen, thematisiert. Gelegentlich mischt sich dabei ein schmerzlicher Ton hinein, öfter ein heroisch-trotziger, der regelmäßig in aggressive Beschimpfung der Wohlsituierten und Gebildeten umschlägt. Ein gehöriges Maß Misanthropie gehört dazu, vergeblich maskiert durch Kindergemüts- und Dienstmädchenverklärung. Die eigene Neurasthenie wird zum Nährboden von „Idealismus“, den er allgemein dann wieder für ein großes Übel erklären wird. Ambivalenz allen Werten gegenüber ist ein vorherrschendes Merkmal. Sie endet in Negation allen Kulturschaffens, auch des eigenen. Vorher hat er lange im Stil der Lebensreformbewegung Hygiene und Diätetik gepredigt – in Gestalt eines allzu schlichten Materialismus – und sich zugleich mit Alkohol- und Schlafmittelabusus die Gesundheit ruiniert. Altenberg bot so während der letzten zehn Jahre seines Lebens das makabre Bild eines Gesundheitsapostels in Sandalen und mit derbem Wanderstock, der Zugluft predigt und sich die meiste Zeit in Entziehungskliniken aufhält.

Altenberg lässt sich bis zum Schluss materiell unterstützen, nach dem Ruin des Familienvermögens von Gönnern, die ihn als Autor schätzen. Nach seinem Tod kommt heraus, dass es mit seiner Bedürftigkeit nicht so weit her war. Er hat ein hübsches kleines Geldvermögen zu vererben. Altenberg und die Widersprüche: Zu Beginn des Weltkriegs äußert er sich eindeutig pazifistisch, verurteilt Krieg und Massensterben, ähnlich wie Karl Kraus. Später finden sich gelegentlich chauvinistische Stellen in seinen Texten, wie von einem x-beliebigen „Schmock“, seinem Anti-Ideal eigentlich.

Er hat die gleichen Götter wie die gutsituierten Bürger seiner Zeit: Goethe, Bismarck usw. Der deutsche Reichskanzler ist allerdings ein wenig verdächtig, in Österreich schätzen ihn vor dem Krieg vor allem die nach Deutschland orientierten Alldeutschen unter Schönerer, der ein Antisemit ist - wie auch Lueger mit seiner mächtigen Christlichsozialen Partei. Peter Altenberg heißt bürgerlich Richard Engländer und ist jüdischer Herkunft. Er ist aus der mosaischen Religionsgemeinschaft ausgeschieden, hat sich katholisch taufen lassen. Das Thema Antisemitismus kommt bei ihm nicht vor. Seine Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft ähneln denen der Christlichsozialen: anti-liberal, anti-kapitalistisch, kleinbürgerlich.

Eine Schlüsselstelle findet sich in Altenbergs Text „Die Historie“ aus dem Sammelband „Mein Lebensabend“, erschienen im Todesjahr 1919. Hier wendet er sich gegen die historistische Methode der Welterklärung, lehnt die Beschäftigung mit Historie überhaupt ab und  plädiert für – wohl auch gewaltsame - gesellschaftliche Entwicklungssprünge. Bismarck – „mit dem Sperberblicke“ – dient als Kronzeuge. Man soll wie dieser „die kommenden Bedürfnisse einer schwankenden Menschheit erschauen und … historienlos dekretieren.“ Dekretieren! Und wer „man“ ist, bleibt noch offen. Dann fordert er „mit einem Federstrich die Auslöschung der belastenden und unnötigen alten Sprachen Griechisch und Latein in den Jugend-Bildungsstätten“ – um sie zu ersetzen durch das Studium folgender Autoren: Goethe, Schiller, Tolstoi, Dostojewski, Richard Wagner, Chamberlain, Macaulay, Gerhart Hauptmann, Knut Hamsun, August Strindberg, Altenberg … Das ist ein sehr bunter Strauß, in dem ein Name rasch ins Auge springt: Houston Stewart Chamberlain, nach Deutschland ausgewanderter Brite, der in den Wagner-Clan hineinheiratete und mit seinen pangermanischen und antisemitischen Schriften die wichtigste theoretische Grundlage für Hitlers Rassenwahnideologie lieferte - und übrigens ein großer Wien-Hasser war. Wie sehr Altenberg von Chamberlain beeindruckt war, wird z.B. an dem Begriff des „Schlechtrassigen“ deutlich, der regelmäßig in seinen Feuilletons auftaucht. Als am Begriff der Rasse orientiertes Gegenbild dazu hat er schon in „Ashantee“ (1897) edle Wilde vorgeführt und zeitgemäß erotisiert, schwarze Frauen, Männer, Kinder, die in einem Wiener Tiergarten monatelang gegen Geld zu sehen waren, eine „Völkerschau“ à la Hagenbeck.

Wer sich auf den ganzen Peter Altenberg einlässt, dem kann es ergehen wie dem jungen Stifter, als er bei einer Führung durch die generationenlang verschlossenen Katakomben unter dem Stephansdom dabei war – er stößt auf Gebein, Moder, zerfallene Kostümierungen, Maskeraden, Inszenierungen, eine ganze untergegangene Gesellschaft, zugleich faszinierend und, obwohl abgestorben, noch immer bedrohlich erscheinend.

Habent sua fata libelli: Bücher haben ihre Schicksale – Autoren auch, und der Leser als solcher erst recht.

 

 

36. Über James Baldwin: Eine andere Welt

 

Baldwins dritter Roman „Another Country“, erstmals erschienen 1962 (deutsch 1965 unter dem Titel „Eine andere Welt“), ist ein groß angelegtes Sittenbild und Gesellschaftspanorama. Er behandelt Strukturen und Probleme der USA um die Mitte des 20. Jahrhunderts und spielt zumeist in New York. Er erzählt zu diesem Zweck – und das ist sein spezieller Kunstgriff - fast ausschließlich von Paarbeziehungen, wie sie sich verändern, scheitern oder als beständig erweisen. Hinter ihrer Dynamik stehen die seinerzeitigen und zum Teil bis heute noch immer ungelösten Fragen um Rasse und Klasse. Dabei erweist sich als Katalysator das destruktive Element, das bei Baldwin von Sexualität untrennbar zu sein scheint.  

Der schwarze Jazzmusiker Rufus aus Harlem hat zu Beginn eine verheerende Beziehung zur „armen Weißen“ Leona aus dem Süden schon hinter sich. Zwischen ihnen führte die Frage, warum Schwarz und Weiß sich voneinander angezogen fühlen, nur zu Misstrauen und Feindseligkeit. Rufus quälte Leona so lange, bis sie in einer Anstalt untergebracht werden musste. Er selbst verliert dann jeden Halt und bringt sich um.

Vivaldo, Rufus’ weißer Freund, arbeitet tagsüber in einer Buchhandlung und nachts an einem Roman, der kaum Fortschritte macht. Er gehört zur semiintellektuellen Szene von Greenwich Village und hat eine problematische Beziehung zur etwas älteren Weißen Jane. Aus Janes billiger Exzentrik und Vivaldos mangelnder Reife resultiert zwangsläufig das Scheitern ihrer Verbindung. Vivaldo schließt sich danach Ida, Rufus’ jüngerer Schwester, an, die am Beginn einer Karriere als Nachtclubsängerin steht. Auch hier zeigt sich die damalige Sprengkraft einer gemischtrassigen Beziehung, deren dramatisches Auf und Ab an Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ denken lässt. Am Ende des Buches scheinen Vivaldo und Ida es geschafft zu haben, sie sind gemeinsam gereift, lieben sich unverändert stark.

Das Gegenbeispiel sind Cass und Richard, zwei Weiße unterschiedlicher sozialer Herkunft. Sie entstammt der Oberschicht Neuenglands und hat alles daran gesetzt, aus ihm einen großen Schriftsteller werden zu lassen. Als der äußere Erfolg da ist, stellt sie fest, wie wenig das bedeutet, wie gering Richards Talent tatsächlich ist. Aus Enttäuschung darüber geht sie eine von vornherein zeitlich befristete Beziehung zu dem jungen Schauspieler Eric ein und erschüttert Richards Selbstvertrauen damit tief. Es bleibt fraglich, ob es zur Scheidung kommen wird oder ob man sich schlecht und recht arrangieren wird. (Das Paar hat zwei kleine Söhne.)

Eric, aus der weißen Oberschicht des Südens, war ebenfalls mit Rufus befreundet. Tatsächlich ist er homosexuell. Er hat jahrelang in Frankreich gelebt, ist seitdem dem jungen Franzosen Yves eng verbunden. Mit dessen enthusiastisch erlebter Ankunft in New York endet der Roman.

Baldwin erzählt das alles breit und mit vielen Rückblenden. Zu den Stärken des Werks gehört die Darstellung spezieller Milieus und Situationen, z.B. einer Beerdigung in Harlem oder eines Besuchs einer typischen Village-Kneipe oder von gemeinsamem Haschischkonsum auf einer Dachterrasse oder einer Filmpremiere oder eines Treffens im Museum of Modern Art. Das ist New York um 1955, eine Stadt, an der Eric nach der Rückkehr aus Frankreich fast alles missfällt: „unzugängliche Rohheit seiner Sitten und Gebräuche … Atmosphäre von Gefahr und Schrecken … keinerlei Sinn für die Erfordernisse menschlichen Zusammenlebens … die einsamste, heimlichste aller Städte …“ Allgegenwärtig sind der Griff zur Zigarette und das Herumjagen in Taxis. Während dem Autor die Präsentation des rein Gesellschaftlichen, gerade auch des Geselligen fast immer gelingt, trifft dies auf die Dialoge in den Paarkonflikten und die Sexualakte nicht im gleichen Umfang zu. Die Ehe- und Beziehungsdramen werden in oft langatmigen, allzu literarisch wirkenden Diskussionen abgehandelt. Da geht es manchmal geradezu ontologisch zu … Die Beziehungen entwickeln sich zum Teil sprunghaft und die Konflikte sind nicht immer leicht nachzuvollziehen.

Die Schilderung sexueller Handlungen und der mit ihnen verbundenen Gefühle nimmt viel Raum ein, ohne in jedem Fall zu überzeugen. Wenn Vivaldo mit Ida schläft, dann ist dessen Gestaltung für Baldwin eine erkennbar schwierige und zugleich überaus wichtige Aufgabe, die er als Schriftsteller unbedingt meistern muss. Er tut es verbissen pedantisch und ausführlich bis zur Schwerfälligkeit. Kürzer wird der Sex zwischen Eric und Yves abgehandelt und streift doch die Grenze zum literarischen Kunstgewerbe – und Baldwin überschreitet sie, wenn er Cass und Eric sich lieben lässt: „Wieder küsste er sie und zog die zwei Spangen aus ihrem Haar, so dass es golden über ihn fiel …“ Oder: „Wie das Wasser, das in der Wüste sprudelt, als Moses mit seinem Stab an den Felsen schlug, sprangen ihr die Tränen in die Augen …“ 

Eine weitere Merkwürdigkeit ist die Tendenz zu allgemein verbreiteter Bisexualität, allerdings nur, soweit es die Männer betrifft. Eric hat mit Rufus geschlafen, er liebt jetzt Yves und hat zwischendurch eine Zeitlang Sex mit Cass und dann auch noch mit Vivaldo … Das Geschlecht des Partners wird denkbar leicht gewechselt, bis sich endlich eine geringe Präferenz für Hetero- oder Homosexualität herausstellt. Das ist Kinsey pur, lebenswahr ist es nicht.

Ohne Zweifel erreicht „Another Country“ nicht ganz die Qualität des kürzeren Vorgängerromans „Giovanni’s Room“. Dass sich die Lektüre dennoch lohnt, erweist sich daran: Vivaldo, Ida, Cass und die anderen bewegen sich für uns wie lebendige Menschen durch das New York ihrer Tage und der Leser folgt ihren Schicksalen auch ein halbes Jahrhundert später zunehmend gespannt. Sie alle sind glaubwürdig auf der Suche nach einer anderen, besseren Welt - um sie, uns ähnlich, zu verfehlen oder im besten Fall nur ein Stück weit zu erreichen.

 

(Zitate nach der Übersetzung von Hans Wollschläger) 

 

 

 37. Über James Baldwin: Gesammelte Erzählungen

 

Der 1968 erschienene Sammelband kam später unter zwei weiteren Titeln heraus: „Sonnys Blues“ bzw. „Des Menschen nackte Haut“. Alle drei Ausgaben wird man heute, wie fast alles von Baldwin in deutscher Übersetzung, im Normalfall gebraucht oder aus Restauflagen sich leicht verschaffen können.

Baldwins große Leistung war, das Thema Rassendiskriminierung in den USA mit den Mitteln des Neorealismus in die zeitgenössische gehobene Literatur eingeführt zu haben. Dabei gelang ihm der Spagat zwischen anspruchsvollem Schreiben und Massentauglichkeit. Selbstverständlich beschreiben seine Darstellungen inzwischen im Wesentlichen eine historische Realität, die nur noch zum Teil mit der Welt von heute deckungsgleich ist – in welchem Umfang, das muss einer speziellen Untersuchung vorbehalten bleiben. Für Baldwins fortdauernde Aktualität über seine Lebensspanne hinaus genügt fürs Erste ein Zitat aus der Erzählung „Heute Morgen, heute Abend, so bald“: „Das Leben eines jeden Menschen beginnt dort, wo er Rassen, Armeen und Religionen hinter sich lässt.“ Dass das vor allem Postulat ist, beweisen gerade seine Erzählungen.

Die ersten beiden dürften die autobiographischsten sein. In „Der Felsblock“ spiegelt sich die Familienproblematik des jungen Baldwin wider: ungeliebtes Stiefkind eines sehr dominanten schwarzen Predigers in Harlem zu sein. „Der Ausflug“ vertieft die Beschreibung des Harlemer Milieus, enthält eine vorzügliche Darstellung der Religiosität dort und ein stilles, sehr berührendes inneres Coming-out. „Der Erbe“, die Geschichte eines Kindermordes auf dem Land, entfernt sich am weitesten vom Hauptthema der Erzählungen. Sein Schluss, ein Dialog zwischen Täter und Opfer, ist problematisch. Baldwin entging nicht immer den Gefahren übergroßer Verdeutlichung bis hin zur platten Sentimentalität. Rundum überzeugend dann wieder dargestellt der alltägliche Rassismus in New York um 1960 und wie einer damit (nicht) fertig wird („Die unveräußerlichen Rechte“).

„Sonnys Blues“, einer der bekanntesten Texte von Baldwin, findet sich auch in Anthologien wieder. Das Bruderdrama ist angesiedelt im Dreieck Harlem – Rauschgift – Musik. Im nächsten Text „Heute Morgen, heute Abend, so bald“ steht ein schwarzer Sänger und Schauspieler nach längerem Pariser Exil vor seiner Heimkehr in die USA. Hier finden wir einen kritischen Vergleich Amerikas mit Europa. Dass er nicht nur zugunsten des alten Erdteils ausfällt, zeigt u.a. ein drastisches Detail zum damaligen Algerienkrieg. „Rückkehr aus der Wüste“ mag dem heutigen europäischen Leser vielleicht am wenigsten zusagen. Er muss sich in die Seelenverfassung einer schwarzen jungen Frau versetzen. Jetzt ist die Rassenfrage verknüpft mit Sexualität und durch sie hervorgerufene Schuldgefühle. Sexualität und Rassenwahn sind auch im letzten Text „Des Menschen nackte Haut“ eng verwoben, hier jedoch durchaus gelungen. Gleichwohl ist diese Lynchmordgeschichte nicht eben leicht zu lesen: ein brutalstmöglicher Schluss des Buches. 

Warum sollte man Baldwin heute noch oder wieder lesen? Zum einen, um sich vor Augen zu halten, wie schlecht es noch vor wenigen Jahrzehnten um die Gleichheit bestellt war. Zum anderen, um danach einen Vergleich mit der Gegenwart anstellen zu können: Wie weit ist die Emanzipation fortgeschritten? Schließlich wegen der frischen Lebendigkeit der Baldwinschen Figuren, die noch immer zur Identifikation einladen und Empathie zu wecken imstande sind.

 

 

38. Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon

 

Wer den altjapanischen Riesenroman „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ gelesen hat, mag zur Abrundung noch zum „Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon“ greifen. Beide Werke entstanden im frühen 11. Jahrhundert und zählen zu den klassischen Standardwerken der japanischen Literatur. Ihre Verfasserinnen waren beide etwa zur selben Zeit Hofdamen der Kaiserin von Japan. Sie wussten voneinander, ihre Werke wurden bereits zu Lebzeiten am Hof zur Kenntnis genommen. Das weitere Schicksal der Autorinnen liegt weitgehend im Dunkeln. Damit sind ihre Gemeinsamkeiten bereits aufgezählt.

Die Bücher selbst unterscheiden sich extrem voneinander. Während Murasaki Shikibu in ihrem Roman von ca. zweitausend Seiten ein umfassendes Panorama der Hocharistokratie ihrer Zeit gibt, handelt es sich beim „Kopfkissenbuch“ um tagebuchartige Skizzen von insgesamt nur wenig mehr als hundert Seiten. Sei Shonagon entwirft darin impressionistische Streiflichter. Es geht um Gestalten des Hofes von Kyoto, Feste, Ausflüge aufs Land, Wetterbeobachtungen, erotische Begegnungen. Allmählich wird die Methode der Autorin pointillistisch: Sie nimmt sich ein Thema vor und notiert dazu in loser Folge Kürzestbeschreibungen typischer Situationen. Aus Unverbundenem entsteht so durch freie Assoziation ein plastisches Gesamtbild.
      Die Texte verraten große Sensibilität, auch Subjektivität, dennoch Konzentration aufs Wesentliche und poetische Durchdringung von Alltagssituationen. Als Kenner viel späterer europäischer Literatur ist man versucht, Parallelen zu den Feuilletons von Peter Altenberg zu ziehen – Parallelen im Stoff, in der Methode und sogar in der subjektiven Stimmung, die sich jeweils deutlich widerspiegelt. Wie bei Altenberg gibt es eine Entwicklung von der feinen Sensibilität zur gröberen Reizbarkeit, einer gewissen Unduldsamkeit, wenn nicht Misanthropie. Kritische Texte wie „Ärgerliche Dinge“ oder „Falsche und echte Kavaliere“, lange nur eingestreut in Betrachtungen ganz anderer Art, überwiegen zum Ende des Buches hin. Von den letzten zehn Einträgen gehören sieben in diese Kategorie. Die Titel sprechen für sich: „Unerfreuliches“, „Unangenehmes“, „Worüber man die Geduld verliert“ usw.
      Murasaki Shikibu entwirft in ihrem eigenen erhaltenen Tagebuch ein recht ungünstiges Bild ihrer Kollegin, besonders von deren negativer Entwicklung im Lauf der Zeit. Von „Selbstzufriedenheit“ ist die Rede, dem Drang, „Anstoß zu erregen“, von „Überspanntheit“. Und: „Sie war einst eine Frau von hervorragendem Geschmack und feiner Lebensart; heute aber kann sie es nicht mehr lassen, sogar unter den unpassendsten Umständen sich alles zu gestatten, was die Laune des Augenblicks ihr eingibt.“ Der Übersetzer Arthur Waley (nach dem hier in deutscher Übertragung von Herberth E. Herlitschka zitiert wird) fügt dazu die Legende von der alten Sei Shonagon als einsamer Hexe in verfallener Hütte an. Vielleicht war es so …
      Murasaki Shikibu könnte weitere nicht erhaltene Werke von Sei Shonagon gekannt haben, von denen sie anmerkt, dass sie „sie freigebig über den Hof ausstreut.“ Sei Shonagon selbst will dagegen ihr Tagebuch abgebrochen haben, da ihr dessen ungewollte Publizität unangenehm gewesen sei. Gleichwohl notiert sie noch mit Befriedigung, sie „habe so viel Lob geerntet, dass ich beschämt bin.“ Dann schließt sie: „O, wie lassen diese Blätter jeden in mein Herz sehen! Wie bedauere ich, dass sie so allgemein bekannt geworden sind!“
      Sei Shonagon lesen – und man hat den Eindruck, auch in der Welt der Literatur könnten tausend Jahre wie ein Tag sein.

 

 

39. Über Yukio Mishima: Geständnis einer Maske

 

Überwiegend wird „Geständnis einer Maske“, womit dem erst vierundzwanzigjährigen Autor Yukio Mishima 1949 der Durchbruch gelang, als gelungene Darstellung eines individualpsychologischen Problems aufgefasst. Man liest den Roman dann als überzeitliches Seelendrama, das nur zufällig im Japan der 1930er und 1940er Jahre angesiedelt zu sein scheint. So einfach verhält es sich jedoch nicht. Gewiss ist der Ausgangspunkt des autobiographischen Werks die Entdeckung der eigenen Homosexualität des Autors sowie die sich daraus ergebenden Komplikationen im Verhältnis zu seiner Umwelt. Nach einer Reihe von für die Entwicklung des Helden charakteristischen Einzelepisoden kulminiert die Handlung in der gescheiterten Beziehung des jungen Ich-Erzählers zu Sonoko, der Schwester eines seiner besten Freunde. Die Essenz davon lautet: „ … dass ich ihr deswegen entfliehen müsste, weil ich sie liebte.“ Der Erzähler realisiert die für ihn unüberbrückbare Distanz zu der jungen Frau – und gerade diese Distanz befähigt ihn erst, ihre positiven Eigenschaften deutlich wahrzunehmen: ihre Schönheit, ihren guten Charakter, ihre Schutzbedürftigkeit. Doch als er sie küsst, sieht er ein: Er als Mann begehrt die Frau, die sie ist, durchaus nicht. Dieses tragische Grundthema des Romans wird umspielt von einer zweiten Entdeckung: jener der sadomasochistischen Tendenzen des eigenen Trieblebens. So wie der Erzähler gegenüber seinen männlichen Idolen zu Verstümmelungs- und Tötungsphantasien neigt, entwickelt er gegenüber der realen Sonoko Schuldbewusstsein und masochistische Gefühle.
      Dieser großartige Stoff sollte uns die Sicht auf anderes Wesentliche nicht verdecken. „Geständnis einer Maske“ weist zum einen Elemente eines Bildungsromans auf, dabei Bildung ganz vordergründig als das Produkt von kulturellen Einflüssen verstanden. Der Held ist Kind im Japan der Vorkriegszeit, besucht die Oberschule während des Krieges, erlebt den Zusammenbruch des Landes als Student und begründet seine eigene berufliche Existenz in der frühen Wiederaufbauphase. Sehr häufig nimmt er Bezug auf Werke der Literatur und der Bildenden Kunst. Das Erstaunliche daran: Es sind fast ausschließlich solche aus Europa oder den USA. So wird nur ein einziger japanischer Autor erwähnt, Tanizaki, den Sonoko gelesen hat. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie selbstverständlich, umfassend und gründlich die Kenntnis der zeitgenössischen Kultur des Westens in der japanischen Intelligenz war, und das zu einer Zeit, als die Politik des Landes extrem chauvinistisch war.
      Zum anderen gibt der Roman ein Bild des Krieges selbst, genauer: seiner Auswirkungen auf das zivile Leben in Tokio wie auf dem Land. Nicht nur die materielle Seite wird beleuchtet, auch die verheerende Wirkung auf die seelische Verfassung des Durchschnittsjapaners. Die vielen Details dazu, die Atmosphäre der Zeit, das ist der Hintergrund, vor dem das private Drama abläuft. Mishimas Haltung als Autor ist dezent antimilitaristisch, das Buch ist schließlich nach dem Krieg geschrieben. So gerät der Rückblick auf die jüngste Vergangenheit recht kritisch. Es kommen Kinderzwangsarbeiter aus Taiwan vor neben einem Bankier, der nicht an den Sieg glaubt und schon die Geschäfte der Nachkriegszeit plant. Wir erleben mit: eine Musterung, Luftalarme, Bombenangriffe, Evakuierungen, einen Luftkampf über Tokio, aus der Ferne beobachtet. Das chaotische Studium wird immer wieder von Verpflichtungen in kriegswichtige Industriebetriebe unterbrochen. Die allgemeine Stimmung ist von Todeserwartung, zum Teil auch von Todessehnsucht geprägt. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sind gewissermaßen die Donnerschläge, die apokalyptisch die Nachkriegszeit einläuten, die im Buch auch noch vorkommt.
      All das ist indessen nicht bloß Hintergrund, sondern verwoben mit der Handlung. Mishima schafft es, immer wieder Parallelen zwischen dem Kriegsgeschehen und der privaten Geschichte herzustellen. Der Erzähler hat Sonoko im Frühjahr 1945 an ihrem Evakuierungsort besucht. Wann kommt er das nächste Mal? Seine Antwort: „Wenn die Amerikaner nicht in der Nähe der Werft landen, kann ich in ungefähr einem Monat wieder Urlaub bekommen“ – und nimmt dabei die Landung und den eigenen Tod mit Befriedigung innerlich vorweg. Das würde ihn Sonoko gegenüber von jeder Verpflichtung entbinden. Auf der Rückfahrt zur Werft beobachtet er im Zug die kriegsbedingt kärgliche Mahlzeit eines hungrigen jungen Mädchens. Dabei fallen die Schrecken der Zeit wie seiner Erfahrung mit Sonoko in eins: „Irgendwie war mir die Gewohnheit des Essens noch nie zuvor derart lächerlich vorgekommen. Ich rieb mir die Augen und erkannte, dass ich vollständig den Wunsch zum Weiterleben verloren hatte.“ Dementsprechend wird die Nachricht von Kriegsende und Frieden für ihn persönlich zur Schreckensbotschaft. Er hat seinen einzigen Rückhalt im inneren Konflikt verloren, die Gewissheit, bald durch den Krieg zu sterben.
      Es gibt also ein Leben nach dem Krieg. Sonoko ist längst mit einem anderen verheiratet. Doch sie nehmen ihre bei aller Harmlosigkeit tief unglückliche Beziehung noch einmal auf. Es ist dann ein billiges Tanzlokal, ganz geprägt vom Geist der neuen Zeit, in dem die wechselseitige Fremdheit offenkundig wird. Die beiden leben in völlig verschiedenen Welten, die endgültige Trennung ist unvermeidlich. Mishimas frühe Meisterschaft erweist sich hier wie überhaupt darin, indem er radikalen gesellschaftlichen Wandel mit radikalem persönlichem Bruch überblendet.

(Zitiert wurde nach der Übersetzung von Helmut Hilzheimer, erstmals 1964 bei Rowohlt erschienen.) 

