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INHALT

1. Die Sache mit der Einschulung 

2. Apfelnüssundmandelkern 

3. Ein Kind spricht nicht 

4. Die Schule der Langeweile 

5. Epilepsie und Schule 

6. Mein Vater ist Lehrer 

7. Basteln macht Freude 

8. Klassenreise 

9. Letzte Klassenfahrt 

 

10. Verlorene Söhne 

 

11. Weiter im Text  

 

12. Dame mit Hütchen

 

13. Das Honigkuchenpferd

 

14. Porträt eines Schülers

 

15. Lehrer damals

 

 

1. DIE SACHE MIT DER EINSCHULUNG

Ich bin da. Ich bin da. Ich bin da. Ich … Ich bin nicht gern da, wo ich bin. Ich wäre gern woanders. Ich bin da nicht freiwillig. Sie haben mir eine große Tüte mitgegeben, voller Süßigkeiten. An einem der Bonbons werde ich mich an einem der kommenden Tage verschlucken. Er bleibt mir im Hals stecken, als ich auf der Straße herumgehe. Ich bitte schnell eine Nachbarin um ein Glas Wasser. Der Bonbon gibt die Speiseröhre wieder frei. Ich weiß dann, was Panik ist, das Gefühl zu ersticken.

  Wir begannen sofort, schreiben zu lernen. Wir begannen mit einem ersten vollständigen kleinen Satz: Ich bin da. Ich bin da. Die ganze Schiefertafel voll. Ich bin eine wichtige Persönlichkeit. Alles dreht sich um mich. Ich soll schreiben, ich soll über mich schreiben. Ich soll mit ICH anfangen.
      Ich habe den Schwindel sofort durchschaut. Wir waren weder zufällig noch freiwillig da. Ich hatte mir die anderen nicht ausgesucht, nicht die Mitschüler, nicht die Lehrer. Es war mir so bestimmt worden. Die Schultüte ein plumper Versuch der Bestechung. Auf mich kommt es gar nicht an.
      Ich begriff, ich sollte meine rechte Hand auf meine kleine Schiefertafel legen und den Griffel genau so zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen, wie der fremde, unsympathische ältere Mann es uns allen vormachte. Ich sollte es so wie er machen, ich sollte es wie alle hier machen. Ich sollte kleine Kringel und Krakel machen. Einigen stand schon der Eifer folgsamen Nachmachens ins Gesicht geschrieben. Ich empfand Abscheu. In mir empörte sich alles. Ich würde es nie so machen - ich würde es nie so machen können.
      Am Nachmittag dieses furchtbaren Tages schlug ich meiner Oma vor, am kommenden Tag auf weitere Experimente mit mir zu verzichten. Zu Hause zu bleiben, erschien mir nicht nur gut möglich, sondern in jeder Hinsicht angebracht. Oma, bei der ich damals wohnte, überzeugte mich vom Gegenteil. Es war nicht die Logik ihrer Argumente – ich konnte sie nicht nachvollziehen -, es war der freundliche, verständnisvolle, begütigende Klang ihrer Stimme, der mich umstimmte. Und tatsächlich, die Schule fiel mir vom nächsten Tag an leicht.
      Nur den Widerwillen gegen Schule an sich habe ich nie überwunden. Auf Klassenfotos bin ich immer am äußersten Rand zu finden. Ich bin da, aber ich wäre gern woanders.

 


12. APFELNÜSSUNDMANDELKERN

 

Ich liebe Schulerinnerungen. Die sanfte Idiotie jener langen Jahre verschaffte mir ein Gefühl von Geborgenheit, wie ich es später nie wieder empfunden habe. Man döste in überheizten, schlecht gelüfteten Klassenzimmern. Der Singsang der Lehrerstimme. Hallende Schritte vom Flur her. Ein lautes Glucksen in der Heizung. Vor einem gebeugte Rücken. Neben einem ein aufgestützter Ellenbogen.
      Susi, acht Jahre alt, soll das auswendig gelernte Gedicht aufsagen. Sie tut es mit Feuereifer, sie leiert es herunter: „Apfelnüssundmandelkern …“ Sie ist hoch konzentriert, starrt den Lehrer an, hat kleine Schweißperlen auf der Stirn. – „Nicht so rattern! Noch mal von vorn, aber langsam und die Wörter einzeln betonen.“ Susi versteht nur, dass sie noch einmal anfangen soll. Sie hat einen frühkindlichen Hirnschaden. In der Grundschule kommt sie oberflächlich mit und gelangt doch nicht zu wirklichem Verständnis. Sie wird schon wieder schneller, nuschelt und leiert und rattert: „Apfelnüssundmandelkern …“

  „En classe!“ – „En classe …“ Wir lesen im Chor Französisch aus dem Lehrbuch für Anfänger ab. Der Lehrer wirkt immer ein bisschen arrogant und vor allem gelangweilt. Wir halten ihn daher irrtümlich für einen Franzosen, den es über die Grenze verschlagen hat. „J’ai un cra-yon … Nous-a-vons deux cra-yons …“ Hier wird nicht geleiert, sondern wie Kaugummi in die Länge gezogen. „Mein Gott“, sagt der Lehrer, „so einen Chor wünscht man sich, wenn man mal nicht einschlafen kann. Mehr Tempo!“
      Wenn ich, selten genug, am Gymnasium vor der Klasse ein Gedicht aufsagen muss, bin ich leicht abzulenken und gerate dann unfehlbar ins Stocken. Fadenriss. Peinlich. Dabei kenne ich den Text gut. Doch etwas in mir sträubt sich gegen dieses Aufsagen. „Das war keine Glanzleistung“, sagt der Lehrer, als ich abtrete.
      „Wir lagen vor Ma-da-gas-kar …“ Wir liegen zum dreihundertsten Mal vor Madagaskar und es klingt so schaurig aus den Kehlen stimmbrüchiger Knaben. Dazu die höheren Mädchenstimmen, das hört sich an wie ein gemischter Chor aus Kreissägen und Traktoren, deren Räder sich im Schlammboden festgefahren haben. Wenn wir bei seinen Kompositionsbeispielen einzuschlafen drohen, sagt der Musiklehrer: „Ich will Ihnen hier keine unterhaltsamen Stunden bereiten.“ Wir ihm auch nicht. Madagaskar! Muss eine Sträflingsinsel gewesen sein.
      In der letzten Klasse vor dem Abitur sagt die Mathelehrerin: „ Auch ein fauler Apfel, der vom Stamm fällt, ist reif.“ Das ist auf uns gemünzt. Dreizehn Jahre sind um, das Ziel ist nahe, wenn auch immer noch sehr undeutlich, verschwommen.

