Inhalt:
1. Mann verloren
2. Sie meinen es gut, meinen sie
3. Über sieben Brücken sollst du humpeln
4. Sinnfreie Lotte
5. Groteske
6. Das Gastmahl des Trimalchio heute
7. Der Egomane im Internet
8. Gestellt und verbellt
9. Alles Schwindel
10. Wörter machen Karriere
11. Die Eingeschlossenen
12. Verpfänden Sie Ihre Frau!
13. Es gibt nur Kännchen
14. Das Ende einer Sackgasse
15. Die toten Akten
16. Alles in Eiche
17. Mit reichhaltigem Frühstück
18. Blumen für die Polizei
19. Anekdote über Schnecken und Enten
20. Der Vorlauf
21. Eine Unterschrift fälschen
22. Die Kunst der Lobhudelei
23. Was die Leute wirklich interessiert
24. Sie raffen es nicht
25. Ich hatte ein Problem
26. Best of Hermann Hesse
27. Musterkollektion Alpträume
28. Bescheidener Vorschlag zur Reform des Wahlrechts
29. Das Humpelstilzchen
30. Die Zehn Gebote, aktualisiert
31. Variable Standpunkte aus sechs Elementen
32. Zum Diktat, bitte!
33. Carmina burana und Alice Weidel als Schwan
34. Monique und das Frauengefängnis
35. Bitte keine Spoiler!
36. Er wird Genosse
37. Alarm im Kaufhaus
38. Grausliche Wörter und Begriffe
39. Die Gartenlaube und der Elfenbeintrum - Moderne Fabel
40. Amor, Sohn von Mars
1. Mann verloren
Hamburg, Jungfernstieg. Genauer: tief unter dem Jungfernstieg, da wo sich vier Ebenen für drei U-Bahn-Linien und die S-Bahn überlagern. Die S 1 kommt von Westen und ist auf dem Weg nach Poppenbüttel. Die Türen öffnen sich. Drinnen stehen zwei beleibte Männer, rechts und links von einer Tür. Sie sind von der S-Bahn-Wache, sorgen für Ordnung und Sicherheit. Momentan erschweren sie den Zugang in den Wagen. Man kommt nur im Gänsemarsch herein. Es gibt ein Hin und Her. Ein Wachmann sagt: „Jetzt raus oder rein!“ Die Türen schließen sich, die Bahn fährt sofort ab.
Hereingekommen ist eine gepflegte Blondine in den Vierzigern. Sie trägt eine Art phantastisches Strand-
abendkleid, dünn, knapp, schwarz mit goldbrokatnem Rand. „Jetzt ist Ihr Mann draußen geblieben“, stellt der eine Wachmann betont sachlich fest. Die Dame antwortet: „Wenn Sie’s schon bemerkt haben, hätten Sie wohl eingreifen können …“ Die Wachmänner entschuldigen sich mit dem technischem Ablauf. Nur der Zugführer habe Gewalt über die Türen.
„Sie kennen sich hier aus?“ – „Nein, gar nicht. Wir sind gerade erst angekommen.“
„Wenn Ihr Mann klug ist“, sagt der eine Wachmann und lässt das ausdrücklich offen, „bleibt er am Jungfernstieg und wartet, bis Sie zurückkommen.“ Sein Kollege sieht das anders: „Nein, warten Sie lieber am Hauptbahnhof. Wenn er klug ist, wird er Ihnen eine Station nachfahren. Sie sind jetzt im vierten Wagen. Steigen Sie am Hauptbahnhof aus und bleiben Sie genau da auf dem Bahnsteig stehen. Wenn er kommt, wird er vermutlich auch im vierten Wagen sein.“ Ja, wenn er nicht vorher am Jungfernstieg verwirrt hin- und hergelaufen ist … „Und passen Sie auf: Am Hauptbahnhof fahren Züge auf beiden Gleisen ein. Er kann also rechts oder links von Ihnen herauskommen.“
Die Touristin schweigt von nun an. Sie grübelt und scheint mit sich zu ringen. Sie muss sich rasch eine Meinung darüber bilden, wie sich ihr Mann in dieser unvorhergesehenen Situation verhalten wird. Wird er warten oder losfahren? Und wenn er fährt, wird er dann am Hauptbahnhof aussteigen, um sie dort zu suchen?
Ich glaube, sie hat ihn am Hauptbahnhof erwartet, eine auffallende Erscheinung im nachmittäglichen Berufs-
verkehr. Passend gekleidet wie für die Bregenzer Seefestspiele steht sie da und mustert alle aussteigenden Männer mittleren Alters – sehnsüchtig.
2. Sie meinen es gut, meinen sie
Nie Einheimische nach dem Weg fragen, sie kennen sich nicht wirklich aus. Damit fahre ich in der Fremde im Allgemeinen gut. Ich studiere Karten, Reiseführer und probiere alles selbst aus. Doch manche Ortsansässigen lassen sich nicht erst bitten, sie sind ungebeten zur Stelle, freundlich und aufdringlich. Einige Fallbeispiele.
In einem Tessiner Bergdorf mache ich Rast auf einer Bank. Ein Mann aus der Gegend setzt sich zu mir, gibt ungefragt endlose Erklärungen und Ratschläge, die ich nicht benötige. Nach einer Dreiviertelstunde spürt er meine aufkommende Reserve und deutet sie sich falsch: „O, ich habe Wein getrunken, Sie riechen es wohl …“
Ein anderes Mal gehe ich im Weinheimer Arboretum so vor mich hin, die Riesenmammutbäume betrachtend. Einer, selbst fußkrank, will mir freundlich vorschreiben, welchen Weg durch den Park ich mit dem größten Gewinn und Genuss unbedingt gehen müsse. Ich schlage seinen Rat in den Wind. Soll er mich doch meine eigenen Eindrücke sammeln lassen.
In Görlitz besichtige ich die x-te Kirche für diesen Tag, meine Augen schon etwas müde. Da erhebt sich aus dem Gestühl im Dämmerlicht ein Mütterchen und will mir auf jeden Fall jene Kapelle noch zeigen und erklären. Ich lehne ab, es sei eben schon zu viel für diesmal. Sie kann es nicht verstehen: „Ich zeige sie Ihnen dann, wenn Sie wieder hierher kommen und mehr Zeit haben.“ Ich werde mich hüten.
In New York erfährt ein neuer Bekannter von meiner Weiterreise nach Boston. Sogleich verpflichtet er mich, seinen Freund dort anzurufen, gleich nach meiner Ankunft. Der werde mir dann alles in Boston zeigen. Ich sage: Ja, ja … Ich rufe nicht an und finde außerdem andere Einheimische, die das Herumführen bestens besorgen. Wieder in New York muss ich mir Vorwürfe gefallen lassen: Du hast ihn nicht angerufen. Er hätte dir doch …
Und wieder einmal bin ich zu Fuß unterwegs. Zwei Reiterinnen nahen, nebeneinander schwankend auf hohem Ross, emsig schnatternd und mit der Reitgerte spielend. Ich drücke mich an den äußersten Wegrand, bleibe stehen. Da die Damen alle Zeit der Welt zu haben scheinen – unglaublich, wie langsam sich Pferde fortbewegen können -, vertreibe ich mir die Zeit damit, den weiteren Wegverlauf auf meiner Karte zu studieren. Jetzt werden die Pferde auch noch angehalten. Eine freundliche Stimme: „Können wir Ihnen helfen? Wo wollen Sie denn hin?“ – „Immer geradeaus, wenn der Weg wieder frei ist.“ Befremdet über mich Grobian reiten die Damen weiter.
Nein, ich will mir nicht den Weg zeigen und erklären lassen. Ich will meine eigene Reise. Einheimischer, nicht jeder Fremde ist ein hilfloser Trottel. Dränge dich ihm nicht auf, wenn er dich nicht um Hilfe oder Rat bittet.
3. Über sieben Brücken sollst du humpeln
Eine Flut bricht über Deutschland herein, die Dämme sind längst gebrochen. Fast alle jungen Leute machen heute wieder Gedichte. Unser Land ertrinkt in Lyrik. Der Verfasser dieses hat zeitlebens Gedichte gelesen, doch selbst nie eines verfasst. Er war sich sicher: Du kannst das nicht, es fehlt dir das nötige Gefühl für Musikalität, für Melodie und Rhythmus im strengen Sinn. Sein Deutschlehrer raunzte früher schon mal einen Schüler so an: Sprachgefühl wie eine asiatische Sumpfschildkröte!
Heute machen die Sumpfschildkröten Gedichte. Seriösen Schätzungen zufolge werden im deutschen Sprachraum jährlich fast 500.000 Gedichte ins Netz gestellt. Ich habe in letzter Zeit etwa ein Promille der Jahresproduktion gelesen. Was mich dabei am meisten verblüffte, war die Zeitlosigkeit vieler dieser Werke. Sie erinnerten mich nicht nur an das Poesiealbum meiner Mutter (geb. 1924), sie wirkten oft wie daraus abgeschrieben. Schon gut, der Mensch ändert sich nicht, die großen Themen bleiben dieselben: Herzeleid und Liebesfreud. Doch die Sprache ändert sich mit jeder Generation, dachte ich. Nun, das Herzschmerzgedicht von 2008 entspricht allzu oft einem lyrischen Versuch von 1938.
Was kommt heraus, wenn man gebrochene Herzen mit eingestürzten Brücken kreuzt? Gebrochene Brücken! Sieben davon präsentierte uns eine junge Lyrikerin, ungelogen. Ich wollte schon kommentieren: Mann, da hat der Zahnarzt aber zu tun – als mich eine Hemmung überkam. Unter dem Gedicht bekannte eine Kollegin: Ja, so geht es mir auch immer, ich bin dann ganz wirr im Kopf, nur Chaos … Darf man sich da noch lustig machen?
Wer fürs Erste genug gedichtet hat, verfasst noch rasch einen Aphorismus. Sie glauben nicht, wie schnell das geht – kein Kunststück. Auch Aphorismen sind in Mode, besonders wenn sie die Dichtkunst reflektieren. „Dichten ist Juwelierarbeit mit Sprache“, lässt uns eine wissen. Aphorismen traue ich mir eher zu als Lyrik. Also setze ich eins drauf: „Wenn Dichten Juwelierarbeit ist, warum ähneln dann so viele Produkte 08/15-Modeschmuck? Liegt’s am Material oder an der Fertigkeit?“ Das fand nicht den ungeteilten Beifall der Lyriker und Lyrikerinnen.
Ich weiß noch einen: „Brücken bauen: Der geschickteste Brückenbauer ist der Zahnarzt. Auch er baut auf Pfeilern auf, nämlich Stümpfen.“ Auweia … Weh tut es ja in beiden Fällen, dem Patienten wie dem Leser.
Ach was, ich fange doch mit Lyrik an. Und mein erstes Gedicht bekommt den Titel: Eingestürzte Herzen.
4. Sinnfreie Lotte
In einem Stück von Botho Strauß bleibt eine Frau – Lotte mit Namen – im Wartezimmer eines Arztes bis zum Ende der Sprechstunde sitzen. Sie wartet nicht auf eine Untersuchung. Als sie nach ihren Wünschen gefragt wird, kommt es heraus: Sie hat keine (zumindest keine jetzt realisierbaren), sie sitzt „nur so“ da. Ihre Anwesenheit dort ist also sinnfrei – das lobe ich mir. Umstellt von Zwängen, dauernd aufgefordert zu sinnvollen Handlungen, wird das Individuum erst autonom durch die Weigerung, vernünftig-zweckmäßig zu agieren.
Lotte darf dort nicht sitzen bleiben. Was könnte sie stattdessen tun? Phantasieren wir ein wenig.
Sie könnte zum Beispiel im Telefonbuch irgendeine Seite aufschlagen. Dann tippt sie mit dem Finger auf einen beliebigen Namen und wählt die Nummer. Der Angerufene meldet sich: „Hallo! Gruber …“ – Lotte: „Guten Tag.“ – Gruber: „Was wünschen Sie, womit kann ich dienen?“ – Lotte: „Mit nichts.“ – Gruber: „Ja, weshalb … Sie müssen mir schon sagen … Oder sind Sie jetzt falsch verbunden?“ – Lotte: „Nein, hab nur so angerufen.“ Gruber beendet das Gespräch abrupt. Er braucht Tage, um sich von diesem Erlebnis zu erholen.