 

 

40. Eine bedenkliche Lektüre: Ihara Saikaku

 

Wendet man die scherzhafte Methode vom „Ring des Nibelungen im Lichte des deutschen Strafrechtes“ auf „Der Liebespfad der Samurai“ von Ihara Saikaku an, kommt gewiss auch ein gerüttelt Maß an Strafjahren heraus. Da gibt es vor allem massenhafte Verführung Minderjähriger männlichen Geschlechts – die meisten Liebesobjekte in den dreizehn ausgewählten Erzählungen des Sammelbandes sind noch im besten „Odenwald“-Schulalter. Und dann wahrlich überbordende Gewalt: Mord, Mordversuch, Anstiftung zum Selbstmord, niedrige Beweggründe gratis … Soll man ein solches Buch vorstellen, muss man nicht wie André Gide seinerzeit vorhersehen, wie sehr man sich damit schadet?
      Nun ist Ihara Saikaku (1642 -1693) einer der ganz Großen der japanischen Literaturgeschichte. Er galt schon als Meister des Haiku, bevor er in seinem letzten Lebensabschnitt anfing, ein umfangreiches Prosawerk zu schaffen, das gern mit dem von Boccaccio verglichen wird. „Yonosuke, der dreitausendfache Liebhaber“ und weitere Bücher, in denen die heterosexuelle Liebe durchaus im Vordergrund steht, waren bereits zu seinen Lebzeiten in Japan sehr erfolgreich. Ihara entwickelte seinen persönlichen realistischen Stil, in dem er, oft satirisch, unterschiedliche Aspekte der frühen Tokugawa-Zeit behandelt. Was macht diesen Stil noch heute so anziehend? Es ist gerade die Verbindung aus scharfer Beobachtung und humoristischem Vergleich, etwa wenn er die Gefühlslage zweier alter Männer so zeichnet: „ … so verriegelten sie die Tür und verstummten, niedergeschlagen wie zehn Tage alte Chrysanthemen in der Vase.“
      Die Samurai-Liebesgeschichten hier sind weniger erotisch als vielmehr kulturgeschichtlich interessant. Sie stellen jeweils eine Annäherung dar und stellen ihr Ergebnis dann lakonisch fest, ohne im Mindesten in Details zu schwelgen. Freunde des Pikanten wie des Deftigen werden nicht auf ihre Kosten kommen. Dafür rufen die Beziehungsmuster und ihre Entwicklungen im heutigen westlichen Leser leicht ein Gefühl großer Fremdheit hervor. Wie sehr unterscheidet sich die Gesellschaft jener Zeit von unserer und wie eng ist die Verbindung zwischen dem vorherrschenden Geist der Zeit und dem individuellen Empfinden … Japan war faktisch eine konfuzianisch geprägte, feudalistisch geordnete erbliche Militärdiktatur, unter der sich eine breite bürgerliche Kultur der Wohlhabenheit und des Lebensgenusses entwickeln konnte. Dadurch dass die adlige Samurai-Schicht das Instrument des staatlichen Gewaltmonopols blieb, ohne am ökonomischen Fortschritt wirklich teilzuhaben, entwickelte sich eine Schieflage, die nach zweieinhalb Jahrhunderten mit zum Untergang dieses politischen Systems führte.
      In den Texten des Sammelbandes findet sich recht häufig der Begriff des „herrenlosen Samurai“. Er verkörpert als Individuum den inneren Widerspruch der Tokugawa-Ära: Sie garantierte mit ihrer eisernen Hand jene ruhige Entwicklung, die zunehmend die Finger der Hand selbst verkümmern ließ. Für diese befriedete Basis gab es einfach zu viele Samurai. Der „herrenlose Samurai“ entschädigt sich mit einem Gefühlsleben größter Innigkeit wie Konsequenz. Unbedingte Treue, Ehre, Gewalt, Seppuku, das ist das unheimliche magische Viereck dieser Gefühlswelt. Auf den zehn Seiten, nicht gerade eng bedruckt, von „Sie starben gemeinsam, wie die Kirschblüten fallen“ werden uns zum Beispiel nicht weniger als fünf unnatürliche Todesfälle präsentiert: ein Mord, begangen vom Mörder, nur um der eigenen Ermordung zuvorzukommen – sie wäre aus verletztem Ehrgefühl erfolgt – und viermal Seppuku. Nur eine Minderheit der Texte kommt ohne diesen rituellen Selbstmord per Bauchaufschlitzen aus. In „Einer wurde nass, obwohl er einen Schirm besaß“ findet man an einem Selbstmörder heraus, „dass er sich den Leib nach dem Muster einer Raute mit drei Querbalken aufgeschlitzt hatte“ – das Familienwappen des Freundes, der vor ihm von eigener Hand gestorben. Doppel-Seppukus sind häufig und provozieren ihrerseits nicht selten weitere Suizide. In einer anderen Geschichte lieben sich ein Heranwachsender und der Mörder von dessen Vater und sterben, indem der Jüngere beider Oberkörper mit dem Schwert zusammennagelt. Und sogleich folgt ihnen die Mutter des einen …
      Eher nachvollziehbar für uns sind die Konflikte in jenen Erzählungen, die sich nicht mit der Knaben-, sondern der Männerliebe beschäftigen. In der Geschichte vom alten Feuersteinverkäufer hat Edo, das heutige Tokio, bereits eine Art Obdachlosenszene. Ein populärer Schauspieler, der die Prostitution im Nebenberuf ausübt, entdeckt unter den Deklassierten dort eine frühe große Liebe. Er verbringt noch einmal eine Nacht mit dem Heruntergekommenen – aber der entzieht sich am nächsten Morgen und denkt: „Welch ein unsinniger Besuch! Ihm geht es ja allein um das eigene Vergnügen.“ Literarisch besonders modern mutet an diesem Text der Umstand an, dass beide, der vermutlich syphilitische Schauspieler wie der weltflüchtige Penner, ihre Erfahrungen, wie Ihara selbst, literarisch verarbeitet haben.
      Die letzte Erzählung („Zwei Bäume, die noch im hohen Alter blühten“) könnte eine Diskussion darüber anregen, inwiefern sich bereits im Japan des 17. Jahrhunderts eine homosexuelle Identität herausbilden konnte, unabhängig von der Entwicklung im Westen, dessen alleinige Errungenschaft (oder „Konstrukt“) jene Identität angeblich ja sein soll.

(Zitiert wurde nach der Übersetzung von Siegfried Schaarschmidt.)

 

 

41. Über Andrew Holleran: Nächte auf Aruba

 

Marcel Proust beginnt seinen großen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" mit der Darstellung von Schlafgewohnheiten und deren Wandel und Störungen: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen …" Andrew Holleran nimmt das Thema zu Beginn seiner Einleitung so auf: "Während meiner ersten Zeit in New York versuchte ich möglichst, die Sonntage im Winter durchzuschlafen …" Was zuerst wie ein zufälliger Anklang erscheint, stellt sich bei näherer Lektüre als wohl bewusstes Anknüpfen heraus. Schon auf der ersten Seite werden uns Gegenstände präsentiert, die ein "früherer Liebhaber" in der Wohnung zurückgelassen hat, wie eine "Albertine disparue". Nur eine Seite weiter taucht bereits das Proustsche Motiv der Zeitvergeudung auf: "... das Zimmer …, in dem … ich eine weitere Nacht meiner Jugend verschwendete …" Wenig später folgt die Erinnerung an den Gute-Nacht-Segen der Mutter auf Aruba, analog einem ähnlichen Ritual in der "Recherche". An Proust erinnern bald auch der oft komplizierte Satzbau und die schweifende Struktur der Erzählweise, regiert vom Bewusstseinsstrom, der hier wie da rasch wechselnde Schauplätze aufsucht. Wir finden bei Hollerans Ich-Erzähler wie bei jenem von Proust die gleichen Ansätze zur Persönlichkeitsspaltung, mitsamt selbstkritischer Analyse. Am Ende dieser Ouvertüre erfahren wir die Absicht hinter dem Werk: die Problematik der Gegenwart verstehen, sie vielleicht mildern, indem ihr Bezug zur Vergangenheit aufgedeckt wird. Da ist wieder einer auf der Suche nach der verlorenen Zeit …
      In Hollerans Roman wird Marcel Proust genau zweimal namentlich erwähnt, nicht vom Erzähler selbst, sondern nacheinander von zwei Freunden von ihm, die literarisch gebildet sind. Mr. Friel, Ex-College-Professor, sagt: "Früher habe ich in der U-Bahn Proust gelesen …" Und "die Muschel", Anführer einer Clique schwuler GIs in Heidelberg, weist Stone von den "Schrecklichen Zwillingen" so zurecht: "Im EM-Club diskutieren wir ja auch nicht gerade jeden Abend Proust, oder, Trinchen?"
      In Kapitel 1 – auf der karibischen Insel Aruba wie in einem neuen Combray spielend - wird die stilistische Verwandtschaft noch deutlicher: Detailreichtum und –genauigkeit à la Proust, Fülle an Personen, Blick für die Eigenart der Landschaft wie des sozialen Gefüges, charakteristische Szenen aus einer Kinderwelt (wie die Episode mit der Wasserwanze). Ordnung und Chaos sind die großen Gegensätze und katholische Religiosität ein Orientierungsrahmen. Mit dem damals noch religiös überspannten Knaben Wheatworth taucht der Erste der späteren Gefährten auf. Dann wird der Erzähler zur Ausbildung nach Neuengland geschickt, und die Eltern siedeln sich als Rentner in der Kleinstadt Jasper, Florida, an. Wenn er sie dort besucht, ist von einem vielversprechenden jungen Mann die Rede, wie von einem neuen Saint Loup: Vittorio. Der Erzähler vermutet inzwischen, er selbst sei schwul.
      Der Vietnamkrieg dauert noch an, als der Held in Kapitel 2 seinen Wehrdienst in Heidelberg ableisten muss (gewissermaßen ein modernes Doncières). Dort gehören Vittorio und Wheatworth schon zum Gefolge der "Muschel", ebenso die "Schrecklichen Zwillinge". Die Clique erinnert von fern an den Kreis der Verdurins bei Proust, doch ist die bizarre "Muschel" weniger eine Madame Verdurin als ein Baron Charlus, und aus dem Pianisten Morel ist ein bisexueller Koch in den Patton Barracks geworden. Es gibt hier wie dort einen Skandal, und bei seiner Rückkehr in die Staaten ist der Held nicht mehr jungfräulich, hat sein Coming-out nun hinter sich.
      Die Kapitel 3 und 4 entsprechen so gesehen "Sodom und Gomorra" in der "Recherche". Der Zusammenhalt der Clique lockert sich, jeder macht – post Stonewall – seine eigenen Erfahrungen im erotisch aufgeheizten New York der siebziger Jahre, in den Bars, Diskotheken, Saunen, Parks und auf den Straßen auch. Den wesentlich älteren Mr. Friel lernen sie kennen, als sie eine Zeitlang zu einer Drückerkolonne für Enzyklopädien gehören. Die meisten von ihnen leben dann lange im damals immer mehr verfallenden East Village. Die Gegenwelt dazu ist die ihrer bürgerlichen Eltern außerhalb von Manhattan, oft in weit entfernten Bundesstaaten. Eltern zu Besuch in der Stadt, Eltern überhaupt – Dissonanzen, nicht auflösbar. Vittorio sagt: "Du kannst die zwei Welten nicht vereinen" – und der Erzähler registriert schon die "Banalität der Freundespaare". Das Phänomen Zeit gerät allmählich ins Blickfeld, zuerst nur negativ formuliert: "In der Sauna gab es kein Wetter, keine Geschichte, keine Zeit …" Das erscheint als Vorteil, denn von einem beliebigen Liebhaber sagt der Erzähler, er sei "umfangen von elastischen Häuten, die sich unendlich über Zeit und Raum ausdehnen und ihm nur eine kurze Frist gewähren."
      In den beiden folgenden Kapiteln wird der Dualismus schwules New York – provinzielle Herkunft immer weiter vertieft. Der Erzähler reist regelmäßig nach Jasper, meist für länger. Der Proust-Kenner denkt an die Reisen von Paris nach Balbec. Eine neunmonatige Zeit in Florida würde dann dem langen Sanatoriumsaufenthalt in der "Recherche" entsprechen. Der Konflikt wird nie offen ausgetragen. Von seiner Mutter einmal gefragt, ob er homosexuell sei, verneint der Held entschieden und imitiert einen Wutanfall seines Vaters. Also immer wieder Ausweichmanöver, Rollenwechsel, Rückverwandlungen. Diese Passagen weisen die größte Distanz zu Prousts Roman auf, hier sind wir nur noch im späten 20. Jahrhundert, ohne doppelten literarischen Boden. Näher am Vorbild ist dann wieder die gesellschaftliche Ernüchterung des Erzählers in New York. Er ist so desillusioniert vom schwulen New York wie sein Vorgänger vom Faubourg Saint Germain. Und nun eingeschoben die einzige intensive Liebesbeziehung des Erzählers, als Ergebnis ein nicht zu verwindender Verlust. Albertine heißt jetzt Sal, und dass er Arbeiter auf einem Flughafen ist, mag eine weitere Anspielung sein. Erinnern wir uns, dass Albertines Hauptvorbild Alfredo Agostinelli war, dessen Leidenschaft für die Aviatik ihn das Leben kostete. Deutlich wird Prousts Einfluss auf Holleran z.B. hier: "Als ob jede Erfahrung verzögerte Reaktionen nach sich zieht, fing ich an, den Winter, den ich mit ihm verbracht hatte, in jedem folgenden Jahr noch einmal zu erleben, in Erinnerungen, die durch ganz unbedeutende Dinge hervorgerufen wurden: das Rauschen von Reifen auf dem Asphalt, der Geruch von Schnee in der Luft, das Geräusch von Ästen die aneinander reiben."
      Die Konflikte im Rentnerparadies bleiben also latent, und Paul, der Ich-Erzähler – auch sein Name wird nur einmal genannt –, empfindet daheim Schuldgefühle, die sich mit zunehmender Hinfälligkeit seiner Eltern verflüchtigen: Harmonie einer Koexistenz mit Greisen. (Die Eltern erinnern jetzt an den Herzog und die Herzogin von Guermantes im letzten Teil der "Recherche".) Vittorio dagegen fordert am Ende des 6. Kapitels von Paul die Rückkehr ins "Leben", denn - "die Zeit vergeht …" Genau das stellt Paul dann auch im folgenden letzten Kapitel in New York fest. Die achtziger Jahre haben begonnen, es hat ein radikaler Wechsel der Moden stattgefunden, Bärte jeder Art sind jetzt out. Der Typ Mann, den er mochte, wird nicht mehr geschätzt: "Clones Go Home" liest er auf Plakaten. Wenn Paul jetzt durch Manhattan geht, empfindet er die gleiche Melancholie wie der Erzähler am Ende von "In Swanns Welt": "… und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre." Das Phänomen Zeit wird nun beherrschend. Die Parallelen zwischen Holleran und Proust werden auf diesen letzten Seiten überdeutlich. Die Last des Erinnerns ist sehr fühlbar geworden. Es sind "die Herzen der Menschen auf unserem Planeten völlig von ihren Erinnerungen und Sehnsüchten verhüllt" – es droht "Unwissenheit". Paul weiß, dass ihn die Erinnerungen an Aruba nie verlassen werden, aber er will jetzt in der Mitte seiner Jahre "mein eigenes Leben beginnen – das einer eigenständigen Person." An die Stelle von Prousts Projekt einer literarischen Großtat tritt bei Holleran also die nüchterne Lebenspraxis, tritt Reife, an sich kein übler Schluss.
      Dieses letzte Kapitel mag einem dennoch etwas kurzatmig vorkommen im Vergleich mit den vorangegangenen und erst recht mit der "Recherche". Das kann zwei Gründe haben: Zum einen war sein Verfasser als Enddreißiger noch nicht in wirklich reifem Alter, während Proust, als er letzte Hand anlegte, mit Anfang fünfzig schon den Tod vor sich sah. Zum andern fällt die Niederschrift mit dem Zusammenbruch der sehr freizügigen und promisken Welt der siebziger Jahre zusammen. Am Ende des Romans sterben bereits viele an AIDS, ohne dass der Name der Krankheit genannt wird, er wurde erst im Juli 1982 kreiert. Als Holleran sein Buch 1983 veröffentlichte, war die Entwicklung der Epidemie nicht abzuschätzen, also auch nicht die Zukunft jener Subkultur, der er einen Spiegel vorhielt.
      Ist der Roman nun epigonal? Eindeutig nein. Trotz aller Bezüge und versteckter Verweise ist er ein originelles Werk über Menschen seiner Zeit und ihre Geschichte. Man kann es mit Lust und Gewinn lesen, ohne eine Zeile von Proust zu kennen. Proust hat sein Werk mit einem optischen Gerät verglichen, das er dem Leser zur Verfügung stelle, damit der seine Existenz besser verstehe – Holleran ist genau das hervorragend gelungen. Er hat einen wichtigen Beitrag zur Conditio humana homosexualis geliefert.

(Zitiert wurde nach den Übersetzungen von Gerd-Christian von Maltzahn – Holleran - bzw. Eva Rechel-Mertens - Proust.)

 

 

42. Über Andrew Holleran: Tänzer der Nacht

 

„Dancer from the Dance“, wie der Originaltitel lautet, erschien 1978 und war einer der ersten drei großen Romane über die US-amerikanische Schwulenszene, die sich nach Stonewall stark entwickelt hatte. Im New York der siebziger Jahre war sie nicht nur ein quantitativer Faktor, sie trat auch ins öffentliche Bewusstsein und prägte als Community mit eigenem Lebensstil mehrere Stadtviertel wie auch einige Badeorte am Atlantik. Jene Jahre waren geprägt von Hedonismus und exzessiver Selbstverwirklichung, durchaus verständlich nach generationenlanger Unterdrückung. Holleran wurde mit seinem Erstling, der ihn berühmt machte, Chronist wie auch schon Kritiker jener bunten Welt.
      Der Erfolg des Buches ist leicht zu verstehen. Die Eingeweihten fanden erstmals ihre Lebenswirklichkeit literarisch gestaltet, und zwar in aller Breite, und interessierte Außenstehende konnten tiefe Einblicke in eine für sie exotische Welt erhalten. Ohne Zweifel hat das Werk seine großen Qualitäten. Es ist farbig, reich an Gestalten wie an tieferen Einsichten. Nur als kleine Kostprobe: „In einem Land, in dem man nur das ist, was man macht (einem Land von Arbeitern) oder das Geld, das man besitzt, hatte Malone genauso wie wir aufgehört, überhaupt irgendeine Identität zu haben. Er war jetzt einfach ein Lächeln, eine Kollektion guter Manieren, eine wehmütige Verheißung, ebenso flüchtig wie die Brise, die ihm gerade die Haare aus der Stirn blies …“ (S. 205)
      Der Roman ist die Geschichte von Malone und Sutherland, zwei platonischen Freunden, der eine ein attraktiver, gescheiter Ex-Anwalt, den seine hochromantische Jagd nach Liebe nicht nur die bürgerliche Existenz kostet, sondern schließlich desillusioniert wie ausgehöhlt zurücklässt – der andere ein hochkultivierter Zyniker - Drogenhändler und Dragqueen -, ganz dem Oberflächenreiz hingegeben, reif für den Tod. Mit ihnen erleben wir zehn Jahre in Manhattan und auf Fire Island und die Subkultur jener Zeit. Holleran gelingen großartige Passagen, blendend formuliert und von hoher analytischer Qualität. Dazu gehört etwa jener Teil des zweiten Kapitels, in dem Sutherland mit dem Millionenerben John Schaeffer, den er unter seine Fittiche nimmt, in einer populären Disco auf dem Sofa sitzt und den Neuling in die Szene einführt. Das ist eine Situation ganz à la Proust, dennoch originell und kraftvoll. Viele ähnlich überzeugende Abschnitte folgen, seitenlang oder nur wenige Sätze umfassend. Dennoch: Als Ganzes erscheint der Roman nicht wirklich geglückt …
      Da ist zunächst die formale Seite. Die Erzählperspektiven gehen ein wenig durcheinander oder bleiben schwache Vorwände. Der Hauptteil des Romans ist eingekleidet vom Briefwechsel zweier Freunde, der eine hat sich aufs Land zurückgezogen, der andere berichtet ihm vom Fortgang des Geschehens in New York und schickt ihm einen Roman, den er über jene Welt geschrieben hat. Ihre Korrespondenz ähnelt, besonders zum Ende hin, mehr und mehr einem Selbstgespräch des Autors. Die Briefpartner erscheinen nun miteinander und mit dem Ich-Erzähler des Romans innerlich fast identisch. Letzterer ist eine in die Romanhandlung schwer einzuordnende, blasse Nebenfigur, die zufällig immer dann als Augen- und Ohrenzeuge zur Stelle ist, wenn Malone und Sutherland Bemerkenswertes tun, erleben oder sagen. Gleichzeitig ist er noch Mitglied eines anonymen Chores von weiteren Gruppenmitgliedern. Über lange Strecken bleibt der Ich-Erzähler ganz aus dem Spiel, weiß aber seltsamerweise über die Helden wie ihre fernste Vergangenheit stets gut Bescheid.
      Dem Leser fallen im Verlauf des Romans sachliche Widersprüche auf. So ist John Schaeffer später „der hübsche junge Mann“ (S. 158) oder „das Idealbild eines gutaussehenden Amerikaners“ (S. 180), während er davor als „dünner bleicher Junge mit Hornbrille“ vorgestellt wurde (S. 41). Auch mit der zeitlichen Abfolge der Ereignisse hapert es gelegentlich. So lebt Malone 1972 vor seinem Coming-out in Washington (S. 60) – andererseits soll er in einer schon 1971 in New York eröffneten Schwulendisco von Anfang an mit Sutherland dabei gewesen sein (S. 102, 103).
      Sowohl Malone wie auch Sutherland sind als Figuren nicht wirklich glaubwürdig. Bei Malone vermisst man eine insgesamt nachvollziehbare Entwicklung. Während sein inneres Coming-out überzeugend dargestellt ist, erscheint der Prozess seiner späteren Desillusionierung wie im Zeitraffer, abwechselnd in rasender Geschwindigkeit oder komplett angehalten. Sutherland dagegen ist das Endprodukt einer so tollen Biographie, wie sie schwerlich ein einzelner Sterblicher in sein Erdendasein pressen kann. Nun hat der Roman den Anspruch, vor allem Satire zu sein, und das ist er wohl auch, aber zu oft unterbrochen von psychologischem Realismus oder ausgesprochen realistischen Milieuschilderungen. Holleran weiß auch das Stadtbild oder das Wetter oder Küstenimpressionen gut zu vermitteln – und verwässert damit die Satire. So haben wir es mit einem Hohlspiegel zu tun, der partiell die Wirklichkeit irritierend exakt wiedergibt. Auf der anderen Seite ist dann wieder zu viel komponierte Koinzidenz in der Handlung: Sutherland stirbt den Drogentod, gleichzeitig verschwindet Malone in einer ungeheuren Weite des Raumes, und dann brennt es in derselben Nacht auch noch in der Everard-Sauna. Diese Katastrophe (mit neun Toten) hat es tatsächlich am 25. Mai 1977 gegeben. Holleran verlegt sie in den Spätsommer und gibt die Opferzahl mit zwölf an. Wozu?
      Gelegentlich mischen sich weitere Zweifel in das Missvergnügen des Lesers. Schimmert nicht hier und da schwuler Selbsthass auf? Da gibt es auf Seite 183 eine Parkszene, die den Ich-Erzähler zu einer Analyse voller Verachtung, also Selbstverachtung, verführt. Oder man fragt sich, welche Rolle die Reste katholischer Sexualmoral spielen, etwa wenn der Begriff „unfruchtbar“ ins Spiel kommt (S. 226). Dann das konventionelle Verständnis der Geschlechterrollen und ihre Übertragung auf die schwule Welt – wie antiquiert das schon damals war … (Umgekehrt spielt Gay Liberation eine allzu marginale Rolle.) Gern würde man sich mit der Versicherung beruhigen, jene Stellen gäben allein die Position einer literarischen Figur wieder, doch spricht nicht der Autor gerade hier durch sie?
      Der Roman als Ganzes leidet unter Grundwidersprüchen, die zu ungeschickt dargestellt sind, als dass sie als dialektisches Moment ästhetisch befriedigend wirken könnten. Der korrespondierende Romanschreiber will so ursprünglich nur herausgehobene tragische Einzelschicksale darstellen – tatsächlich geraten ihm die anonymen Massen jener Zeit häufig ins Blickfeld, und sein Briefpartner lobt dies später auch ausdrücklich. Ähnlich widerspruchsvoll ist auch die Schlussmoral, die jener „Paul“ auf den letzten zwei Seiten zu ziehen versucht: sich von der Subkultur ab- und real tätigem Leben zuwenden – oder doch jenes Milieu als Ausdruck reiner Vitalität bewusst miterleben und –gestalten? Die Frage bleibt offen wie die Wirkung des Romans auf einen heute insgesamt seltsam ambivalent.

(Zitiert wurde nach der Übersetzung von Gerd-Christian von Maltzahn / Stefan Troßbach – Deutsche Taschenbuchausgabe von 1985.)

 

 

43. Über Jan Roß: Was bleibt von uns?