 


3. EIN KIND SPRICHT NICHT

 

Ich habe sie niemals sprechen hören. Dabei sind wir einige Jahre in dieselbe Klasse gegangen. Sie wurde mitten in einem Schuljahr in unseren Klassenraum geführt, mitten in einer Stunde. Sie hieß Armgard und lächelte bei ihrer Vorstellung angstvoll. Dann huschte sie an den ihr zugewiesenen freien Platz und rührte sich nicht mehr. Als hätte ihr einer gesagt: Mucks dich ja nicht! Armgard muckste sich niemals, darin bestand das Problem.
      Sie war in einem anderen Schulsprengel ansässig. Ihre Lehrer dort waren an ihrem Mutismus verzweifelt. Selbst für die Sonderschule schien sie ungeeignet. Die Schulpflicht musste dennoch erfüllt werden – nur wie? Ihr Vater kannte den Lehrer unserer Volksschulklasse und erreichte über ihn die Aufnahme bei uns. Lehrer S. wusste, mit wem er es zu tun bekam, mit einem stummen Kind, dessen Schweigen in der Schule mit keinem Mittel zu brechen gewesen war. Sie kam nur zu uns, um die restlichen Pflichtschuljahre abzusitzen und sich dabei womöglich noch etwas Wissen anzueignen. Sie wurde automatisch versetzt, ohne Prüfung ihrer Kenntnisse.
      Damals war ich acht oder neun Jahre alt, Armgard etwas älter. Sie wirkte kindlicher, als es ihrem Alter entsprach, und wies zugleich schon greisenhafte Züge auf. Sie saß verkrampft in der ersten Reihe, machte einen Buckel, hörte hin und schwieg immerzu. Sie blieb ein Rätsel für uns, das wir gern ungelöst ließen. Es sickerte durch, dass sie mit ihren Eltern daheim sprach, nur außerhalb des Hauses niemals.
      Wie viel erfasste sie im Unterricht, was eignete sie sich an? Das blieb allen verborgen, auch dem Lehrer. Manchmal geriet er bei ihrem Anblick in Zorn. Er warf ihr Trotz und Verstocktheit oder sogar Bösartigkeit vor. Armgard presste dann die Lippen nur noch fester aufeinander und kicherte angstvoll. Ihr Rücken krümmte sich noch mehr, wie bei einem Igel, der die Stacheln aufrichtet. Es war deutlich zu sehen: Es war für sie auch ein Machtkampf, den sie ein wenig genoss.
      Sie war noch im Klassenverband, als ich Jahre später aufs Gymnasium wechselte. So ist sie mir im Gedächtnis geblieben: ängstlich und störrisch, schon etwas dicklich und unbeweglich, fast steif. Wie mag sie durchs spätere Leben gekommen sein?

 


4. DIE SCHULE DER LANGEWEILE

 

Einer hat mal von sich gesagt: Das Gymnasium besucht, nichts gelernt. War es Tucholsky? Jedenfalls kann ich es nachvollziehen.

Dreizehn Schuljahre, dreizehn lange, öde Jahre. Wo Begabungsschwerpunkte waren, wurden sie nicht vertieft, sondern verflacht, mit Schutt verfüllt. Das Interesse für Sprache, Geschichte, Geographie habe ich mir trotz dieses Lehrstoffs bewahrt, der nur Leer-Stoff war, tote Füllmasse für tote Stunden. Vorhandene Neugierde wurde nie befriedigt. Lustlos brachte ich läppische Hausaufgaben schnell hinter mich. Dann begann ich für mich zu lesen. Über meine Lieblingsgegenstände hätte ich vielleicht den einen oder anderen Lehrer bald belehren können. Doch von ihnen war keiner neugierig. Mit diesen beamteten Wissensvermittlern kam nie ein Gespräch in Gang. So verschieden sie in ihrem persönlichen Geschmack und auch in ihren Launen waren – fachlich und pädagogisch herrschte damals das Untermittelmaß vor. Nicht für die Schule, fürs Leben lernen wir? Wie wahr: Das Abitur in der Tasche – und jeder Aufblick zu Autoritäten von nun an unmöglich.
      Zwei Beispiele für das geistige Niveau des Lehrkörpers:
      In der Mittelstufe des Gymnasiums war einmal in Erdkunde Belgien dran. Es erhob sich die Frage nach dessen Bevölkerungsdichte. Nun beschränkte sich der Unterricht auf das bloße Vorlesen eines ebenso dünnen wie betulichen Lehrbuches. Das Buch machte nur Angaben zur Einwohnerzahl und Flächengröße. Ich schlug vor, diese Zahlen ins Verhältnis zu setzen – eine einfache Divisionsaufgabe. Wogegen sich der Lehrer mit allen Anzeichen von Panik verwahrte: Nein, nein, er werde zu Hause nachschlagen und uns das Ergebnis mitteilen. Er verweigerte hartnäckig die Rechenoperation. Keine Experimente, dafür Buchstabengläubigkeit. Noch rieche ich den starken Mentholgeruch aus seinem Mund, er liebte Pfefferminzbonbons sehr. Sein Gang war halb Schlurfen, halb Schleichen. Später wurde seine übergroße Vorsicht in allem belohnt: Er brachte es bis zum Schuldirektor.
      Das andere Prachtexemplar war Deutschlehrer in der Oberstufe, ein strenger Katholik und Bewunderer Francos. Er überzog jede Stunde. Wir beide stießen uns bald gegenseitig ab. Damals war im Fernsehen einmal eine Inszenierung von „Wallenstein“ zu sehen. Er verpflichtete uns, die Sendung anzuschauen. Der Gedanke, es könnte Haushalte ohne Fernsehen geben, kam ihm nicht. Ich lebte in einem davon und wollte es vor der Klasse nicht zugeben.
      Am Tag nach der Sendung fragte er Einzelne nach ihren Eindrücken. Und er hatte eine Witterung für meinen Widerstand, instinktlos war er nicht. Also redeten wir einige Minuten über das, was ich gar nicht gesehen hatte. Wir besprachen die Leistungen der Schauspieler, die Höhepunkte der Inszenierung, ihre Atmosphäre usw. Er gab Stichworte und ich ging auf alles ein. Am Ende war er zufrieden gestellt. Ich lachte nachher mit meinen Freunden über ihn. Wieder eine Autorität, die sich selbst atomisiert hatte.
      Lehrer: So verschieden sie als Menschen waren, als Pädagogen war fast jeder von ihnen ein Desaster mit Pensionsanspruch. (Heute ist das natürlich ganz anders.)