Lotte wird unternehmungslustig. Sie kauft sich in der Stadt in einem Fachgeschäft einen billigen, doch schön glänzenden Koffer und geht mit ihm ins Warenhaus X. Dort fährt sie, den leeren Koffer mit sich führend, vom Erdgeschoss alle Rolltreppen hinauf bis unters Dach. Dann zurück ins Parterre. Und wieder hinauf. Und zurück. Eine Stunde lang. Zwei Stunden. Verkäuferinnen werden aufmerksam. Diskret erscheint der Hausdetektiv, bittet sie in ein Séparée. Er schaut misstrauisch in den Koffer, lässt sich den Kassenbon aus dem Fachgeschäft zeigen. Lotte ist ihm unheimlich. Sie bekommt Hausverbot.
Unsere Lotte schließt den Koffer in einem Gepäckschließfach ein, um ihn nie wieder abzuholen. Den Schlüssel wirft sie in die Mütze eines Bettlers, der losbellt: „He, was soll’n das?!“
Dann sitzt Lotte in der Eisenbahn. Es ist ein schwach besetzter Regionalzug, in dem gerade die Fahrkarten kontrolliert werden. Als die Zugbegleiterin (vulgo Schaffnerin) sich ihr nähert, steht Lotte auf und zieht sich langsam von ihr zurück. Dabei wirft sie ängstliche Blicke auf die Bahnangestellte, der das nicht entgeht. Mit der Zeit arbeiten beide sich bis ans Zugende vor. Der Schaffnerin kommt ein bestimmter, nahe liegender Verdacht. Entschlossen stellt sie sich Lotte in den Weg, als diese im WC verschwinden will. Lotte hat natürlich eine Fahrkarte und darf ins WC. Die Zugbegleiterin schüttelt den Kopf, wobei ihr „So `n Theater!“ über die Lippen kommt.
Lotte verlässt das WC, unnötig zu sagen: unverrichteter Dinge. Die Schaffnerin macht jetzt eine Durchsage an die Reisenden und säuselt gerade ins Mikrophon: „ … nicht Ihr Handgepäck“ – als Lotte schon hinter ihr steht und sie unter dem rechten Arm kitzelt. Ein Aufschrei: „Huch!“ und im ganzen Zug Gelächter. Nun kommt bald die Bundespolizei. Aber sie können Lotte nichts. Es ist kein gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr gewesen.
Endstation. Lotte verschwindet einfach zwischen den Häusern. Ob sie noch einmal auftaucht? Hat einer sie seitdem gesehen?
5. Groteske
In der Gaststube sieht man seltsame Garderobenständer, im Raum verteilt. Sie dienen hauptsächlich dekorativen Zwecken. Auf ihnen thronen in zwei Metern Höhe, wie auf sehr hohen Kothurnen, hölzerne Figuren, beinahe lebensgroß. Es sind Männer und Frauen in Volkstracht, Männer und Frauen aus dem Volk früherer Zeiten. Wie ausdrucksvoll die Züge ihrer Gesichter sind, einfach, klar, gütig …
Es ist spät am Nachmittag. Der lange schöne Mainachmittag hat sich erschöpft ins Klosterwirtshaus zurückgezogen. Draußen stehen Linden. Durch die sich begrünenden Zweige erscheint, unscharf wie im Aufriss, die Abtei der Renaissance mit ihrem Eckturm aus gleicher Zeit. Drinnen nimmt man Erfrischungen zu sich, isst belegte Brote.
Ein Scindapsus überwuchert die hölzerne Sprossenwand in der Mitte des Raumes. Hinter ihr sitzt an einem Tisch, mit dem Rücken zu allen anderen Gästen und vom Scindapsus zusätzlich vor aufdringlichen Blicken geschützt, eine dunkel gekleidete Dame. Wie alt mag sie sein? Der Stimme nach eine Vierzigerin. Doch könnte sie ebenso gut jünger wie älter sein.
An der Schmalseite dieses Tisches sitzt, im Profil für jeden sichtbar, ein älterer hagerer Priester, am geistlichen Gewand als solcher kenntlich. Sein Gesicht ist gebräunt, er hat etwas von einem Sportsmann.
Der Priester sagt mit ruhiger und exakt akzentuierender Stimme: „Wie könnte ein Teil das Ganze erkennen? – So fragt schon Pascal, den immer wieder zu lesen ich niemals müde werde.“
Richtig, lässt sich die Dame vernehmen, es gebe da eine fatale Art von Wohlerzogenheit, die im Grunde nichts anderes sei als eine missverstehende Scheu, Berührungsangst, wie man jetzt sagen würde. Aber Mensch gehöre doch zu Mensch! Ihre Mutter habe es allerdings nie gern gesehen, dass sie Albert Schweitzer gelesen habe.
„Sie haben Ihrer Frau Mutter noch immer nicht ganz verziehen?“
Sie könne das nicht völlig ausschließen, sagt die Dame. Damals, diese unglückliche Reise nach Klüsserath … Und sie zitiert erneut Albert Schweitzer, nennt ihn beim Namen, worin sie eine Art Bestärkung zu finden scheint: „Die bedeutungsvollen Stunden kündigen sich nicht an, sondern sie kommen unerwartet.“
Der Priester: „Ich will nicht in Sie dringen …“
Die Mutter sei einer Zeitungsanzeige zum Opfer gefallen!
„Erregen Sie sich nicht mehr. Sie dürfen alles, staunen, wundern, bewundern … Pascal sagt dazu: Der Mensch ist sich selbst der seltsamste Gegenstand der Natur.“
„Wir waren dabei, wir zwei halbwüchsigen Dinger. In einer Konditorei am Marktplatz kam man sich näher. Er gab sich als Weingutsbesitzer zu erkennen.“
Die Dame spricht schnaubend. Vergeblich bemüht sie sich, ihre Erregung zu dämpfen.
Der Geistliche: „Sie müssen nicht weitersprechen. Nur, wenn es Ihnen Erleichterung verschafft …“
Sie: „Am folgenden Tag wurde er auf der Promenade verhaftet! Welche Peinlichkeit: unsere Mutter als Zeugin gleich zur Wache mitgenommen, wir zwei Dinger von Schutzmännern zur Pension eskortiert. Welches Aufsehen, natürlich auch die Presse …O, wo blieb es da, unser Recht auf Glück? Albert Schweitzer …“
„Er meint es anders“, unterbrach sie der Priester. „Aber sagen Sie, was hatte all das zu bedeuten?“
„Sie erraten es nicht? Unsere Mutter war nicht unvermögend …“
„Doch nicht etwa ein Heiratsschwindler?“
Die Dame nickt. Der Priester sieht sie mitfühlend an.
Die Dame hat sich gefasst. „Zum Glück gab es da noch einen weit ärgeren Skandal. Am Ort hatte sich nämlich eben ein Journalist das Leben genommen. Man hatte ihn der Majestätsbeleidigung beschuldigt, zu Unrecht, wie sich bald herausstellte, leider zu spät für ihn.“
„Aber Sie waren gerettet, von Ihnen war die Auf-
merksamkeit abgelenkt – ich verstehe, Sie sind abgereist.“
„Doch unterwegs … Ach, fände ich nur die Kraft zum Verzeihen!“
Der Priester: „Sie deuteten eingangs schon an … Ihre Schwester? Da Sie es schon halb ausgesprochen haben, sollten Sie es schließlich ganz tun. Sie werden sich besser fühlen.“
„Wir sahen sie nie wieder. Beim Umsteigen in Frankfurt am Main … Weggelaufen, weggefahren. Viel später erfuhren wir: Sie lebt in einem öffentlichen Haus! In Belgien.“
Die Dame keucht, die Dame schluchzt.
Der Priester, versöhnlich, scheinbar alles auflösend: „Was ist der Mensch im Unendlichen? – Auch das sagt Pascal.“
Sie stehen abrupt auf. Die Dame kommt hinter der Wand mit dem Scindapsus hervor. Sie ist hoch in den Siebzigern, eine magere, nervöse Greisin.
Der Priester führt sie hinaus.
„Nichts ist unbegreiflicher als zu sagen, die Materie erkenne sich selbst.“
Es sind noch genug Pascal-Zitate übrig.
6. Das Gastmahl des Trimalchio heute
Das Folgende ist buchstäblich wahr, so etwas erfindet man nicht. Ich muss etwas ausholen … Auf meinen Text „Tafelfreuden“ hin wurde ich freundlich auf „Das Gastmahl des Trimalchio“ hingewiesen. Ich eile also zum Bücherschrank, greife nach dem Petronius – und etwas fällt heraus: ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Es fehlen Datum des Artikels und Titel des Presseorgans. War es die „Frankfurter Rundschau“? Werner Petermann, Verfasser des Beitrags, möge es mir nachsehen, wenn ich ohne korrekte Quellenangabe zitiere.
Man schritt damals in Frankfurt zu kultureller Großtat. Ein neues Gesamtkunstwerk sollte es werden. Es verneigten sich vor der Dichtkunst der Antike die Darstellende und die Bildende Kunst und holten gleich noch die Kochkunst mit ins Boot. Die Koch-Kunst-Schule von Prof. K … an der Städelschule wollte einen Ausschnitt des berühmten Gastmahls nachstellen, nicht als Lebendes Bild, sondern ganz naturalistisch für die Sinne: sehen, riechen, schmecken.
Der Hauptdarsteller war ein totes Schwein, nicht irgendeines, sondern „ein durch Rückkreuzung gewonnenes altes deutsches Hausschwein“. Es war auf raffinierte Art geschlachtet, „per os und anus“ ausgeweidet, erst mit Kräutern und nach langem Aufheizen mit Würsten gefüllt und zu Ende gegart worden.
Auftritt: DAS SCHWEIN. Herr Petermann rümpft schon die Nase: „So verbreitete sich, als das Dreizentnerschwein auf einer riesigen Schüssel hereingetragen wurde, sofort ein peinlich-penetranter Geruch von süßem Fleisch und Fäkalien, der sofort den Verdacht aufkommen ließ, dem Metzger könnte beim Ausräumen des Tieres ein Kunstfehler unterlaufen sein.“ Weiter fallen ihm auf: „ … die Außenhaut des Tieres unansehnlich braun und zum Teil in Fetzen abgelöst … weite Partien des Tieres noch fast roh …“ Es muss nachgegart werden, doch: „Die Stücke, die man nach sehr langer Zeit auf den Teller bekam, schmeckten sehr intensiv nach Schwein, … waren aber meist lauwarm oder gar kalt.“ Und was den Kritiker ebenso stört, ist „das hässliche halbausgebeinte und zerschnippelte Restgerippe“ vor den Gästen. (Sie haben immerhin 30 Deutsche Mark pro Person bezahlt.)
Sein Fazit fällt vernichtend aus: „Der Städelkoch … hätte bei Trimalchio keine Chance gehabt, der Prügelstrafe und einer Versetzung in die Melkerbrigade zu entgehen.“
Unser Gewährsmann verschweigt uns manches, Fragen bleiben offen. Saß oder lag man bei Tisch? War die Tunika „de rigueur“? Und ließ das Personal Wünsche offen? In einem Film habe ich einmal einen altrömischen Festschmaus gesehen. Die Bedienung bestand dort aus schwarz gelockten Knaben. Man bediente sich ihrer, indem man – Sie werden es nicht glauben – an ihren Locken die vom Essen fettigen Finger abwischte. So toll trieben es die alten Römer.
7. Der Egomane im Internet
Der Egomane – es kann auch eine Egomanin sein – drängt sich nicht vor; er wird entdeckt. Er stellt Gedichte oder Prosa ins Netz und wartet dann wie eine Spinne. Wie diese verhält er sich lieber ruhig und kommentiert daher die Beiträge anderer gewöhnlich nicht. Endlich kommt die erste Reaktion auf einen seiner eigenen Texte. Mitautor XY hat irgendetwas Besonderes daran gefunden und schreibt zwei Zeilen dazu. Von jetzt an erhält XY regelmäßig Post vom Egomanen. Er schreibt ihm, sie seien doch Geistesverwandte, und lässt sich über die eigene Produktion weitschweifig aus. Diejenige des Geistesverwandten scheint ihn kaum zu interessieren. Er äußert sich nie zu dessen Veröffentlichungen.