 

Der ZEIT-Redakteur Roß hat „Was bleibt von uns – Das Ende der westlichen Weltherrschaft“ bereits 2008 als Buch bei Rowohlt herausgebracht. Da es ihm um die großen Entwicklungslinien ging, ist es nach wie vor ein aktuelles Buch und wird es noch länger bleiben. Liest man es jetzt zum zweiten Mal, kann man es einer Prüfung unterziehen: Welche Aussagen haben sich in den Jahren seitdem bestätigt, welche sind fragwürdig geworden? Zwei Beispiele: Die zunehmende Distanz zu Russland hat er kommen sehen, dagegen die immer bedeutsamere Rolle des Hinduismus für die indische Politik nicht einmal geahnt.
      Das erste von vier Kapiteln bietet den in diesem Genre heute oft gewählten Einstieg in ein Thema, indem Schlaglichter auf die aktuelle Situation geworfen werden, aufgelockert durch Verweise auf länger Zurückliegendes. So wird das Terrain abgesteckt, der Leser hoffentlich neugierig gemacht. Was aber, wenn er es schon ist? Dann könnte er diese gut vierzig Seiten überspringen, ohne viel einzubüßen.
      Im folgenden Kapitel wird breit und mit profundem Wissen die jeweilige welthistorische Situation jener Gruppe von Ländern seit der Antike dargestellt, die wir heute kurz als den Westen bezeichnen. Dieser recht spannend zu lesende Abriss von Weltgeschichte überspannt die Jahrtausende von den Thermopylen bis zu Salman Rushdie. Er verweilt länger bei den wichtigsten Nachbarn, der orthodoxen wie der islamischen Welt und dem alten China sowie dem Verhältnis des Westens zu diesen Konkurrenten. Es war ein Prozess eines erst langsamen, teils von Zufällen bestimmten, dann immer gesetzmäßiger und schneller verlaufenden Aufstiegs, der im 19. Jahrhundert zur absoluten Dominanz führte, die auch noch im folgenden anhielt. Allerdings zeichnete sich schon früh, zuerst im petrinischen Russland, später in Japan, ihr allmähliches Ende mit der Übernahme westliche Technologie durch große nichtwestliche Nationen ab.
      Roß stellt, wenn auch meist nur kurz, die wichtigsten inneren wie äußeren Voraussetzungen dieses Aufstiegs dar. Er spricht von der „nimmermüden Innovations- und Anwendungsmaschine“, weist auf „Machtteilung und Machtbegrenzung“ als „die Grundformel Europas“ im Politischen hin. Und er streift bereits die hässliche Rückseite: „Eine harte und kalte Seite, der Eiseshauch der Rationalität, die tödliche Effizienz, gehört zur Erfolgsgeschichte des Westens ebenfalls hinzu, und auch dies schon seit der Antike.“ Toynbee wird zitiert: „Wie verschieden die nichtwestlichen Völker der Welt auch voneinander sein mögen in Rasse, Sprache, Kultur und Religion – wenn irgendein westlicher Fragesteller sich nach ihrer Meinung über den Westen erkundigt, wird er von ihnen allen dieselbe Antwort hören: von Russen, Muslimen, Hindus, Chinesen, Japanern und allen übrigen. Der Westen, werden sie ihm sagen, ist der Erz-Aggressor der neueren Zeit gewesen, und jeder wird seine eigene Geschichte westlicher Aggression als Anklage vorzubringen haben. Die Russen werden daran erinnern, dass westliche Armeen 1941, 1915, 1812, 1709 und 1610 in ihr Land einmarschiert sind …“
      Das dritte Kapitel ist das zentrale, gewichtigste. Es stellt die Jahre nach 1989 dar, den Triumph des Westens, den rasanten Aufstieg neuer Mitspieler, den einsetzenden westlichen Machtverfall. Die meisten Leser von heute dürften diese Zeitspanne miterlebt haben. Welchen Nutzen können sie dann noch aus der Darstellung ziehen? Sie ist eben mehr, zeigt die Theorien hinter der Zeitgeschichte auf, setzt sich mit Fukuyama und Huntington auseinander und analysiert die Bruchstellen zwischen Theorie und Praxis. Den Leser wird vielleicht überraschen, wie Roß die innere Verwandtschaft zwischen Neocons und bewaffnetem Humanismus linksliberaler Provenienz darstellt. Im Fall von Huntington, der so oft mit Absicht missverstanden wurde, stellt er zutreffend richtig, dass jener Autor keineswegs den weltweiten Kampf der Kulturen befördern wollte, sondern das war: „der Programmatiker einer respektvollen, gleichberechtigten Koexistenz der unabänderlich verschiedenen Kulturkreise, ein weltpolitischer und ideologischer Pluralist“.
      Nach so viel kluger Analyse enttäuscht das abschließende Kapitel, das Mut machen will für die Zukunft. Roß, der die inneren Widersprüche der herrschenden Politik wie Lehre des letzten Vierteljahrhunderts so präzise herausgearbeitet hat, fällt selbst zurück in deren Irrtümer. Er teilt ihre Illusionen und nimmt gelegentlich altbekannte kulturchauvinistische Positionen ein. Auch tröstet er sich mit Banalitäten wie dieser: „Am Ende finden die Leute schon heraus, was für sie gut ist.“ Oder er gründet seine Zuversicht auf ein Amerikabild, das nach den jüngsten Kriegen schlechthin unverständlich ist: „Darum bleibt Amerika so wichtig – nicht wegen seiner Macht, sondern wegen seines am Ende unheilbaren, unzerstörbaren Optimismus.“ Den hatten Bush und Cheney auch. Roß listet uns zur Beruhigung akribisch die Sollbruchstellen der konkurrierenden Gesellschaften auf, als ob sie uns nicht vielmehr besorgen müssten. Sein Buch weiß noch nichts von Finanzkrisen und gescheitertem arabischem Frühling – es wäre sonst wohl weniger frohgemut ausgeklungen.
      Sein Ideal von der Zukunft formuliert er so: „Die globale Bestimmung des Westens ist nicht die Herrschaft, sondern die humanisierende Durchdringung und Transformation – aufgelöst wie ein Stück Zucker im Wasser.“ Ein schiefes und in sich widersprüchliches Bild, mal aktiv durchdringen und transformieren - wie gehabt, die zu Transformierenden werden sich bedanken – mal passiv wie ein Zuckerstück sein, dem von dritter Hand etwas geschieht und dessen eigene Essenz im Verlauf verwässert wird? Und dann versucht er doch noch, Huntington unter die entfernteren Nachkommen von Carl Schmitt, dem großen Anreger der Nazi-Expansion, einzuordnen. Da regt sich Unwillen in einem und man beschließt, Huntingtons großes Buch bald wieder einmal aus dem Regal zu nehmen.

 

 

44. Über Gustav Meyrink: Des deutschen Spießers Wunderhorn

 

Vor Jahrzehnten besaß ich Meyrinks Gesammelte Werke. „Der Golem“, sein erfolgreichster Roman, war zwangsläufig dabei. Ich nahm das Buch mit respektvollem Befremden zur Kenntnis. Mit den folgenden Romanen konnte ich noch weniger anfangen. „Das grüne Gesicht“, „Walpurgisnacht“, „Der weiße Dominikaner“, „Der Engel vom westlichen Fenster“ wurden als esoterisch-unbrauchbarer Quark beim nächsten Umzug kurzerhand entsorgt, „Der Golem“ mit leichtem Bedauern auch. Nur „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ behielt ich …

… und las es dieser Tage mit großem Vergnügen noch einmal. Das erstmals 1913 erschienene Buch ist eine Sammlung von Texten, die Gustav Meyrink seit 1901 hauptsächlich für den Münchner „Simplicissimus“ geschrieben hat. „Novellen“ nennt er sie, doch erwarte man nichts à la Conrad Ferdinand Meyer. Meyrinks Texte sind eher relativ kurze Kurzgeschichten, sind Grotesken, Tierfabeln, Parodien, Reiseeindrücke und vor allem Satiren. Der Mann war ein gottbegnadeter Satiriker. Seine witzigen Einfälle wie scharfen Angriffe haben auch nach gut hundert Jahren nichts von ihrem fulminant Zündendem verloren. Dabei existiert die Gesellschaft, gegen die sie sich richteten, so längst nicht mehr. Seine Lieblingsfeinde waren die Militärs der Habsburger wie anderer Monarchien, weltfremd-verbohrte Wissenschaftler, grundlos eingebildete Adlige, flach denkende Bürger – eben die dankbaren Hassobjekte, an denen sich das deutsche Satire-Magazin mit großem Erfolg damals rieb.

Von den 53 Geschichten empfehle ich besonders, falls man zunächst nur Kostproben nehmen will: Die Erstürmung von Serajewo, Schöpsoglobin, Tschitrakarna – das vornehme Kamel, Hilligenlei, Der heiße Soldat, Prag, Die Geschichte vom Löwen Alois.

Zu Meyrinks Eigentümlichkeiten gehört, dass er Gesellschaftskritik mit phantastischen Einfällen effektvoll verbindet. Von Anfang an gibt es bei ihm ein starkes Interesse an Übersinnlichem, das er gern für groteske, frappierende Schlüsse seiner Storys einsetzt. Wenn er den damaligen Bestsellerautor Gustav Frenssen parodiert, macht er sich auch über die entmythologisierende Tendenz des Ex-Pfarrers Frenssen lustig. Im weiteren Verlauf von Meyrinks Leben wie Werk gewinnt das Interesse am Okkulten immer mehr das Übergewicht. Damit erreicht er einen neuen Kreis von Lesern, Esoteriker, die ernsthaft bei der Sache sind – und enttäuscht seine Anhänger von vor 1914.

Tucholsky war einer von diesen. Noch sein „Riviera“-Text von 1928 lässt den Einfluss von  Meyrinks satirischer Abrechnung mit „Montreux“ (und dem Genfer See wie der Schweiz überhaupt) erkennen. Aber schon 1917 rezensiert Tucholsky in der „Schaubühne“ Meyrinks „Das grüne Gesicht“ höchst ungnädig. Tucholsky wusste die antimaterialistische Stoßrichtung wie die Textqualität des früheren Meyrink zu schätzen, das hohe Niveau von Sprache und Stil. Jetzt wirft er ihm vor, das „Idiom der Masse“ zu benutzen. Seine Romane seien „ein Abstieg, weil die Erkenntnis des Weisen die Kraft des Schaffenden weit übersteigt.“ Das war wohl so. Nicht dass Tucholsky die ganze Richtung nicht gepasst hätte - Meyrink entwickelte sich zu einem E.T.A Hoffmann des Industriezeitalters, das war es, was Männer mit fein ausgeprägtem Empfinden für literarische Qualität verdross. Tucholskys nunmehrige Enttäuschung ist der Gradmesser für den Wert von „Des deutschen Spießers Wunderhorn“.

Das billig Spekulative der späteren Meyrink-Prosa muss auch uns nicht daran hindern, der früheren ihren hohen Rang zuzuerkennen. Darin hat Meyrink Prototypen der Dummheit und Gewöhnlichkeit geschaffen, literarisch fast so unsterblich wie die Gestalten Molières. 

 

 

45. Tomasi di Lampedusas Erzählungen

 

Die posthume Ausgabe dieser vier Texte war eine Nachlese. Nach dem unerwartet raschen und großen Erfolg von „Il Gattopardo“ wurden die Schubladen noch einmal durchgesehen und sie enthielten nur Weniges. Tomasi di Lampedusas erzählerisches Werk ist insgesamt sehr schmal. Der 1896 geborene Sizilianer schrieb seinen einzigen und nur mittellangen Roman erst 1954 und erlebte dessen Triumph nicht mehr. Er starb 1957, bald nach einer definitiven Verlagsabsage. Erst Giorgio Bassani erreichte im Jahr darauf doch eine Veröffentlichung bei Feltrinelli. Im selben Verlag kam 1961 der Erzählband heraus. Bassanis Nachwort zufolge stammen die vier Texte aus den beiden letzten Lebensjahren des Autors.

In der Titelgeschichte „Die Sirene“ sehen wir Tomasi di Lampedusa stilistisch durchaus auf der Höhe von „Il Gattopardo“. Hauptfigur ist ein alter Gräzist, beruflich erfolgreich gewesen, doch sein Privatleben nur von Verzicht bestimmt. Seine Abstinenz, insbesondere im Erotischen, seine Menschenferne, seine Geringschätzung für seine Mitwelt, all das wirkt wie eine Interpretation der lebenslang isolierten Stellung des Verfassers selbst. Hier wird sie auf ein „Wunder“ zurückgeführt – dem jungen Gelehrten hatte sich seinerzeit, aus den Meeresfluten aufgestiegen, eine Sirene zugesellt. Die zwanzig Tage mit ihr hatten ihn unempfänglich für menschliche Reize oder Bindungen gemacht. Die Erzählung funktioniert, so blendend niedergeschrieben sie auch ist, nur sehr bedingt. Das Fabelwesen wird vom alten Gräzisten rückblickend so scharfsinnig beobachtet, so nüchtern detailgetreu vorgestellt wie dieser selbst seinerseits vom Ich-Erzähler, einem viel jüngeren Turiner Journalisten. Das „Wunder“ hat so kaum etwas Mirakulöses, es erweist sich als eine für die Mitte des 20. Jahrhunderts typische, bloß literarische Spielfigur.

„Aufstieg eines Pächters“ stellt ohne jedes Wunder eine kleine exzellente soziologisch-psychologische Studie aus dem Motivumkreis des „Gattopardo“ dar – nur dass der Stoff etwa vierzig Jahre nach dem Risorgimento angesiedelt ist. Dennoch bleibt man am Schluss etwas unbefriedigt zurück und fragt sich, worauf das Werk erzähltechnisch abzielt. Bassani klärt einen im Nachwort darüber auf, dass der Text in den Zusammenhang eines rudimentären zweiten Romans gehört.

Makellos präsentiert sich „Freude und moralisches Gesetz“, eine kurze Novelle im klassischen Stil aus dem Alltagsleben der kleinen Leute im Nachkriegs-Italien. Ein subalterner Angestellter fährt, wohl in Palermo, im überfüllten Bus heim, schwer beladen mit einer Extragratifikation in Gestalt eines monströsen Panettone. Die lakonische, leise ironische Weihnachtsgeschichte hat kein gutes Ende, natürlich nicht. „Freude und moralisches Gesetz“ hätte sich aus heutiger Sicht vielleicht eher als „Die Sirene“ zur Titelgeschichte des kleinen Sammelbandes geeignet.

„Die Stätten meiner frühen Kindheit“ – das ist der bei weitem längste Text hier. Er war kaum zur Veröffentlichung gedacht, man merkt ihm den privaten Charakter an. Es gibt viele längere vorzügliche Passagen, geistvoll geschrieben, oft tiefere Einblicke in eine versunkene Zeit verschaffend. Die Bühne hier, das sind inzwischen zerstörte Adelspaläste, eine Welt für sich, um die hier autobiographisch getrauert wird, durchaus auf meist hohem literarischem Niveau. Gelegentlich gerät die Darstellung allerdings zur bloßen Aufzählung, über die man gern rasch hinwegliest.

Insgesamt bietet der kleine Band vor allem Ergänzendes zum „Gattopardo“, kaum grundlegend Neues und keinesfalls etwas ihn Überbietendes.

 

 

46. Harry Graf Kessler - recht einsam ohne Dungern

 

Harry Graf Kessler (1868 – 1937) war einer der größten Tagebuchschreiber deutscher Sprache. Von 1880 bis ins Todesjahr hat er fast täglich für sich notiert, was er getan und gedacht hat und wem er begegnet ist. So kamen im Lauf von fast sechs Jahrzehnten enorme Quantitäten zusammen, an beschriebenem Papier wie an Gestalten und Erinnerungen. Kessler brachte für sein Leben beste Voraussetzungen mit. Er war von Haus aus reich, er war gutaussehend, charmant, polyglott, hochintelligent und neugierig. Sowohl im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik war er hervorragend vernetzt mit den Spitzen der Gesellschaft. Darüber hinaus war er in Paris und London fast so zu Hause wie in Berlin. Auf dieser Grundlage schuf er das Tagebuchwerk als Spiegel europäischer Kultur und Gesellschaft seiner Zeit.

Zweierlei ist dabei bemerkenswert: Das Tagebuch war nicht als Hauptwerk geplant, es sollte begleitende Dokumentation seiner Tätigkeit und Basis für andere literarische Werke sein. Für die Nachwelt springt das Missverhältnis ins Auge zwischen meist wenig erfolgreicher Aktivität sowie der geringen Zahl eigener Bücher und Aufsätze einerseits und diesem gigantischen Diarium andererseits, das noch nach Generationen so viel Interesse auf sich zieht. Zum anderen: Kessler selbst verschwindet als Person in seinen Aufzeichnungen weitgehend hinter den Stoffmassen, die er auftürmt. Es ist ein viktorianisches Tagebuch insoweit als es seine persönlichen Gefühle permanent und meist mit Erfolg zu eliminieren versucht. Wie war Kessler als Mensch mit individuellen Regungen? Was hat bewirkt, dass er beim Sammeln stehenblieb und nicht zum Gestalten gelangte?

Ein wenig Aufklärung findet, wer seine Aufmerksamkeit auf die Leerstellen richtet, auf das offenkundig Ungesagte, das nur widerwillig Angedeutete und das scheinbar Objektivierte. In dieser Hinsicht ist Band 2 der Cottaschen Ausgabe des Tagebuches, die Zeit von Ende 1891 – März 1897 umfassend, recht ergiebig. Der junge Kessler war noch formbar, die Schranke der Selbstzensur z.T. noch durchlässig. Zu Beginn erleben wir ihn auf der Schiffspassage von Le Havre nach New York. Am 29.12.1891 heißt es: „Abends sitzt man im Salon und versucht sich und anderen einzureden, man mache den Damen die Cour. Im Ganzen ein langweiliges u. wenn nicht die unerschöpfliche Schönheit der See wäre, ein unausstehliches Leben.“ Am 1.1.1892 erwähnt er „eine kleine Komödie, in der ich die Rolle des Joseph und eine alte, abgedankte Cocotte die Rolle von Potiphars Frau spielt.“  Am 3.1. seufzt er: „Die Verfolgungen meiner Frau in Rot dauern fort …“ Erotik als kleiner Störfaktor am Rande, das wiederholt sich in den USA bei der Ankunft in Los Angeles (20.3.1892): „ … eine jugendliche Dame mit sehr großen Ohrringen sitzt mir im Omnibus gegenüber und macht mir les yeux doux; das Hotel ist mediocer; aber Alles Protestieren hilft Nichts; es ist zwei Uhr morgens und durch die Wand höre ich den ruhigen Atemschlag der schlafenden Ohrringmaid; zu diesen Tönen lässt es sich sanft ruhen.“

Kessler erreicht auf dieser Weltreise Singapur und notiert am 25.5.1892 zu einem Ball beim Gouverneur: „ … die Damen im allgemeinen heimatlich (sic!) schlecht angezogen drei oder vier nicht hässlich; eine fast elegant. Aber nach New York ist man für die Reize von orangegelben Toiletten mit viereckigen Taillen und gar keinen Vorderprominenzen und von ältlichen, rothaarigen und sommersprossigen Jungfrauen etwas verdorben; mit der Zeit gibt sich das hoffentlich wieder.“ Blättert man in den New Yorker Notizen, lautet allerdings eine ausführliche Eintragung zur Damenwelt dort ähnlich (20.2.1892): „ … ich habe das Vergnügen, den ganzen Weg vis à vis einer italienischen Primadonna zu sitzen, ältlich und dekolletiert mit krass blondem Haar und schlechten Zähnen; das Gesicht weich und faltig, stark gemalt, wo der Farbenanstrich aufhört, ein ziemlich schlecht gewaschener Hals, von Spitzen umgeben … „ Dagegen stellt er kurz die „Amerikanerinnen, die im Kupee sind, schlanke, biegsame Gestalten im enganschließenden Reisekleid.“ Letztere lobt er ebenso summarisch am 29.2.1892: „ … die Mädchen viel hübscher wie die, die man in Europa auf Bällen sieht.“

Kessler wird heute überwiegend für homosexuell gehalten. Dass er sich insoweit bedeckt hielt und keine gegen ihn verwertbaren Dokumente abfasste, ist verständlich. Er war Zeitgenosse Oscar Wildes, er wollte Karriere machen und er war zu distinguiert, als dass er peinliche Enthüllungen leicht ertragen hätte. Dennoch stellt sich die Frage: Wie ist er damit umgegangen und was hat diese Praxis für den Verlauf seines Lebens bewirkt? Kessler absolvierte  ab Herbst 1892 seinen einjährig-freiwilligen Militärdienst bei den 3. Garde-Ulanen in Potsdam. Im folgenden Frühjahr trat dort der fünf Jahre jüngere Otto Freiherr von Dungern ein, zu dem er binnen Tagen in eine enge freundschaftliche Beziehung trat, seine „first great love affair“ nach Laird M. Easton, Kesslers Hauptbiographen bisher. Der lakonische Beginn am 5.5.1893: „Dungern beim Regiment eingetreten.“ Schon am 16.5.1893: „Mit Dungern Schmollis.“ Und dann folgt über Jahre eine Vielzahl von Eintragungen, die belegen, dass Dungern unter vielen Bekannten und Kameraden gewiss die Hauptperson war, der einzige enge Freund.

Wir wissen nicht, wie ihre Beziehung konkret beschaffen war. Kesslers Einträge zu Dungern sind meist unverfänglich, gehen kaum darüber hinaus, wo sie sich getroffen haben und zu welchem dienstlichen oder sonstigem ehrbaren Zweck. In manchen Zeiträumen ändert sich jedoch der Charakter und es wird scherenschnittartig deutlich, wie nahe sie sich tatsächlich waren und wie stark zumindest Kesslers Gefühl. Im August / September 1893 nehmen beide an wochenlangen militärischen Übungen in der Mark teil. Kessler erwähnt nun, anders als sonst, die scheinbar trivialsten Details. Sie konnten es fast jede Nacht so einrichten, zu zweit in einem kleinen Raum, meistens einer Dachkammer, zu schlafen. Mit Dungern wiederholt  im Fluss gebadet, zu zweit oft einsame Spaziergänge gemacht, auf dem angebundenen schmalen Sitzbrett eines requirierten Wagens transportiert worden ( „dass wir bei jedem Stein am Hinauskippen waren“) – all das scheint dem Schreibenden jetzt bedeutsam, der Erinnerung wert zu sein. Oder sie kommen durchnässt von einem Bad zurück und müssen sich nackt in ihre Betten legen. Oder: „ … mit Dungern in einem Strohhaufen geschlafen à la belle étoile da Zelt sehr voll.“

Dungern kann vorzeitig in Urlaub gehen. Kessler wird ihn am 16.9. an die Bahn bringen. Bezeichnend, wie die Einträge der drei letzten Tage davor schließen: „Abends Dungern bei mir … Abends noch spät mit Dungern Spazieren … Lange mit Dungern gesprochen. Im Zelt geschlafen.“ Am 18.9. heißt es dann: „Ruhetag; recht einsam ohne Dungern.“ Das trifft gar nicht zu, der geräuschvolle Manöverbetrieb dauert noch immer an. Kessler meint in Wahrheit: Ich fühle mich einsam ohne ihn, er fehlt mir. Eine Woche später tritt Kessler seinen Dienst als Referendar beim Berliner Kammergericht an – ohne dass wir Nennenswertes darüber erfahren. Von diesem Zeitpunkt an ändert sich sein Privatleben stark. Kessler wird erst jetzt der Gesellschaftslöwe, der er jahrzehntelang bleibt. Man begreift nicht, wie er neben seinem Dienst und der umfangreichen Lektüre all das bewältigen konnte, die fast täglichen Besuche in ästhetisch-literarischen Salons, all die gemeinsamen Frühstücke, Mittag- und Abendessen außer Haus, die Ausstellungen, Opern-, Konzert- und Theaterbesuche, das Ausreiten usw. Er sammelt in seiner Bekanntschaft die großen Namen der wilhelminischen Zeit; unnötig sie aufzuzählen, da fast keiner fehlt. Er ist so privilegiert, dass er selbstverständlich zu exklusiven Hoffesten wie –jagden Zutritt hat. Über Wilhelm II. notiert er sich am 5.11.1896: „Der Kaiser sieht im Jagdzivil unvorteilhaft aus; dick und unförmlich; er hält sich krumm, die abnorm breiten Hüften und das fast weiblich entwickelte Hinterteil fallen im Frack mehr auf, als in Uniform.“

Wozu Proust lange Jahre benötigte, erreicht Kessler schon früh: Desillusionierung, Klarheit über das Fragwürdige des Gesellschaftslebens, von dem er Teil geworden ist. Ihn fasziniert zwar die offenkundige oder verborgene Macht von Politik und Geld, doch sie zu studieren, befriedigt ihn nicht: „Wer sich langweilt, mag oder kann nicht beobachten. Ich gestehe allerdings zu, dass ich mich selber recht häufig langweile.“ (18.2.1895) Noch deutlicher am 20.3.1895: „Es kommen einem mit der Zeit Zweifel, ob die dürren und beschnittenen Seelen, die sich einem hier offenbaren, der Beobachtung wert sind.“ Als Gegengewicht entwickelt Kessler seine private Ideologie der Einzigartigkeit des individuellen Gefühls und dessen Schutz durch Schamhaftigkeit (17./18.9.1894).

Dungern bleibt weiterhin das geheime Liebesobjekt. Beide pendeln zwischen Potsdam und Berlin, sehen sich oft. Als Dungern für einige Zeit auf das Familiengut in Oberfranken zurückkehrt, wird Kessler unvorsichtig: „Morgens mich von meinem lieben kleinen Dungern verabschiedet.“ (27.10.1893) Am 29.11.1893 resümiert er: „Weiber habe ich unzählige begehrt, manche gehabt, genossen keins.“ Den Jahreswechsel verbringt er bei seinem Otto in Oberfranken und wird dort im Familienkreis noch wiederholt zu Gast sein. Am 17.12.1894 deutet sich eine persönliche Krise an: „Abends in ernster, bitterer Stimmung. Es giebt Jemand, der mein ganzes Wesen erfüllt und für den ich mein Leben lassen möchte …“ Der Jemand dürfte Dungern sein, doch wird das sogleich verwischt, indem Kessler unmittelbar danach von seiner eigenen Mutter spricht. Dass indessen nicht seine Mutter die Person ist, für die er sterben möchte, geht aus dem Anschließenden hervor: „Und doch, wie wenig denke ich, wie wenig thu’ ich bewusst Tag für Tag im Hinblick auf Beide.“ Im Weiteren analysiert Kessler hier mit Trauer die Unvereinbarkeit seiner äußeren Tätigkeit mit den tiefsten Inhalten und Bedürfnissen seiner Persönlichkeit. Jetzt ist von „Disharmonie … Gefühl der Unzufriedenheit … Weltschmerz“ die Rede. Er macht sich klar, dass gerade die äußere gesellschaftlich nützliche Aktivität „uns betäubt, uns die innere Stimme überhören hilft.“ Im Gegensatz dazu stehe das künstlerische Genie, das er sich abzusprechen scheint. Für den Leser nähert sich Kessler hier erstmals dem Begriff des Surrogats.