5. EPILEPSIE UND SCHULE

 

Als ich zur Schule ging, war gerade eine Kurzform des Gymnasiums Mode, das Aufbaugymnasium. Der große Vorteil an der Sache sprang meinen Eltern gleich ins Auge: „Da hat er drei Jahre weniger.“ Und sie schickten mich erst mit dreizehn aufs Gymnasium. Heute bezweifele ich, dass das klug war.
      Mit mir machten sich viele auf den gleichen Weg. Am Aufbaugymnasium mussten sie sechs Parallelklassen für den Jahrgang einrichten. Einige unserer neuen Lehrer sprachen hämisch vom „Sammelbecken“. Das alte Gebäude fasste die Heerscharen der Bildungswilligen kaum. Kunst- und Musikunterricht fand in primitiven Räumen unter dem Dach statt. Dort hinauf führte eine schmale, sehr steile Treppe. Wie hätte man im Notfall siebzig Schüler schnell in Sicherheit bringen können?
      Der Musiklehrer versuchte vergeblich, uns mit Tonleitern vertraut zu machen. Die meisten von uns mussten ihm ja amusisch vorkommen. Oder wir sangen die immer gleichen Volkslieder und zogen die Strophen wie Kaugummi in die Länge. Da spielte er uns noch lieber Musikbeispiele der Klassik vor. Von Zeit zu Zeit riss er uns mit einer gehässigen Bemerkung aus unseren Träumen: „ Wenn ihr glaubt, dass ich euch unterhaltsame Stunden bereiten will, dann irrt ihr euch gewaltig.“ Sein Unterricht führte zu nichts, außer zu Langeweile.
      Einmal geschah doch etwas. Eine Klaviersonate von Beethoven rauschte vorbei und wir überliessen uns unseren Gedanken. Wir saßen recht unbequem auf Drehschemeln ohne Halt für den Rücken. Plötzlich begann sich die Silhouette meines Nebenmanns zu verändern, ich bekam es aus einem Augenwinkel mit. Ich drehte mich nach ihm um. Er kippte gerade der Länge nach hintenüber, das Gesicht wie entgeistert. Ich begriff nicht, was vorging. Und schon schlug er mit dem Hinterkopf hart auf.
      Alle sprangen auf. Beethoven wurde abgestellt. Der Lehrer bahnte sich einen Weg durch die aufgeregten Schüler. Man bettete den Kopf des Gestürzten auf ein Kissen. Er war noch ohne Bewusstsein. Weiter nahm ich nichts an ihm wahr. Wir wurden hinausgeschickt. Man versorgte ihn im Musikraum. Mitten in der Sportstunde stieß er wieder zu uns. „Alles in Ordnung – nichts passiert.“ Er wollte nicht darüber reden.
      Er war tatsächlich Epileptiker, sie fanden es erst jetzt heraus. Ich beobachtete ihn näher. Er war von Anfang an ein ruhiger und mittelmäßiger Schüler gewesen. Jetzt wurde er noch stiller. Seine Leistungen erreichten nur noch Untermittelmaß. Und er bemühte sich sehr, nicht aufzufallen. Kinder sind manchmal ungerecht oder sogar grausam. Ich sah die Sache damals so an: Er hatte diese interessante Krankheit und machte nichts daraus. Gezeichnet – und fühlte sich nicht ausgezeichnet.
      Im Jahr darauf wurde er von der Schule genommen. Ja, es gibt welche, die würden gern unauffällig in der Reihe sitzen bleiben, auf einfachem Drehschemel, wenn sie nur dürften. Warum, zum Teufel, muss ich immer wieder an ihn denken? 

 


6. MEIN VATER IST LEHRER

 

„Ich könnte sie alle an die Wand klatschen!“ Das sagte einmal ein junger Sonderschullehrer, der den falschen Beruf gewählt hatte. Er kam mit den ihm anvertrauten Kindern nicht zurecht und flüchtete sich daher oft in Krankheit.
      Aus neueren Untersuchungen ist bekannt, dass Lehrer häufiger mit der Erziehung eigener Kinder überfordert sind als der Durchschnitt der Eltern. Ein krasser Fall: Ein Hochschullehrerpaar – ausgerechnet für Pädagogik – hatte einen Sohn, der nicht nur schulisch, sondern in jeder Hinsicht versagte. Sie konnten ihm nicht helfen, am Ende wurde er heroinabhängig.
      Ein Grundschullehrer hatte nur einen Sohn. Er lief als Halbwüchsiger fort und stromerte jahrelang durch die Welt. Ab und zu schrieb er vorwurfsvolle Briefe an den Vater und bat um Geld. Die Briefe waren natürlich unfrankiert. Der Lehrer, wie er regelmäßig an der Haustür kummervoll Nachporto entrichtete, wurde zum Gespött des Dorfes.
      Ein Kollege von ihm lud Buben aus seiner vierten Klasse zu sich nach Hause ein. Sie verbrachten einen Nachmittag auf der Terrasse damit, alte Illustrierten durchzublättern und sie interessierende Abbildungen auszuschneiden. Auf einmal zeigte sich eine nicht mehr ganz junge Frau, lächelte schüchtern und zog sich gleich wieder ins Haus zurück. Die Buben waren wie elektrisiert. Sie hatten so oft von ihr gehört, sie aber noch nie gesehen. Das Dorf wusste ja Bescheid über ihren Fall …
      Ihre Mutter war schon länger tot, der Lehrer Witwer geblieben. Annemarie, sein einziges Kind, war – ja, was eigentlich? Vielleicht konnte man sagen: geistig und seelisch unheilbar zerrüttet. Sie war eine begabte Schülerin gewesen, auch sehr musikalisch. Ihr Vater förderte und forderte sie auf vielfache Weise. Neben der Oberschule durchlief sie eine anspruchsvolle musikalische Ausbildung. Mit siebzehn, achtzehn ackerte sie wie ein Pferd, vom Vater überwacht und angetrieben. Einige Monate vor dem Abitur brach sie unter dem ihr aufgebürdeten Pensum zusammen und flüchtete sich in totale Leistungsverweigerung: Abbruch der Schule und der Musikausbildung. Sie blieb bis zum Tod des Vaters in dessen Haushalt, vollkommen untätig, ja ein Pflegefall. Das vormalige Wunderkind sprach fast nicht mehr und lächelte meist schüchtern, vielleicht den Vater anklagend.

„Ich könnte ihn (oder sie) an die Wand klatschen!“ Das denkt manches Lehrerkind von seinem Vater oder seiner Mutter. 

 


7. BASTELN MACHT FREUDE

 