Wenn er schreibt, benutzt er nur die Kleinschreibung. Das begründet er so: „Es geht schneller. Ich schreibe ja fast so schnell, wie ich spreche.“ Und es liest sich auch wie ein nicht redigiertes Selbstgespräch. Bei Meinungsdifferenzen erinnert seine Argumentation an ein Flächenbombardement mit Streubomben: wenig zielgenau, dafür bombastisch, statt überzeugend nur betäubend.
Der Egomane hat etwas von Mark Twain neu übersetzt. Er schickt es XY und fügt hinzu: „Lies auch seine Autobiographie, dann wird Dir vieles klarer.“ Darauf, dass XY die Autobiographie schon gelesen haben könnte, kommt er nicht. XY liest das Vorwort durch, das der Egomane zu seiner Übersetzung geschrieben hat, und findet: Er hat ihn oft missverstanden.
Wenn der Egomane selbst ein Buch veröffentlicht, muss er auch eine Homepage haben. Dort richtet er ein Gästebuch und ein Forum ein, Letzteres „für meine hoffentlich rasch wachsende Fangemeinde“, wie er formuliert. Im Gästebuch trägt sich zuerst seine Tante ein: „Ich grüße Dich, mein lieber Neffe (meine liebe Nichte).“ Ein Unbekannter lobt die graphische Gestaltung der Seite. Und das war es dort schon. Im Forum dauert es ein halbes Jahr, dann erscheint als erste und einzige überhaupt eine lange und abwägende Kritik von Z., der das Buch als einer von ganz Wenigen gekauft und gelesen hat. Z. hat gerade selbst ein Buch herausgebracht, doch das nimmt der Egomane durchaus nicht zur Kenntnis. Er will Leser und zwar Nur-Leser. Leser, die selbst schreiben, flößen ihm Grauen ein. In seinem Universum ist Platz nur für eine Sonne.
8. Gestellt und verbellt
Im Kurort Bad Meinungen gibt es viele Promenaden. Gewiss die schönste ist die vom Kurpark hinauf auf die Höhe des Klickbergs. Die Aussicht von dort oben ist weltberühmt. Weit schweift der Blick über die Niederungen des Alltags.
Zu allen Tages- und Jahreszeiten sieht man Kurgäste den Weg hinaufwandeln, zu zweit, zu dritt, im Kurschritt. Sie führen Gespräche, sie debattieren. Sie bereden die Weltlage, die Weltgeschichte und natürlich die Philosophie. Man nennt den Weg daher auch den Philosophenweg. Unsere Philosophen sind meist sehr in ihr Gespräch vertieft – und dann passiert es regelmäßig …
Der Weg führt an Villen vorbei, die immer prächtiger werden, je höher man kommt. Alles zeugt von Wohlhabenheit, Geschmack und guter Erziehung. Die meisten Grundstücke sind von Mauern umgeben. In den weiten Gärten bewegt sich nichts. Gibt es dort Kinder, Hunde? Man hört nichts, man sieht nichts. Selten öffnet sich ein Tor, automatisch natürlich, und eine noble Karosse naht. Die Dame oder der Herr am Lenkrad gewähren mit einer Handbewegung huldvoll den Vortritt. Sind die Passanten vorüber, rollt der Wagen fast lautlos auf die Straße.
Eines der letzten Anwesen – wenn man von unten kommt – hat nur einen niedrigen alten Holzzaun zur Begrenzung. Und wann immer Philosophen, sehr ins Gespräch vertieft, vorübergehen, geschieht Folgendes: Ein Rottweiler springt aus dem Gebüsch und erschreckt sie mit jähem und lautem Gebell. Er springt blitzschnell am Zaun hoch und schnappt nach den Passanten. Sie weichen hurtig auf den Fahrdamm aus. Manche schimpfen.
Dann und wann hört man eine Stimme aus dem Hintergrund: „Platz, Bello (Name geändert), Platz. Ruhig. Schon gut.“ Dann ist es für eine Weile wieder still – bis die nachfolgenden Spaziergänger erneutes Gebelfer auslösen.
Ist das eine Art, friedlich debattierende Gäste zu erschrecken? Wenn man es jedoch der Polizei meldet, kommt als Erstes die Frage: „Sind Sie denn verletzt?“ – „Nein, äußerlich nicht.“
9. Alles Schwindel
Schwindel. Übelkeit. Brechreiz. Ist es bei mir jetzt so weit? Wie seinerzeit Proust beim Besuch einer Ausstellung alter holländischer Meister, so erlitt auch ich eine Schwindelattacke; allerdings im Bett und gleich zwei innerhalb von sechs Tagen. Schwindel am Morgen bringt Kummer und Sorgen.
Der zweite Vorfall überraschte mich am Urlaubsort, in einer süddeutschen Pension, morgens beim Aufstehen. Drehschwindel, wie soll man das beschreiben? Man vollführt eine banale Bewegung und dann fliegen die Möbel scheinbar durch den Raum, wie die Elemente eines Kettenkarussells. Die einfachsten Verrichtungen wie Duschen und Ankleiden werden zu fast unlösbaren Aufgaben. Beim Rasieren überkam mich das große Würgen. Endlich konnte ich doch frühstücken und mit der Bahn in die nächste größere Stadt fahren.
Dreieinhalb Stunden verbrachte ich in jener HNO-Praxis. Warten, mich untersuchen und die Tests über mich ergehen lassen, die Ergebnisse besprechen. Ich war kein eingebildeter Kranker. Im Schwindeltest lag „die vestibuläre Erregbarkeit unter der Norm“. Der Doktor, in meinem Alter, mit schütterer Pferdeschwanzfrisur, erklärte mir: „Ihr Innenohr wird durch Schäden an der Halswirbelsäule nicht genügend durchblutet.“ Er entwickelte eine Theorie, wonach das Pensionsbett und die ungewohnte Lagerung meines vornehmsten Körperteils Schuld seien. Und richtig, schon der erste Anfall hatte mich in einem fremden Bett ereilt. (Ich fühle mich jetzt zu schwach, irrige Vermutungen über meinen Lebenswandel zu entkräften.)
Der Doktor lehrte mich eine Eigenmassage der Halswirbelsäule und verschrieb ein durchblutungsförderndes Mittel. Gegenwärtig zögere ich noch, es einzunehmen – wegen seiner häufigen Nebenwirkungen: Schwindel, Übelkeit. Hatten wir schon. Und die blutdrucksenkende Wirkung ist auch unerwünscht. Ich bin Hypotoniker, will nicht als lebende Leiche herumschleichen.
Ich bekam einen Arztbrief für die Heimat mit. Beim Lesen geriet ich ins Grübeln. Beide Ohren seien äußerlich o.B., also ohne auffälligen Befund. Da fiel es mir wieder ein: Er hatte mir zwar in Rachen und Nase gesehen, nicht jedoch in die Ohren. Oder sollte sich die bei mir vorliegende Mangeldurchblutung schon auf Gehirn und Wahrnehmungsvermögen ausgewirkt haben?
Ferner las ich: „Im Rachen Zustand nach TE.“ Das hieß doch Tonsillektomie, also Mandelentfernung. Tatsächlich sind mir die Mandeln bisher nicht herausgenommen worden. Mein lieber Weißkittel, das müsste ich doch wissen! Andererseits fielen mir jetzt so unschöne Dinge wie Demenz und progressive Paralyse ein. Kann ich mir wirklich sicher sein, meine Mandeln noch zu besitzen? Mache ich mich lächerlich, wenn ich wegen dieser Schwindel erregenden Frage einen weiteren Arzt aufsuche?
Ich zweifle, also lebe ich noch. Ich zweifle jetzt besser an allem.
(Nachtrag: Ich habe in einem Vergrößerungsspiegel nachgesehen: Sie sind noch da.)
10. Wörter machen Karriere
(Einem Ex-Minister in Liebe und Verehrung zugeeignet.)
Man sieht jetzt wieder häufig Fotos von ihm in den Zeitungen. Wenn er einmal tot sein wird, werden sich die Leute Bilder von ihm ansehen und sagen: So hat er ausgesehen, zu seiner Zeit, so hat er gedacht, formuliert und für Projekte, für sein Projekt gekämpft.
Ein PROJEKT – das war in jenen frühen Jahren das kommende Wort. Es gibt kommende Wörter, wie es kommende Männer und Frauen gibt. In einem Stück von Heinrich Mann sagt eine Figur: „Wir haben nichts, was eine Sache ist, aber wir haben Sachlichkeit.“ Leute wie er hatten ein Projekt. Jahre später wurde er Minister. Wie sich herausstellte, war sein langjähriges Projekt allein gewesen – eben Minister zu werden. Es kam dann auch, mangels anderer Projekte, zu einem Krieg, der alle sehr verblüffte. Der Minister gebrauchte das geliebte Wort Projekt weiterhin derart häufig, dass kluge, vorbauende Leute es schon nicht mehr benutzen wollten. Dafür kopierte man nun die zweite Spezialität des Ministers, und die war sein schwer nachzuahmender, staatsmännisch besorgter Faltenwurf des Gesichts. Die Lage war in der Tat noch nie so ernst.
Man hätte gewarnt sein können. Den Hellhörigen stand das Schicksal eines anderen abgehalfterten Wortes vor Augen: GANZHEITLICH. Das war in den Zeiten der kritischen Analyse das himmlische Manna gewesen. In Kritik und Analyse war die ganze Manna versprechende Richtung, die einem so gut passte wie ein bequemer Turnschuh, ja stark gewesen. Die Macht über die verrotteten Zustände fiel ihr wie einem Alleinerben nach Ableben des Vorgängers zu. Angesichts der wahren Lage erhielt das arme Wort „ganzheitlich“ dann sofort Landesverweis und war landesweit durch „Projekte“ zu ersetzen. Ihr Scheitern in der Praxis führte in erneutem dialektischem Umschwung zu nochmaligem Ausweichen in die Breite: AGENDA war nun das kommende Wort. Die Herren über die Projekte entschuldigten sich ganzheitlich mit der Vielzahl unlösbar erscheinender Aufgaben. Sie aufzulisten, war immerhin auch schon mutig: in der Tat.
Ein dreifaches Hoch unserem unbestrittenen Meister der Worthülsenkultur. Möge er lange und in Frieden seinen Ruhestand genießen.
11. Die Eingeschlossenen
Wir sind auf der Hut. Wir wollen uns nicht selbst aussperren und dann vor verschlossener Tür stehen. Andersherum ist man noch übler dran: sich selber einschließen und dann nicht mehr herauskommen. Nun, irgendwann schaffen es die meisten doch. Oder es kommt Hilfe …
… wie im folgenden Fall. Eine Mutter hing Wäsche auf dem Balkon auf. Ihr Kleinkind blieb im Innern der Wohnung. Dann folgte es der Mutter bis hinter die Balkontür und drückte sie von innen zu. Noch reichte es nicht bis zum Türgriff hinauf. Es hatte also sich selbst in der Wohnung und die Mutter auf dem Balkon gefangen gesetzt und begriff es nicht einmal. Fröhlich juchzend patschte es von innen gegen die Scheibe, während die Mutter sich schon nach Passanten umsah. Endlich kam einer vorbei und rief die Feuerwehr. Die Wohnungstür musste aufgebrochen werden. Besser nie ohne Wohnungsschlüssel auf den Balkon gehen.
Auf Burg Landeck in Tirol ist ein kleines Museum. Wie es sich gehört, verfügt es auch über eine Toilette. Ein Besucher benutzte sie und kam dann nicht heraus. Das Schloss ließ sich von innen nicht mehr öffnen. Laut rief er hinter der Tür, ohne dass ihn einer hörte. Das Museum war wohl nur schwach besucht und die Toilette abgelegen. Später schrie er dann „Hilfe, Hilfe!“ durch das kleine Guckloch in der Mauer, er brüllte über die Stadt und das Inntal hinweg. Und er wurde, man muss schon sagen: erhört. In einem Haus am gegenüberliegenden Berghang vernahm einer seinen Ruf. Rettung nahte bald.
Ich selbst saß einmal auf der Toilette eines Amsterdamer Hotels gefangen. Ja, ich gebe es zu, es war eine Absteige. Mein Zimmer und die Sanitärräume lagen im Keller und hatten kein Tageslicht. An einem schönen Sommernachmittag ruhte ich dort auf dem Bett – allein. Alle anderen Gäste waren fort, z.B. am Strand von Zandvoort. Das Personal werweißwo. Und dann klemmte die Verriegelung der Toilettentür und ich kam nicht heraus. Rufen war zwecklos. Bald fiel auch noch das Licht in meinem kleinen Gefängnis aus. War es eine Zeitschaltung? Versuchen Sie einmal eine Türblockade zu beheben, wenn es stockdunkel ist. Ich schaffte es damals doch noch, allerdings erst nach einer Dreiviertelstunde.