Am 12.10.1895 teilt Dungern dem Freund mit, dass er sich mit einer Potsdamer Offizierstochter verloben wird. Dies löst in Kessler eine krisenhafte Hochstimmung aus, eine Art Euphorie, durchsetzt von bitteren Selbsterkenntnissen. Ihre Beziehung wird jetzt noch enger, freundschaftlicher und Kessler verklärt Dungerns Wesen in einer ihm sonst fremden unkritischen Weise. Zu dessen „Charme“ gesellen sich nun „edelsteinglitzernde Tiefen“ (16.10.1895). Am Tag davor hat Kessler dem Tagebuch anvertraut, er habe Dungerns wegen manchmal „rasende, verzehrende Eifersucht“ empfunden – auf andere Männer. Aber jetzt ist da ein „zweites, neues Gefühl“, die „neue Intimität“ (8.11.1895). Kessler lernt die Verlobte kennen, reitet mit ihr aus, besucht mit Dungern ihre Familie. Ménage à trois? Mitnichten – am 15.12.1895 äußert sich seine negative Einstellung à la Nietzsche so: „ … im Grunde genommen liegt aber die Gewalt, die Kraft auf Seiten des Mannes, der sich in dem oft nichtigen und hohlen Weibe ein Objekt für seine Leidenschaft schafft.“ Die Ehe an sich wird dagegen so idealisiert: „Im Grunde genommen sind Patriotismus, religiöser Fanatismus, Ehrgeiz usw. insofern sie zur Leidenschaft und zum ausschließlichen Lebensinhalt werden, nur ein ärmliches Surrogat für diese vollkommene Hingabe des einen Menschen an den Andern. Erst das Menschen Paar ist ein vollkommener Organismus. Der Einzelne bleibt, allein, wie er aus dem Mutterleibe kommt, ein blutendes Fragment, das selbst durch die Ideale nur selten davor gerettet werden kann, sich zu verbluten.“ Nun ist der Begriff da: Surrogat – und natürlich spricht er von sich selbst oder wenigstens von der ihm drohenden Gefahr.

Es folgt bis zur Hochzeit ein zweiter langer Frühling der Gefühle zwischen den beiden Männern. Im Spätsommer 1896 wiederholt sich für den Reserveoffizier Kessler das Manoverglück von 1893. Zitate: „Abends bei Sternenklarheit mit Dungern in den Wald … Unsere Suppe mussten Dungern und ich uns aus dem selben Teller auslöffeln; unter diesen Umständen ein Glück, dass gerade wir zusammenliegen … Später mit Dungern bei wunderbarem Mondschein hinaus auf die Felder … Dungern und ich uns besondere Zelte neben dem großen gebaut. Klare, sternenhelle Nacht.“

Bei Ottos Polterabend empfindet Kessler „ein gewisses serrement de cœur“. Verloren „der ruhende Pol in aller seelischen Erscheinungen Flucht… für die Freundschaft eine Art von Tod, bei dem es fraglich bleibt ob ihm eine Auferstehung folgen wird.“ Am 7. 10.1896 ist um vier Uhr nachmittags in der Garnisonkirche die Trauung. Um acht Uhr „gleich nach dem Brauttanz mich von Otto verabschiedet …“ Noch am selben Abend nimmt er den Nachtzug nach Hamburg, schifft sich anderntags nach New York ein, besucht ausgiebig Mexiko, vor allem die Maya-Ruinen, und kehrt erst im Frühjahr nach Europa zurück. Am 28.3.1897 - Kessler ist fast drei Wochen wieder in Berlin - heißt es im Tagebuch resigniert: „Ich werde hier leider wieder immer mehr in die Geselligkeit hineingezogen. Resultat, Arbeit = 0.“

Kessler und Dungern bilden eine der merkwürdigsten Paarungen in der deutschen Literaturgeschichte. Ihre persönliche Beziehung dauert verändert noch Jahrzehnte an. Doch ihre Lebenslinien gehen radikal auseinander. Kessler perfektioniert seine Surrogatexistenz als Ästhet und Kunstförderer. Nach dem Weltkrieg wird er Pazifist und linksliberaler Publizist, scheitert auch in der Politik. Er stirbt 1937 mittellos im Exil. Dungern bleibt erst Offizier, wird Leibadjutant des Thronfolgers, wegen einer Affäre mit der Thronfolgerin geschasst, übernimmt das Gut in Oberfranken und spielt eine führende Rolle im Reichsjagdwesen. Auch er macht weite Reisen (bis in  die Mongolei!), schreibt Aufsätze und Bücher und gerät politisch immer weiter nach rechts. Er führt 1919 ein Freikorps an und ist unter Hitler Kreisleiter der NSDAP in Potsdam. 1969 erst stirbt er auf dem Gut in Oberfranken.

(Nebenbei bemerkt: ein großer Stoff für einen Historienfilm.)

 

 

47. Über Joseph Roth: Briefe aus Deutschland

 

Joseph Roth war nicht nur erfolgreicher Erzähler – während der Weimarer Republik war er auch einer der gefragtesten und bestbezahlten Feuilletonisten deutschsprachiger Zeitungen. Er veröffentlichte vor allem in der angesehenen „Frankfurter Zeitung“ und bereiste auf eigenen Wunsch und in deren Auftrag im Oktober 1927 das damalige Saargebiet. Roth war etwa zwei oder drei Wochen dort, vor allem in Saarbrücken und Neunkirchen. Er fuhr in eine Kohlengrube ein, besichtigte ein Eisenwerk, sah sich in einem Warenhaus und bei einem politischen Vortrag um und hatte diverse Gesprächspartner, vor allem aus Politik und Publizistik. Die siebenteilige Artikelserie „Briefe aus Deutschland“ erschien von November 1927 bis Januar 1928 in der „Frankfurter Zeitung“. Es folgte dort abschließend noch eine Reaktion Roths auf das negative Echo, das seine Texte in der „Saarbrücker Zeitung“ gefunden hatten. Diese literarisch-journalistische Kontroverse hatte sich auch schon in Nr. 5 des Zyklus („Menschen im Saargebiet“) niedergeschlagen. Die ganze Sammlung wurde als Buch 1997 im Gollenstein Verlag veröffentlicht (3. ergänzte Auflage 2008).

Roths Methode besteht aus zweierlei: scharfem Hinsehen und subjektivem Verarbeiten. Dem glänzenden Stilisten sind dabei ausgezeichnete Texte oder Textabschnitte gelungen, deren Lektüre auch nach fast neunzig Jahren noch so bereichernd wie genussvoll ist. Als Ganzes rühmen kann man „Unter Tag“ (Nr. 3). Roth unternimmt hier in Begleitung eines Steigers eine Grubenbesichtigung. Exakt werden Ausrüstung, Einfahrt und die unterirdische Arbeitswelt geschildert. Alles wirkt auf eine beklemmende Weise komisch, indem sich Roths Befindlichkeit im Bergwerk dabei selbstironisch widerspiegelt. Wir würden es ebenso erlebt haben … In „Das Werk“ (Nr. 7) fehlt diese humoristische Note. Der Besucher des Eisenwerks nimmt, was er sieht, mit ständig steigendem Befremden zur Kenntnis und wendet sich hoffnungslos ab. Er will anderntags in die Kirche gehen … Insgesamt akzeptabel erscheint gleichfalls der Saarbrücken-Text (Nr. 2), so düster-subjektivistisch er auch ist. Wenn Roth an diesem Regenabend die anonymen vereinsamten Frauen in einem Kaffeehaus beobachtet und sich die absehbar unglücklichen Paarungen mit Männern vorstellt, überkommt ihn ein Weinen: „Denn die Liebe könnte noch trauriger ausfallen als das Leben.“ Der heutige Leser und Roth-Kenner denkt dabei an Roths eigene Biographie.

Aufmerksam liest der Rezensent „Nach Neunkirchen“ (Nr.4) und „Das Warenhaus und das Denkmal“ (Nr. 6), ihm von Kindesbeinen an vertraute Örtlichkeiten. Tatsächlich: Da steht blitzschnell Aufgefasstes und stilistisch hervorragend Herausgearbeitetes – klassisch Zitierfähiges. Besonders überzeugend, wie Roth als eine Art Hausdetektiv im Warenhaus Kunden beobachtet und ihr serviles Verhalten in Beziehung setzt zum streng patriarchalischen Regiment des Herrn auf dem Denkmal. Und doch: Gerade diese beiden Texte offenbaren die Schwäche von Roths Verfahren. Da sind sachliche Fehler, die dem mit dem Ort Unvertrauten nicht auffallen, doch eben sie sind konstitutiv für die beabsichtigte Wirkung des Textabschnitts. Roth ist mit der Sozialistin Balabanoff nach Neunkirchen gefahren, die dort einen Vortrag hält. Auf dem Weg zum Versammlungslokal sammelt er Eindrücke von der Hauptachse der Stadt und schreibt, Gott suchend, ihm nachsinnend: „Zum Glück steht da eines seiner Häuser, eine Kirche. Man könnte sie übersehen. Die ärmlichen Schaufenster sind auffälliger.“ Tatsächlich gibt es dort zwei Hauptkirchen, eine evangelisch, eine katholisch, und beide wirken ausgesprochen monumental. Gerade Stumm, der Eisenhütten-Patriarch, legte größten Wert auf die Religiosität seiner Beschäftigten, und so sieht die protestantische neogotische Kirche, dem Werk benachbart, auch aus. Das  katholische Gotteshaus in der Nähe ahmt die großen romanischen Dome am Rhein nach. Roth irrt weiterhin, wenn er behauptet: „ … die Gegend gehört zu den frommen, katholischen…“ und sich damit eine Reaktion der Zuhörer auf Balabanoff erklärt. Die Stadt war auch zu Roths Zeit überwiegend evangelisch, zum Teil atheistisch und die Bevölkerung der Nachbarorte nur zur Hälfte katholisch. In diese Reihe von Schnell- und Fehlschüssen gehört auch, dass eine Kundin im Warenhaus das angeblich eigene Kind verleugnet haben soll, um Argumenten des Verkäufers etwas entgegensetzen zu können. Roth kennt die wahren Verhältnisse insoweit gar nicht, er erfindet hier offenbar etwas, das zu fiktivem Erzählen passt, nur nicht zu einem Reisefeuilleton, das auch dem realen Ort gerecht werden soll. Hier wird das Windige an Roths Verfahren deutlich. Was mag jene Warenhauskundin empfunden haben, sollte sie sich zu Unrecht als Lügnerin dargestellt gefunden haben? Wer in einem journalistischen Text reale Orte und Personen schildert, muss in den nachprüfbaren äußeren Details wahrhaftig bleiben, sonst ist sein Text diskreditiert.

Gewiss hat den Redakteuren der „Saarbrücker Zeitung“ damals die kritische Tendenz nicht gepasst und gern haben sie die Schnitzer, die unbegründeten Annahmen usw. präsentiert, um Roths Texte insgesamt ablehnen zu können. Hierher gehört das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf einer Saarbrücke, das laut Roth auf der Brückenmitte den Verkehr behindert, während es tatsächlich wie barocke Heiligenfiguren an der seitlichen Brüstung in einer Nische aufgestellt ist und weiter gar nicht stört. Ralph Schock, der Herausgeber der jetzigen Buchausgabe, verteidigt den Autor so: „Er zielte auf die innere Stimmigkeit einer Beschreibung einer Region und ihrer Menschen. Auch dürfte ihm die Art und Weise seiner Wahrnehmung wichtiger gewesen sein als die sachliche Richtigkeit.“ Er verweist auf „Roths literarische Intention“ und die „unterschiedlichen Auffassungen von Journalismus“. Das überzeugt nicht. An den zu kritisierenden Stellen vermisst der besser Informierte gerade die innere Stimmigkeit, sie darf sich in einem journalistischen Text nicht über Tatsachen hinwegsetzen, bloß um den Eindruck des Lesers zu manipulieren. Das eben wäre Tendenzjournalismus, wie er auch heute nicht selten ist und der übrigens ohne jeden literarischen Anspruch auskommt. Schock zu Roths Denkmalfinte: „Kein Autor von Rang … hätte sich diese Pointe entgehen lassen.“ Wirklich? Von Tucholsky oder Polgar kann ich mir das jetzt nicht vorstellen.

Joseph Roth heute noch lesen? Gern. Aber ihn bitte nicht unkritisch verteidigen, neben seinen Stärken nicht seine Schwächen übersehen oder, schlimmer noch, sie zu Vorzügen uminterpretieren. Auch die Meister sind nur Menschen und Roth, ein mythomanischer Überflieger, hatte, neben sehr viel Talent, in schwerer Zeit ein besonders schweres Leben. Seinen Narben entsprechen die Entstellungen in seinem Werk.

 

 

48. Über Edmund White: Selbstbildnis eines Jünglings 

 

Der Ich-Erzähler in Edmund Whites erstem von mehreren autobiographischen Romanen mit dem deutschen Titel „Selbstbildnis eines Jünglings“ - 1982 im Original unter „A Boy’s Own Story“ erschienen - könnte ein später Nachfahre von Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ sein. Wie jener traurige Held der ausgehenden Barockzeit leidet dieser junge Amerikaner der Eisenhower-Jahre am Gefühl sozialer und persönlicher Minderwertigkeit, die ihm den Weg zum Aufstieg in die Erwachsenenwelt zu versperren scheint. Und wie Reiser mit scharfem Intellekt und großer Sensibilität ausgestattet - nur viel smarter -, beobachtet und analysiert er gnadenlos, die Umgebung wie sich selbst, und sucht Auswege aus seiner Misere. Sein Vorname wird nie genannt, nennen wir ihn den Jungen. Seine frühen Lebensstationen sind dieselben wie die des Autors: Cincinnati, Chicago, ein Internat irgendwo zwischen beiden Städten.

Der Vater im Roman kommt mir vor wie eine Kreuzung aus Citizen Kane und Donald Trump: ein erfolgreicher, vermögender Geschäftsmann, hemdsärmelig und gefühlvoll, auf Schlingerkurs durch die Lebenslagen seiner Mitmenschen. Sein Sohn ist fasziniert von ihm, von seinen Stärken und Schwächen, und fühlt sich von ihm ungeliebt. Den Jungen interessiert vor allem eines: der Zusammenhang zwischen Sex und Macht. Mit sechzehn sieht er die Sache so: „Sex kam mir mittlerweile merkwürdig vor, wie ein Gesellschaftsritual, das Veränderungen in der Machtbalance registriert, ja herbeiführt, das aber mehr beredet als ausgeführt wird, ein simpler Flüssigkeitsausstoß, der irgendwie religiöse, soziale und wirtschaftliche Folgen zeitigt.“

Das Streben nach Macht via Sex ist das Grundthema und wird in vielen, oft anrüchigen Konstellationen behandelt. Dabei ist der Junge lange eher Objekt, wenn nicht gar Opfer, dann erfolglos Agierender, bis ihm endlich mit einer skrupellosen Intrige die Selbstinitiation gelingt. Während sein Vater nebenbei auch Frauenheld ist – die Mutter lässt sich deshalb scheiden und zieht mit den Kindern nach Chicago -, hat der Junge das Handikap, homosexuell zu sein. Er akzeptiert das in der Praxis, indem er früh Erfahrungen sammelt, lehnt es aber in der Theorie ab: „Natürlich wollte ich einen Mann lieben und dennoch heterosexuell sein; je länger ich die Klärung dieses Widerspruches aufschieben konnte, desto besser.“

Die Erzählung setzt mit dem Fünfzehnjährigen ein, der wieder einmal die Sommermonate beim Vater und der Stiefmutter verbringt. Sie ist die gute Stiefmutter und, obgleich nur kleine Nebenfigur, vielleicht die positivste Gestalt des Romans. Sie taugt als Vorbild, sie liest viel und ihr gelingt gesellschaftlicher Aufstieg mühelos. Der Junge wünscht sich, eine der vielen literarischen Inversionen Whites, Sex mit dem eigenen Vater. Stattdessen wird er, der Fünfzehnjährige, von einem Zwölfjährigen verführt und manipuliert. Über Kevin sagt er: „Ich fand ihn ziemlich beängstigend, auf alle Fälle sexy …“ Die Umkehrung alles normal Erwartbaren findet auch im zweiten Kapitel statt: Der Junge arbeitet mit vierzehn im Büro seines Vaters und  lässt sich das dabei verdiente Geld dann von der Stricherszene abluchsen, wird minderjährig zum Freier.

Die folgenden Kapitel gehen noch weiter in der Zeit zurück, behandeln die Kindheit in Chicago, die törichten, vergeblichen Versuche der impulsiv-überspannten Mutter, einen neuen Ehemann zu finden, die so verbissenen wie erfolglosen Bemühungen seiner vier Jahre älteren Schwester um gesellschaftliche Akzeptanz – sie reagiert ihre Frustration sadistisch am kleinen Bruder ab, der seinerseits von reiferen reichen Herren träumt, die ihn entführen sollen. Im Hinterkopf hat er die Beziehung Rimbaud – Verlaine. Literatur wird immer wichtiger für ihn. So ist es folgerichtig, dass sein Coming-out im Umkreis einer Buchhandlung stattfindet, mit deren lesbischer Verkäuferin ebenso wie mit dem schwulen Inhaber er zeitweise befreundet ist. Er setzt sich mit Hesse auseinander, doch sein eigener Bildungsroman kommt nur langsam in Gang: pubertäre Knabenspiele, der angehimmelte Deutschlehrer ein ungeeignetes Objekt, desillusionierende Feriencamperfahrungen.

Je älter er wird, umso drängender das Problem sozialer und zugleich sexueller Integration: „… ich fürchtete meine Freunde nicht nur, ich wollte auch erreichen, dass sie mich liebten.“ Bei den Wellingtons aus der gehobenen Mittelschicht und ihrem Sohn Tommy misslingt es dem Jungen. Er sagt sich: „Der Sinn schien ganz klar: zu überleben und dann beliebt zu werden.“ Wenn nicht Tommy, dann vielleicht Helen Paper, das schönste Mädchen der Schule? Sie weist ihn als Liebhaber zurück und stellt ihm zugleich eine Aufnahme in ihren Freundeskreis vage in Aussicht. Im Rückblick analysiert der Ich-Erzähler seine Reaktion auf ihren Brief scharfsinnig so: „Ich registrierte den gesellschaftlichen Gewinn vor dem romantischen Verlust.“

Das letzte der sechs Kapitel ist das längste, es umfasst ein Drittel des Werkes und schildert seine Jahre auf dem Internat mit fünfzehn, sechzehn. Jetzt treten rasch hintereinander weitere Gestalten auf – Mitschüler, Lehrer, ein Psychoanalytiker, ein Geistlicher -, die die Entwicklung tatsächlich vorantreiben auf den abschließenden Höhepunkt hin, dessen Details potentiellen Lesern zwecks Erhaltung der Leselust hier verschwiegen werden sollen. Dafür das Resümee am Ende des Buches: „Ich, der ich so wenig Macht besaß – dessen Triumphe allesamt die unbedeutenden Siege von Kindern und Frauen gewesen waren, das heißt nur verbale Siege der Ironie und der inneren Haltung -, ich hatte zuletzt einen mächtigen Schluck aus der erwachsenen Quelle der Sexualität getrunken. Ich wischte mir den Mund mit dem Rücken einer erwachsenen Hand, schlenderte lächelnd zum Speisesaal hinauf und summte ein Liedchen vor mich hin.“ Später wird er Reue empfinden, wenn er bedenkt, was er einem Erwachsenen angetan hat.

Zum Autor: Edmund White, geboren 1940, war Mitbegründer und eine der zentralen Figuren der US-Autorengruppe Violet Quill. Ein Großteil seiner Bücher wurde auch ins Deutsche übersetzt.

 

(Zitate nach der Übertragung ins Deutsche von Benjamin Schwarz)

 

 

49. Über Edmund White: Und das schöne Zimmer ist leer

 

„Und das schöne Zimmer ist leer“, im Original veröffentlicht 1988, ist der zweite von Edmund Whites autobiographischen Romanen. Der Titel entspricht den letzten sechs Wörtern eines Kafka-Zitats aus einem Brief an Milena Jesenská. Darin geht es um nicht ganz gelingende Beziehungen zwischen zwei übersensiblen Partnern in einem gemeinsamen Innenraum. Das Verhältnis zwischen Maria, einer lesbischen Malerin, erst Sozialistin, später Feministin, und dem sieben Jahre jüngeren schwulen Ich-Erzähler ist bereits ein solches leeres Zimmer. Sie werden voneinander angezogen, schlafen zeitweise auch miteinander und leben doch jeder sein eigenes Leben. Nur aus der Ferne bleiben sie einander freundschaftlich verbunden. Maria ist als Figur an sich glaubwürdig, gewinnt aber im Lauf der Erzählung nur unscharfe Konturen, bleibt wolkig zerfließend in einer zögerlichen Darstellung, die aus lauter Trippelschritten besteht und laufend von für den Erzähler bedeutsameren Themen unterbrochen wird.

Maria spielt ein wenig die Rolle einer Muse und entwirft in einem Gespräch das umfassendere Programm für ein künftiges Werk, jenseits des Kafka-Zitats. Der Ich-Erzähler, vom Buddhismus beeinflusst, gesteht ihr, auch er halte das Ich für eine bloße Illusion und dennoch sei er als Schriftsteller gerade für die Individualität der Menschen empfänglich. Sein Dilemma: „Wie könnte ich meine religiösen Überzeugungen mit dieser künstlerischen Reaktion in Einklang bringen?“ Maria zufolge ist das gar kein Widerspruch, sondern die amerikanische Wirklichkeit: „Das Leben in Amerika ist buddhistisch und gleichzeitig ungeheuer persönlich. Es besteht aus nichts als diesem leidenschaftlichen, intimen Sich-Zusammenkuscheln und aus mächtigen, treibenden Nebeln der Vergänglichkeit, die alles im Ungewissen versinken lassen.“  Der künftige Autor soll also eine buddhistisch inspirierte Zeitkritik der USA entwerfen, verkörpert durch Figuren à la Kafka. Das ist ein sehr anspruchsvolles Programm. Um es vorwegzunehmen: Im zweiten Teil der Tetralogie wird zwar noch mehr Material als im ersten präsentiert – der Roman umfasst die Zeit von 1957 – 1969 und spielt vor allem in Ann Arbor und Chicago, später in New York -, doch ist er formal weniger geglückt als sein Vorgänger.

Schärfer konturiert als Maria ist Tex, der ein Buch- und Plattengeschäft in Chicago betreibt und mit seinem Einfluss die Entwicklung des angehenden Studenten kurze Zeit vorantreibt. Die folgenden Kapitel 3 und 4 sind die gelungensten des Romans. Der Ich-Erzähler besucht jetzt die Staatsuniversität von Michigan. Seine Lebensumstände dort werden auf zumeist sarkastische Weise geschildert. Das ist stilistisch brillant, oft komisch und vor allem auch kulturhistorisch aufschlussreich. Die sehr plastischen Hauptgestalten jetzt sind die magersüchtige Annie, der schon aus Band 1 bekannte Psychotherapeut O’Reilly und William Everett Hunton, ein in Oberflächlichkeit, Egozentrik und Sexbesessenheit geradezu brillierender Kommilitone. Neben der Psychotherapie bekommt nun auch das Verbindungswesen sein Fett weg.

Was Maria an Charakteristika fehlt, hat der Werbetexter Lou zu viel. Sein überzeichnetes Bild vereint viele extreme Züge. Er ist indianischer Herkunft, hatte eine katastrophale Jugend, ist drogenabhängig, dennoch beruflich sehr erfolgreich und pendelt zwischen den Geschlechtern und sozialen Milieus. Bei ihm ermüdet die Massierung von Krassem. Sein reines Schönheitsideal ist zu sehr ausgewalzt, als dass es tief beeindrucken könnte, seine Antibürgerlichkeit Krampf.

Mit Lou wechselt der Erzähler nach dem Studium 1962 nach New York. Das Stadtporträt ist als Ganzes weder umfassend noch besonders prägnant, eher impressionistisch zufällig. Vieles wird nur angerissen, dabei dann allerdings das jeweilige Detail gekonnt porträtiert, so z.B. Fire Island auf nur drei Seiten. So ergibt sich kein zusammenhängendes, rundes Bild, das den Romanschluss vorbereiten könnte. Dafür tritt Sean auf, eine Figur, deren Tragik - oder ihr Defizit – White, präzise wie meistens, so analysiert: „Der Witz war, dass die große Liebe meines Lebens ein Mann war, der nichts von mir und fast nichts von sich selber wusste.“ Der quasi buddhistische Ansatz ist also mit Sean zur Vollendung gelangt – und doch hätte der Leser sich gerade hier eine etwas vertiefende Gestaltung gewünscht.

White eilt sehr rasch über diese New Yorker Jahre hinweg. Staunend erfahren wir, welches Ausmaß die Ächtung der Homosexualität seinerzeit in New York annehmen konnte, etwa anlässlich der Weltausstellung 1964/65. Und dann endet der Roman recht abrupt mit den Stonewall-Unruhen von 1969 und dem letzten Satz: „Aber wir fanden in der Presse nicht eine einzige Zeile über den Wendepunkt in unserem Leben.“ Der Roman, fast zwanzig Jahre danach geschrieben, soll wohl u.a. dieses Manko nachträglich beseitigen. Literarisch ist das nur zum Teil gelungen. Der Roman leidet an seiner Stoffüberfülle, an zu viel ungestalteter Realität, auch unter allzu geradlinigem chronologisch fortschreitendem Erzählen. Der an sich zutreffende kausale Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Missständen und individuellem privatem Leiden wird so nicht immer ausreichend plausibel.

Dennoch: Das Buch ist so reich an Material wie an hervorragend geschriebenen Passagen, dass man sich wünscht, es möchten mehr Werke auf vergleichsweise hohem Niveau partiell scheitern.

 

(Zitate nach der Übertragung ins Deutsche von Benjamin Schwarz) 

 

 

50. Über Gerbrand Bakker: Oben ist es still

 

Dieser Roman ist auch eine Geschichte vom Vergehen eines Milieus, hier konkret der alten bäuerlichen Welt. „Es kommt der Tag, an dem es in Waterland keine Bauern mehr geben wird“, stellt der Ich-Erzähler fest. Der Gedanke an ein späteres Naturschutzzentrum auf seinem Grund, anstelle der Ruine des Knechtshauses, ist ihm unerträglich: „Ich möchte ab und zu hier stehen können und in Gedanken die Mauern wieder hochziehen, die Decke sich unhörbar schließen sehen, die roten Dachziegel an den Latten aufhängen …“ In „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ hat Heinz Schlaffer die Schubkraft solcher soziokulturellen Ablösungsprozesse für die Literatur hervorgehoben und für die Gattung Roman in einer radikal modernisierten Welt keine Zukunft gesehen. Nach diesem Verständnis stirbt der Roman mit den Resten von Archaik. Ist Bakkers „Oben ist es still“ vielleicht einer der letzten bedeutenden europäischen Romane? Sein außerordentlicher Erfolg weit über die Niederlande hinaus gibt zu denken.