Unser Volksschullehrer war Jahrgang 1900. Natürlich war er Nazi gewesen und blieb es auch nach dem Krieg. Mein Großvater, früher Kommunist, trat nach 1945 in die wiederbelebte Partei nicht erneut ein. Parteilos, wie er nun war, machte man ihn bald nach dem „Zusammenbruch“ für wenige Jahre zum Bürgermeister. Es war ein großes Industriearbeiterdorf, man kannte sich untereinander. Unser Lehrer wusste also, wessen Enkel er vor sich hatte. Ich glaube, er verfolgte meine Fortschritte mit einigem Misstrauen: Schlug ich dem Großvater nach? Bei uns zu Hause fiel manches Lästerwort über den alten Nazi.
      Der Alte brachte uns das ABC auf seine hemdsärmelige Weise rasch bei. Im Turnen ließ er uns exerzieren: rechts um, links um. Manchmal rutschte seine Hand aus, mich traf sie nie. Im Grunde war er kein übler Pädagoge, zu seiner Zeit. Er war auch ein eifriger Gärtner, Obstbauer, Schnapsbrenner – im Obst- und Gartenbauverein, in dem er wie in einigen weiteren Vereinen mitmischte. Daneben vertrieb er sich gern die Zeit mit Basteln und Drechseln. Auch in uns suchte er die Liebe zur Werkbank zu wecken, wenn auch nur in den Buben. Abgesehen vom Gärtnern erfüllten mich diese praktischen Tätigkeiten von jeher mit Abneigung. Es reizte mich nicht, Dinge herzustellen, um sie in die Hand zu nehmen, sie zu gebrauchen und dann an ihren Platz zurückzustellen. Dazu fühlte ich mich nicht berufen.
      Einmal im Herbst blies der Wind tagelang kräftig. Unser Lehrer machte uns Lust darauf, Drachen steigen zu lassen. Wir sollten jeder selbst einen basteln. Er machte es uns in einer Stunde vor, mit Latten, Nägeln, Leim und buntem Papier. Ich sah ihm missvergnügt zu. Niemals würde mir der Nachbau gelingen. Wir sollten alle am Nachmittag unseren eigenen verfertigen. Und am Tag darauf würden wir gemeinsam mit diesen Vögeln auf eine Anhöhe ziehen und sehen, welcher am höchsten stieg. Panik ergriff mich. Schon der Gedanke an Wettbewerb machte mich krank. Die soziale Maschinerie war blanker Horror. (Ich fühle heute noch so.)
      Meine Großmutter wusste, was auf dem Spiel stand. Sie besorgte die Materialien und engagierte gegen ein Trinkgeld den Sohn einer Witwe aus unserer Straße. Jürgen war älter als ich, schon halbwüchsig. Mit Ingrimm schlug er hastig alles zusammen. Es gelang ihm ein großer, stattlicher Drachen, der mir sogleich ans Herz wuchs. Damit würde ich mithalten, ja Ehre einlegen können. Und keiner musste erfahren, dass seine Existenz sich fremder Geschicklichkeit verdankte.
      Am Tag darauf dann die Blamage: Alle Drachen stiegen lustig in den Herbsthimmel auf, der eine flog höher, der andere niedriger. Nur ein Drachen blieb am Boden – meiner. Jürgen hatte viel zu viele Querlatten eingefügt und ihn so schwer gemacht, dass er schlicht flugunfähig war. Ich trug ihn voller Scham über die Wiese, zur Schule und nach Hause zurück. Ich durfte nicht einmal sagen, dass er nicht mir, sondern einem anderen misslungen war. Ich schämte mich so sehr, dass mir die Reaktion unseres Lehrers vollständig entging. Hatte er Befriedigung empfunden?
      Später verpflichtete er uns Buben am Nachmittag zum Werkunterricht, ein- oder zweimal die Woche. Ich ging als Einziger nicht hin. Ich stellte mich auf den Standpunkt, obligatorisch sei nur der Unterricht am Vormittag und der Nachmittag stehe zu meiner freien Verfügung. Der Alte nahm es murrend hin. Die Grenzen waren abgesteckt.

 


8. KLASSENREISE

 

Abendschön fährt mit der Bahn in die Alpen. Es ist ein Schnellzug, der Urlauber in die Berge bringt. Zunächst bleiben die Plätze in seiner Nähe frei, sie sind erst ab Kassel reserviert. Dort schiebt sich eine Gruppe junger Menschen in den Wagen, mit Rucksäcken und Seesäcken, mit tragbaren Radios und Mobiltelefonen. Die meisten sind verwegen kostümiert, einer hat einen Schäferhut aus Filz mit superbreiter Krempe auf dem Kopf. Zwei Respektspersonen sind unter ihnen, eine dünne, farblose Frau in mittleren Jahren, auffällig unauffällig, und ein jovialer Endvierziger, etwas beleibt. Unschwer zu erraten: Das sind ein Lehrer und eine Lehrerin, sie begleiten die Abschlussklasse auf mehrtägiger Reise ins Gebirge.
      Sie verteilen sich und ihr Gepäck geräuschvoll im Wagen. Dann wird es ruhiger. Ihre Musik ist nicht zu laut. Die Unterhaltung untereinander verläuft rege. Ein Ratespiel wird veranstaltet. Man besucht sich gegenseitig. Kleine Reibereien entstehen, Gehässigkeiten werden ausgetauscht. Hin und wieder wechseln zwei die Plätze. Die meisten jungen Männer trinken Bier aus Dosen, eins nach dem anderen. Zwei Flaschen, eine mit klarer, eine mit gefärbter Flüssigkeit, kreisen. Ein Teil der jungen Damen nippt daran, süffelt. Man kommt immer mehr in Stimmung. Doch es bleiben zum Glück manierliche Mittelschicht- und Kleinstadtkinder.
      Der Lehrer macht regelmäßig mit Hallo die Runde. „Was macht ihr? Geht’s euch gut?“ Erkennbar für jeden wird er als Kumpel akzeptiert. Bevor er weitergeht, erklärt er noch einmal den weiteren Verlauf der Reise. Sie müssen in München umsteigen und am Schluss noch zwei Stunden zu einer Berghütte aufsteigen. Er hat das Programm im Kopf - und sie verlassen sich auf ihn.
      Die Monotonie der Zugfahrt, die leise stampfende Musik, der Alkohol – all das erzeugt eine Atmosphäre besonderer Art. Sie werden stiller, versonnen. Denken sie daran, dass es ihre letzte gemeinsame Fahrt ist?
      Vor Abendschön sitzt ein großer hübscher Brünetter, zugleich schlaksig und weich. Auch er ist angesäuselt und gesteht einem Kameraden, dass ihn nur Frauen ab dreißig interessieren. Allein mit ihnen habe er seine bisherigen Erfahrungen gemacht. Dabei sieht er wie ein melancholischer Clown aus: sehr beschäftigt mit der eigenen wundervollen Problematik. Und dann ist von der Mutter eines Schulkameraden die Rede, es ist eine verwickelte Geschichte. Mrs. Robinson, übernehmen Sie?
      Der Zug biegt hinter Pasing auf die Umgehungsstrecke ein. Das tut er fahrplanmäßig, er fährt nie über München Hauptbahnhof, wo sie doch umsteigen wollten. Triumph guter Reiseplanung! Wann werden sie es merken?
      Kurz vor der Isarbrücke ist es so weit. Lehrer und Lehrerin scheuchen auf einmal ihre Schützlinge auf: „Gleich kommt der Ostbahnhof! Wir müssen sofort raus und mit der S-Bahn zurück zum Hauptbahnhof!“ Den Anschlusszug werden sie trotzdem verpassen. Gemaule und Gejohle. Sie raffen alles zusammen, schleppen ihre siebenundsiebzig Sachen zum Ausgang.
      Als Letzter steht dieser Liebhaber etwas reiferer Frauen von seinem Platz auf. Er trödelt und sieht noch zu Abendschön hinüber. Sie schätzen sich mit Blicken ab. Wie viel hat der Ältere vorhin mitbekommen? (Alles.) Rechnet der Jüngere mit Verständnis, mit Beifall gar? Er geht langsam und leicht schwankend zur Wagentür, noch einmal angetrieben vom Lehrer: „Mach endlich voran, der Zug fährt gleich weiter. Dann sitzt du bis Rosenheim drin.“
      Und das war erst der Anfang ihrer Reise in die Alpen wie in das Leben überhaupt.