Jedes Jahr verschwindet eine gewisse Zahl von Menschen spurlos. Einige von ihnen haben sich, wie ich glaube, versehentlich in einer Kammer, einem Verließ, einem Keller- oder Bodenversteck eingeschlossen. Eines Tages wird man ihr Skelett finden, spätestens beim Abriss des Hauses.
12. Verpfänden Sie Ihre Frau!
Da geriet einmal ein Bürger von Hannover beim Tanken in eine üble Klemme. Es stand am 2.2.08 in der Hannoverschen Allgemeinen zu lesen. Er hatte in Begleitung seiner Eheliebsten Kraftstoff für sechzig Euro getankt und vermisste dann seine Brieftasche – war wohl zu Hause vergessen worden. Natürlich würde er damit allein gegenüber dem Tankwart nicht durchkommen, das war ihm schon klar …
„Nehmen Sie erst mal meinen Ausweis als Pfand, ich hole das Geld schnell zu Hause … Ich bin in zehn Minuten wieder da.“ – „Nichts da! Das Auto bleibt hier und das Benzin auch, bis alles bezahlt ist!“ Der Kunde war etwas empfindlich und bot dem Tankwart stattdessen an, er möge den Saft wieder absaugen. Worauf der Geschäftsmann auch nicht eingehen wollte.
Da sie nicht einig werden konnten, rief man die Polizei. Die Zeitung verschweigt, ob die Ordnungshüter ir-
gendetwas zur Lösung beitrugen, es scheint nicht so. Denn der Mann von Tankstelle blieb dabei, der insolvente Kunde möge sich mit der Straßenbahn nach Hause scheren und werde erst nach Cash wieder über sein Auto verfügen können. Verzweifelt suchte die Ehefrau nach einem Ausweg … und glaubte ihn gefunden zu haben: „Dann nehmen Sie halt mich als Pfand!“ Man beachte: Sie bot sich als Pfand, nicht als Bürgin an. Woraus man allerlei schließen könnte.
Der Tankwart lächelte höhnisch. Wie er seine Ablehnung genau formulierte, ist der Zeitung wieder nicht zu entnehmen. Sie muss jedoch harsch ausgefallen sein, denn unser Kunde verließ nun ohne Auto, doch mit Ausweis und Frau die Tankstelle zu Fuß. In der Nähe befand sich ein Tattoo-Studio. Ein Tätowierer müsste doch über Phantasie und Einfühlungsvermögen verfügen … Und was glauben Sie – er nahm die Frau als Pfand und rückte gleich sechzig Euro heraus.
Unser Kunde zurück zur Tankstelle eilen, bezahlen, mit dem Auto nach Hause brausen und das Geld zusammenraffen, das ging alles sehr fix. Und dann löste er die Frau beim Tätowierer aus. Die beiden hatten in der Zwischenzeit – ja, was wohl? – Kaffee getrunken. Schreibt die Zeitung. Es gibt doch noch nette Menschen.
Bleibt eine Frage unbeantwortet: Wie verwertet man eine Ehefrau, die man als Pfand genommen hat und die nicht in angemessener Zeit ausgelöst wird.
13. Es gibt nur Kännchen
„Kännchenzwang?“ fragt die Einheimische, der ich es nachher im Bus nach Hameln erzähle, „Kännchenzwang, das war mal in den sechziger Jahren. Doch heute nicht mehr!“ Sie irrt, in Bodenwerder gibt es das immer noch.
Bodenwerder ist eine kleine Stadt an der Oberweser, die nur vom Fremdenverkehr zu leben scheint. Sie liegt sehr hübsch zwischen steilen Waldbergen am Fluss und hat viel Puppenstubenhaftes. Es ist ein warmer, sonniger Sonntagnachmittag. In der Puppenstube brummt das Geschäft, es brummt wie eine ganze Lastwagenflotte. Ich bin nach sechsstündiger Wanderung zum ersten Mal da und freue mich auf Kaffee und Kuchen. Es ist Kaffeedurst und Appetit auf Sahnetorte. Die großen Cafés in der Mitte sind heillos überfüllt, sehr ungemütlich. Am einen Ende der Altstadt lockt ein kleines Café mit niedrigen Kuchenpreisen. Der Zulauf hält sich hier in engen Grenzen, er ist enden wollend, wie Alfred Kerr das einmal so hübsch vom Applaus nach einer Premiere gesagt hat. Hauptsache, es ist nicht zu voll.
Es gibt keine Torte in der Vitrine, nur ziemlich kleine Stücke Käse- und Apfelkuchen. Also wird das jetzt bloß eine bescheidene Jause. Ich lasse mich draußen an einem Tisch nieder. Der Kellner – vielleicht ist es auch der Wirt – naht: „O, ich habe Sie wohl übersehen …“ – „Nein, ich habe eben erst Platz genommen.“ Wir sind beide sehr liebenswürdig. Noch.
„Bitte, ein Stück Käsekuchen und eine Tasse Kaffee.“ – „Mh, bei uns gibt es aber nur Kännchen …“ Er schürzt schon seine Lippe, ich meine auch. Vermutlich sieht er die ökonomischen Grundlagen des Betriebes bereits durch mich gefährdet, und ich verteidige wieder einmal meine Konsumentenrechte mit allem Nachdruck. Schnell sind wir beide auf der Zinne und blaffen uns noch kurz an. Dann renne ich vergeblich dem Bus nach Hameln hinterher. Der nächste geht in zwei Stunden.
Ich suche mir eine freie Bank am anderen Ufer der Weser und verspeise erst mal eine Apfelsine aus meinem Rucksack. Dabei schaue ich auf die Altstadt und denke über diese Zeiten nach. Wie gewöhnlich kommt nicht viel dabei heraus. Ich gehe wieder hinüber und hole mir ein Eis. Ich sitze mit dem Eis in der Sonne und bin zufrieden.
Zweimal komme ich noch an meinem kleinen Café vorbei. Es sind keine Gäste mehr da. Eine Bekannte sagt zum Kellner oder Wirt: „Na, da freust du dich, wenn mal weniger zu tun ist.“ Ich denke: Tolle Geschäftsidee, Gäste mit niedrigen Kuchenpreisen anzulocken und ihnen dann große Kaffeeportionen aufzwingen zu wollen.
In der „Frankfurter Rundschau“ konnte man vor längerer Zeit einmal lesen, wie damals ein Gast seinen Protest formuliert hatte: Zum Kännchen gezwungen, trank er eine Tasse – und goss den Rest übers Tischtuch aus.
14. Das Ende einer Sackgasse
Ich wohne hier am Stadtrand, am Ende einer kleinen Stichstraße. Von meinem Fenster zur Straße aus treibe ich psychologische Studien. Ich beobachte Vorübergehende und erkenne Typen in ihnen, je nach ihrem Verhalten.
Wer kommt denn schon bis ans Ende einer solchen Sackgasse? Viele, sehr viele. Unsere kleine Straße zweigt von einer anderen ab, die für Autos ebenfalls ins Nichts führt. Daher steht an deren Anfang ein Sackgassenschild. An der Abzweigung zu uns hat die Behörde einen nochmaligen Hinweis für entbehrlich gehalten. Nun kann man allerdings zu Fuß jene erste Sackgasse auch vom anderen Ende her erreichen. Viele ortsfremde Spaziergänger kommen von dort und geraten ahnungslos bis ans Ende unserer Stichstraße, wie in eine Falle.
Hier hinten ist ein großer Wendehammer. Die wenigen Häuser verstecken sich fast in großen Gärten. Zwischen Hecken führt ein kleiner Fußweg zum allerletzten, von der Straße aus nicht einsehbaren Grundstück. Am Beginn dieses Weges steht ein kleines Schild: PRIVAT. KEIN ÖFFENTLICHER DURCHGANG. Wie verlockend, dennoch weiterzugehen … Man kann jedes Verbot übertreten und dieses hier ist doch ein Hinweis, dass da ein Durchgang existiert. Meinen sie … Tatsächlich endet der Weiterweg beim letzten Haus vor einem Zaun mit verschlossener Pforte ins Freie.
Von meinem Fenster aus sehe ich, wie die Fremden vor dem Schild stehen bleiben. Sie stutzen. Sie lesen den Text, überlegen eine Weile und dann – jetzt wird es spannend. Wenn sie nicht allein sind, beraten sie sich untereinander. Nur eine Minderheit kehrt gleich um. Von den anderen bricht etwa die Hälfte gemeinsam ins Unbekannte auf, die andere schickt einen Kundschafter vor. Ich stehe schmunzelnd hinter meinem Fenster und freue mich schon auf ihre enttäuschten Mienen, die bald darauf in mein Blickfeld geraten. (Nur Schadenfreude ist reine Freude.) Am Ende gehen sie die Straße zurück, manche rasch und unberührt, andere langsam und verdrießlich. Manche schweigen, andere schimpfen. Wie verschieden Menschen sind, wie verschieden sie auch als Passanten sind.
Fast alle kommen bald zurück, auf einige muss ich allerdings länger warten. Rütteln sie vielleicht an der Pforte? Und einige wenige erscheinen gar nicht mehr auf der Bildfläche. Sind sie über den Zaun geklettert oder haben sie am Haus geläutet und es erreicht, dass ihnen die Pforte geöffnet wurde? Ich erfahre es nicht. Es soll Menschen geben, die spurlos verschwinden.
Neulich brauste ein junger Bursche auf seinem Fahrrad heran und las kopfschüttelnd den Text auf der Tafel. Wütend schlug er mit der Faust gegen das Schild und raste los, in den schmalen Gang hinein. Auch er kam nicht zurück. Er muss das Fahrrad über den Zaun gewuchtet haben. Wieder einer kam durch.
15. Die toten Akten
Diese Geschichte hat sich vor einigen Jahren in der Südhälfte unseres schönen … äh … Vaterlandes zugetragen.
Dort gibt es die kleine Großstadt X, die zugleich Landeshauptstadt von Y ist. Einige Zeit davor war die Stadt durch Eingemeindung des Dorfes Z in den Besitz von dessen bisherigem Rathaus gekommen. Was tun mit einem alten Dorfrathaus, das man eigentlich nicht braucht? Wie das Verwaltungsleben so spielt – es gab zur gleichen Zeit noch ein Zuviel, und zwar an Personal. Das alte Rathaus und der Personalüberhang ergänzten sich ideal, fand die Stadtspitze und bot beides dem Land an: Habt ihr keine Verwendung?
Sie hatten. Da gab es noch eine lästige Aufgabe aus der Nachkriegszeit, eine Kriegsfolgenabwicklung mit stark abnehmender Tendenz. Eine eigene Landesbehörde lohnte sich kaum noch. Die Stadt mutierte daher zur Leiharbeitsfirma und das Land leaste Dorfrathaus und städtische Angestellte. Für jeden statistisch erfassten Fall erhielt die Stadt einen Pauschalbetrag. Sie kümmerte sich weiter um Heizung und Beleuchtung und überwies die Gehälter wie bisher.
Jahrelang lief alles wie geschmiert im Dorfrathaus. Den Gesetzen wurde Genüge getan, die Aufgaben wurden treu erfüllt. Nur dass die Fallzahlen stetig zurückgingen, bereitete dort allmählich Sorgen. Ohne Fälle keine Pauschale. Weit reichende Konsequenzen drohten. Die geleasten Angestellten kamen allein, ohne ihre Stadtspitze, auf die rettende Idee: Sie recycelten die Altfälle und legten sie als neue Akten noch einmal an. Sie zählten dann in der Statistik erneut mit und sorgten dafür, dass die Pauschale insgesamt nicht schwindsüchtig wurde. Und es machte nicht einmal viel Arbeit. Denn:
Wilhelm Schulz, geboren 1901 in Breslau, war schon lange tot.* - Und:
Wilhelmine Becker, geboren 1902 in Stettin, war als Demenzkranke in einem Pflegeheim untergebracht und hatte keinen Gedanken mehr an ihren längst beschiedenen Antrag vom 11.11.1979.* - Ferner:
Josef Prochaska, geboren 1915 in Oppeln, war schon seit zwanzig Jahren verschollen.*
Keiner von ihnen machte Ärger. Das Geld floss noch einige Jahre. Dann kam das Land doch hinter den Schwindel. Der Schaden ging schon in die Hunderttausende.