Es ist die Geschichte von Zwillingsbrüdern, von denen einer früh stirbt und der andere widerwillig den Hof übernimmt, ledig bleibt, als alternder Mann das Sterben des uralten Vaters beschleunigt und nach dessen Tod die Landwirtschaft aufgibt. Eine Perspektive für sich sieht er nicht mehr, sein letzter Satz wie der des Romans lautet: „Ich bin allein.“

Bakker ist ein vorzüglicher Kleinmaler. Ob Tiere, Jahreszeiten, Interieurs oder Kinder – da findet man stets in wenigen einfachen Worten Tiefblickendes, Originelles, sehr Plastisches. Der Rezensent hat das erste Drittel des Romans aufgrund dieser Qualitäten ausgesprochen gern gelesen. Nur allmählich wurden ihm die Mängel des Romans bewusst. Die in die fortlaufend erzählte gegenwärtige Handlung (November 2002 – Juni 2003) eingeblendete Vorgeschichte aus den 1960er Jahren ist noch durchaus überzeugend, dabei auch wirklich bewegend. Das, was fünfunddreißig Jahre später die Handlung vorantreiben und dramatisch zuspitzen soll, lässt Glaubwürdigkeit oft vermissen und orientiert sich zugleich in Details allzu sehr an Erfolgsrezepten gängiger Trivialliteratur. Gehen wir ins Einzelne …

Helmer van Wonderen hat mit neunzehn ein Sprach- und Literaturstudium begonnen. Nach dem Tod des Bruders 1967 bricht er es auf Befehl des Vaters ab und ist jahrzehntelang nur noch dessen Knecht. Er liest keine Bücher mehr, reist nicht, geht keine persönlichen Bindungen ein. Der Hof liegt nur wenig nördlich von Amsterdam, man kann von seiner Umgebung die Türme der Stadt sehen, die er nie mehr besucht. Wie glaubwürdig ist das, gerade in einer Zeit von Jugendrevolte und unruhigem Aufbruch? Er behauptet vergeblich: „Mein halbes Leben habe ich an nichts gedacht …“ – ich nehme ihm das nicht ab. Er untersucht mir dafür zu viel und formuliert zu differenziert. Er hat seit dem Studium angeblich kein Gedicht mehr gelesen, hantiert aber noch mit den Floskeln eines Uni-Dozenten aus dem Gedächtnis. Im Übrigen scheint er homosexuell zu sein, aber wir erfahren darüber so gut wie nichts. Diese Romanfigur ist ein Mann ohne Unterleib und insofern, da keinen Anstoß erregend, für das breite Publikum erst erträglich.

Frauengestalten liegen Bakker weniger. Helmers tote Mutter ist fast nur Fotografie auf dem Kaminsims und kommt gerade als solche oft ins Spiel. Die junge Ada wird ausschließlich als besorgte Nachbarin auf Besuch gezeichnet, nie in ihrer eigenen Welt. Riet ist die frühere Verlobte von Helmers Bruder Henk, sie hat bei einem Autounfall dessen Tod verschuldet und sich dann nach Belgien verheiratet. Als Witwe soll sie trotz dreier Kinder nach dreieinhalb Jahrzehnten den Wunsch verspüren, an die Vergangenheit anzuknüpfen und eine Verbindung mit dem überlebenden Bruder einzugehen? Das ist so überzeugend wie aus einer deutschen Vorabendfernsehserie entsprungen. (Riets problematischer Sohn Henk – er verbringt einige Monate auf dem Hof -  ist dem Autor besser gelungen.) Klamaukhaft à la Ohnsorg wird es, wenn Helmer seinen Vater bei Riets Besuch für schon tot erklärt und der Alte in seinem Zimmer sich nicht mucksen darf.

In dieser Geschichte gibt es auffallend viele Zufälle, noch so ein Charakteristikum. Ein unbekannter Bootstourist findet den Hof wie aus der Zeit gefallen und assoziiert ihn ausgerechnet mit dem Schicksalsjahr 1967. Bei Riets und Helmers Besuch an Henks Grab muss sich natürlich etwas dazu Passendes ereignen: Einer von zwei Erpeln wird totgefahren. Ada und Helmer richten zufällig zur selben Zeit die Ferngläser von ihren Höfen aus aufeinander, nur dass Ada nach ihren Kindern Ausschau halten kann, Helmer aber - zufällig ist es sein erstes Mal -  dafür gar keine Motivation hat. In der langen, wenig ereignisreichen erzählten Gegenwart fallen zwei Unglücke zeitlich fast ineinander: Eine Krähe hackt dem jüngeren Henk in den Kopf und am Tag darauf ertrinkt Helmer beinahe, wird aber von Henk gerettet. Man versteht: Inversion der Urkatastrophe von 1967. Und überhaupt die Krähe, sie wird auf jeder zweiten oder dritten Seite als unheildräuender Vogel strapaziert … Der Gipfel der Zufälligkeiten wird erreicht, als Jaap, früher Knecht bei den van Wonderens, vor der Ruine seiner alten Unterkunft steht. Er wurde vor fünfunddreißig Jahren entlassen und kommt erstmals zurück, während die Leiche von Helmers Vater im Haus noch aufgebahrt ist. Von dessen Tod erfährt er jetzt zufällig erst durch Helmer, der ihn auch nur zufällig gesehen hat. Genug, möchte man sagen, aber Bakker klebt als Romanschluss noch eine altbacken-süßliche Männerfreundschaft mit Jaap dran. Helmer macht mit ihm Urlaub in Dänemark und da wirken die zwei wie eine trivialisierte Version von Risach und Mathilde in Stifters „Der Nachsommer“.

Bakkers Roman wurde seinerzeit von eingeführten holländischen Verlagen zurückgewiesen. Für die Verlagsneugründung Uitgeverij Cossee BV hat sich die literarische Spekulation auf den Massengeschmack dann gelohnt. Aber ist das nun wirklich eine Spätblüte europäischer Romankunst? Man vergleiche einmal, wo die Verfilmung des Romans durch Nanouk Leopold von der Vorlage abweicht. Frau Leopold vermeidet all das Triviale und Unwahrscheinliche und ihr gelingt damit ein respektables Kunstwerk. Dazu verlegt sie die Handlung aus der Amsterdamer Nähe in die tiefe Provinz und lässt Riet, bis auf einen kurzen Anruf bei ihr, ganz weg, schafft neue Nebenfiguren. Und der jüngere Henk darf bei ihr sogar tun, was ihm Bakker im Roman verwehrt: sein erotisches Bedürfnis durch Berührung verdeutlichen. Apropos Henk: Suhrkamp macht für die deutsche Ausgabe unter anderem mit diesem seltsamen Satz auf der Buchrückseite Reklame: „Ihr pubertierender Sohn Henk soll bei Helmer das Arbeiten lernen ...“ Pubertieren noch mit achtzehn? Vielleicht gab’s das ja früher mal. Dieser Henk ist, anders als der europäische Roman heute, gerade mitten in der Adoleszenz.

 

(Zitate nach der Übersetzung von Andreas Ecke)

 

 

51. Über Tim Teeman: In Bed with Gore Vidal

 

Der Titel verengt auf etwas reißerische Art die Perspektive des Buchs, sein Untertitel erweitert sie dann wieder so: „Hustlers, Hollywood and the Private World of an American Master“. Auch damit ist noch nicht der gesamte Kreis bezeichnet, den Tim Teeman in seinem 2013 bei Magnus Books erschienenen Werk auf 279 Seiten abschreitet. Tatsächlich verschafft einem die Lektüre eine weitgehende Kenntnis der Biographie des 2012 verstorbenen US-Autors mit ihren Begegnungen, Hintergründen und Krisen. Der Schwerpunkt von Teemans Recherche liegt zwar auf Vidals persönlichen Beziehungen, doch kommt sein Werk nicht zu kurz. Einzelne seiner Bücher werden mehr oder weniger ausführlich vorgestellt und immer wieder in Beziehung gesetzt zum Lebenslauf.

Teeman ist ein Brite, der heute in New York lebt. Er hat lange für die Londoner „Times“ gearbeitet. Für diese Zeitung hat er Gore Vidal 2009 interviewt. Die Untersuchung zum privaten Vidal ist seine erste Buchpublikation. Er begann schon in den ersten Monaten nach Vidals Tod (31. Juli 2012) mit der Arbeit daran. Bereits im Dezember 2012 konnte er sich in Vidals kalifornischer Villa umsehen, deren weitere Verwertung damals noch ungeklärt war. Teeman hatte engen Kontakt zu den nächsten Verwandten, der Halbschwester Nina Straight  und dem Neffen Burr Steers. Weiterhin führte er eine Vielzahl von Interviews mit Freunden, Bekannten oder anderen, die irgendwann Vidals Weg gekreuzt hatten. Ferner hat er umfangreiches Archivmaterial ausgewertet, vor allem Korrespondenz. (Der Nachlass liegt in der Bibliothek der Harvard-Universität.)

Teeman ist kein Literaturwissenschaftler, sondern Journalist. Als solcher breitet er vor allem das umfangreiche Material vor uns aus, lässt zahlreiche Widersprüche offen, die sich aus den Quellen ergeben, und nimmt nur bei zentralen Fragen selbst gelegentlich Stellung. So ergibt sich ein kontrastreich zusammengesetztes Bild des Verstorbenen. Im Ergebnis hat das gerade für den schon länger mit Vidals Werk Vertrauten manch Irritierendes. Es mag sein, dass er ihn und seine Positionen nach der Lektüre kritischer sieht, ihm auch weniger Sympathie entgegenbringt.

Im Einzelnen werden abgehandelt: die so prominente wie problematische Herkunft aus der US-Oberschicht, der Mythos Jimmy Trimble (Vidals angeblich einzige Liebe im Leben), die Bedeutung seines jahrzehntelangen Lebenspartners Howard Austen, Vidals Promiskuität, sein Verhältnis zu Frauen, seine widersprüchliche Positionierung gegenüber Gay Liberation, die Querverbindungen zwischen Werk und Lebenslauf, seine literarischen und politischen Fehden, Alkoholismus, geistiger wie körperlicher Verfall am Ende. Eine Nebenrolle spielen auch die Verfahren, die Nina Straight und Burr Steers angestrengt haben, um sich einen Teil des Erbes zu sichern. (Harvard hat infolge später Testamentsänderung fast alles bekommen, also ca. 30 Millionen Dollar plus alle weiteren Tantiemen.) Möglicherweise in  diesem Zusammenhang haben sie Teeman mit brisanten Informationen über den Verstorbenen versorgt. Sie zu unterdrücken, wäre mit journalistischem Ethos nicht zu vereinbaren gewesen, aber Teeman konnte natürlich nicht klären, ob Vidal evtl. pädophil war. So bleibt es im Buch bei isolierten Andeutungen, die in den USA dennoch für beträchtliches Aufsehen gesorgt haben.

Die Darstellung ist insgesamt professionell und inspiriert geschrieben. Eines vermisst man, obwohl bei dieser Gattung nicht unbedingt zu erwarten: ein Personenregister. Es würde mehrere Seiten umfassen und an bei uns schon bekannten Namen u.a. enthalten: Tennessee Williams, Truman Capote, Christopher Isherwood, Edmund White, Paul Newman, Anaïs Nin, Prinzessin Margaret, die Kennedys. Noch bereichernder könnten Entdeckungen werden, die man machen kann, z.B. die des Malers Hugh Steers (1963 – 1995), eines weiteren Neffen von Gore Vidal.

Das Buch liegt bisher nicht in deutscher Übersetzung vor.   

 

 

52. Eça de Queiroz lesen

 

Liegt’s am Namen, den richtig auszusprechen man erst lernen muss? Oder daran, dass Portugal nur ein kleines Land am Rand Europas ist? José Maria Eça de Queiroz (1845 – 1900), einer der produktivsten Romanciers von Rang des späten 19. Jahrhunderts, ist im deutschen Sprachraum eine kaum bekannte Größe. „Die Maias“, sein Hauptwerk, erschienen 1888, kam erst 1983 in deutscher Übersetzung heraus und blieb ein Geheimtipp. Der gut 800 Seiten dicke Roman trägt den Untertitel: „Episoden aus dem romantischen Leben“. Damit sind Eça de Queiroz’ Hauptvorbilder und die Spannung zwischen diesen Polen angedeutet: Balzac – Flaubert - Zola. Die Handlung ist im Aufbau phantastisch verwickelt wie bei Balzac, der Stil dagegen beherrscht und ausgefeilt wie bei Flaubert. Dazu tritt ausgeprägtes Interesse fürs Soziologische wie bei Zola.

Diese „Maias“ sind eine alte Adelsfamilie und analog zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ könnte der Untertitel gleichfalls lauten: Verfall einer Familie. Die Modernität des gut eine Generation älteren Portugiesen erweist sich daran, dass der Hauptstrang der Erzählung eine Inzestgeschichte ist – Thomas Mann dagegen hat das Thema nur in der Novelle „Wälsungenblut“ behandelt und lange mit der Veröffentlichung gezögert. Carlos und seine Schwester Maria Eduarda sind die letzten Maias. Getrennt aufgewachsen erkennen sie sich nicht als Geschwister und gehen eine leidenschaftliche Beziehung ein. Sie wird abgebrochen, als die Verwandtschaft offenbar wird. Carlos, der Held des überwiegend im personalen Erzählstil dargebotenen Stoffes, zieht am Romanende im Gespräch mit seinem langjährigen Freund Ega eine resignative Lebensbilanz, ganz ähnlich wie Frédéric Moreau und Deslauriers in Flauberts „L’Éducation sentimentale“. Ohne Zweifel sind „Die Maias“ vor allem ein Desillusionsroman.

Eingebettet ist dieses Drama in ein breit angelegtes, leicht satirisches Zeitpanorama mit einer Fülle von Personen, Umständen und Abläufen. Der Leser von heute muss sich erst an dieses Oberschicht-Portugal von 1875 gewöhnen. Adel und Großbürgertum von damals, ihre Lebensumstände und Interessen, all das ist längst untergegangen. Man kann es wahrnehmen wie die auf Papier aufbewahrten Relikte einer entschwundenen Zeit, aus einem Land, das damals schon äußerste Peripherie war und dominiert in Politik, Wirtschaft und Kultur von den Entwicklungen und Entscheidungen in England und Frankreich. Zeitweise mag der Leser den Eindruck gewinnen, es ginge den zahlreichen Müßiggängern und –gängerinnen fast nur ums Ausspannen und Fremdgehen. Die politischen Zustände sind heillos korrupt. Das allgemeine Klima ist zugleich von Langeweile wie von Gier nach Lebensgenuss geprägt. Literatur und literarisches Schaffen, Sammeln von Kunst erscheinen wie Ersatzbefriedigungen. Wer sich beim Lesen hin und wieder gelangweilt oder abgestoßen fühlen sollte, dem sei geraten, die allgemein-menschlichen Züge der Figuren jenseits des Zeitbedingten zu studieren. Dieser Roman weist sie ebenso klar auf wie die Stücke Shakespeares oder ein antikes griechisches Drama. Wie verhält sich Carlos, als er die wahre Herkunft seiner Geliebten erfährt? Wann verschweigt Maria Eduarda wesentliche Fakten? Auf welche Weise bricht Carlos’ Großvater zusammen, als er von den Irrwegen seiner einzigen Enkel erfährt?

Und dann mag man sich über die künstlerischen Mittel klar werden, die Eça de Queiroz geschickt verwendet, den Wechsel der Erzähltempi, das Herausarbeiten von Höhepunkten, die Bedeutung von Gesprächen, Diskussionen, Handlungsorten. So kann man sich auch dem letzten, posthum 1900 veröffentlichten Roman „Das berühmte Haus Ramires“ nähern. Darin wird das Schreiben selbst thematisiert, die damit verbundenen Sehnsüchte, Befriedigungen und Enttäuschungen, die Wechselwirkungen mit dem laufenden realen Leben eines Autors. Eça de Queiroz dürfte dem schreibend dilettierenden kleinen Landadligen, der sich später in die große Welt aufmacht und mit seiner kleinen bricht, Züge von sich selbst gegeben haben, wie auch schon dem Ega in den „Maias“, und zwar jeweils im Sinne eines Sehnsuchtsbildes wie auch zugleich Abwehrzaubers. Er, der der bedeutendste Romancier Portugals im 19. Jahrhundert werden sollte, war von Anfang „in“ und „out“. Als nichtehelicher Adelsspross konnte er nicht in der väterlichen Familie aufwachsen, lernte dennoch die Verhältnisse der Schicht, der er entstammte, sozusagen aus naher Distanz kennen. Den Hauptteil seines Erwachsenenlebens verbrachte er dann im diplomatischen Dienst im Ausland, in Kuba, England und in Paris. Seine zahlreichen Romane und Erzählungen sind fast immer in Portugal angesiedelt. Aus all dem resultiert eine unaufgelöste Spannung, die sich dem Leser bis heute mitteilen kann.

 

 

53. Max Dauthendeys Erzählungen

 

Asien war sein Sehnsuchtsort, Asien wurde zu seinem Schicksal. Max Dauthendey starb am 29. August 1918 auf Java infolge einer Malariainfektion. Er war einundfünfzig geworden und die letzten vier Jahre von den Behörden in Niederländisch-Indien als Angehöriger einer kriegführenden Nation festgehalten worden. Schon 1919 gab Walter von Molo bei Albert Langen einen Auswahlband zum Gedächtnis heraus: „Das Schönste von Max Dauthendey“. Er enthält zwölf Erzählungen und jeweils eingeschaltet wie eine Zwischenmusik Gruppen von Gedichten. Über Dauthendeys Lyrik hier nichts weiter, wenden wir uns gleich der Prosa zu.

Zehn der Geschichten spielen in Asien. Bei ihrer Lektüre taucht man rasch in die spezielle Dauthendeysche Welt ein: Pantheismus, Allsympathie, Eros als höchste Kraft, aber auch Eros kontemplativ. Unverkennbar ist das ein Autor zu Zeiten des Jugendstils, der das impressionistische Malen virtuos auf die Literatur anzuwenden verstand. Dabei überrascht die Aktualität des Erzählten. Die meisten Texte spielen nicht in einem idealisierten, legendären oder ironisierten Asien – Gegenbeispiele Hesses „Siddharta“ oder Th. Manns „Die vertauschten Köpfe“ -, sondern unverkennbar in der kolonialen Welt um 1900. Der Erzähler ist ein zeitgenössischer Europäer, der das Bild des fremden Kontinents begierig aufsaugt, tief eindringt und dennoch gelegentlich befremdet an Grenzen des Nachvollziehbaren stößt.

Die Vitalität der östlichen Kulturen erweist sich anhand sehr origineller Plots. In „Himalayafinsternis“ erlebt ein Reisender verblüfft, wie durchsetzungsstark der „Aberglaube“ einer Witwe noch sein kann. „Der Garten ohne Jahreszeiten“ präsentiert ein ceylonesisches Paar, das sich verliert und, indem es sich Trennung und Promiskuität willig überlässt, erst recht wieder zusammenfindet. „Im blauen Licht von Penang“ ist einer der schwächeren Texte des Bandes. Hier gibt Dauthendey einmal dem europäischen Bedürfnis nach einer „typisch“ asiatisch-okkulten Geschichte nach und erreicht nur etwas Schablonenartiges. Historisierend japanisch dann zwar „Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen“, es ist dennoch eine lebendig wirkende Studie über Kalligraphie und Naturbeobachtung. „Likse und Panulla“ sind zwei Frauen in Singapur, die es fertigbringen, sich wechselseitig zu ermorden, woraufhin die eine Leiche der anderen noch einen Vortrag über Todestrieb und Mordlust und die Vitalität dahinter hält. Eros als etwas Absolutes ist das Thema in „Das Abendrot zu Seta“. Eine japanische Witwe erlebt auf Pilgerreise in einem Kloster ein perfektes amouröses Abenteuer. Als der Unbekannte seine normalbürgerlichen Züge enthüllt, verfällt sie tiefer Enttäuschung und entschädigt sich, indem sie so lange ins Abendrot schaut, bis sie erblindet: „Dann starb sie lächelnd.“ In „Der unbeerdigte Vater“ kommt in China ein Erdbeben zur rechten Zeit ins Spiel. Was hier erzählerisch noch funktioniert, ein Deus ex machina, der den tiefen inneren Zusammenhang aller Geschehnisse zeigen soll, versagt in „Den Abendschnee am Hirajama sehen“. Die Reise einer Berlinerin, die gerade einen Japaner geheiratet hat, beginnt mit philosophischen Streitgesprächen und endet als Horrortrip, dessen allzu konstruierter Höhepunkt ein Schiffsunglück wird. Hier, bei diesem fatalen West-Ost-Dualismus, kann man schon an Stoffe von E.M. Forster denken. Erst recht ähnelt der Plot in „Eingeschlossene Tiere“ der Beziehung zwischen Dr. Azis und Miss Adela in Forsters „A Passage to India“, das aber erst Jahre nach Dauthendeys Tod veröffentlicht wurde. Noch etwas Asiatisches übersehen? Ja, „Die Abendglocke vom Mijderatempel hören“, buddhistisch legendenartig, will nur den Lehrsatz „Liebe größer als Unsterblichkeit“ beweisen, literarisch schwächer als die meisten anderen Texte im Buch.

In Europa spielen die erste und die letzte Erzählung. „Zwei Reiter am Meer“ beschließt den Band, so schön geschrieben wie Bilder von Böcklin oder Heinrich Vogeler gemalt. Inhaltlich ist es spekulativ, handelt von „Todesfestlichkeit“ und „Wiederkehr“: „ … es war die Festlichkeit der Schmerz und Freude ausgleichenden Todesstunde …“ mündet in: „Seine Todeswelle, raumloser als die räumlichen Wellen, die wir Lebenden fühlen, wollte sich vor uns verkörpern.“ Und dann wird am Klavier die Mutter des jung verstorbenen Komponistensohns, als sie etwas von ihm spielt, wieder jungmädchenhaft, ein Mirakel. Sprachlich ist das sehr gelungen, inhaltlich nachvollziehbar nicht für jeden.

Die Eingangserzählung „Zur Stunde der Maus“ liest sich wie eine belletristische Abrechnung mit Sigmund Freud. Es ist ein Drei-Personen-Drama: der Obsthändler, seine Frau und das schöne Ladenmädchen. Zunächst deckt die Gattin des Kaufmanns dessen ihm selbst unbewussten Wünsche auf, sie analysieren das gemeinsam und sind sehr vernünftig. Dann unterläuft ihr eine Fehlleistung, die den Tod des Mädchens zur Folge hat. Er sieht darin ihre unbewusste Tötungsabsicht und verzeiht ihr nicht – bis sie vor Gram sterbenskrank wird. Nun überzeugt er sich selbst gewaltsam von ihrer Unschuld und rettet sie dadurch fürs Leben. Das ist die Erledigung der Psychoanalyse mit deren eigenen Mitteln.

Bald hundert Jahre ist der schmale Band – und wie viele Denkanstöße gibt er noch immer.

 

 

54. Über Mark Twain: Der geheimnisvolle Fremde

 

Das ist eine Erzählung aus Mark Twains letzten Lebensjahren. Er starb 1910 und hinterließ mehrere unveröffentlichte Fassungen des Stoffs. Sein Biograph Albert Bigelow Paine stellte daraus jene her, die 1916 erstmals in Buchform erschien. Auf diese, die übersetzt auch in Hansers Ausgabe der Gesammelten Werke von 1965 enthalten ist, bezieht sich das Folgende – nicht auf spätere Buchausgaben.

Der Stoff: Der Engel Satan, Neffe des gleichnamigen Höllenfürsten und dem Onkel durchaus geistesverwandt, erscheint 1590 drei Schuljungen in einem abgelegenen österreichischen Dorf. Er führt Zauberkunststücke in großem Stil vor und diskutiert mit ihnen die großen Fragen von Philosophie, Religion und Geschichte. Daneben greift er in die laufenden Ereignisse im Dorf ein, mit zum Teil tödlichen Folgen. Der Gehalt ist also zugleich philosophisch wie theologisch und auch historisch-politisch. Mark Twain hat daraus eine Geschichte in volkstümlichem Ton gemacht, die formal an seine früheren großen Romane anknüpft. Wie schafft er das bei derart schwergewichtiger Problematik? Er schildert den Ablauf aus spätkindlicher Perspektive – wie die Schuljungen alles erleben – und siedelt den Stoff in einem kleinen hinterwäldlerischen Dorf dreihundert Jahre vor seiner Zeit an. Damit schafft er zugleich Distanz wie Nähe. Der zeitliche Abstand lässt uns die großen Zusammenhänge besser erkennen, das Vertraute schafft dagegen erst die Möglichkeit der Identifikation. Wir dürfen annehmen, dass Kinder um 1600 nicht viel anders auf eine für sie neue Welt reagiert haben als die um 1900. Und das Dorf als kleinste geschlossene Siedlungseinheit ist ebenso in seinen Grundzügen über die Jahrhunderte unverändert geblieben, bis zu Mark Twain jedenfalls. Die dritte Eigenschaft, die den schwierigen Stoff dem Leser näherbringt, ist der gelegentlich humoristisch-sarkastische Ton.

Wie ist der Autor Mark Twain in der erzählten Geschichte selbst enthalten? Er ist es auf dreifache Weise. Einmal spiegelt sich in der Satan-Figur deutlich die Lebensauffassung des alten Mark Twain. Der Dorfjunge Theodor Fischer, also der Ich-Erzähler, vertritt dagegen den jungen, noch unreifen, doch schon kritischen Samuel Langhorne Clemens, wie Mark Twain bürgerlich hieß. Nun werden zwar die Geschehnisse aus der Perspektive des Knaben Theodor berichtet, niedergeschrieben sind sie allerdings von diesem „ein Menschenalter“ später. Der gereifte Ich-Erzähler bildet also die vermittelnde Instanz zwischen dem alterspessimistischen Mark Twain um 1910 und dem vitalen jungen Burschen, der er einst selbst war. Ob die gelegentlichen Anachronismen beabsichtigt oder Flüchtigkeitsfehler sind, bleibt offen.

Fazit: Mark Twains lange Erzählung kommt formal als Kindergeschichte mit Schauereffekten daher, stellt dahinter aber ein Selbstgespräch des Autors über „letzte Dinge“ dar, wie z.B. den freien Willen oder die Unterscheidung von Gut und Böse. Ob das Ergebnis als literarisch geglückt anzusehen ist, ist nicht leicht zu entscheiden. Auf jeden Fall ist es ein aufschlussreiches Zeugnis für das Denken des großen, sehr erfolgreichen Autors gegen sein Lebensende hin. Damals war er radikal pessimistisch und nihilistisch, so sehr, dass er den Großteil seiner späten Produktion für sich behielt. Diese Radikalität äußert sich sprachlich wie begrifflich formvollendet in Satans letzten Worten so:

„Es stimmt, was ich dir enthülle; es gibt keinen Gott, kein Weltall, kein Menschengeschlecht, kein irdisches Leben, keinen Himmel, keine Hölle. Es ist alles ein Traum – ein grotesker und törichter Traum. Nichts existiert, nur du. Und du bist bloß ein Gedanke – ein schweifender Gedanke, ein nutzloser Gedanke, ein heimatloser Gedanke, der inmitten leerer Ewigkeiten umherirrt.“ (Zitiert nach der Übersetzung von Otto Wilck.)