 


9. LETZTE KLASSENFAHRT

 

Fäulnis vor Reife – so hart hat Fontane einmal über Preußen geurteilt. Das Wort kam mir jetzt in den Sinn, als ich meine Notizen über unsere letzte Klassenreise durchging. Der Schreiber von damals gibt sich eher naiv - als dass er es wirklich ist. Die gespielte Naivität ist ihm vor allem Mittel gewaltsamer Ironie. Für ihn entpuppt sich das Programm der Reise als eine unverträgliche Mischung. Kultur besteht entweder aus unverdaulichen Brocken oder ist dem Kitsch nahe verwandt, wenn nicht mit ihm identisch. Und Natur ist gleichfalls etwas, das sich vor allem entzieht. Die letzte Fahrt vor dem Abitur scheint umfassend desillusionierend gewesen zu sein. Alles in allem also ein für diesen Lebensabschnitt normaler oder sogar förderlicher Ablauf.
      Die eine Hälfte von uns hatte damals nach Paris fahren wollen, die andere nach Berlin. Brunnthaler, unser Klassenlehrer, bestimmte Oberbayern zum Ziel. Wir fuhren sechs Stunden lang mit dem Bus und logierten in einer Jugendherberge an einem der Seen. Schon am ersten Abend versuchten wir uns zu besaufen. Die Preise in der Ortspinte trieben uns die Tränen in die Augen, noch bevor der Alkohol wirken konnte.
      Am anderen Tag brachte uns der Bus nach München. Wir standen vor der mehrstöckigen Baugrube des Stachus und staunten: Etwas derart Gigantisches hatten wir noch nie gesehen. Hatte ich eine Vorahnung, wie oft ich später dort unterwegs sein würde? Keineswegs. Brunnthaler ließ uns nicht lange gaffen, er trieb uns zur Alten Pinakothek. Er hatte in München studiert und wollte uns vor allem seine eigenen Bildungseindrücke nahe bringen. So etwas geht selten gut. Für die meisten von uns war es das erste große Museum überhaupt. Nach einem halben Dutzend Säle fühlten wir uns visuell ausgelaugt, warfen uns erschöpft auf die Besuchersofas oder entwichen in kleinen Gruppen ins Freie.
      Dann durften wir drei Stunden ohne Aufsicht durch München bummeln. Ich nahm mit einem Freund die Trambahn nach Bogenhausen. Wir sahen uns das Viertel an, in dem Thomas Mann gelebt hatte. Anschließend führte uns Brunnthaler im Zentrum von Kirche zu Kirche – mit nie versiegendem Redefluss, sich oft verhaspelnd, zu Recht unser Desinteresse argwöhnend. Wir murrten allmählich. Endlich war es Zeit, im „Platzl“ zu Abend zu essen. Dort saß man eng gepresst, beim Hantieren mit dem Besteck lief man Gefahr, mit dem Ärmel Soße zu schöpfen. Vor uns auf der „Bauernbühne“ Pseudofolklore – Äxte hieben in Holzkeile und die Späne flogen uns wohl berechnet auf die Teller.
      Tags darauf der Höhepunkt der Reise: die Zugspitze. Da sie billiger war, nahmen wir die alte, klapprige Seilbahn auf der Tiroler Seite. Bei der Auffahrt entrollte sich das gewaltige Panorama der Kalkalpen – doch kaum oben angekommen, hüllten Wolken den Gipfel ein und gaben ihn für diesen Tag nicht mehr frei. Eine gewisse Entschädigung bot Dr. Shastri, indischer Philosophieprofessor, der den seinerzeitigen Präsidenten seines Landes Freund und einen früheren Onkel nannte. Brunnthaler debattierte Stunde um Stunde im Restaurant mit ihm, ich weiß nicht mehr worüber. Unsere bescheidenen Geldbörsen erregten den Verdruss des Personals: „Wenn’s koa Geld hobt, dann bleibt’s drunten!“
      Jetzt pressierte es auf einmal: Neuschwanstein musste auf der Rückfahrt noch absolviert werden. Es ließ mich einfach nur kalt. Vielleicht hätte mir hinterher die Rokokopracht von Rottenbuch gefallen … Brunnthaler gestikulierte wild zur Decke, aber wir sahen nichts mehr – es war schon vollkommen dunkel und das Kircheninnere kaum beleuchtet.
      Noch ein Tag in München. Der Vormittag war dem Deutschen Museum gewidmet. (Und unterwegs hatte es noch für eine Stippvisite zum Kloster Andechs gereicht.) An Technik vollkommen desinteressiert, entwich ich mit einem Klassenkameraden schon nach fünf Minuten. Wir trieben uns in der Stadt herum, fotografierten viel – und später stellte sich heraus, der Film war im Apparat nicht weitertransportiert worden: Fluch der Technik. Zur vereinbarten Zeit stellten wir uns mit Unschuldsmiene im Vestibül des Museums ein und wichen geschickt Brunnthalers Fangfragen aus. Dann folgte als Belohnung und krönender Abschluss der Reise ein Wiesnbesuch. Wir bummelten in kleinen Gruppen über das Festgelände und fanden in den überfüllten Zelten keine Plätze. Was kann ernüchternder sein, als sich unfreiwillig abstinent von Massen Angeheiterter herumschubsen zu lassen?
      Am fünften Tag ging’s heim, mit vielen unverdauten, widersprüchlichen Bildern im Kopf. Ich wollte am Hauptbahnhof in N … und im Bus nach Hause etwas Eindruck schinden, indem ich vernehmlich mit der schon ausgelesenen Süddeutschen Zeitung raschelte. Aber keiner guckte her.

 

 

10. VERLORENE SÖHNE

 

Ben ging noch zur Grundschule, als es zum zweiten Mal passierte. Die anderen Jungen aus seiner Klasse wussten es schon: Der Ausreißer aus der Großstadt war wieder da gewesen.
     Tobias sagte: "Ben, er hat sich wieder bei euch versteckt. Die Polizei hat ihn da gestern gesucht."
      Michael sagte: "Sie haben ihn auch diesmal schnell gefunden. Geschnappt und weggebracht. Ich hab's vom Garten aus beobachtet." Tatsächlich hatte er nur das Polizeiauto wegfahren sehen.