Die Angestellten sagten zutreffend, das Geld sei nicht ihnen, sondern der Stadtkasse zugute gekommen. Die Stadt rechtfertigte sich schlitzohrig, sie habe nur die personelle, nicht jedoch die fachliche Aufsicht geführt. Ein Rechtsstreit zwischen zwei staatlichen Ebenen bahnte sich an. War es überhaupt Betrug im juristischen Sinne? Oder ist es eher ein Thema für ein Seminar über Verwaltungsrecht: Kann eine Hand von Papa Staat die andere tatsächlich – bestehlen?
Hören Sie das ferne Gelächter, wie aus einem Grab? Das ist Gogol. Er meint: Zustände sind das jetzt bei euch wie früher bei uns im alten Russland, wie unter Väterchen Zar.
* Namen und Daten fiktiv
16. Alles in Eiche
Ein Buchhändler erzählte mir einmal Folgendes: Ich sollte einem reichen Mann eine Goethe-Gesamtausgabe verkaufen. Ich wählte etwas wirklich Hübsches aus, aber es gefiel ihm nicht. War nicht repräsentativ genug. Er sagte: Wissen Sie überhaupt, wie wir eingerichtet sind? Solche Schrankwände – er deutete es mit weit geöffneten Armen an – und alles in Eiche!
Nun, bei mir war nie viel Eiche im Spiel. Genau genommen ist nur mein Zeitungsständer aus Eiche. Alles Übrige war früher eine bunte Mischung von Teak bis Presspappe. Sie gefiel nicht jedermann. Als ich einmal verreiste, überließ ich meine damalige Wohnung für ein paar Tage meinem Freund Max aus Frankfurt. Er nahm einen mir völlig unbekannten jungen Mann mit nach Hause. Einige Monate später wurde mir der junge Mann vorgestellt. Er sagte: Ich glaube, ich habe mal in deiner Wohnung übernachtet. Also, dein Wohnzimmer, da ist ja nichts, rein gar nichts … Es war eine neue Erfahrung für mich, dass man mit einem Nichts Anstoß erregen kann.
Bald darauf renovierte ich mein Wohnzimmer. Um alle Wände streichen zu können, musste auch das große Bücherregal von der Wand gerückt werden. Ein Freund half mir dabei. Dieses Regal besaß einen niedrigen, stabilen Unterschrank, darüber offene Regalbretter und an sehr schmalen, sehr hohen Holmen oben einzelne geschlossene Teile, wie Schwalbennester unter der Zimmerdecke. Sah apart aus. Beim Abrücken blieb die Regalwand auf einmal am Teppichboden hängen. Wir zogen stärker – plötzlich ein Geräusch wie von einem umstürzenden Mast auf einem Schiffsdeck: Eines der Schwalbennester hatte sich von einem Holm losgerissen und stürzte mit dem anderen krachend auf uns zu. Wir sprangen zur Seite und entkamen mit Mühe, vielleicht dem Tod. Die Ruine des Bücherschranks erinnerte danach an die Silhouette der Karawanken von Norden: wild zerrissen.
Neue Möbel mussten her, ich sah es ein. Als ich umzog, richtete ich mich vollständig neu ein – alles in Kiefer. Damit begann eine Serie von Verwicklungen, die noch immer andauert. Zunächst ließ sich das neue Bücherregal nicht an der vorgesehenen Wand aufbauen, es war länger als berechnet. Die Fachverkäuferin im Möbelgeschäft hatte nur die Bretterlänge berücksichtigt und die Dicke der Holme vergessen. Im Geiste gruppierte ich schnell die Wohnzimmermöbel um und gab Anweisungen. Da erschien in der Zimmertür der Monteur, der gerade die Einbauküche zusammenbaute: Einzelne Teile wiesen an der Oberfläche massive Defekte auf. Er deutete zart an, beim Verladen im Morgengrauen seien die Möbelpacker noch nicht ganz ausgeschlafen gewesen. Ich setzte einen Betrag vorläufig von der Rechnung ab und die beschädigten Teile wurden einige Wochen später ausgetauscht.
Und dann die Sache mit dem Sofa … Statt des gewöhnlichen Ausziehmodells, das ich im Geschäft selbst ausprobiert hatte, stellten sie mir jetzt ein nur elektrisch ausfahrbares ins Zimmer. Ein Knopfdruck und es rollte auf mich zu. Ich war perplex. Fasziniert von so viel Technik, beschloss ich, es zu behalten. Ein Fehler, wie sich später zeigte.
Im Übrigen fehlten bei der Lieferung einige Kleinmöbel. Auf zwei CD-Ständer habe ich fast zwei Jahre warten müssen. Sie kamen erst, nachdem ich gegenüber der Möbelfirma eine furchtbare Drohung ausgesprochen hatte: Ich würde in Zukunft all ihre vielen Werbebriefe an mich zurückgehen lassen. Nun kamen die beiden Stücke innerhalb von vier Tagen.
Nach und nach traten zahlreiche Mängel auf. So lösten sich bald zwei Rollen am Computertisch, sie lösten sich immer wieder. Ich entfernte sie und ersetzte sie durch Stöße von Reiseprospekten. Dann klemmte die Schublade am Nachttischchen und ließ sich nicht mehr öffnen. Ich verzichtete auf ihren Gebrauch. Folgenreicher war der Ausfall der Elektrik am Sofa. Es ließ sich von heute auf morgen nicht mehr ausfahren und war als Gästebett nicht mehr zu verwenden. Allmählich reicherte sich im nun dauernd verschlossenen Bettkasten verbrauchte Luft an, das Sofa begann zu möpseln. Hoffentlich keine tote Maus! Ich löse dieses Problem, indem ich die Rückenpolster mit dickleibigen Büchern hochdrücke. Die üble Luft kann wieder abfließen. Vielleicht lasse ich mir dieses Entlüftungsverfahren noch patentieren. Freilich muss nun das Zimmer in kurzen Abständen gelüftet werden. So entwickelt sich eben organisch eines aus dem anderen …
Warum habe ich nichts reklamiert, nichts reparieren lassen? Habe ich doch, diese Liste ist ja unvollständig. Was noch defekt war und zwischenzeitlich in Ordnung gebracht wurde, erwähne ich hier nicht einmal. Irgendwann war ich die ewigen Reparaturtermine leid und begann mich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Sich arrangieren bedeutet ja: sich mit etwas einrichten. Wer sich heutzutage neu einrichtet, kann sich auf etwas gefasst machen. Und wenn mir andere ähnliche Leidensgeschichten von deutscher Wertarbeit erzählen, lächele ich viel sagend: LERNET ERTRAGEN.
17. Mit reichhaltigem Frühstück
Der Reisende verließ den Bahnhof der kleinen Stadt und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Hotel. Es lag außerhalb der ummauerten Altstadt. Vor dem Neustädter Tor bog er in eine Kastanienallee ein. In den schönen alten Villen wohnte kaum noch einer, sie wurden überwiegend als Büros genutzt. Es war schon Feierabend, die Büros waren verwaist und die Parkplätze unter den blühenden Bäumen großenteils leer. Ein Bild des Friedens! Die Firmenschilder glänzten in der Abendsonne. Ein Dentallabor hatte ein Spitzbogenfenster mit Milchglas ausgefüllt, das fand er weniger schön. Der Immobilienmakler daneben versicherte: „Wir sind für Sie da seit 1910!“
Halt, dachte der Reisende, da stimmt sprachlich etwas nicht. Das ist vor unvordenklichen Zeiten gewesen, für mich hat er damals noch nicht gemakelt. Unvorsichtigerweise begann er nachzurechnen. Er war in den fünfziger Jahren geboren und musste überrascht und bestürzt feststellen, dass sein Geburtsjahr näher am Gründungsjahr der Maklerfirma als an der Gegenwart lag. Und er machte sich klar, dass mit jedem Tag in der Zukunft der Abstand zwischen der eigenen Existenz und jenem nebelhaft fernen Jahr 1910 relativ an Bedeutung verlieren musste. Aber so ging es ja allen.
Das „Ascona garni“ schien auch aus jener Zeit zu stammen. Es war in einer geschmackvollen Jugendstilvilla untergebracht. Der Reisende durchquerte den Garten, über dem schwerer Fliederduft hing. Eine Löwenfratze als Türöffner – besser als ein Medusenhaupt. Er ging über den roten Läufer auf die Rezeption zu und verwandelte sich aus einem Reisenden in einen Gast.
Herr Wechsler, der Direktor, schien ihn gerade jetzt erwartet zu haben. Zumindest behauptete er es, als er ihm, noch sehr elastisch für sein Alter, im Foyer entgegeneilte. Dabei hatte man sich bloß am Vorabend telefonisch und ohne genaue Zeitangabe angemeldet. Herr Wechsler verhielt sich stets so, ohne Ansehen der Person, wie der Gast im Lauf der Zeit feststellte. Womöglich war Herr Wechsler nicht nur der Direktor des Hotels, sondern auch dessen einziger Angestellter. Nur ihn bekamen die Gäste beim Empfang wie beim Frühstück zu Gesicht. Wahrscheinlich hatte er für die Zimmer eine Hilfe – sie hätte übrigens gründlicher sein können.
Der Direktor war eine gepflegte Erscheinung, nur seine Munterkeit war etwas verdächtig. Er redete gern und viel, ging auf Fragen nicht immer ein, stellte seinerseits Gegenfragen und nahm die Antworten darauf dann oft nicht einmal zur Kenntnis. Falls er nicht schwerhörig war – sollte er etwa trinken? Das würde auch den Tremor erklären. Es konnte ferner vorkommen, dass er dem Gast einen falschen Zimmerschlüssel aushändigte. In diesem Fall ging man wieder hinunter und bekam sogleich den richtigen. Während der Gast sich die nicht enden wollenden Entschuldigungen geduldig anhörte, kam ihm der Mund des übereifrigen Direktors allmählich näher, und er nahm nun auch den typischen Geruch wahr. Davon abgesehen war das „Ascona garni“ ein mehr oder weniger adrettes Haus, durchaus zu empfehlen.
Das Frühstück war für ein Haus dieser Größe ungewöhnlich reichhaltig. Da wurde wirklich alles aufgeboten. Nicht nur dass Herr Wechsler Brötchen, Kaffee, frische Wurst und frischen Käse samt Butter und einem Ei auf den Tisch brachte – Konfitüre und Honig standen auf ihm schon bereit -, er ermunterte den Gast noch, sich nach Belieben am Buffet zu bedienen. Es gab also noch ein Frühstücksbuffet zusätzlich? Bei so wenigen Gästen? Dort drüben warteten Säfte, Flocken, diverse Brotsorten, wohl frisch angemachte Salate, Frikadellen, sogar Rollmöpse, eingelegte Eier und noch vieles mehr. Es fiel dem Gast schwer, sich einen Überblick zu verschaffen. Er schenkte sich ein Glas Saft ein, goss Milch über das Müsli, mied instinktiv den leckeren Fleischsalat und nahm nur noch eine abgepackte Ecke Weichkäse mit.
Herr Wechsler kam erneut zu ihm, jetzt nur, um ihm Gesellschaft zu leisten. Ein Einzelreisender erregt nun einmal leicht Mitleid. Der Direktor verkürzte ihm die Mahlzeit, indem er ihm seine eigene berufliche Laufbahn schilderte. Überall sei er schon gewesen, auf Sylt, in Bad Pyrmont, in Reichenhall … Die Gesellschaft schicke ihn überall hin, wo Betriebe zu sanieren und rote Zahlen zu beseitigen seien. Er war sichtlich mit sich zufrieden und blies den Rauch seiner Zigarette in Richtung des Gastes, der in einer Polsterecke wie gefangen saß und nicht ausweichen konnte. Herr Wechsler hatte es sich schräg gegenüber bequem gemacht.
Plötzlich ekelt sich der Gast. Der Weichkäse, den er für lange haltbar angesehen hat, ist stark verschimmelt … Und er hat, abgelenkt vom gut geölten Redefluss, schon die halbe Ecke verspeist! Der Ekel wird rasend schnell zum Brechreiz. Er stößt im Aufspringen gegen den Tisch, drängt sich am Direktor vorbei, indem er hinter der vorgehaltenen Hand ein leises „Pardon!“ haucht, und erreicht mit Mühe den Waschraum.