 

 

55. Über Mark Twain: Briefe von der Erde

 

Dies ist eine Sammlung von Texten aus Mark Twains Nachlass, die erst 1963, gut fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors, erscheinen konnte. Sein literarischer Nachlassverwalter Bernard DeVoto hatte die Herausgabe schon Jahrzehnte davor geplant, doch von Clara Clemens, Tochter des Autors und Inhaberin der Rechte, keine Genehmigung erhalten. Dies gelang erst seinem Nachfolger. Clara Clemens mag gute und weniger gute Gründe für ihr Zögern gehabt haben. Insgesamt handelt es sich um eine sowohl inhaltlich wie qualitativ sehr heterogene Sammlung, die zwar die Neugier der Kenner anregen, doch das literarische Prestige ihres Vaters nicht unbedingt stärken konnte. Außerdem dürfte die Tochter des Dichters mit vielen religionskritischen Passagen keineswegs einverstanden gewesen sein. Ironie der Literaturgeschichte: Ausgerechnet ein Kind Mark Twains schloss sich der Christian Science an. Schließlich soll der Kalte Krieg um 1960 den Ausschlag für die Publikation gegeben haben. Durch sie wurde sowjetischer Propaganda, die im Zurückhalten systembedingte Zensur sah, der Boden entzogen.

Die Gesammelten Werke bei Hanser in deutscher Übersetzung änderte die Reihung der Einzeltexte. Ihr folgen wir und lesen zuerst „Die Briefe Satans“, eine etwas unbefriedigende Ouvertüre. Mark Twain übt hier Religionskritik mit den Mitteln einer einfachen Kurzgeschichte, deren Konstruktion jedoch nicht trägt. So wird Satan nach vielversprechendem Anfang des Textes zur Strafe auf die Erde gesandt und soll dem Himmel in Briefen berichten, wie sich die Menschheit denn anlässt – nur dass diese Epistel allzu deutlich Tiraden des alten, verbitterten Menschen Mark Twain sind. Da ist weder satanischer Witz noch satanischer Standpunkt. Man will den Band schon fortlegen und beginnt dann doch mit dem nächsten Text: „Aus den Papieren der Sippe Adam“. Das erweist sich schnell als genialer Mix aus biblischer Geschichte und aktueller Zeitkritik, leider im Verlauf etwas überladen, bis einen der gelungene Schlussteil wieder versöhnt. Kostprobe von den toll-satirischen Einfällen: Eva schildert sich und Adam in ihrer Autobiographie als die ersten Naturforscher überhaupt. Während Adam die umwälzende Entdeckung macht, dass Wasser bergab fließt, findet Eva heraus, wie die Milch in die Kuh kommt – sie nimmt sie aus der Luft mit dem Fell auf. Flaubert, der Vater von „Bouvard und Pécuchet“, lacht darüber im literarischen Himmel.

Als ein zupackender und –beißender Literaturkritiker erweist sich Mark Twain in zwei Abrechungen mit Cooper, lehrreich noch heute. Ich kann hier nicht alle fünfzehn Texte vorstellen, nur eine Auswahl. Die „Beiträge zu Fragen der Etikette“ sind boshaft amüsant und verspielt, wie von einem Urahn Tucholskys geschrieben. Unangenehm fiel mir wegen seiner extremen Einseitigkeit und primitiven Frankophobie „Die Franzosen und die Komantschen“ auf. „Die verdammte Menschenrasse“ hat mich beim Lesen viele sachliche Einwände notieren lassen, die ich, um ihn nicht zu ermüden, dem Leser hier erspare. Rundum gelungen scheint mir dagegen die lange Geschichte „Die große Finsternis“, eine surrealistische Reise, die mit einem Wassertropfen unter einem Mikroskop beginnt, dann auf ein unbekanntes und unendliches Meer hinausführt, auf dem keine Naturgesetze mehr gelten und es keine Orientierung gibt. Der Schluss erinnert an Dürrenmatts „Der Tunnel“, nur dass es hier gemüthafter ausgeht. Das Schiff rast zwar wie jener Zug nach unerklärlicher, grauenhafter Fahrt auch auf Gott oder die Ewigkeit zu, doch ein Seebär von altem Kapitän hebt in letzter Minute die Moral der meuternden Mannschaft – ernst gemeint oder Parodie oder sonst etwas?

Als Rausschmeißer kommt dann noch ein „Brief an die Erde“, etwas Leichtfüßig-Satirisches. Ein in der Himmelsbürokratie angestellter Engel geht Punkt für Punkt auf die sehr irdischen Gebete eines Kohlenhändlers ein. Das klingt wiederum Zeile für Zeile nach Tucholsky, so dass man sich erinnern muss, wer vor wem gelebt hat und dass der Jüngere diesen Text des Älteren nicht gekannt haben kann. Freilich – wenn Autoren erst mal tot sind, gibt es kein Älter oder Jünger mehr. Nur an ihren Texten erweist sich, ob diese sich frisch erhalten haben. Für vieles von Mark Twain und für manches aus dieser Sammlung gilt das bis heute.   

 

 

56. Über Robin Alexander: Die Getriebenen

 

Es muss ein seltsames Buch sein, das sich bald nach Erscheinen an die Spitze der Sachbuch-Bestsellerlisten setzt und das gleichzeitig von professionellen Rezensenten weitgehend ignoriert wird. Das ist umso merkwürdiger, als der Buchautor ein durchaus angesehener Kollege jener Redakteure ist, die jetzt einen Bogen um sein Werk machen. Der Untertitel: „Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht“ gibt schon einen Fingerzeig, das da einer vermintes Gelände betritt – einer, dessen Stimme Gewicht hat. Alexander hat nach dem Studium acht Jahre für die „taz“ gearbeitet und berichtet seit 2008 für die „Welt“ aus Berlin, primär über die Politik der Kanzlerin, die er auch regelmäßig auf ihren Auslandsreisen begleitet. 2013 hat er den Theodor-Wolff-Preis bekommen, mit dem die deutschen Zeitungsverlage herausragende Leistungen würdigen.

Das Buch zeichnet aufgrund gründlicher Recherchen ein Gesamtbild der Abläufe zwischen September 2015 und März 2016. Es wartet mit zahlreichen der Öffentlichkeit bisher nicht bekannten Details auf. Dazu gehört auch die von den Spitzen der Großen Koalition am 12.9.15 getroffene Übereinkunft, vom Folgetag an die deutsche Grenze für Flüchtlinge faktisch zu schließen und sie nach Österreich zurückzuverweisen. Schon eine Woche nach der spektakulären Grenzöffnung hielten Merkel, de Maizière, Altmaier, Gabriel, Steinmeier und Seehofer das für geboten, doch wurde es nie praktisch umgesetzt. Alexander zufolge wollten aus Sorge vor öffentlicher Meinung und evtl. Gerichtsentscheidungen weder der zuständige Innenminister noch die Kanzlerin die politische Verantwortung für die Ausführung übernehmen.

Mit der Darstellung dieses brisanten Geschehens beginnt Alexander sein Buch. Die Überschriften der folgenden Kapitel deuten an, was der Leser weiter zu erwarten hat: „Flüchtlingskanzlerin wider Willen … Die Nacht, die Deutschland veränderte … Deutscher Rausch …“. Der Autor porträtiert die Akteure, gefangen in einem von ihnen monatelang nicht mehr kontrollierten Geschehen, ihre persönlichen Voraussetzungen, ihr Gegeneinander. In der zweiten Hälfte des Werks dominiert Merkels Verhältnis zur Türkei, speziell zu Erdoğan, das sehr gründlich ausgeleuchtet wird. Uns wird die Konkurrenz zweier Lösungsansätze vor Augen geführt, auf der einen Seite das nach vielen Mühen erreichte EU-Türkei-Abkommen, auf der anderen die von Österreich und den Westbalkanstaaten durchgesetzte Grenzschließung.

All das ist selbst im Rückblick spannend zu lesen. Zur Detailfülle treten Klarheit und Anschaulichkeit. Alexander will, so schreibt er im Vorwort, „das wohl dramatischste Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte aus einer besonderen Perspektive, nämlich die der politisch Handelnden“ schildern. Er sieht voraus, dass er von zwei Seiten kritisiert werden wird, wenn es um Merkels Rolle geht, von rechts wie von links: „Die Anhänger beider Sichtweisen werden von diesem Buch enttäuscht sein. Es erzählt weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück.“ Gleichwohl übt Alexander im Detail massive Kritik an der Politik der Kanzlerin, an ihren sprunghaften Entscheidungen wie deren wechselnden Begründungen. Er sieht keinen Unterschied zwischen Budapest im Sommer 2015 und Idomeni im Jahr 2016. Das EU-Türkei-Abkommen ist für ihn nie realisiert worden, wie er Punkt für Punkt darlegt. Und er prophezeit: „Die Flüchtlingskrise ist noch nicht zu Ende.“

Bleibt die Frage: Wer hat Angst vor Robin Alexander? Woher die Reserviertheit gerade seine Kollegen? Erkennen sie sich in seinem Buch wieder als Teil einer Kulisse, für deren Beifall damals Politik gemacht wurde? Der Autor zitiert im Kapitel „Deutscher Rausch“ fleißig, Politiker und Journalisten. Manchem dürfte inzwischen manches peinlich zu lesen sein. Auf Bl. 69 unten schont Alexander nicht einmal sich selbst. Fazit: Es gibt noch oder wieder Journalisten in Deutschland.

 

 

57. Über Adalbert Stifter: Der Waldgänger 

 

„Der Waldgänger“, 1846 geschrieben, ist eine von Stifters längeren und bedeutenderen Erzählungen. Sie behandelt relativ zeitlose Themen: Kinder und ihre Erziehung, was Ehe ausmachen kann, am Rande auch die Stellung der Frau. Die zentralen Inhalte sind allerdings Kinderlosigkeit und Alterseinsamkeit. Literaturgeschichtlich bemerkenswert ist, wie hier ein katholischer österreichischer Autor der Biedermeierzeit seine beiden Hauptfiguren einem norddeutsch-protestantischen Milieu entnimmt und sie im Verlauf ihres Schicksals ins südliche Deutschland verpflanzt. Dort verwurzeln Georg und Corona nicht wirklich, sie bleiben losgelöst Vagabundierende. Ihr Schicksal soll illustrieren, dass eheliche Harmonie noch über der Erfüllung des Kinderwunschs steht. Stifters Ehe selbst blieb kinderlos, er hat diese Thematik hier mitverarbeitet.

Der Gehalt des Textes mutet nicht spektakulär an. Warum also in Zeiten moderner Reproduktionsmedizin noch zu dieser Erzählung greifen? Zunächst vor allem aufgrund formaler Kriterien. Der Aufbau der Handlung hat sein Kühnes. In mehrfach verschachtelten Rückblicken führt der Autor die Geschichte des Waldgängers wie in einem Spiegelkabinett dem Leser vor Augen. Als Einstieg wählt er autobiographisch seinen eigenen Aufbruch aus dem heimatlichen Böhmerwald nach Wien. Der Leser wandert mit ihm von der Gebirgshöhe (der „Scheidelinie“) in die zur Donau sich neigenden Gegenden hinab. Hier wird die Landschaft nicht nur symbolisch überhöht eingesetzt, sie wird in der Beschreibung selbst gleichwertiger Akteur. Insgeheim synchronisiert sich der Erzähler bereits mit dem Waldgänger, von dem noch gar nicht die Rede ist. Er zieht für sich schon nach wenigen Seiten ein Fazit, das später erst recht dasjenige der Titelfigur sein kann. Das ist eine der schönsten Stellen bei Stifter überhaupt, ein Satz wie eine Sinfonie, mit Eingangsthemen, Durchführung und Schlussakkord:

„Jedes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft des Wanderers vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten, jedes Gewöhnliche, was er von seiner Seele und seinem Leben fernhalten wollte, war gekommen … (hier weggelassen eine lange und für Stifter typische Parenthese) – was er sonst anstrebte, erreichte er nicht, oder er erreichte es anders, als er gewollt hatte, oder er wollte es nicht mehr erreichen; denn die Dinge kehrten sich um, und was sich als groß gezeigt hatte, stand als Kleines am Wege, und das Unbeachtete schwoll an und entdeckte sich als Schwerpunkt der Dinge, um den sie sich bewegen.“

Ähnlich ergeht es dem Waldgänger Georg, von dem wir anschließend lesen. Er tritt zuerst als alter Mann im Böhmerwald auf, sammelt Objekte aus der Natur, unterrichtet einen Knaben einfacher Herkunft. Als der Junge groß genug ist, um allein in die Welt zu ziehen, verschwindet auch der Waldgänger aus der Gegend. Aufgerollt wird nun als Hauptteil der Erzählung seine Vorgeschichte, die Geschichte einer an sich glücklichen, doch kinderlosen Ehe, die daher nach Überzeugung der Frau geschieden werden soll. (Und davor erfahren wir noch die Herkünfte der beiden, also zwei Familiengeschichten einschließlich der Berufs- und Vermögensverhältnisse.) Die vereinbarte Scheidung bezweckt neue Partnerschaften mit Nachkommen, doch nur Georg hat dann Kinder, zwei Söhne, die sich ihm später entfremden werden. Mit ihnen wieder einmal auf der Suche nach einem neuen Wohnort umherziehend begegnet er zufällig und doch nach innerer Gesetzmäßigkeit der gealterten Corona, die ihn, den sehr geliebten Mann, nicht wirklich ersetzen konnte oder wollte. Sie wechseln nur wenige Sätze und trennen sich dann für immer. Stifter lässt am Ende die zwei Gestalten als sehr alte Vereinsamte entschwinden und sagt dem Leser abschließend, was sie falsch gemacht haben.

Reden wir noch über den Stil. Ja, die Parenthesen und die sonstigen Verschachtelungen der Sätze bei Stifter … Ein gutes Beispiel hier handelt von einer alten Gräfin, die bauen lassen will:

„Dies veranlasste die alte Frau, welche längst schon einen Umbau der sommerlichen Gebäude, die von dem Schlosse einige Flintenschüsse entfernt in dem Garten lagen, eigentlich ein Gartenhaus vorstellten, aber durch die verschiedenen Zubauten der vielen vorhergehenden Geschlechter eine Sammlung von Gartenhäusern geworden waren und daher unzusammengehörig und ungestaltet dastanden, im Plane gehabt hatte, die Sache nun wirklich ins Werk zu stellen und den jungen Mann dazu zu gewinnen.“

Mark Twain hat sich über solche Satzkonstruktionen in seinem Text „Die schreckliche deutsche Sprache“ zu Recht lustig gemacht. Wenn es auch kein guter Stil ist – man kann solche Sätze als Seltsamkeiten betrachten oder als Denksportaufgaben. Viel gelungener sind dagegen Stifters Doppelpunktsätze, so nenne ich sie, da in ihnen nach langer Reihung von Beobachtungen jeweils hinter einem Doppelpunkt die Quantität in eine neue Qualität umschlägt. Das hat etwas vom Fluten einer Schleusenkammer: Steht das Wasser hoch genug, nimmt das Schiff der Erzählung seine Fahrt wieder auf. Ein schönes Beispiel dafür aus „Der Waldgänger“:

„Wie die Lerchen auf den Feldern sangen, der Finke in den Wäldern, die Schwalben pfeilrecht schossen und an den Häuschen Nester bauten, wie an den rieselnden Gräben der dichtgelbe Saum der Butterblume wuchs, und draußen auf den Feldern der blaugrüne immer höher sprossende Samt der Getreide wehte: gingen sie freudig nach allen Richtungen herum, und jeder Tag brachte blaueren Himmel, weißere Wolken und größere über die Waldwände hereingehende Hitze.“

Stifters Stil kennt außer überlangen Perioden auch kurze, prägnante Sätze, deren wenige Wörter komprimiert eine komplexe Psychologie enthalten. So heißt es z.B. von Georg und Corona, bevor sie heiraten: „Die verödete Größe, die in ihrem Wesen lag, lockte ihn an.“

Insgesamt weist „Der Waldgänger“ sowohl biedermeierliche wie zeitlose Bezüge auf. Er handelt von Entsagung und Hinnahme in einer betont bürgerlichen Welt. Zugleich kann man in ihm eine Vorstudie zu Stifters großem Roman, seinem Hauptwerk, sehen. An die Stelle von Georg und Corona treten später Risach und Mathilde, und ihnen ist ein „Nachsommer“ vergönnt. Aus dem Erzähler vom Anfang des „Waldgängers“, von dem sehr reserviert nur in der dritten Person Singular gesprochen wurde, wird nun die Hauptperson, der junge Heinrich. Er wird Naturforscher wie Georg und er wird mit Nathalie erreichen, was Georg versagt blieb: eine harmonische, auf Dauer angelegte Familie. Je prekärer Stifters persönliche Lage wurde, umso idealer seine Gestalten und ihre Verhältnisse, umso beruhigter auch die Sprache, ein Leben und Werk umfassender, sich lang hinziehender Prozess - dem erst der Schnitt mit dem Rasiermesser in die Halsschlagader ein Ende setzte.  

 

 

58. Über Andreas Rödder: 21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart

 

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. In seinem 2015 erschienen und seitdem viel gelobten Werk betrachtet er die deutsche wie internationale allerjüngste Vergangenheit und auch die Gegenwart schon mit den Augen eines Historikers. Seine Methoden unterscheiden sich dabei beträchtlich von denen eines Journalisten. Mit einem „historischen Analysekonzept“ gewinnt er über die jeweilige Situation einen Überblick, der etwas von einer Perspektive aus der Vogelschau hat. Nicht selten übt er gleichzeitig Kritik an „zeitgenössischer Gegenwartsdeutung“.

Rödder untersucht in acht Kapiteln nacheinander diese großen Felder: Digitalisierung – Globalisierung – ökologische Problematik – kultureller Überbau – soziale Dynamik – Rolle und Verfassung von Staat und Gesellschaft – europäische Einigung und Zwietracht – weltpolitische Ordnung im Umbruch. Der Leser erhält so jeweils eine  prägnant formulierte Analyse eines Teilbereichs von Aktualität. Rödder wertet dazu in großem Umfang vorliegende Literatur aus und überrascht mit treffenden Zitaten. So bestechend die einzelne Analyse ist, es kann nicht Aufgabe dieser Rezension sein, auf Einzelnes einzugehen. Hier ist schlechthin alles von Bedeutung. Und wer die Mühe scheut, die knapp vierhundert Seiten Text durchzuarbeiten, findet im Anschluss an das letzte Kapitel ein Resümee, in dem Rödder auf vierzehn Seiten seine Befunde noch komprimierter zusammenfasst.

Nur ein kurzer Blick auf einiges Charakteristische. Der Autor liebt es, Ambivalenzen und Paradoxien herauszuarbeiten. Er will kritisch hinterfragen, zieht historische Vergleiche. Im Ergebnis scheinen die meisten Phänomene schon einmal dagewesen und doch gibt es für ihn zweifellos das wirklich Neue – nur dass wir es noch nicht zutreffend einzuschätzen wissen. Rödder: „Wir wissen so viel wie nie zuvor – und verstehen die Welt dennoch nicht.“ Ist Melencolia jetzt die Muse der Geschichtswissenschaft? Wohl doch nicht, Rödder ist bloß immerzu Skeptiker, Pragmatiker. Am Schluss versucht er die Brücke so zu bauen: „ … wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für Realitäten verbinden, dann macht auch die Geschichte der Gegenwart keine Angst vor der Zukunft.“ Er preist das „Lebensprinzip der Serendipität“ und man spürt, dass er nicht auf Platos Seite, sondern auf der von Aristoteles steht.

Wenige kritische Einwände abschließend. Einen Abstieg der USA als dominierende Weltmacht vermag der Autor entgegen allem Anschein nicht zu erkennen. Das Stichwort Neokonfuzianismus und dessen Schubkraft für den Aufstieg Ostasiens vermisst man bei Rödder. Die unübersichtlichen Verhältnisse in Afrika und in Nahost scheinen beim Autor zu einer gewissen Ratlosigkeit zu führen, er behandelt sie allzu kursorisch. Und einmal führt wohl das CDU-Mitglied dem Geschichtsprofessor die Feder und formuliert so verstiegen wie weit unter dessen sonstigem Niveau: „Angela Merkel hatte keine Vision, aber sie hätte 1914 möglicherweise den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert.“ (Rödder war 2016 im Schattenkabinett von Julia Klöckner und wäre evtl. Kultusminister geworden, womöglich ein vielverheißender.)

(Diesem Text liegt die Neuauflage des Werks von 2017 zugrunde.)

 

 

59. Über Heimito von Doderer: Die Wasserfälle von Slunj

 

Wie ein jeder so hat auch Doderer sich sein Geburtsjahr nicht ausgesucht: 1896! Er war hineingeboren in eine der reichsten Familien der Donaumonarchie - doch mit der Reifeprüfung kam der Erste Weltkrieg und das Studium musste schon 1915 unterbrochen werden. Doderer hat zwei Weltkriege als Soldat mitgemacht und war zweimal in Gefangenschaft. In der Zwischenkriegszeit bekam er materiell keinen Fuß auf den Boden, blieb abhängig von der Familie, deren Vermögen zusammengeschmolzen war. Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg, Wiederaufnahme seiner Romanprojekte und ab etwa 1950 der rasche, steile Aufstieg zum Nationalschriftsteller der zweiten österreichischen Republik schlechthin. Ein respektabler Lebenslauf, eine bewundernswerte Lebensleistung!

Doderer baute in seinen Romanen detailreich wieder auf, was ab 1914 in einem Abgrund verschwunden war, doch nicht als Idylle, auch nicht als bloß realistisches Erinnerungsbild. Sein Werk ist das literarische Abbild alteuropäischer Zivilisation und zugleich die Darstellung ihrer Brüche und ihres Absturzes. Wie sehen eine Welt, die dabei ist, sich in eine Ruinenlandschaft zu verwandeln. Doderer beschwört so das Untergegangene als voll existent herauf und zerstört es gleich wieder, ein ewiges Österreich, ewig in seinem Untergang begriffen. Dabei verstärkt er die Wirkung, indem er häufig Episoden von vor und nach dem Ersten Weltkrieg verklammert.

Das Grundmuster von Willkommen und Abschied taucht bereits in ersten oder letzten Sätzen seiner Romane auf. „Die Dämonen“ endet auf Seite 1345 mit einer Abschiedsszene auf dem Wiener Westbahnhof. Der Erzähler beendet seinen Bericht und damit den Roman insgesamt so: „Mir war in diesen Augenblicken, als sollte ich weder sie, noch irgendjemand von der Gruppe, die mit erhobenen Armen und winkenden Tüchlein auf dem sonst fast leeren Bahnsteige stand, jemals im Leben wiedersehen.“ Noch deutlicher der Anfang von „Die Strudlhofstiege“: „Als Mary K.’s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren) …“ Der erste Satz stellt uns sogleich eine der Hauptpersonen vor, eine schöne und sympathische junge Frau, und verweist im selben Atemzug auf deren Teilverstümmelung, mit der später die Handlung kulminieren wird.

Es ist also bei Doderer ganz überwiegend von privaten Schicksalen die Rede, in denen sich gleichsam das Unglück des Gesamtstaates widerzuspiegeln scheint. (Nur ausnahmsweise thematisiert er z.B. den Brand des Wiener Justizpalastes 1927 in „Die Dämonen“ oder Kriegsgefangenschaft in Sibirien in „Der Grenzwald“.) In seinem letzten vollendeten Roman „Die Wasserfälle von Slunj“ ist von „Zerfall“, von „Depression“, vom Tod durch „Auszehrung“ und viel vom Schweigen die Rede. Auch damit sind private, nicht öffentliche Kalamitäten thematisiert. Den Rahmen des Werks bildet die Geschichte der Wiener Filiale einer englischen Landmaschinenfabrik zwischen 1877 und 1910. Die Firma prosperiert ununterbrochen, hat Märkte in der Donaumonarchie, auf dem gesamten Balkan und im Vorderen Orient. Clayton Vater und Clayton Sohn leiten sie seit etwa 1900 gemeinsam. Um sie herum gruppiert sich das weitere Personal des Romans aus Industrie, Handel und hoher Beamtenschaft. Es ist viel von Karriere, von Erfolgen an Schule und Hochschule die Rede, nie von Politik. All das fehlt vollständig: die Nationalitätenkonflikte im Innern, die Blockaden des Regierungsapparates, die Kriegsgefahr von außen. Die Brüchigkeit dieser Wohlstands- und Luxuswelt zeigt sich fast ausschließlich auf dem Gebiet der erotischen und sexuellen Beziehungen – das ist die Hauptstörungszone. Der Erzähler zitiert dazu passend Goethe: „Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet.“

Zwei junge burgenländische Huren in Wien eröffnen den unguten Reigen. Doderer schildert, wie die Prostituierten Untermieter in einer Arme-Leute-Wohnung werden und die Verhältnisse dominieren und korrumpieren. Die Freier bleiben anonym, gesichtslos. Die zwei Damen werden auf romanhafte Weise zurückverfrachtet aufs Land mit seinen mythischen Qualitäten. Doderer erweist sich hier als der Konservative, der er tatsächlich war. Wenn 1910 ein junger Budapester Stiefelfetischist auf das Gut mit den zufrieden altgewordenen Ex-Huren kommt, stellt er enttäuscht fest, dass dort gewöhnlich nur Männer Stiefel tragen.

Wien bleibt dagegen Wien, also problematisch. Der Juniorchef und sein Prokurist besuchen gehobene Bordelle, gründen keine Familien. Der Prokurist spielt als alter Mann mit der Eisenbahn seiner Kinderzeit, findet ein regredierendes Glück: „ … (es) fiel … der Knabe … ganz mit ihm zusammen.“  Unmittelbar davor hat er einen plumpen Verführungsversuch seiner Hausmeisterin durchkreuzt. Henriette Frehlinger, Gattin eines Chemiefabrikanten und eine Mrs. Robinson der Belle Époque, ist dagegen erfolgreich, sie vernascht einen Schulkameraden ihres Sohnes. Zdenko, so der Name des Gymnasiasten, realisiert danach seine Schwäche für reifere dicke Damen. Mama Harbach, ebenfalls Industriellengattin, begnügt sich damit, ihren Töchtern jede Partie zu vermasseln, indem sie sich in Gesellschaft zwischen sie und mögliche Aspiranten schiebt. Ihr Sohn Paul wird für längere Zeit der Geliebte einer reichen Witwe und lässt sich das Medizinstudium von ihr finanzieren. Immerhin wird er später eine Russow-Tochter (Getreidehandel) ehelichen, als beide schon in den Dreißigern sind. Es ist die einzig unkompliziert glückliche Verbindung und sie wird sehr knapp, fast lustlos abgehandelt. In Budapest wiederum spielt sich das Drama um jene Margot mit dem fürchterlichen Brandmal um die Hüften ab. Ihre Ehe wird nicht vollzogen, sie ergibt sich dem Männerhass, trägt wesentlich mit zu Donald Claytons Untergang bei.