Sie trafen sich am Nachmittag und gingen zur großen Wiese hinauf. Die Polizei hatte ihn dieses Mal in einem Strohhaufen aufgespürt, so viel war schon bekannt. Da lagen etwa fünfzig vom Mähdrescher zusammengepresste Strohballen ordentlich aufeinander geschichtet. Es sah aus wie ein kleines Haus ganz aus Stroh. Sie fanden den Eingang zu der Höhle, die er sich angelegt hatte, und krochen nacheinander hinein. Drinnen war es eng, finster und stickig. Tobias und Michael bewunderten den Ausreißer. Toll, so was, man müsste auch mal ... Aber sich dann nicht fangen lassen ... Die beiden hatten keinen Grund, von daheim wegzulaufen. So sah es Ben. Er selbst dagegen…

Ben stellte sich vor, wie er da auf die Polizei gewartet hatte, das Ende der Geschichte schon vor Augen. Aber vorher musste es schön gewesen sein. So ganz allein auf der Welt zu sein. Und alles war so still. Vermutlich hatte er auch im Strohhaus geschlafen.

"Aber wie ist er an sein Essen gekommen?" - "Natürlich geklaut. Du nimmst es dir im Supermarkt und schmuggelst es an der Kasse vorbei." - "Nein, er ist nachts in Häuser eingebrochen. Hat sich mal die Kühlschränke näher angesehen." - So schwadronierten die beiden. Das war Räuberromantik. Aufschneider waren das, sie würden nie fortgehen. Ben sagte: "Gehen wir mal zu der Hecke da drüben. Da war er voriges Mal auch schon."
      Das Gelände fiel am Rand steil zum Tal ab. Dort war nur noch verbuschtes Ödland. Ben führte sie zu der vordersten Schlehenhecke. Sie drückten vorsichtig die Zweige auseinander und drangen durch das Dickicht vor. Dann standen sie am Rand der Hochfläche und alles lag vor ihnen, lag unter ihnen: Bens Elternhaus, das Tal mit den Flusswindungen, ein großer Teil des Dorfes. Tobias sagte: "Das war seine Burg. Uneinnehmbar." - Michael sagte: "Tagsüber ist er sicher meistens hier gewesen."

Ben sah etwas im Gras blinken. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine einfache und etwas schäbige alte Besteckgabel. Und wo war das Messer? - "Das hat er immer am Körper getragen. Auch um sich zu verteidigen." - Mehr gab es nicht zu entdecken. Bald wurde es ihnen langweilig. Sie gingen für heute auseinander.

Ben kombinierte. Er wusste, die Tante des Ausreißers wohnte in der Nähe in einem alleinstehenden Haus. Von seinen Besuchen bei ihr kannte der Junge aus der Stadt die Gegend schon lange. Sollte die Gabel vielleicht aus der Küche der Tante stammen? Man müsste sie ihr dann zurückbringen.

Er ging hin und wurde nicht gelobt. - "Ja, die ist auch aus meinem Bestand ... Gib nur her. Und vielen Dank für deine Mühe ..." Sie nahm ihm mit verdrossenem Gesicht die Gabel aus der Hand und schloss schnell die Tür vor ihm. Klar, sie wollte nichts mehr von der Sache hören, nicht darüber reden. Ben ging heim. Unterwegs dachte er: Vielleicht hat er auch sein Essen bei ihr gemopst. Aus der Stadt weglaufen, um auf dem Land in der Nähe der Tante zu hausen - so einer imponierte ihm nicht. Nein, wenn er weggehen wird, wird er es anders machen. Ganz anders.

 

 

11. WEITER IM TEXT

 

 Ben war zwölf, als er zum ersten und letzten Mal auf der Bühne stand. Er war der Längste in seiner Klasse und sah älter aus, also hatte ihm der Lehrer die Rolle des Vaters im Stück gegeben. Sie probten fast ein Jahr lang, immer wieder während der Schulstunden, bis zum Überdruss. Endlich war der Elternabend da und die große Turnhalle bis auf den letzten Platz gefüllt mit Erwachsenen im Feiertagsgewand. Wie aufgeregt sie da unten waren und so stolz, ein Stolz, ganz unabhängig von den Darbietungen. Es waren doch ihre Kinder …

Am Anfang wurden Gedichte heruntergerasselt. Ein blondes Kind mit engelhaftem Ausdruck spielte zum Steinerweichen Flöte. Dann eine Gymnastikgruppe, die Plakate herumschwenkte, deren Aufschriften keiner lesen konnte. Das Theaterstück wird der Höhepunkt sein, etwas Lustiges.

Sie stellten eine kleine Familie dar, in der es drüber und drunter ging. Während sie spielten, gewann Ben immer mehr Abstand zu seiner Rolle, sagte bloß noch mechanisch den Text auf und begann zu beobachten. Das Stück war miserabel und sie stümperten nur herum, das war jetzt sein Eindruck. Und dazu die glänzenden Gesichter und großen Augen da unten – war all das nicht grotesk? Und vielleicht war es das wirkliche und insgesamt viel großartigere Schauspiel …

Er sollte jetzt brüllen: „Ihr verdammten … Ich werde euch …“ Und dann sollte er sich seinen Sohn greifen und ihn auf die herkömmliche Art vertrimmen. Ben ging stattdessen zur Rampe und sah ins Auditorium. Das Publikum reagierte gespannt, wähnte einen Höhepunkt der Handlung herankommen. Er hätte, wenn überhaupt etwas, am liebsten nur Bäh! gesagt.

Herr S., der Lokalreporter, saß in der ersten Reihe. Ben erkannte ihn daran, dass er seinen Notizblock auf den Knien hatte. Ihre Blicke trafen sich. Herrn S.’ Miene wurde beredsam, sie drückte Verständnis aus und solidarische Gefühle. Ben hörte ihn sagen: Du, mach jetzt keinen Skandal. Ich weiß, wie`s dir da oben geht, wie du dich fühlst … Aber meinst du, mir hier unten macht der ganze Scheiß Spaß? Ist doch alles nur Krampf, da hast du ganz Recht. Aber was soll ich machen? Es muss immer weiter gehen … Also, mach keinen Skandal, wenigstens jetzt noch nicht. Ich bitte dich: weiter im Text … Herr S. nickte ihm aufmunternd zu.

Ben senkte den Blick – Ende ihrer stummen Zwiesprache. Er ging zu den Mitspielern zurück, bemühte sich zu brüllen: „Ihr verdammten … Ich werde euch …“. Langte nach dem Sohn und markierte lustlos Verprügeln. Nur jetzt noch einmal weiter im Text, dann nie wieder. Und der Skandal? War, wie er unklar fühlte, nur aufgeschoben.