18. Blumen für die Polizei
In einer Kleinstadt zeigten sie damals von Mai bis Oktober eine Gartenschau. Ich wollte sie mir auch ansehen. Ich stehe also an einer Kasse an und löse eine Tageskarte. Dabei fallen mir die vielen Männer auf, die gerade den Zugang neben mir benutzen. Sie wirken lässig, einige verschlafen. Sie gehören zusammen, es ist eine Gruppe. Ich vermute schon, es handelt sich um einen Betriebsausflug. Da höre ich, sie sind von der Kriminalpolizei. Ich habe noch nie so viele von ihnen zusammen gesehen. In ihrem Schlepptau gehe ich dann hinein in den Park und sehe beinahe alles, was es zu sehen gibt, mit ihnen gleichzeitig. Oder genauer: Ich sehe die Objekte und zugleich Kriminalbeamte, die auch von ihnen Notiz nehmen. Da entsteht eine Verknüpfung in meinem Kopf, mit der ich nicht gerechnet habe. Das wird kein gewöhnlicher Gartenschaubesuch.
Gleich hinter dem Eingang bewundern meine Polizisten – so nenne ich sie schon – die ersten Rabatten, wo vanillegelbe Tulpen mit solchen von tiefem Blauschwarz abwechseln. Hübscher Kontrast. Gründlich, wie sie nun einmal sind, lesen die Polizisten alle Namenstafeln. Die dunklen Tulpen heißen „Queen of the Night“. Da hat ein ahnungsloser Züchter die Begriffe verwechselt. Eine schwarze Tulpe wird in dunkler Nacht alles andere als königlich wirken. Im Übrigen hat der Name bereits seine spezielle Bedeutung von leicht anzüglichem Charakter. Man hätte es dem Züchter sagen sollen: Als Königinnen der Nacht werden gewisse nächtlich-erotische Gestalten bezeichnet, deren Regiment samt ihren Reizen mit dem Erlöschen dezenter Beleuchtung und zunehmender Tageshelligkeit endet. Wenn die leeren Flaschen abgeräumt sind, wird das grelle Kunstlicht angedreht und eine (oder einer) kreischt: „So seht ihr also wirklich aus!“ Woraufhin sich alle schnell davonmachen und draußen, im Frühlicht eines viel versprechenden Sommertages, mit den bloßen Händen ihre vom Zigarettenrauch entzündeten Augen bedecken – schuldbewusst. Wissen die Kriminalbeamten das alles? Sie wissen es wohl.
Auf ihrem weiteren Rundgang entdecken die Beamten immer wieder Kollegen aus den übrigen Polizeisparten. Man gibt sich zu erkennen, nickt sich zu. Die bayrischen Polizisten lieben die Gartenschau, sie tragen zu ihrem Gelingen bei, wozu immer sie imstande sind. Die bayrische Bevölkerung ihrerseits liebt ihre Polizei und umlagert die vielen Einrichtungen, die diese im weitläufigen Park aufgebaut hat. Mannschaftswagen stehen auf den breiten Wegen herum, ein Boot der Wasserschutzpolizei liegt auf dem Trockenen. Ein junger Kollege in schwarz schimmerndem Taucheranzug – Modell „Königin der Nacht“? – steht neben dem von Schlinggewächsen überwucherten Teich und spielt verlegen mit Schnorchel und Taucherbrille in seinen Händen. Womit denn sonst. Die Polizei hat also auch eine Tauchergruppe? Aber gewiss, die bayrischen Wasserleichen wollen geborgen werden. Ob der junge Mann sich wirklich gleich ins Biotop stürzen wird, mitten in den Morast?
In der Ferne hört man zu allem entschlossenes Hundegebell. Das Publikum freut sich schon auf die Vorführung der Schäferhundestaffel. Nicht ausgeschlossen, dass man sich auch den Blutalkoholspiegel untersuchen lassen kann. Für den einen oder anderen Test kann freilich das Gesundheitsamt zuständig sein. Unter Umständen würde die Polizei dann Amtshilfe leisten. Freilich. Das ist eines der beliebtesten Wörter in Bayern, hat stark affirmativen Charakter, ebenso wie diese Blasmusik. Am Nachmittag spielt hier eine Polizeikapelle auf, Plakate weisen mich darauf hin. Marschmusik macht mich so sentimental, rührt mich oft zu Tränen. Will ich mir das heute zumuten?
Weiter geht es zu den Nutzgärten, zu Rainen und Spalieren, zu Wildkräutern, die früher Unkräuter geheißen haben, und zu Nützlingen. Diese fressen Schädlinge, die immer noch so heißen. Zu Zwecken der Demonstration ist ein Hochbeet angelegt worden, es sieht aus wie ein mit Gurken und Tomaten bepflanztes Hügelgrab. Mir scheint, ich habe inzwischen die Spur meiner Polizisten verloren. Dann gehe ich eben allein weiter.
Ein Salatkopf, dessen gekräuselte grüne Blätter ins Rötliche spielen, erregt das Interesse einer grauhaarigen Endfünfzigerin. Was für ein Farbenspiel, Mensch und Natur wirken hier zusammen. Sie fragt den jungen Gärtner nach dem Namen des appetitlichen Gemüses. – „Lollo rossa.“ Er schaut kaum auf und arbeitet im Beet daneben weiter. Sie hat es nicht verstanden und fragt noch einmal. – „Lollo rossa – `s steht eh draaf.“ Unmutig weist er nach dem Täfelchen, dessen Schrift sie mit ihrer Fernbrille vielleicht nicht lesen kann. Sie gibt sich zufrieden – man weiß nicht, ob sie es wirklich ist – und geht weiter.
Nun verwandelt sich die Szene rasch. Zwei junge Damen treten auf, beide sind gewiss noch keine zwanzig. Es sind grazile Wesen in sehr engen röhrenförmigen Shorts von knallig gelbgrüner Farbe. Sie stellen keine Fragen, sie zeigen sich nur selbst, indem sie ein wenig zwischen den Gemüsebeeten auf- und abgehen. Und der Gärtner hat sie kaum bemerkt, da unterbricht er seine Arbeit und erhebt sich aus der Hocke. Er begrüßt sie freundlich und zeigt ihnen als Erstes den Lollo rossa. Ja, das sei doch ein Prachtexemplar, der gefalle jedem, nicht wahr? Die beiden sind nicht sehr beeindruckt. Darum legt er um eine jede von ihnen einen seiner erdfarbenen Arme, sie lassen den Lollo rossa und gehen Eis essen.
19. Anekdote über Schnecken und Enten
Das Folgende habe ich vor Jahren einmal bei einer Bahnfahrt aufgeschnappt.
„Und Schnecken haben wir wieder dieses Jahr“, sagte ein Mitreisender, „fürchterlich!“
Woraufhin sein Gegenüber, eine Dame um die fünfzig, sogleich süffisant zu lächeln begann. „Ach, das ist doch heute kein Problem mehr – haben Sie noch nie von Indischen Laufenten gehört? Die machen kurzen Prozess …“
„Ach ja, hab ich gehört. Soll angeblich eine Wunderwaffe sein.“
„Sind sie auch. Unsere Nachbarn haben damit nur die allerbesten Erfahrungen gemacht.“ Ihr Lächeln wurde breiter. Der Herr, schon misstrauisch geworden, beugte sich vor: „So, meinen Sie, ich sollte es auch mal im Garten damit versuchen?“
„Tja, wenn Sie sich noch richtig fit fühlen … Es gibt da nämlich jetzt ein kleines Problem. Also, an sich hat das mit den Laufenten wunderbar funktioniert. Aber dann kam die Vogelgrippe – und damit die Stallpflicht. Stallpflicht auf Monate hinaus! Jetzt haben die Nachbarn in der Frühe alle Hände voll damit zu tun, wieder wie früher selbst die Schnecken einzusammeln – um sie an die Enten zu verfüttern. Und Sie glauben nicht, wie gefräßig nicht nur Schnecken, sondern auch diese Enten sind …“
20. Der Vorlauf
Manche laufen dabei groß auf …
Wenn Frau Merkel im Fernsehen zu uns spricht, ist sie immer schon an ihrem Platz, auf der Rednertribüne, in einem Studiosessel oder an einem Messestand. Die Minister und Ministerpräsidenten halten es genauso. Doch achten Sie mal auf die mittleren und unteren Würdenträger oder Amtspersonen. Wie setzt man dieses weniger bekannte Personal in Szene, z.B. den Landrat von Steuerhinterziehhausen oder den Vizemuseumsdirektor der Alten Schinkengalerie in Troglodytenheim oder den Polizeisprecheranwärter in Schlagetotbach? Das machen die im Fernsehen so: Sie lassen den wichtigen Mann oder die wichtige Frau ein Stück durchs Bild laufen. Besser warm laufen als warm reden …
Das Fernsehteam holt den Interviewpartner am liebsten vor dessen Bürogebäude ab. Die Filmsequenz beginnt mit bedeutsamem Schweigen. Keine Begrüßungsfloskel lenkt von der Betrachtung der edlen Piazza ab. Von einem Glas-und-Marmor-Hintergrund löst sich langsam eine uns noch unbekannte Gestalt, kommt mit vielsagend verschwiegenem Blick näher. Allmählich dämmert es: Da muss einer was zu sagen haben.
Kamera und Persönlichkeit passieren einen Eingang, der immer offen steht. In dem anschließenden breiten Gang ist nie ein anderer Mensch zu sehen. (Wahrscheinlich für den Dreh abgesperrt.) Unser Auge gleitet die edlen Wandmaterialien entlang. Die wichtige Person hält beim Gehen genau die Mitte zwischen Eilen und Bedachtsamkeit. Vermutlich hat er (sie) diesen Auftritt zu Hause vor einer Spiegelglasschrankwand so lange geprobt, bis er saß. Dann huschen wir mit ihm (ihr) in einen auffallend individuell eingerichteten Büroraum mittlerer Größe. Wir sehen jetzt gewöhnlich: frische Blumen, Bücherreihen auf Regalen, ein, zwei geschmackvolle Bilder an der Wand, besonders oft Expressionisten. Dass die wichtige Person hier nicht wohnt, sondern auf Arbeit ist, wird durch einen mittelhohen Aktenstoß neben einem Monitor angedeutet.
Bis jetzt sind schon ein bis zwei kostbare Sendeminuten unwiderruflich im Orkus verschwunden. Schnitt: Nun ist auf einmal nur noch der Kopf zu sehen. Eine Leiste mit Namen und Funktion wird eingeblendet. Und dann macht sie (er) den Mund auf und sagt: „Die stark verweste Leiche wurde heute Morgen in der Kanalisation gefunden …“ Oder: „Vor Eingang weiterer Gutachten ist definitiv keine Aussage darüber möglich, ob der Kostenrahmen um mehr als fünfhundert Prozent überschritten wird …“
Bei Böll sammelt Dr. Murke Schweigen. Ich würde gern Laufsequenzen sammeln - wie sie schreiten, gleiten, tänzeln. Fünf Dutzend ergeben ein Schock, das genügt für einen anderthalbstündigen Dokumentarfilm: Deutschlands Entscheidungsträger gehen zur Sache. Unwichtig, was sie danach zu sagen haben. Ihre Markenkleidung, ihre Frisuren, ihre Choreographie, das ist es doch, was uns in Wahrheit anspricht und überzeugt.
21. Eine Unterschrift fälschen
Die junge Kassiererin schien missvergnügt. Nacheinander besah sie sich die von mir unterschriebene Quittung, meinen bei der Bank hinterlegten Schriftzug auf dem Monitor und die Verlegenheit auf meinem Gesicht. Ja, meine Unterschriften sind Zumutungen, ich weiß …
„Wie sieht das aus? Vielleicht wie ein Ö?“ fragte sie ein bisschen streng – „Oder wie ein Ä?“ fragte ich unsicher zurück. Um ehrlich zu sein: Beide Unterschriften kamen mir fast identisch und gleichermaßen formlos vor. So unterschreibt man einfach nicht. Da ist nichts Rundes und nichts Spitzes, kein Ausdruck und kein Eindruck, zumindest kein guter. Es ist ein hässlicher, unleserlicher, widerwillig hingeschmierter Namenszug, der auch noch vorzeitig abbricht. So sehen frühe Schreibübungen von sehr unbegabten Erstklässlern aus.