Homoerotik kommt so diskret vor, dass sie übersehen werden kann. (Der Roman wurde 1959/60 geschrieben.) Jener Zdenko gründet mit zwei Mitschülern den elitären „Metternich-Club“. Alle drei sind vom Bild der Claytons angezogen, ohne sich darüber auszusprechen. Sie suchen deren Alltagswege zu kreuzen, imitieren ihre Gewohnheiten und kultivieren sich, indem sie sich insgeheim mit ihnen identifizieren. Kaum hat Zdenko Frau Frehlinger umfangen gehabt, weiß er: Die Zeit des Clubs ist für ihn vorbei.

Münsterer, ein junger Postangestellter gegen 1880, Stiefsohn eines Drachens von Hausmeisterin, ist auf Chwostik fixiert, dessen Aufstieg zum Prokuristen der Clayton-Firma gerade erst begonnen hat. Sein „Idol“ ist noch Mieter im Haus, Münsterer empfindet „Verehrung für Chwostik“ und verfeinert sich, ähnlich wie die Schüler des „Metternich-Clubs“, indem er den von fern Angebeteten imitiert. Auch Münsterer bleibt Junggeselle.

Die Claytons wirken nicht nur wie Brüder, sie handeln und empfinden beinahe auch so. Der Vater ist als Witwer jung geblieben, dynamisch, sein Sohn mit Anfang dreißig permanent unbeteiligt, beziehungsgestört, nur auf den Vater bezogen. Zwischen sie tritt die Ingenieurin Monica Bachler, die illegitime Tochter aus dem Verhältnis einer Zahnarztgattin mit einem alternden Richter. Sie nähert sich dem jüngeren Clayton, aber der geht im entscheidenden Moment nicht auf sie ein. Das besorgt dann sein Vater und aus dem Vater-Sohn-Brüderpaar werden Rivalen. Der Alte geht als Sieger hervor, der Jüngere treibt seinem Ende entgegen.

Doderer als Ruinenbaumeister? In „Die Wasserfälle von Slunj“ sind es die Ruinen erotischer und sexueller Beziehungen. Realisiert werden Bindungen allenfalls in Form von „Liebeskonserven“. Melancholisches Fazit des Erzählers: „Gerade die wichtigsten Sachen im Leben trennt der Mensch gerne von diesem ab.“

Werfen wir noch einen Blick auf die zwei Motivkomplexe, anhand deren die Handlung sich realisiert: WASSER und ABSTURZ. Ersteres präsentiert sich schon ganz zu Beginn in England, hier noch idyllisch-bukolisch mit einem „fast-stehend spiegelnden Flusslauf im Tale“. Hier lernt 1877 Robert Clayton seine Harriet kennen (die später an „Auszehrung“ sterben wird). Schon auf der Hochzeitsreise auf den Kontinent zeigt sich das Element weniger freundlich. Im Wiener Prater werden aus den Donaualtarmen Mückenschwärme lästig, es befremden Molche. Robert befällt ein „Gefühl von Trübsäligkeit“. Auf der Balkanrundreise werden im Kontakt mit Wasser die negativen Gefühle allmählich stärker, so beim Krebsfang an der Zirknitz und erst recht am Fuß der Wasserfälle von Slunj. Der Anblick in sie hineingebauter alter Mühlen war „das Schrecklichste an dem Katarakt“, wirkt „fast vernichtend“ auf die Jungvermählten. Wer will, mag darin eine Vorahnung vom Untergang der eigenen Familie wie der alteuropäischen Gesellschaft insgesamt sehen. Wie auch immer, Harriet scheint ihre Furcht in Form eines vorgeburtlichen Alptraums an Sohn Donald, ihr einziges Kind, weitergegeben zu haben. Sein nächtlich immer wiederkehrender Alp ist eine senkrechte Wassersäule, die ihn unter sich zu begraben droht. Im Weiteren bezieht die nach Wien verpflanzte Kleinfamilie eine Villa am Rand des Praters. Die im Keller aufsteigende Nässe wird von mächtigen Öfen in Schach gehalten, die ihrerseits auf Donald bedrohlich wirken. Als er später nicht zu Monica ins Schlafzimmer hinübergeht und sie dadurch verliert, regnet es gerade stark in Form einer „wahren Wasserswand“, einer „zerstörenden Wassermasse“.

Das Motiv Absturz taucht erstmals auf, als die frischverheirateten Claytons die Semmering-Bahn befahren und Robert von den Abgründen fasziniert ist – Harriet dagegen nicht. Monica stürzt als Kleinkind in den Donaukanal, wäre ums Haar ertrunken. Als sie viel später mit Robert eine Bergtour auf die Raxalpe unternimmt, hat dort kurz vorher „ein gewaltiger Bergsturz stattgefunden“. Zu Beginn seiner finalen Krise rutscht Donald auf einer fortgeworfenen Obstschale aus. So bereitet sich das Fatum hier Stück für Stück vor. Beide Motivstränge werden schließlich bei Donalds Absturz in den Wasserfällen von Slunj miteinander verknüpft. Zdenko, Augenzeuge des Sturzes, hat danach aus einiger Entfernung diesen Eindruck: „In tiefer Beruhigung stand der Ton der Fälle, von hier nicht mehr heulend, rauschend und zischend, sondern als ein einziger Orgelpunkt. Die gewaltige Bewegung des Wassers ward solchermaßen stehend, ein in sich gekehrter Donner, das Kommen und Gehen in einem, im Ohr ein Massiv aufrichtend, an dessen sonorer Ruhe all sonstiges klein vorüberging.“ Oder wie es ein Astrophysiker kürzlich ausgedrückt hat: „Wir sind so unvorstellbar unbedeutend.“ 

Auf diesen absolut vernichtenden Schluss folgt noch eine etwas freundlichere und leicht rätselhafte Coda. Chwostik, Donalds Reisebegleiter, will im Postamt von Slunj ein Telegramm aufgeben und findet dort – Zufälle gibt’s bei Doderer! – Münsterer hinter dem Schalter vor. Und so friedvoll schließt der Roman: „Er sah Münsterer lange an und blickte in dieses entwirrte und ruhig gewordene Antlitz, als läge hier der gelöste Knoten dieser letzten Zeit vor ihm zu Tage.“ Das könnte einen zu weiteren Untersuchungen und Spekulationen veranlassen, z.B. inwieweit Doderers letzter Roman auf Otto Weiningers Spuren wandelt. Doch halten wir hier lieber inne …   

 

 

60. Schlag nach bei Pongs

 

Arglos, ja unwissend war ich damals, als ich in einem Modernen Antiquariat für ein paar Mark sein „Lexikon der Weltliteratur“ erstand. Der Literaturwissenschaftler Hermann Pongs (1889 – 1979) war mir vorher kein Begriff gewesen. Ich besitze dieses „Handwörterbuch der Literatur von A – Z“ noch immer, schlage gelegentlich darin nach, weniger um mich zu informieren als vielmehr mich zu amüsieren. Ich spreche hier von der 1984 posthum im F. Englisch Verlag erschienen Neuausgabe, nicht von dem ursprünglichen „Kleinen Lexikon der Weltliteratur“ von 1954. Auf dieses hatte damals „Die Zeit“ mit liberal hüstelndem Wohlwollen reagiert: Es sei „natürlich etwas subjektiv geraten … Über manche Deutungen und Formulierungen lässt sich streiten, es sind nicht alle gleich gut geraten, einige komisch verzerrt … Trotzdem ist die Leistung sehr beachtlich und anregend, auch für solche nützlich, die die Literatur erst kennenlernen wollen …“

Das soll kein Aufsatz über den Professor Pongs werden - er soll vor allem selbst zu Wort kommen. Vergegenwärtigen wir uns vorher, dass ihm 1969 die Humboldt-Gesellschaft für seine Lebensleistung die Humboldt-Plakette als Ehrengabe verlieh. Und vielleicht schwant uns, dass in Zukunft einmal über Koryphäen von heute ähnlich geschmunzelt oder auch die Stirn gerunzelt werden könnte …

Ich stelle mich also jetzt mal dumm, wie einer, der „die Literatur erst kennenlernen“ will. Erfahre ich für mich Nützliches? Erster Versuch: Dostojewski. Pongs vermittelt mir tatsächlich aufregend Neues: „D.s Tochter führt die moralische Stärke D.s auf Einschuss uralten Normannenblutes im Litauererbe zurück.“ Und Joseph Roth hat einen „asphaltglatten Stil, der durch die naiven Impulse des ostgalizischen Ursprungs lebendig unterströmt wird.“ Blut oder Asphalt, bei Pongs scheint immer etwas zu fließen. Wedekind ist „ein Partner Freuds“. Und Freud dann Partner von Wedekind? Hermann Bang kam „aus überalterter Familie“. Was soll das heißen - degeneriert? Bei André Gide erkennt Pongs einen „pervertierten Trieb“, kreidet ihm „Verherrlichung der Homoerotik“ an und wirft diese mit „Knabenliebe“ in einen Topf. Besonders schlecht kommt Doderer weg: „Spiegel schlechthin unbewältigter Widersprüche, als ‚Universalität’ ausgegeben.“ Er wirft Doderer „die Poesie des Spießers“ vor, „österreichische Selbstverliebtheit“, „Verflachung der Theresianischen Kultur“ usw. usf. Prof. Pongs widmet Doderer auffallend viel Raum. Die Parallele wie Differenz zwischen beiden: Doderer, ab 1933 NSDAP-Mitglied, trat 1940 mit inzwischen erreichter Distanz zu den Nazis in die katholische Kirche ein, Pongs im selben Kriegsjahr erst in die NSDAP. 

Allmählich werde ich süchtig nach solchen Pongs-Zitaten, das muss mein „pervertierter Trieb“ sein. Also weiter auf Entdeckungsreise durch sein Lexikon, diesmal vom ABC geleitet. Was finden wir denn da?

À la recherche du temps perdu: „Das Laster hat sich schimmelpilzartig vermehrt …“

Bergson, Henri: „Bergsons letzte Wirkung bestimmt sich danach als explosiv, nicht als konstruktiv für eine neue Grundlegung vom Sein.“

Dauthendey, Max: „ … aus ursprünglich spanischem Geschlecht … Von Russland brachte er (Dauthendeys Vater, A.A.) sich die Frau mit, aus dem Kreis süddeutscher Kolonisten, eine herrnhutische Protestantin, auch von dunklem Typus.“

Éducation sentimentale: „Der Dichter zwielichtet selbst: sagt er Ja oder Nein zu solcher Liebe?“

Hofmannsthal, Hugo von: „Von der Großmutter ital. Blut, von der Mutter sudetendeutsches, vom Vater jüdisches …“

Huch, Ricarda: „ … von männlichem Geist.“

Kafka, Franz: „Kafka bedeutet nur erst ein Fragezeichen, gesetzt hinter alle Werte abendländischer Kultur.“

Pavese, Cesare: „ … durch die Selbstmarter seines ‚Tagebuchs’ und die Konsequenz seines Selbsttods berühmter geworden als durch seine zwiespältigen Werke.“

Strindberg, August: „ … von Geburt an in unselige Zwiespälte verstrickt, die sein Weltbild verwirren …“

Thoma, Ludwig: „Th. ist kein Bauer, sondern Studierter, doch aus altem Försterblut …“

Tschechow, Anton: „Menschenverachtung und eine Art schadenfroher Humor halten sich die Waage …“

Updike, John: „Updike gilt stilistisch als arriviert, im Gegensatz zur Wahl seiner Themen.“

Weiß, Konrad: „Meister des einfachen Worts in der Lyrik, aus katholischer Substanz, oft geistdurchdunkelt.“

Wien: „Als Grenzstadt der Ostmark (sic!) Brücke zwischen West und Ost, Europa und Asien. Das kaiserliche Wien strahlt deutsches Wesen in den Balkan aus …“

Pongs befand sich aufgrund seiner Rolle als NS-naher Literaturprofessor ab 1945 in einem langjährigen Kampf um Stellung und Reputation. Die Stationen dieser Auseinandersetzung sollen hier nicht nachverfolgt werden. Es geht jetzt nur ums Lesen und Staunen: zu welch krassem Schwadronieren ein deutscher Hochschullehrer mal fähig war und dass er dafür erst ein Amt und später immer noch ein Publikum fand.

Aufschlussreich ist ferner, wie unbarmherzig er mit Hans Grimm („Volk ohne Raum“) abrechnet – es hat den Anschein, da wird ein mehr oder weniger weit entfernter Geistesverwandter stellvertretend geopfert. Auch seine starke Antipathie gegen Doderer mag sich aus für ihn ärgerlicher relativer geistiger Nähe erklären. Amüsant dann wieder, wenn er von Walt Whitman ein klar homoerotisches Zitat bringt, es ihm aber, anders als bei Gide, Proust und Platen, nicht ankreidet, sondern es in diesen Zusammenhang bringt: „Kameradschaft, Urzelle der Demokratie“. Also auch noch anpassungsfähig gewesen, der Herr Professor. 

 

 

61. Doderers frühe Prosa

 

Doderers Entschluss, Schriftsteller zu werden, stand mit seiner Heimkehr aus russischer Gefangenschaft 1920 fest. Es auch zu sein, d.h. nur Schriftsteller zu sein und davon zu leben, gestaltete sich schwierig. Letztlich gelang es erst mit einigem Abstand zum Zweiten Weltkrieg. Mitte der zwanziger Jahre schrieb Doderer Texte, für die er den Gattungsbegriff Divertimento verwendete. Sie waren primär zum mündlichen Vortrag, speziell im damals neuen Medium Radio, gedacht und erinnern tatsächlich an das Vorbild aus der Musikgeschichte. Sie sind im Aufbau mehrsätzig – in der Regel sind es vier Sätze -, und weisen manchmal einen Intermezzo genannten Einschub auf. Die Sprache ist oft rhythmisiert, Kernsätze werden gern wörtlich wie ein Refrain wiederholt, kurze Gedichte unterbrechen hin und wieder die Prosa. Große Publizität haben die kleinen Werke dem jungen Autor nicht verschafft. Sie hatten die Funktion eines Experimentierfeldes, auf dem Doderer die Darstellung seiner Inhalte in einer ihnen gemäßen Sprache erproben konnte. Es gelang mal mehr, mal weniger. Die erzählten Geschichten sind jedoch für sich genommen z.T. noch heute lesenswert.

Den heiteren Charakter der meisten Musik-Divertimenti wird man hier, von einer Ausnahme abgesehen, vergeblich suchen. Das Problematische herrscht vor. Krisen spitzen sich zu und lösen sich in neuer Ordnung auf. Divertimento No I beginnt, atypisch für Doderer, mit den sozialen Unruhen vom 1. Dezember 1921 in Wien. Dabei nimmt ein junger Mann sich einer verwirrten jungen Frau an, sie werden ein Paar. Die Frau zeigt Symptome einer Geisteskrankheit, während er sich in ihrer Nähe seltsam dichterisch gehoben fühlt. Schließlich verbleibt sie in der Psychiatrie und er geht eine neue Verbindung ein. – In No II kehrt ein anderer junger Mann für einige Tage aufs Land zurück, wo gerade sein Heimatort in den Fluten eines Stausees verschwindet. Der Blick zurück ist „ein Blick, den kein Sterblicher erträgt“ – wegen verpasster Chancen und fataler Gesamtbilanz. Der Held begegnet dort seiner einzigen großen Liebe. Es kommt zu passagerer Wiederannäherung, während das Wasser steigt, und zu endgültigem Abschied. – No. III leidet darunter, dass der relativ kurze Text eine sich über Jahrzehnte erstreckende seelische Entwicklung darstellen will: Ein Mann verliert seine Frau bei der Geburt seiner Tochter, er ordnet alles der Entwicklung des Kindes unter, wird später erotisch von der reif werdenden Tochter angezogen und schließlich von einer alten Freundin erlöst, die sich jetzt erst mit ihm verbindet. Diese Melange aus Stifterschem Spätsommer und Lolitakomplex ist gewaltsam in der Konstruktion, die prätentiöse Sprache spiegelt unechte Probleme und Gefühle wider.

Doderer hielt Divertimento No IV für sein bestes Stück in der Reihe. Es ist zivilisationskritisch, technikfeindlich: „ ... dass in eisernen Schienen der Zwang dieses Zeitalters hingeht wie ein Sturmbock …“ Das schon damals populäre Thema des Zivilisationsbruchs aufgrund hypertropher Entwicklung wird zwar effektvoll, doch wenig originell und allzu schematisch abgehandelt. Am Ende war die Geschichte vom katastrophalen Untergang der Meisten und dem Atavismus der wenigen Überlebenden wie so oft auch nur ein böser Traum. – Heiter ist dagegen No V. Eine überbordende Fülle banaler Alltagsprobleme löst sich analog einer später bekannt gewordenen Zigarettenreklame wie von selbst, während der Held im Krankenhaus liegt. – No VI stellt überzeugend und sorgfältig die Entwicklung eines blind geborenen Mädchens dar, das später sehen kann und Musikerin wird.

No VII hat Doderer erst nach dem 2. Weltkrieg geschrieben. Es ist formal und inhaltlich sehr verschieden von den früheren Divertimenti, es ist bedeutend länger, noch stärker gegliedert und in Sprache und Gehalt durchgehend ein Werk der mittleren Periode des Autors. Der Held ist erstmals ein Ich-Erzähler, ein junger Mann, der schon promoviert hat und mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt ist. Privat kommt er in seinem Wohnviertel einem Klein-Mädchen-Verführer auf die Schliche, erniedrigt diesen, fühlt sich selbst daraufhin schuldig und gerät auf eine emotional wie sozial schiefe Bahn. Die Peripetie bringt schließlich das Beinahe-Ertrinken und Gerettetwerden jenes Mädchens vom Beginn der Erzählung.

Etwa zur gleichen Zeit wie die früheren Divertimenti sind die „Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel (1760 – 1826)“ entstanden. Es handelt sich um die bekannte Geschichte, in der ein scheinbar Furchtloser mit einer Gliedmaße aus der Anatomie zu Tode erschreckt wird. Doderer folgt in den ersten beiden Variationen der Handlung, indem er sie sprachlich ein wenig à la Kleist präsentiert, nicht mehr als eine Schreibübung. In den folgenden Versionen löst er sich von der Vorgabe und arbeitet auf sehr verschiedene Weise heraus, was für ihn der Hauptgehalt bei Hebel war: das Motiv des „Hohlraums“. Da stürzt einer jeweils aus dem Himmel für unerschütterlich gehaltener Annahmen in eine bedrohliche Leere, in ein Nichts. Mal lässt er eine Dame in ein Stück Marzipan beißen, das sie für eine saftige Frucht gehalten hat, mal wird einem Geschwisterpaar von Unbekannten der gesamte Hausrat bis auf den letzten Rest unter unaufgeklärt bleibenden Umständen geraubt. Oder es kippen erotisch vielversprechende Situationen und enden in reiner Frustration. Das letzte Stück aus der Serie enthält mit seiner Wanderer-Allegorie als zentrale Botschaft auch des Vorangegangenen: unvergänglich die Macht des Schicksals, rasch wechselnd und vergänglich die verarbeitenden Reaktionen des Individuums.

Doderer hat als „Fatologe“ in seinem Werk die Einwirkung von Politik und Geschichte auf das Individuum minimiert. Der Mensch scheint ein Wesen zu sein, das sich vor allem aufgrund höherer allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten entwickelt und vergeht. Statt diese prononciert apolitische Haltung zu kritisieren, kann man als Rezipient die soziale Kausalität auch umkehren und sich fragen: Wie musste ein durchschnittliches Individuum des 20. Jahrhunderts seelisch beschaffen gewesen sein, um die Katastrophen seiner Zeit nicht nur als Opfer zu erleben, sondern sie gerade auch aktiv mitzugestalten? Gerade hierauf findet, wer will, Antwort und Beispiele zuhauf bei Doderer.

 

 

62. Liselotte von der Pfalz – Autonomie im Lamento

 

In der Barockzeit war Zwangsverheiratung von Fürstenkindern nichts Ungewöhnliches. Politisch-dynastische Gründe führten zu manchen Ehen, die keineswegs auf Zuneigung der Brautleute beruhten und zwangsläufig oft unharmonisch verliefen. Der Fall der Liselotte von der Pfalz (1652 – 1722), Tochter des pfälzischen Kurfürsten, ist ein besonders krasses Beispiel. Knapp neunzehnjährig musste sie den Hof in Heidelberg verlassen, um den ihr bis dahin unbekannten Philippe d’Orléans, den jüngeren Bruder Ludwigs XIV., zu heiraten. Mit der Übersiedelung in das fremde Land war auch der Wechsel der Konfession verbunden, die Calvinistin wurde Katholikin, ohne ihre reformierten Überzeugungen jemals aufzugeben. Die Ehe wurde zur permanenten Katastrophe. Ihr Mann war offen homosexuell und bis an sein Ende 1701 abhängig von seinen Geliebten, die ihrerseits Liselotte fortwährend zu schaden suchten. Über Koitus und Kinderzeugen schreibt sie tief frustriert 1718 an ihre Halbschwester Louise:

„ … denn es ist in allem im anfang und end ein gar heßlich und gefehrliches und schmutziges handwerk, so mir nie gefallen. M. de Chasteautier sagt als, daß, wenn man jemands den heurat verleyden wolle, müsse man mich davon worauf die Rotzenheuserin antwort, daß ich nie recht geheurat gewesen und nicht wüßte, was ein rechter heurat sei mit einem mann, von dem man verliebt ist und der einem wieder liebt, daß dies alles endert und anderst macht.“

Von ihren drei Kindern mit Philippe erreichten zwei das Erwachsenenalter und wurden ihrerseits aus dynastischen Gründen verheiratet, im Fall des Sohnes gegen Liselottes ausdrücklichen Willen. Die familiären Spannungen untergruben ihre Stellung am Hof und das Verhältnis zum König, die anfangs erträglich gewesen waren. Verheerend wirkte sich auch ihr Hass auf Madame de Maintenon aus, die letzte Mätresse und spätere heimliche Ehefrau des Sonnenkönigs. All das kulminierte im Pfälzischen Erbfolgekrieg, als französische Armeen unter Berufung auf angebliche Ansprüche der Kurfürstentochter große Teile Südwestdeutschlands verwüsteten. Liselotte war ohne Einfluss auf die Kriegspolitik, unter deren Folgen sie sehr litt.

Von ihren siebzig Lebensjahren hat sie gut fünfzig unter solchen Bedingungen am französischen Hof verbracht. Wie hat sie es ausgehalten? Sie ging viel spazieren, sie ritt gern und ging zeitweise auf die Jagd. Sie liebte Hunde und das Theater. Schon als junge Ehefrau wollte sie in ein Kloster eintreten, der König verbot es, ebenso wie später die Übersiedelung zu ihrer Tochter an den Lothringer Hof. In ihren Briefen taucht ab und zu die Utopie einer Rückkehr nach Deutschland auf. Sie weiß, dass das nie geschehen und sie ihre Verwandten im Leben nicht mehr sehen wird. Stattdessen schreibt sie ihnen jahrzehntelang Briefe. Saint-Simon charakterisiert sie in seinen Erinnerungen so:

„Oft aber mied sie schmollend die Gesellschaft, wo sie wegen ihrer schroffen und ungeselligen Art wie auch wegen ihrer bissigen Bemerkungen gefürchtet war, und verbrachte dann in einem Raum, den sie sich ausgesucht hatte und dessen Fenster mehr als zehn Fuß über der Erde lagen, den ganzen Tag damit, die Porträts der Pfälzer Kurfürsten und anderer deutscher Fürsten, mit denen sie die Wände vollgehängt hatte, zu betrachten; und jeden Tag ihres Lebens schrieb sie mit eigener Hand ganze Bände von Briefen, von denen sie auch selbst Kopien anfertigte und aufbewahrte.“

Liselotte schrieb also vor allem Briefe, es sollen etwa 60.000 gewesen sein, von denen rund 5.000 erhalten blieben. Alt und krank analysiert sie 1721 in einem Brief an Louise die Funktion dieser Korrespondenz für sie:

„Ich kann nicht leben, ohne gar nichts zu tun; arbeyten noch spinnen kann ich ohnmöglich, allezeit plauderen were mir unerträglich und würde mir mehr schaden, als das schreiben; allezeit lesen kann ich auch nicht, mein Hirnkasten ist zu verwirrt, umb mich im lesen zu applizieren können; schreiben amusiert mich und gibt meinen trauerigen gedanken distraction.“

Der Arzt hat ihr nun das nächtliche Schreiben verboten, das sie lange Zeit, wie sie der Halbschwester gesteht, „bis um 4 oder 5 morgens“ betrieben hatte. Dass ihr Bienenfleiß der ministeriell angeordneten Postüberwachung jahrzehntelang viel Arbeit machte, wusste sie. Sie nahm durchaus Rücksicht, übte Selbstzensur und trieb gleichzeitig ihr Spiel mit den Kontrolleuren. Sie schrieb den deutschen Verwandten Intimstes über die anderen Großen am französischen Hof. Dabei fällt im Lauf der Zeit eine gewisse Ambivalenz ihrer Urteile auf, gerade auch über ihren Mann, ihre Kinder oder den König.

Was sind Gehalt und Ertrag einer Existenz, die sich so im Briefeschreiben verwirklichte? Die Korrespondenz dieser nach der Quantität größten deutschen Briefautorin hat zwar großen kulturhistorischen, aber kaum literarischen Wert. Ihre Brieftexte sind das Gegenteil von Kunstprosa. Liselotte schreibt, wie sie mit den Adressaten – es sind zumeist Frauen – reden würde. Es ist im Wesentlichen das Dauerlamento einer Unglücklichen, die sich selbst zum Durchhalten auffordert und in den Antworten Zuspruch und Aufmunterung erwartet und empfängt. Auf diese Weise baut sie sich eine geistige Gegenwelt zum Höfisch-Materiellen auf, das sie unbefriedigt lässt. Sie erreicht auf diesem Umweg die ihr einzig mögliche Art von Autonomie.