 

 

12. DAME MIT HÜTCHEN

 

Tine soll schneller gehen, sagt Oma, sie müssen noch zum Metzger. Der Laden liegt hinter so und so viel Ecken, durch so und so viele Gassen, weit weg von der Hauptstraße. Endlich biegen sie um die Marienkirche und sind beinahe am Ziel. Da geht vor ihnen eine Dame mit einem Hütchen auf dem Kopf, so langsam geht sie vor ihnen her, recht damenhaft tut sie das, stöckelt ein bisschen, nickt bei jedem Schritt ganz leicht mit dem Kopf … Oma sagt: Tine, geh mal schneller, die überholen wir doch …

Aber da reißt ein plötzlicher Windstoß der Dame das Hütchen vom Kopf und treibt es sofort auf dem Gehweg vor ihr her. Auf einmal hat es auch die Dame eilig, sie will ihr Hütchen zurück. Gut, dass der Wind schon wieder abflaut. Sie bückt sich, um nach dem Hütchen zu greifen – es ist eine Feder oben dran, das sieht Tine erst jetzt. Da, eine neue gewaltige Bö – die Dame braucht sich nicht länger zu bücken, ihr Hut mit der Feder treibt weiter weg dahin. Vier, fünf Meter ist der Abstand zwischen Hand und Hut schon wieder.

So geht es noch eine Zeitlang weiter. Immer wieder legt der Wind sich zwischendurch, die Dame ist ein kleines Stück gerannt, bückt sich dann, und eine neue Bö jagt das kleine Ding im letzten Moment weiter über den Gehweg davon. Tine und Oma können die Dame jetzt nicht überholen, die so wenig damenhaft hinter ihrem verlorenen Gut herrennt. Tine lacht aus vollem Hals und kann sich nicht sattsehen. Oma ist es schon etwas peinlich. Sie zerrt Tine in gerade dem Augenblick an der fremden Dame vorbei, als die sich ein letztes Mal nach dem Hütchen bückt, und diesmal mit Erfolg. Sie hat es eben aus dem Rinnstein aufgehoben.

Dann stehen Oma und Tine in der Metzgerei an, warten, dass sie an der Reihe sind. Die altmodische Ladenklingel ertönt. Tine sieht sich um – da, die Dame mit dem Hütchen, jetzt wieder beide obenauf, Dame und Hütchen. Auch die Feder ist noch dran. Tine platzt sofort heraus, lacht schallend, springt vor Vergnügen im Laden herum und kann sich gar nicht beruhigen. Sie zeigt dabei immer wieder mit dem Finger auf das Hütchen. Aber die Dame nimmt es übel. Sie sagt: Was für ein boshaftes Kind. Schlecht erzogen, das Kind …

Oma kriegt jetzt einen roten Kopf. Sie nimmt Tine rasch bei der Hand und zieht sie ins Freie. Und das Fleisch, fragt Tine. – Kriegen wir auch im Supermarkt, sagt Oma. – Tine hat aufgehört zu lachen. Sie fragt jetzt: Oma, warum hat dein Hut keine Feder? – Damit er nicht so leicht wegfliegt. Und jetzt hör mal mit dem Hut auf!

 

 

13. DAS HONIGKUCHENPFERD 

 

Die großen, starken Jungen in der Klasse, du warst keiner von ihnen, sie wetzten ihre Lästerzungen an Lehrern, die sie hassten. Dieses Lehrpersonal mit verächtlichen Kraftausdrücken zu belegen, hämisch herausgestoßen, wenn man unter sich war, das war die einzige Rache, die sie nahmen für schulische Misserfolge, Niederlagen, Kränkungen. So nannten sie die junge Biologielehrerin gern Gesichtseintopf und grinsten dabei gehässig. In deinem Wortschatz fehlte bislang dieser Begriff, seine Bedeutung ließ sich anhand von Mimik und Gestik der Sprecher erschließen. Im Übrigen waren dir das Fach wie die Lehrerin recht gleichgültig.

Anders verhielt es sich mit Geschichte und der Studienrätin, die diese Vierzehn-, Fünfzehnjährigen darin unterrichtete. Sie wurde bald das Honigkuchenpferd genannt. Auch das war keineswegs Schmeichelei, wie man deutlich zu verstehen gab. Die neue Lehrerin war ihnen schon zu verblüht mit ihren etwa vierzig Jahren, gerade nicht zum Anbeißen, und die Assoziation beruhte auf etwas anderem: einem eng anliegenden braunen Strickkleid, das sie gewöhnlich trug. Selbstgestrickt oder nicht, das wurde immer wieder erörtert. Sie besaß davon eine kleine Kollektion in Rehbraun oder Waldhonigfarbe und anderen Nuancen. So gewandet tänzelte sie vor der Klasse und erörterte lang und breit den Investiturstreit und dergleichen, damit nur Unverständnis und Langeweile erntend. Dass sie es mit befremdlich wirkendem bayerischen Akzent tat, machte die Sache nicht besser.

Es war nicht zu übersehen, das Honigkuchenpferd war pädagogisch unbedarft. Die Lehrerin schien die Altersstufe ihrer Schüler nicht in Rechnung zu stellen und präsentierte den Stoff ganz wie in einem historischen Proseminar. So entwarf sie an der Tafel detaillierte Schaubilder zum Geschehen um 1200, drehte sich auf dem Absatz um, tänzelte wieder vor der Klasse und redete dabei immer schnell weiter, so eindringlich wie vergeblich. Bald breitete sich Unruhe aus, Nebendinge wurden getrieben. Auch dir blieb der Investiturstreit nebelhaft fern und dennoch hörtest du ihr gern zu, zunehmend fasziniert, wenn sie die Klasse mit Fremdwörtern und Fachbegriffen überschüttete. Da war etwas zu spüren, das du an deinen Lehrern gewöhnlich vermisstest: Begeisterung für den Stoff.

Sie schien in den Stunden immer gut gelaunt, machte Scherze, deren Witz und tiefere Bedeutung den meisten verborgen blieben, und wirkte dann leicht irritiert wie ein Humorist, dem die Pointe misslungen. Zur Halbjahreszeit ergab die schriftliche Prüfung von Wissensstand und Lernerfolg mehr Lücken als Kenntnisse und sie suchte nun Hilfe bei der Klassenlehrerin. Als die allen ins Gewissen redete, mehr Lernen forderte, brach ein Sturm los. Die großen, starken Jungen waren die Wortführer und die anderen applaudierten – nur du nicht. Sie führten alles gegen sie an, was dir gerade an ihr gefiel, ihre Sprache vor allem, ihr Tempo. Und als sie zu leises Vortragen bemäkelten, stelltest du richtig: Stimmt nicht – sie muss oft sogar schreien, bei dem Lärm, den ihr immer wieder macht.

Es kamen schwierige Wochen für dich … Das widersprach allem Herkommen: Schüler verteidigt die verhasste Lehrerin vor der Klasse. Es war so regel- und normwidrig, dass deine Sympathie für sie dich langsam selbst genierte. Im Jahr darauf kam ein neuer Fachlehrer für Geschichte und das Honigkuchenpferd geriet aus deinem Blickfeld. Es scheint, dass es im Lauf der Zeit auf andere Triften wechselte, hoffentlich hin zu mehr Glück und Erfolg.