Tatsächlich begann mein Kampf mit dem Schönschreiben schon in den ersten Schulwochen. Oma war bald alarmiert und übte manchen Nachmittag mit mir. Vorübergehend schien ich den Anschluss an die Manierlichkeit zu schaffen. Doch je länger und je mehr ich schrieb, umso hastiger. Ich kritzelte mit Feuereifer, Banales oder Gedankentiefes, nur immer formlos, was die Schrift betraf.
Das kleine U und das kleine N sahen gleich aus. Das kleine R war vom kleinen V so wenig unterscheidbar wie das kleine E vom kleinen C. Und die Endungen wie z.B. auf –en wurden beim Schreiben sozusagen verschluckt – da lief nur noch eine Schlangenlinie aus. So war es mit achtzehn. Und es ist seitdem schlimmer geworden. Es ist zwecklos, mich am Telefon etwas mitschreiben zu lassen. Meistens kann ich es nachher doch nicht lesen.
Früher, als ich noch Briefe von Hand schrieb oder Notizen für Kollegen machte, behalf ich mich mit Druckschrift. Zu schreiben in der Art, wie gedruckte Texte aussehen, fiel mir leichter als – eine persönliche Handschrift vorzutäuschen. Darin besteht nämlich das Defizit: Ich habe nie eine solche entwickelt. Ich weiß schon, was ein Graphologe dazu sagen würde, will es aber nicht hören.
Heute schreibe ich fast nur am PC. Bin ich auf Reisen und möchte einen Text auf Papier festhalten, verwende ich eine winzige Miniaturschrift, ein Mikrogramm. Die Zeichen müssen so klein sein, dass die Möglichkeit individueller Schönschrift von vornherein ausscheidet. Das Ergebnis ist für andere vollkommen unleserlich, da fast alle Buchstaben gleich aussehen. Ich selbst lese den Text unmittelbar nach der Niederschrift so oft, bis ich ihn weitgehend auswendig kann. Die mikroskopisch kleinen Zeichen dienen mir später nur als Gedächtnisstütze.
Zurück zum Bankschalter. Ich legitimierte mich und bekam mein Geld. Solche Szenen erlebe ich öfter und überlege mir, wie ich sie vermeiden könnte. Vielleicht so: Ich müsste meine eigene Unterschrift fälschen, und zwar in dem Sinn, dass ich anstelle des authentischen Gekrakels eine andere, keinen Anstoß erregende vortäusche. Einigermaßen sauber müsste sie aussehen, normal, in Maßen originell - pseudooriginell.
Eine Methode dafür habe ich bei Thomas Mann gefunden. Sein junger Felix Krull kopiert die väterliche Handschrift: „Das war nicht schwer, denn mein armer Vater schrieb eigentlich eine Kinderhand, fibelgerecht und ganz unausgeschrieben, nur dass die Buchstaben winzig klein, durch überlange Haarstriche jedoch so weitläufig, wie ich es sonst nie gesehen, auseinander gezogen waren, eine Manier, deren ich rasch aufs täuschendste habhaft wurde. Was den Namenszug E. Krull betraf, …, so umhüllte ihn eine Schnörkelwolke, die auf den ersten Blick schwer nachzuahmen schien, jedoch so einfältig ausgedacht war, dass gerade die Unterschrift mir fast stets zur Vollkommenheit gelang …“ Es folgt die genaue Anleitung, wie man einen bombastischen Schnörkel fabriziert.
So wird’s gehen. Cosi fan tutte. Oder fast alle.
22. Die Kunst der Lobhudelei
- Nicht die Faust, der Samthandschuh regiert die Welt oder Das eigennützige Lob -
Das Literaturforum XYZ steht seit langem unter der mild-despotischen Fuchtel von Dr. Majonäse. Wie macht er das, ohne offizielles Amt, nur kraft seiner Autorität, wie hält der Alte den Laden zusammen und sie fast alle bei seiner Fahne? Er macht das so: Er gibt nicht seinen Senf zu allem, er spendet stets Majonäse, will sagen: reichlich ölige Zustimmung.
Kommt ein Lyriker mit ungelenken Versen, rühmt Majonäse das sperrig Unkonventionelle daran. Sperrig sind sie in der Tat, doch zugleich auch sehr konventionell, und also überschreitet der wohlgesinnte Kritiker hier bereits die Grenze vom Rücksichtsvollen zum Unaufrichtigen. Er geht noch einen Schritt weiter und sieht tendenzielle Übereinstimmung mit dem frühen Benn. Das freut den jungen Lyriker aufrichtig.
Ein anderer versucht sich mit Kurzgeschichten und präsentiert eine viel zu lang geratene. Majonäse wendet es ins Positive und merkt in einem Kommentar an, er habe mit zunehmender Spannung den Text verschlungen. Er beherrscht eben auch die Kunst der versteckten Kritik. Der Kenner erkennt, dass Majonäse Mist als Mist identifiziert hat - und der Mistproduzent fühlt sich trotzdem gebauchpinselt. Chapeau!
Es soll und muss auch episch Veranlagte geben. Müssen sie uns indessen Folge um Folge aus ihren Riesenwerken präsentieren? Unübersehbar machen sich Überdruss und Langeweile im Forum bemerkbar – das Zeug ist eben ungenießbar, und außer dem Verfasser merken es alle. In diesem Fall wünscht Majonäse der schweren Geburt das ihr gebührende Interesse. Das ist schon ein wenig machiavellistisch, Herr Majonäse …
Einen anderen vergleicht er mit Thomas Mann und dem „Zauberberg“. Oder mit Kellers „Grünem Heinrich“. Oder – warum nicht gar – mit Tolstojs „Krieg und Frieden“. Oder – es ist eh wurscht – mit Goethes „Faust“. Die so Verglichenen sind ein wenig bedröppelt – sie wissen recht gut, dass sie kein Thomas Mann, kein Keller, kein Tolstoj und sicher auch kein Goethe sind. Weisen sie den Vergleich daher zurück? Mitnichten. Und hier beginnt das System Majonäse sich zu etablieren: als ein auf Korruption und Korrumpiertheit gegründetes. Lobst du meinen Mist, lob ich deinen Mist. Mit Zins und Zinseszins zahlen es die über Gebühr Gelobten Dr. Majonäse zurück, wenn er hin und wieder Eigenes veröffentlicht. Es ist gewiss brauchbar, diskutabel, mehr nicht. Doch es wird frenetisch beklatscht. Dr. Majonäse ist ein talentierter, ein gebildeter und vor allem ein gescheiter Mann. Er ist viel zu gescheit und viel zu gebildet, als dass er nicht wüsste, was er im Forum XYZ treibt.
Auch ein Machiavell der Literatur kennt Umsturzversuche. Majonäse weiß sich dann zu helfen. Er organisiert in seinem Gefolge einen Autorenstreik, der die von ihm „gefährlich“ genannten Elemente eliminieren soll. (Gefährlich sind sie seinem System, sie greifen es offen an.) Seine Claque veröffentlicht also nichts mehr, bis er das Zeichen zur Rückkehr gibt. Im Vorfeld schreibt er Emails, telefoniert. Dabei macht er sich sachliche Gegensätze zwischen Autoren zunutze. Er charakterisiert gegenüber dem Linken A den Rechten B als „üblen Reaktionär“. Oder C ist ein unreifer Sponti. Oder … (nach Belieben einsetzen).
Etwas später ist das Ziel der Rochade erreicht. A begreift zu spät, wie er benutzt worden ist, und geht, wie schon andere vor ihm, auf Distanz zu dem Mann mit dem Plastiklorbeer. Und Majonäse? Der Alt-Achtundsechziger robbt sich tatsächlich an B, den üblen Reaktionär, heran. Vergleicht ihn nun mit Joyce. Natürlich wissen beide, dass das Unfug ist. Die literarische Korruption blüht. Und das Forum müffelt ein wenig vor sich hin à la Kloake. Jeder kleine Sarrazin ist jetzt willkommen, wenn er nur gibt, wessen Majonäse bedarf: Weihrauch.
Der gefährlichste Machiavellist ist immer noch der mit der philanthropischen Maske. Oder der sozialen oder der ökologischen oder … (nach Belieben einsetzen). Ist eh wurscht.
Schlussbemerkung: Hier ging es darum, einen Typ zu charakterisieren. Daher sind die gewählten Beispiele für gewissenlose Lobhudelei – Vergleiche mit Benn, Tolstoj, Joyce usw. – reine Fiktion.
23. Was die Leute wirklich interessiert
Wer viel fürs Internet schreibt, den interessiert die Resonanz. Hin und wieder will er wissen, welche seiner Beiträge gut gelaufen und welche Mauerblümchen geblieben sind. Zeichnet sich quer durch die Foren ein einheitliches Bild ab? Bei mir insgesamt eher nicht. Doch ich kenne die wenigen Ausreißer nach oben. Unter ihnen sind vor allem drei Artikel über ganz unterschiedliche Themen. Es sind zu meinem Verdruss nicht meine Lieblingsgegenstände. Die Titel: Kleine Katzen töten, Eisenhut – schön und gefährlich, Eine Unterschrift fälschen. Hm? Was will mir das Publikum damit sagen? Worin besteht der kleinste gemeinsame Nenner?
Wird hier überhaupt eine Tendenz augenfällig? Ich fürchte: ja. In allen drei Fällen geht es (oder scheint es zu gehen) um Anrüchiges, Gefährliches, Verbotenes. Ich versuche, dem auf den Grund zu gelangen und sehe mir mal meine Statistik im Forum WeißderGeier (Name geändert) an. Dort veröffentliche ich schon lange nichts mehr, meine Daten sind jedoch weiterhin vorhanden und aufschlussreich. Man kann sehen, welchen Weg der Leser gegangen ist und welchen Einstieg er etwa bei Google gewählt hat. Und was ergooglen sie vor allem, seit ich weg bin? Eine Unterschrift fälschen!
Bei WeißderGeier kann ich auch sehen, wie lange der Leser bei meinem Artikel verweilt hat. Er macht sich in aller Regel sehr schnell wieder davon, schon nach längstens einer Minute. Das wundert mich nicht, es geht im Text nicht wirklich ums Fälschen. Der Titel war nur ein Scherz. Die Genasführten kommen nicht nur aus Deutschland, die Schweiz ist auch ab und zu vertreten und neulich war sogar ein Wissbegieriger aus Polen dabei. Ihre Google-Eingabetexte sind ebenfalls für mich ersichtlich. Sie sind sehr monoton: unterschrift fälschen, text fälschen, wie fälsche ich unterschriften …
Ich kann mir nun vorstellen, was es mit dem Eisenhut und den Katzen auf sich hat. Es ist sehr ernüchternd. Das also bleibt von mir: Wie man falsch unterschreibt. Wie man Katzennachwuchs schnell beseitigt. Wie man mit Gift einen lieben Anverwandten um die Ecke bringt. – Nein, das habe ich nicht gewollt!
24. Sie raffen es nicht
- Situationskomik in Berlin und anderswo -
Wikipedia weiß Folgendes: „Das Schlüssel-Schloss-Prinzip beschreibt die Funktion von zwei oder mehreren komplementären Strukturen, die räumlich zueinander passen müssen, um eine bestimmte biologische Funktion erfüllen zu können …“ Dieses Prinzip ist nicht auf die Biologie beschränkt, es gibt Analogien im Alltag. Hier müssen die komplementären Strukturen mental zueinander passen, sonst funktioniert es nicht. Dann wird der Code eben nicht geknackt und die Methode Versuch und Irrtum führt nur tiefer in den Schlamassel hinein.
In einem China-Restaurant im Berliner Nordosten. Ich habe eben bei der hübschen und anstelligen Kellnerin bestellt. Nun telefoniert sie am Tresen. Da will einer ordern und liefern lassen, das Gespräch scheint sich im Kreis zu drehen. Die beiden können sich nicht einigen, ich höre kaum hin. Dann kommt die Chinesin zu mir und bittet mich, den Straßennamen zu erfragen, ihn aufzuschreiben. „Hallo, wo soll’s hingehen?“ – „In die Reichenberger Straße – mit R, bitte!“ Die Kundin ist gut zu verstehen. Ich schreibe es auf, dazu noch die Hausnummer, reiche den Zettel weiter – und kann mir jetzt den absurden Dialog der beiden rekonstruieren: „Ihre Adresse?“ – „Reichenberger Straße …“ – „Moment, Leichenberger Straße?“ – „Nein, Reichenberger!“ – „Wie, Eichenberger?“ Und so noch eine Weile fort. Bleibt nur eine Frage ungeklärt: Warum bestellt man Chop Suey in Weißensee, wenn man in Kreuzberg wohnt?