Liselottes Horizont umfasst durchaus auch Unpersönliches. Gelegentlich schreibt sie über Literatur, Staat oder Religion. Ihre Kritik des Klerus fällt vernichtend aus. Aus einem Brief von 1719 an Louise:

„Wer sich etwas guts von pfaffen und mönchen versicht, wird wohl betrogen. Nichts in der Welt ist schlimmer, als dass … nämblich pfaffen und mönchen; wollen allezeit regieren. Alle geistliche, in welcher religion es auch sein mag, seind ambitieux und wollen allezeit regieren, wo sie sein; das gibt ihnen der teufel ein, sie zu ertappen.“

Nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 scheinen ihre letzten Jahre etwas leichter. Ihr Sohn ist jetzt Regent für den minderjährigen Ludwig XV. Dennoch neigt sich die Waage zur negativen Lebensbilanz. Liselotte schwankt zwischen Altersdepression und Gottergebenheit. Eineinhalb Jahre vor ihrem Tod schreibt sie der Halbschwester:

„Könnte ich jemands zu etwas gut sein, würde meine gesundheit mir lieb sein; allein, liebe Louise, dies glück habe ich leyder nicht, bin also das leben satt, ergebe mich in den willen des allmächtigen und schleppe mein leben so fort, bis es gottes wille sein wird, mich davon zu erlösen.“

Liselotte schrieb weder für die Öffentlichkeit noch für die Nachwelt. Dennoch wurden ab 1788 immer wieder Sammlungen ihrer Briefe veröffentlicht, wissenschaftlich untersucht und auch ideologisch missbraucht. Sie wurde die Kronzeugin der deutschen Nationalbewussten des 19. Jahrhunderts und diente auch, indem von französischer Sittenverderbnis die Rede war, diskreter Homophobie. Dabei blieb unbeachtet, dass Liselotte aufgrund ihrer gesamten Lebenssituation nicht objektiv sein, nicht objektiv berichten konnte. Sie setzt die Pfalz mit Deutschland gleich und blendet in der verklärenden Erinnerung an ihre Jugend die allgemeine Misere nach dem Dreißigjährigen Krieg völlig aus. Sie idealisiert so sehr, dass es zum Lachen reizen kann, z.B. wenn sie 1722 Louise über die Nachtigallen in Frankreich schreibt:

„Ich glaube, ich habe Euch schon gesagt, daß sie bei weitem nicht so starke stimmen haben, noch so lang schlagen, als bei uns. Alle tier, vögel und vierfüßige tier, seind kleiner und schwächer hier, als bei uns; das wildbret hat auch den rechten geschmack nicht, ist drucken und zehe.“

Liselotte war der Prototyp des ohnmächtig Einsamen, der nur die Luft einer von ihm selbst erzeugten Atmosphäre atmet. All das Schreiben hat dann eine Tendenz zum Unfruchtbaren. Allerdings ist Liselotte auf eine andere Weise doch fruchtbar gewesen - sie war die Stammmutter vieler europäischer Monarchen. Ihr Urururenkel Louis Philippe wurde Bürgerkönig der Franzosen. Aber das ist eine andere melancholische Geschichte.

(Zitate der Liselotte nach dem Auswahlband von Helmuth Kiesel in dessen reformierter Orthographie. Das Saint-Simon-Zitat in der Übersetzung von Norbert Schweigert.)

 

 

63. Dramatische Höhepunkte bei Saint-Simon

 

Welchen Nutzen hat es, sich mit Literatur der Barockzeit zu beschäftigen? Jene Zeit ist uns außerordentlich ferngerückt. Vertieft man sich in die damaligen Lebensumstände – etwa Wohnen, Arbeiten, Gesundheit, Machtstrukturen, Glaubensüberzeugungen -, dann fühlt man ein Erstaunen, das zum Schwindligwerden tendiert: nur dreihundert Jahre und doch eine vollkommen verwandelte Welt seitdem. Die Barockzeit war die letzte Epoche vor Erfindung der Dampfmaschine, vor Industrialisierung, Wissenschaftsexpansion und Bevölkerungsexplosion, vor dem Aufstieg  des Bürgertums zur bestimmenden Kraft. Man mache sich nur einmal klar, dass um 1700 noch immer der Transport von Menschen wie Gütern im Wesentlichen von tierischer Muskelkraft oder vom Fließen des Wassers, vom Wehen der Winde abhängig war.

Jene zwei, drei Generationen nach dem Dreißigjährigen Krieg sind uns fast so fremd wie die vor fünfhundert oder tausend Jahren. Können wir ihre literarisch überlieferten Lebenszeugnisse ohne umfangreiche Hilfsmittel und Kommentare wirklich verstehen, uns in sie einfühlen? Eine Verfahrensweise der Annäherung besteht darin, tatsächliche oder vermeintliche Parallelen in den allgemeinen Strukturen, politisch wie kulturell, aufzuspüren. Ein Bespiel dafür ist das Nachwort von Fritz Nies zum Reclam-Auswahlband der Erinnerungen von Saint-Simon, 1983 erschienen. Er erklärt das zunehmende Interesse an Saint-Simon damals im deutschen Sprachraum „durch seine untergründige Verwandtschaft mit der Weltsicht gerade unserer Tage“. Dann zählt er die Elemente der Krisenhaftigkeit seiner eigenen Zeit auf und glaubt, sie ebenso bei Saint-Simon zu finden. Nun sind „Angst vor schwindenden Sicherheiten und frühem gewaltsamem Tod, Zerfall- und Endzeitstimmung, Dekadenzbewusstsein und Ablehnung der real existierenden Umwelt, Resignation, Vergangenheitssehnsucht“ nicht auf die frühen 1980er Jahre beschränkt. Sehr viel davon gehört zum Krisenstandardrepertoire nicht nur des letzten Vierteljahrtausends. Es passt auch zur Romantik um 1800, zum Fin de Siècle um 1900, zur Zeit zwischen den Weltkriegen, zum späten Mittelalter wie zur allerneuesten Zeit. So lässt sich schwerlich eine spezielle Brücke vom Heute über die Abgründe der Zwischenzeit zum Barockzeitalter schlagen.

Ein anderer Weg zur Nutzanwendung dieser Lektüre bietet sich an, individualisierend statt generalisierend: die Fremdheit zunächst anerkennen und angesichts total unterschiedlicher Verhältnisse nach Grundsituationen menschlichen Verhaltens in Krisen Ausschau halten, und zwar anhand historischer Einzelfälle. Der Memoirenschreiber Saint-Simon erleichtert uns das, da er sich mehr für Personen als für Ereignisse interessierte, seine biographischen Abrisse jedoch auf dramatische Höhepunkte hin konstruierte. Ein gutes Beispiel dafür ist der Tod der Herzogin von Bourgogne 1712. Sie war als Tochter des Herzogs von Savoyen mit dem ältesten Enkel des Sonnenkönigs verheiratet worden und starb schon mit siebenundzwanzig. Durch den Tod ihres Schwiegervaters 1711 waren sie und ihr Gatte – er sollte kurz nach ihr sterben, beide an Masern oder Scharlach – für eine kurze Zeitspanne die Thronfolger. Saint-Simon schildert zunächst den Verlauf ihrer Krankheit und den Tod, dann folgt ein durchweg positives Bild ihres Charakters, ihres Auftretens und ihrer Beliebtheit am Hof. Höhepunkt der Darstellung ist eine Episode aus dem letzten Jahr, bei der sie eine kleine Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung hatte und wiederholt in den triumphierenden Ruf ausbrach: „Oh, ich werde ihre Königin sein!“ Deutlich wird durch dieses Arrangement des Textes das Eitle allen menschlichen Planens, aller stolzen Selbstgewissheit.

Eben das lässt sich auch über den Sturz der Fürstin Orsini sagen. Diese hatte sich im Ränkespiel um die spanische Thronfolge eine mächtige Stellung zu verschaffen gewusst. Seit 1701 bestimmte sie an der Seite Philipps V., eines weiteren Enkels des Sonnenkönigs, die Politik Spaniens. Als sie zunehmend den Interessen Frankreichs zuwiderhandelte, wurde sie 1714 Opfer einer Intrige und bei der Ankunft der zweiten Gattin des Königs des Landes verwiesen. Saint-Simon beschreibt den äußerst dramatischen Ablauf ihrer Entmachtung und ihren Abtransport zur Grenze genau. Er sympathisierte mit ihr und versetzte sich schreibend in ihre üble Lage, wie sie, unvorbereitet von der Höhe der Macht in ein Nichts gestürzt, in einer Kutsche ohne das Notwendigste wochenlang das winterlich kalte spanische Binnenland durchqueren musste.

Ganz anders und zur Gänze dramatisch das Leben des Abbés von Watteville. Er war der Prototyp eines sehr vitalen und skrupellosen Mannes, der seinen Weg über Leichen geht und die Seiten wechselt, wenn es ihm nützt. Er entwich jung einem Kloster, mordete zweimal auf der Flucht, trat zum Islam über, stieg als Gefolgsmann des Sultans bis zum Pascha auf, verriet seinen zweiten Herrn, machte sich, amnestiert und heimgekehrt, für Frankreich bei der Eroberung der Freigrafschaft Burgund nützlich, wofür er mit zwei Abteien belohnt wurde, und tyrannisierte als lokaler Potentat bis zu seinem Tod die Umgebung. Hier gelang Saint-Simon mit all dem Zeitkolorit ein zugleich zeitloses Porträt, das des treulosen Abenteurers, der gegen Belohnung blutige Dienste leistet und dem keiner Schranken setzt.

Eine weitere Glanzleistung Saint-Simons ist die Darstellung des Todes von „Monseigneur“, also des Sohnes des Sonnenkönigs. Er erlag 1711 den Pocken. Während der Erkrankung gab es ein Auf und Ab, wechselten sich Hoffnung und Verzweiflung ab. In der Hofgesellschaft und in ihren Mitgliedern selbst kämpften divergierende Gefühle miteinander. Der damalige Thronfolger galt vielen als ungeeignet für die Nachfolge. Viele hofften so, eine unselige Regierung könnte bei tödlichem Verlauf der Krankheit vermieden werden. Wie sie sich das eingestehen oder nicht eingestehen, wie sie von anderen dafür kritisiert werden und sich selbst schuldig fühlen, das ist das eigentliche Drama in diesem Kapitel der Memoiren. Der Verfasser schonte seine eigene Person dabei nicht.

Saint-Simon schonte keinen. Seine Figurenzeichnung läuft zumeist nach diesem Muster ab: eine Gestalt offensiv in den Blick nehmen, ihre Vorzüge deutlich herausstreichen, dann das Kritikwürdige scharf analysieren und schließlich zu einem meist ambivalenten Urteil kommen. Das hat etwas von Einverleiben, Verdauen und Ausscheiden. Auch dabei gibt es regelmäßig einen dramatischen Aufbau. Selbst als es um seinen jahrzehntelangen Freund, den Herzog von Orléans und späteren Regenten, ging, blieb Saint-Simon dem Muster treu. Auch von ihm finden wir ein aus Hell und Dunkel sehr gemischtes Bild. Es gipfelt im Atheismus des Freundes, für den gläubigen Saint-Simon gewiss etwas Negatives. Der Herzog liest während der Messe Rabelais und brüstet sich hinterher damit. Sein Freund weist ihm nach, dass das vor allem Getue war: „Er musste eben den Gottlosen und den Lebemann herauskehren.“

Saint-Simon lesen, das bedeutet, den uns bekannten Figuren des Welttheaters in für uns höchst exotischen Kulissen wiederzubegegnen.

(Der Auswahlband „Erinnerungen – Der Hof Ludwigs XIV.“ wurde von Norbert Schweigert übersetzt.) 

 

 

64. Johannes Urzidil: Die letzte Tombola

 

 Johannes Urzidil (1896 – 1970) fand, sehr jung noch, Anschluss an den Prager Kreis und hielt 1924 die Totenrede auf Franz Kafka. Während für Kafka das Schreiben Berufung war, doch nie zum Beruf wurde, schlug Urzidil früh den Weg eines professionellen Schriftstellers ein. Tatsächlich ist die Zahl seiner veröffentlichten Bücher sehr viel größer als die der Werke Kafkas. Urzidils Erstling, ein Lyrikband, erschien 1919. In der Zwischenkriegszeit war er vor allem journalistisch, essayistisch und als Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Prag tätig. Sein Hauptwerk in dieser Zeit: „Goethe in Böhmen“. Im US-Exil hielt er sich zeitweise mit dem Anfertigen von Lederkunsthandwerk über Wasser. Nach dem Krieg arbeitete er für die „Stimme Amerikas“ und schrieb vor allem Erzählungen, die in einer Reihe von Sammelbänden herauskamen. Damals viel beachtet, schwand das Interesse für ihn im deutschen Sprachraum nach seinem Tod rasch dahin. In Tschechien wird die Erinnerung an ihn in jüngerer Zeit wieder stärker gepflegt.

Soll man ihn heute erneut lesen? Eine schwierige Frage. Urzidils Herkunft war vom Vater her deutsch-westböhmisch-katholisch, die Mutter war eine konvertierte Jüdin. Er hat gut die Hälfte seines Lebens im alten Prag verbracht, danach das Amerika des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts miterlebt. Er war ein scharfer Beobachter und ein Mann von großer literarischer Bildung. Die Welt, die sich in seinem Werk widerspiegelt, reicht vom altösterreichischen Biedermeier über die Krise der untergehenden Donaumonarchie bis in die 1960er Jahre in der Neuen Welt. Er hatte also interessante Stoffe und war als Schriftsteller ohne Zweifel begabt. Er schrieb in einem persönlichen Stil flüssig und differenziert, zumeist geistreich. Und doch … Sagen wir es so: Urzidil blieb ein allenfalls zweitrangiger Schriftsteller, dem die hohe Literatur stets vor Augen stand. Die Vorbilder sind deutlich und mächtig, aber sie tun ihm nicht gut. Wo er den Anschluss an sie sucht, misslingt es ihm.

„Die letzte Tombola“, 1971 posthum herausgekommen, enthält fünf späte Erzählungen, nach des Autors Vorbemerkung allesamt gestaltete Wiedergabe non-fiktiver Stoffe, zumeist wohl autobiographischen Charakters. Die Titelgeschichte zeichnet nach: Urzidils problematisches Verhältnis zum Vater, die Prager Atmosphäre um 1910, den Untergang eines Eisenbahninspektors. Letzterer begeht Selbstmord, da ihm die leichtfertige Ehefrau untreu ist – und Urzidil setzt das private Drama am Schluss mit der Zeitgeschichte in eins. Jene Ehebrecherin muss den tödlichen Unernst der europäischen Gesellschaft im Sommer 1914 personifizieren. Bis dahin liest sich der Text wie ein trivialisierter Kafka, aus kindlicher Perspektive und durchaus amüsant, doch den Aufschwung auf die hohe Bedeutungsebene schafft der Text nicht.

„Das Gold von Caramablu“, Text Nr. 2, erzählt eine Episode aus dem französischen Baskenland während des Bürgerkriegs in Spanien. Das wirkt wie eine fatale Melange aus Hemingway und Ernst Jünger. „Die große Finsternis von New York“ beobachtet den Stromausfall vom November 1965 und seine Auswirkungen aus einer Randperspektive. Der Erzähler verlässt seine Wohnstraße in Brooklyn nicht und zeichnet umständlich nach, wie ein Siebenjähriger das alles erlebt haben könnte – Thema verschenkt. „Von Odkolek zu Odradek“ gibt ein plastisches, sehr lesenswertes Bild der Kindheit des Autors, der familiären Problematik und des damaligen Lebens in Prag überhaupt. Abschließend versucht der Autor vergeblich, hier den Bogen zu Kafkas „Die Sorge des Hausvaters“ zu schlagen. „Die Frau mit den Handschuhen“ schließlich enthält die erschröckliche Lebensgeschichte der Großmutter des Autors, einer Art mannstoller Werwölfin, später von Reue zerfressen. Das ist skandalisierter Stifter und so wenig geglückt wie - spannend zu lesen.

Klassische Perlen großer Literatur entdeckt man in diesem Erzählband nicht. Für literaturgeschichtlich Interessierte bietet er dennoch genug anregende Lektüre.

 

 

65. André Maurois: Balzac - Eine menschliche Komödie

 

Der französische Schriftsteller André Maurois (1885 – 1967) schrieb Romane, Biographien, Geschichtswerke – er war auch Literaturwissenschaftler und Historiker. Zu den Biographien zählt seine umfangreiche Darstellung von Balzacs Leben und Werk, im Original erschienen 1965 unter dem Titel „Prométhée ou la Vie de Balzac“. Der Schwerpunkt des Buchs, an dem Maurois jahrzehntelang arbeitete, liegt dabei auf der schwierigen und ereignisreichen Vita des großen Klassikers. Von den einzelnen Lebensstationen ausgehend liefert Maurois en passant mal kürzere, mal längere Analysen eines Großteils von Balzacs Romanen und bedeutenderen Erzählungen. Dabei konzentriert er sich wiederum auf den Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Werk und der Lebenssituation während seiner Entstehung. Hier werden auch die zahlreichen Vorbilder für Balzacs Figuren gestreift.

Maurois besaß eine außerordentlich reiches Wissen über den Verlauf dieses Lebens, das er beinahe als eine Art Heldenepos präsentiert, während er es zugleich mit oft ironischer Objektivität auf Abstand hält. Der Biograph wie der Leser dringen so tief in diese Vita ein, leiden und genießen mit Balzac, ohne mit ihm zu verschmelzen. Diese Kunst der Darstellung eines ganz Großen der Weltliteratur ist selbst schon bewundernswert.

Der Biograph lässt kaum etwas an Fakten aus, die die Nachwelt von Balzac wissen kann. Er lässt ihn mit seinen Gesichtszügen, seinen körperlichen Merkmalen, seiner Kleidung und seinen Alltagsgewohnheiten vor uns wieder erstehen. Balzacs Herkunft und Familie werden ausführlich thematisiert, ebenso wie seine Freunde, Kollegen, Geschäftspartner. Balzac und die Frauen, das ist ein eigener besonderer Roman, parallel zur Lebensgeschichte des Autors. Wir betreten nacheinander die zahlreichen Wohnstätten und sehen, wie sie der passionierte Sammler ausgestattet hat. Seine materiellen Verhältnisse sind geprägt von Verschwendung und Schuldenmachen und die daraus resultierende pekuniäre Dauermisere treibt ihn unaufhörlich zur Arbeit, zur Literaturproduktion an. Auch auf seinen Reisen wird intensiv am Lebenswerk, der Comédie humaine, weitergeschrieben. Weniger ausführlich als Lebensumstände und -verlauf wird bei Maurois Balzacs geistige Basis dargestellt, obwohl das nicht vollkommen fehlt: sein Wissen, seine Lektüre, seine politischen Überzeugungen, sein Weltbild.

Insgesamt erhalten wir das Porträt eines in sich widersprüchlichen Menschen, der aus diesen Widersprüchen und dem eigenen Verwobensein in seine Epoche etwas geschaffen hat, das zugleich sehr persönlich wie auch überpersönlich ist, zeitgenössisch und überzeitlich. Man bekommt Lust, große Teile des Werks selbst erneut zu lesen oder es erst näher kennenzulernen.

 

 

66. Lutz Unterseher: Antifritz - Eine Hommage an Prinz Heinrich von Preußen

 

Der schmale Band von Lutz Unterseher, erschienen 2015 im Lit Verlag Berlin, Untertitel: Hommage an Prinz Heinrich von Preußen, ist doch mehr als nur eine solche an einen jüngeren Bruder Friedrichs des Großen. Er kann als erste, schon ein wenig vertiefende Einführung in die Geschichte Preußens im 18. Jahrhundert dienen. Der Autor hat dazu eine stattliche Anzahl von Werken über jene Zeit und ihre Hauptgestalten ausgewertet. Vor allem stützt er sich auf zwei Studien aus jüngerer Zeit, die den Dualismus zwischen dem Alten Fritz und dem Prinzen Heinrich aufarbeiten bzw. die Vita des Prinzen erst wieder ins Gedächtnis zurückrufen: Christian Graf von Krockow, Die preußischen Brüder (1996) und Eva Ziebura, Prinz Heinrich von Preußen (1999).

Unterseher beginnt seine Darstellung mit dem Vater der beiden Brüder. Friedrich Wilhelm I. ist für ihn der eigentliche Begründer des modernen Preußen. Der Soldatenkönig mit seinem Sinn fürs Ökonomische, seiner Verwaltungsreform, seiner Stärkung des Militärs bei strikt defensiver Außenpolitik und seinem calvinistisch begründeten Verantwortungsbewusstsein wird fast durchweg positiv gezeichnet. Die Frage, inwiefern die Söhne in Krieg und Frieden vom Vater vorgegebenen Entwicklungslinien folgten, wird anschließend kaum erörtert. Vielmehr erscheinen Friedrich und Heinrich von Beginn an als autonome und gegensätzliche Charaktere. Ihr Leben und Wirken wird kontrastreich dargestellt und dualistisch interpretiert. „Männer machen Geschichte“ ist das Motto solcher Art Geschichtsschreibung. Das führt bei beiden Gestalten zu einer Überhöhung ihres jeweiligen Profils, zu einer Personalisierung der historischen Abläufe. Die Rollen sind dabei recht einseitig verteilt. Friedrich ist der absolutistisch-machiavellistische Schurke. Ihm wird wiederholt sein „Skeptizismus“ angekreidet und er wird für die meisten Tiefpunkte der deutschen Geschichte nach seinem Tod mitverantwortlich gemacht. Das Urteil, das Unterseher ihm spricht, könnte kaum härter ausfallen: „Aus seiner Gruft heraus musste er all das absegnen, was das wilhelminische Militär an Konzeptionellem entwickelte. Und nicht nur das, sondern auch den Wahnwitz, der später unter Adolf Hitler blühen sollte.“ Daran ist richtig, dass Friedrichs Andenken ab dem späten 19. Jahrhundert nicht nur benutzt, sondern auch missbraucht wurde. Mit seinem unmittelbar folgenden Satz zu Friedrich reiht sich Unterseher dann selbst unter die ein, die Missbrauch trieben: „Wäre Friedrich aus seiner Gruft geholt und wiederbelebt worden, hätte er in der Substanz wohl kaum Einwände vorbringen können.“ Nein, als Mann des 18. Jahrhunderts dürfte er eher entsetzt gewesen sein.

Prinz Heinrich dagegen ist hier die milde Lichtgestalt von hoher Intelligenz, hoher Kompetenz und hoher Moral. Er erscheint als der Urahn all jener progressiven Strömungen, die es in Preußen nach ihm auch gab und die dennoch dessen Untergang nicht verhindern konnten. Unterseher entwirft abschließend seine Utopie: Was wäre anders verlaufen, wenn Heinrich statt Friedrich den Thron bestiegen hätte? Möglicherweise nicht allzu viel. Abgesehen davon, dass die Fragestellung müßig ist, blendet sie vollständig die ganz unterschiedlichen Funktionen der beiden Brüder aus und d.h. auch die Kräfte, die um sie herum wirkten und die sie in ihrem Handeln berücksichtigen mussten. Heinrich war vorübergehend Heerführer, gelegentlich Diplomat, beides im Dienst des Königs und von ihm abhängig. Vor allem aber war er ein adliger Grundbesitzer in der tiefsten Mark. Sein Bruder dagegen spielte seine schwierige und oft fatale Rolle in einem Mächtekonzert, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf Neuordnung der internationalen Verhältnisse abzielte und dabei gewaltige Kriege entfesselte. Friedrich war wohl mehr als nur ein Rädchen, aber eben doch nur eines von mehreren Rädern und nicht unbedingt das bedeutendste. Dass er den 1. Schlesischen Krieg vom Zaun brach, hat Preußen nicht nur eine Provinz eingebracht, sondern bald darauf zwei weitere Kriege mit einem Maximum an Tod und Zerstörung. Aber hätte Heinrich die Verwicklung Preußens in den Österreichischen Erbfolgekrieg und den Siebenjährigen Krieg vermeiden können? Das ist höchst ungewiss.

Unterseher will aus dem Kontrast der Biographien etwas auch für uns noch Gültiges ableiten: „Verhaltensmodelle, die einen je unterschiedlichen Entwurf menschlichen Zusammenlebens, von Polis, im Sinn haben.“ Damit überfordert er sein kleines Buch, so wie er den beiden Brüdern allzu schematisch angelegte Rollenbilder zuweist. Gegen Ende des Werks drängt sich zudem mehr und mehr der Eindruck auf, Heinrich werde vor allem als Anwalt für die militärpolitischen Theorien des Autors benötigt. Der Prinz verfolgte nach Unterseher jene Linie von „zivilisierter“ barocker Kriegführung, die oft als „Kabinettskrieg“ bezeichnet wird, ein Begriff, der allgemein kontrovers diskutiert wird. (Der Autor hat diverse Bücher über Militärisches publiziert.) Friedrich dagegen steht bei ihm für den inhumanen Krieg mit allen Mitteln und um die Existenz schlechthin. Die Rezension hier kann diesen Aspekt nicht umfassend aufgreifen. Es sei nur im Hinblick auf etwaige Nutzanwendung der Zweifel ausgedrückt, dass Strategien aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg in ihren Grundzügen auf die Gegenwart mit ihren Massenvernichtungswaffen übertragen werden können.

Unterseher billigt seinem Text eine Sprache zu, die „mitunter recht barock, der Epoche unseres Interesses angemessen“ sei. Kostproben: Friedrich Wilhelm fand bei Thronbesteigung, es sei nun „Schluss mit lustig“. Ihn interessierte, „was hinten herauskommt“. Friedrich schrieb an Voltaire „Fanpost“. Der kleinwüchsige Heinrich wird im Gefecht als „Dreikäsehoch“ bezeichnet. Und obwohl offen homosexuell, besaß er doch Lebensart: „Den prinzlichen Popo zu präsentieren, war für ihn keineswegs eine Sache flüchtigster Gelegenheit.“ Mit Verlaub, das ist keine barocke Sprache, das sind banal-triviale Sprüche von heute, die vielleicht darauf abzielen, den Leserkreis zu erweitern. Dass es so gelingen kann, ist zweifelhaft. Für die einleitend dargestellte Vertrautheit des Verfassers mit Rheinsberg spricht nicht, dass bei ihm aus dem Grienericksee, an dem das Schloss liegt, ein „Grierickesee“ wird. Und mit leichtem Befremden liest man auch von „prästabilisierter Harmonie“. So ist das Beste, das man über Untersehers Essay sagen kann: Er macht neugierig auf die Hauptquellen, deren er sich bedient hat.

Was können wir überhaupt aus Geschichte lernen? Ein Skeptizist, nicht nur vom Schlage Friedrichs, würde vielleicht antworten: Eben das, dass wir nichts daraus lernen (können).


 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2009

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