 

 

14. PORTRÄT EINES SCHÜLERS

  

Siegfried Männlich litt unter allem. Er litt auch unter seinem Namen. Zugegeben, die Männlichs hießen von jeher so. Daran waren seine Eltern schuldlos, das sah er ein. Aber welcher Teufel hatte sie geritten, ihn Siegfried taufen zu lassen? Seine Mutter hatte eine Frühgeburt gehabt, es war im siebten Monat gewesen. Der Zwillingsbruder starb im Brutkasten, Siegfried fiel das Überleben schwer. Zwar wuchs auch er heran, aber er wuchs nicht so wie andere Kinder. Auch er entwickelte sich und er wurde dabei hässlich. Mit vierzehn war er ausgewachsen, wenn man das Resultat bei einem krummen Rücken und einer engen, schmalen Brust so bezeichnen wollte.

Er vermied es, sein Gesicht im Spiegel länger zu betrachten. Ein Mitschüler, der ihn nicht leiden konnte, hatte es einmal vor allen rattenhaft genannt. Es wurde nicht weiter darauf eingegangen. Die Lehrer? Die Ruppigen unter ihnen fand er erträglich. Er gewöhnte sich daran, dass sein Anblick Abscheu einflößte, aber es tat ihm immer noch weh, wenn einer so rücksichtsvoll war, im Gespräch an ihm vorbeizublicken. Und rattenhaft war vielleicht doch ein wenig übertrieben, fand er.

Er machte sich nichts vor: Bei dieser Kopfform war auch durch eine geschickte Frisur nichts zu gewinnen. Also kämmte er trotzig die langen schwarzen Strähnen aus der schmalen, fliehenden Stirn zurück. Alles war zu schmal, zu sehr gekrümmt und floh: die Stirn, das Kinn, die Wangen. Zu allem Unglück war die Nase viel zu lang. Später, mit siebzehn, gelang es ihm doch noch, den Eindruck zu verbessern. Mit einem Menjou-Bärtchen, dem einzigen an der Oberschule damals, erreichte er die bisher fehlende Horizontale.

Das schüttere Bärtchen blieb nicht das Einzige, das ihn von siebenhundert Mitschülern deutlich unterschied. Er allein trug ausschließlich graue Anzüge, tagaus, tagein dieselben zwei dunkelgrauen Anzüge, in der Unterprima ergänzt durch weiße Rollkragenpullover, die auch im Sommer beibehalten wurden. Im letzten Schuljahr ersetzte er sie durch weiße Oberhemden mit grau gemusterten Krawatten. Er pflegte seine Marotten. Nie sah man ihn auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule ohne den Stockschirm, dessen Krücke er auf dem angewinkelten linken Unterarm einhängte. Ein Jahr lang redete er vor seinen Intimen über die Melone, die er gern auch noch tragen würde. Sein Freund Leo glaubte nicht, dass Siegfried den Mut haben würde, mit Melone zur Schule zu kommen. Ein halbes Jahr vor dem Abitur hatte er sie an einem Januarmorgen tatsächlich auf dem Kopf, als er aus dem Zug ausstieg. Er gewöhnte sich an das Johlen der unteren Jahrgänge und an die Spötteleien der oberen. Er kam nie mehr ohne Melone. Jetzt hatte er seine Erscheinung vervollkommnet, fand er.

So viel er auch grübelte, er kam nicht darauf, aus welchem Grund sie ihn Siegfried getauft hatten. Männlichs waren keine Wagnerianer, übrigens auch unmusikalisch. Sie hatten sich schon vor seiner Geburt den Zeugen Jehovas angeschlossen. Seine Mutter stand ihre Zeit gewöhnlich an der zugigen Ecke vor dem Passage-Kaufhaus ab. Manchmal musste er sie dort abholen und dann gingen sie zum Einkaufen in den nächsten Aldi-Markt. Er war froh, dass seine Eltern nicht versuchten, ihn ebenfalls mit dem Wachtturm in der Hand an einer zugigen Ecke zu postieren. Sie hatten ihn katholisch taufen und später auch so erziehen lassen. Er kannte ihre Gründe nicht, aber es wurde ihm lästig.

Er fing an, eigenständig und ernsthaft zu lesen: Schopenhauer und Nietzsche, Wilhelm Reich und Adorno. Sein Abstand zu den anderen nahm immer mehr zu. Er weiß, er wird noch vieles ausprobieren. Er wird sich seine Welt erst einrichten, sich sein ganz eigenes Himmelsgewölbe bauen.

 

 

15. LEHRER DAMALS 

 

Damals in der Oberschule gab es eine spezielle Art von Aufklärung, die man im Rückblick sich gern erspart hätte. So schweifte die Lateinlehrerin einmal ab und ereiferte sich fachfremd über gewisse Stellen bei Goethe, und zwar aus dem Erlkönig: Willst, feiner Knabe, du mit mir gehen? Sie verzog das Gesicht zu verächtlicher Grimasse und fuhr fort: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt … Abscheulich sei das, nicht präsentabel der Jugend. Ob es uns allen so grauste wie ihr? Oder war erst jetzt unser Interesse geweckt, wenn auch weniger an Goethe als … ja, woran eigentlich? Die Dreizehnjährigen sahen stumm vor sich auf die Schulbänke.

Jahre später im Französischunterricht. Racine wurde durchgenommen, es fiel der Begriff L’amour impossible und darüber scherzte der Lehrer: L’amour impossible – nicht dass das einer falsch versteht, so ist es nicht gemeint … Jetzt schmunzelten schon alle - fast alle. Die es unterließen, fühlten sich beinahe schuldig.

Es ging aber in dieser Sache gar nicht um Schuld, konnten die Beunruhigten bald im Religionsunterrricht erfahren. Der evangelische Pfarrer der kleinen Stadt schweifte auch mal ab, und zwar in die Familiengeschichte, die auch Zeitgeschichte war. Eine Tante von ihm war mit einem Homosexuellen unglücklich verheiratet gewesen und auf etwas makabre Weise wieder frei geworden: Goebbels habe wunschgemäß dafür gesorgt, dass der Gatte an der Ostfront einem Himmelfahrtskommando zugeteilt wurde. Beziehungen dieser Art hatte also die Tante des Pfarrers gehabt, der jetzt rhetorisch fragte: Wie findet ihr das? Es ist kein Vergnügen, einen Homosexuellen als Gatten zu haben, aber das geht wohl doch zu weit. Schließlich ist es so etwas wie Krankheit, so ähnlich wie Krebs …

Die Kollegen witzeln hinter seinem Rücken und sagen grinsend: Er fürchtet sich vor Darmkrebs … Das erzählte mir in Berlin im Jahrzehnt darauf ein junger Sonderschullehrer, schwul wie ich. Er selbst sei daher auf der Hut und gebe nichts preis. Peinlich seien schon ihre Kommentare beim Sportunterricht des anderen. So tuschelten sie dann: Schau an, wie er ihm Hilfestellung gibt!

Gewiss, das sind sehr alte Geschichten, heute unvorstellbar, so versichert man uns.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.07.2009

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