Ein anderes Mal sitze ich im Zug von Berlin nach Eberswalde. Einer verschwindet in der Toilette. Von meinem erhöhten Platz habe ich ihre behindertenfreundlich breite, runde Schiebetür gut im Blick. Sie ist mit einem lustigen Jägerbild tapeziert, der Jäger mit Hütchen und kleinem Hund. Nun kommt eine Frau um die fünfzig und will auch hinein. Von innen verschlossen, lässt der Türgriff sich nicht betätigen. Sie will es nicht glauben, will unbedingt hinein und zieht und drückt und drückt und zieht – vergeblich, der Griff gibt kein Jota nach. Kurzes Nachdenken, dann gleitet ihr Blick den Jäger aufwärts. Über ihm zwei rot beleuchtete Großbuchstaben: WC. Ihr kommt eine Idee: In der U-Bahn öffnet man die Tür, indem man die runde Taste mit den gelben Lichtpunkten berührt. Also wendet sie hier die gleiche Methode an. Sie hat Mühe, den roten Button zu erreichen. Auf Zehenspitzen und über Kopf drückt und drückt sie … Danach bearbeitet sie erneut die widerspenstige Tür, stemmt sich sogar gegen sie. Endlich gibt sie auf und kehrt unverrichteter Dinge zu ihrem Platz zurück, kein Fünkchen Verständnis im Blick.
Aber erst die anderen, die eine Zugtoilette von innen nicht verriegeln - daheim schließen sie ja auch nicht ab, sie verhalten sich ganz natürlich, finden sie … Wenn du die Tür ahnungslos geöffnet hast und der Benutzer wenig präsentabel vor dir steht oder hockt – wie er dich dann vorwurfsvoll anfunkelt: Wie konntest du Schamloser, Unverschämter ihm das antun …
25. Ich hatte ein Problem
Wir sanken einander zu.
„Wie deine Tränen glitzern, Kleines“, sagte er.
„Du bleibst also bei Molly?“ (Dann ganz leise:) „Und bei mir auch?“
„For ever and ever.“ Er drückte mich an sich, erst sanft, dann immer fester.
Herrlich, wir hatten eine Zukunft!
Wollte er mich wirklich verlassen, für immer?
Ich hatte ein Problem, ich durfte ihn nicht verlieren.
Er war schon im Flur und riss die Jacke vom Haken.
Ich atmete schwer, dann fiel mir ein letztes Mittel ein.
Ich hielt ihm das Medaillon mit dem Bild entgegen.
Ich schrie: „Auf mich kommt’s nicht an. Aber kannst du wirklich Molly verlassen?“
Da wischte er sich etwas aus dem Auge – eine Träne?
Er flüsterte: „Ach, das süße Hundebaby!“
Herrlich, wir hatten eine Zukunft!
„For ever and ever.“ Er drückte mich an sich, erst sanft, dann immer fester.
„Du bleibst also bei Molly?“ (Dann ganz leise:) „Und bei mir auch?“
„Wie deine Tränen glitzern, Kleines“, sagte er.
Wir sanken einander zu.
Er flüsterte: „Ach, das süße Hundebaby!“
Da wischte er etwas aus dem Auge – eine Träne?
Ich schrie: „Auf mich kommt’s nicht an. Aber kannst du wirklich Molly verlassen?“
Ich hielt ihm das Medaillon mit dem Bild entgegen.
Ich atmete schwer, dann fiel mir ein letztes Mittel ein.
Er war schon im Flur und riss die Jacke vom Haken.
Ich hatte ein Problem, ich durfte ihn nicht verlieren.
Wollte er mich wirklich verlassen, für immer?
Wollte er mich wirklich verlassen, für immer?
Er war schon im Flur und riss die Jacke vom Haken.
Ich hielt ihm das Medaillon mit dem Bild entgegen.
Da wischte er sich etwas aus dem Auge – eine Träne?
Wir sanken einander zu.
„Du bleibst also bei Molly?“ (Dann ganz leise:) „Und bei mir auch?“
Herrlich, wir hatten eine Zukunft!
Ich hatte ein Problem, ich durfte ihn nicht verlieren.
Ich atmete schwer, dann fiel mir ein letztes Mittel ein.
„Auf mich kommt’s nicht an. Aber kannst du wirklich Molly verlassen?“
Er flüsterte: „Ach, das süße Hundebaby!“
„Wie deine Tränen glitzern, Kleines“, sagte er.
„For ever and ever.“ Er drückte mich an sich, erst sanft, dann immer fester.
(Merde, merde, merde! Das sind doch alles Textbausteine, aber ich krieg den Scheiß nicht in die richtige Reihenfolge …)
26. Best of Hermann Hesse – Eine Collage
Auf nicht wenigen Gabentischen dürften sie wieder liegen, die Bücher von Hermann Hesse, gerade im fünfzigsten Todesjahr des Dichters. Und die oder der Beschenkte bedankt sich, beginnt zu blättern, zu lesen und sich fesseln zu lassen, z. B. von
NARZISS UND GOLDMUND
(Hesse gewährt uns hier Einblicke ins Klosterleben des Mittelalters. Nur Männer und keine Frauen, kann das denn gut gehen? Die Leserschaft beschleicht bald ein Verdacht – aber die Antwort unverdorbener Natur lässt zum Glück nicht lange auf sich warten. LeserIn, atme auf! Oder erst mal nur durch, denn alles hat ja gerade erst angefangen.)
Viel mehr, als der Knabe ahnte, waren Narzissens Gedanken mit ihm beschäftigt. Er wünschte sich diesen hübschen, hellen, lieben Jungen zum Freunde … „Goldmund!“ flüsterte sie. Er blieb stehen. „Kommst du einmal wieder?“ fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch …Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuss eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden …
(Kein Wunder, dass die erste Nervenkrise bald da ist – und es werden noch viele und viel schlimmere folgen. Dazu ein überforderter Klostervorsteher, der es trotzdem auf den Punkt bringt. Dann wieder Narziss & Goldmund, sie sind ein bisschen ratlos, der eine oder andere Leser auch schon. )
Gleich muss ich sterben, empfand er ergrausend … Zuckend sank er am Fuße der Säule nieder … Abt Daniel hatte einen wenig erfreulichen Tag gehabt … Es war kein guter Tag heute, nun auch dies noch! … Narziss, wie immer mit beherrschter Haltung und Sprache … „Ihr wisst, er ist im Alter, wo die Kämpfe mit dem Geschlechtstrieb beginnen.“ … Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen … „Laß gut sein“, sagte er sanft, „du weißt wohl, dass du mir nicht entleidet bist.“
(Gleich kommt noch ein Naturkind, wie überhaupt bei Hesse die Natur so überaus natürlich ist. Und noch einmal Narziss und Goldmund, Ersterer will es nun ganz genau wissen.)
„Ich bin Lise“, sagte sie. „Lise“, sprach er nach, den Namen kostend, „Lise, du bist lieb.“ Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und flüsterte hinein: „Du, ist es das erste Mal gewesen? Hast du vor mir noch keine liebgehabt?“ – „Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.“
(Ex-Novize goes Sündenbabel oder Jung-Casanovas Lehrzeit. Das Naturkind erweist sich als sehr gelehriger Schüler der Natur. Aber vor dem Genuss immer das Lernen! Hesse beherrscht viele Genres, er mischt sie ein bisschen und es kommt heraus: der erotisch-didaktische Bildungsroman, Wilhelm Meisters Lehrjahre durch die Betten oder Wie Frauen klingen.)
Von den Frauen zu lernen wurde er nicht müde … auch von den Frauen lernte er gern … Er aber lernte. Er lernte nicht nur in kurzer Zeit viele Liebesarten und Liebeskünste … lernte bei manchen Frauen schon aus deren Klang unfehlbar ihre Art und den Umfang ihrer Liebesfähigkeit erraten … hier lernte er ohne Mühe, hier vergaß er nichts …
(Noch ein kulturgeschichtliches Dokument: Wie sich Altherrenerotik in der Lieblingsliteratur der Adenauerzeit spiegelt. Ein Streicheln in Ehren, wer will es verwehren … Aber dann plötzlich ein kühner Vorgriff auf die sexuelle Revolution!)
„Es war gräßlich und schamlos, wie du da vor meinen Augen dieser Frau schön getan hast! Hast du denn keine Scham? Sogar das Bein hast du ihr gestreichelt, unterm Tisch, unter unserem Tisch! Vor mir, vor meinen Augen …“ Er streichelte sachte ihre Knie, und indem er ganz zart ihre Scham berührte, bat er: „Blümchen, wir könnten so sehr glücklich sein! Darf ich nicht?“ Sie drängte ohne Unwillen, aber mit Kraft seine Hand beiseite und rückte etwas von ihm weg … „Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmet mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.“
Tja … Oder der oder die Beschenkte blättert in
DEMIAN:
(Das hier ist Jahrzehnte vorher geschrieben und Hesse noch auf dem Zenit seiner erotischen Schriftstellerpotenz. Sein Ich-Erzähler ist, obwohl unersättlich, doch einer mit Selbstkritik. Ach, wie gern würde er, statt dauernd angepasst, immer unersättlicher sein … Aus solchem Stoff sind Bestseller gemacht – du musst den potentiellen Leser da packen, wo er am tiefsten unbefriedigt ist. Identification sells.)
Sie musste kommen und meine Umarmung ersehnen, mein Kuss musste unersättlich in ihren reifen Liebeslippen wühlen … „Ja, es war eine von meinen Anpassungen. Du weißt, ich bin nach außen nie gern aufgefallen und habe immer eher etwas zuviel getan, um korrekt zu sein.“
(Jetzt versetzt sich der Zivilist Hesse von der Schweiz aus in das Gemüt eines wehrhaften, unsentimentalen deutschen Soldaten von 1914. Ob er den Originalton getroffen hat, ist zu bezweifeln.)
„Na, Junge, sentimental mußt du das nicht auffassen. Es wird mir im Grund ja kein Vergnügen machen, Gewehrfeuer auf lebende Menschen zu kommandieren, aber das wird jetzt nebensächlich sein …“
(Zur Abwechslung noch mal hohe Erotik, mit etwas Natur abgeschmeckt. Und darüber eine der Konstanten - Sittengesetz und so weiter -: der Sternenhimmel. Hatten wir zwar schon oft, aber einmal geht noch.)
Groß und fürstlich schritt die Geheimnisvolle zwischen den schweigenden Bäumen und über ihrem Haupt glommen klein und zart die vielen Sterne.
(Hesse erklärt uns die tiefsten Ursachen des Ersten Weltkriegs. Vielleicht doch was dran an dem Gerede, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei? Und dass die lange Friedenszeit unvermeidlich in den Krieg geführt habe?)
Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele, waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können …
(Augustinus: tolle et lege, auch mal auf Hesse anwenden – und dann bitte Schlüsse daraus ziehen.)
27. Musterkollektion Alpträume
Wenn Ihnen die Tage und Nächte zu eintönig verlaufen, gibt es ein bewährtes Gegenmittel: Alpträume. Sie bereichern eine sonst blasse, ereignisarme Existenz mit grellen Farben, lauten Geräuschen, starken Gefühlen, Dramatik. Traumforscher haben herausgefunden, man kann an seinen Träumen arbeiten, sie verändern – warum sie nicht gleich produzieren? Beschäftigen Sie sich mit einem Typ Alptraum, legen Sie sich auf ein Motiv fest, vertiefen Sie sich darin, vor dem Zubettgehen, beim Einschlafen. Das Verfahren kann auch bei Schlaflosigkeit oder vor kurzem Nickerchen tagsüber versucht werden. Was haben wir denn anzubieten?
Die Zähne fallen aus – Hier sind garantiert: erst ungläubiges Erstaunen, dann tiefes Erschrecken. Sie spüren: Da verabschiedet sich ein Vorderzahn, nun folgt ihm die gesamte Vorderfront, die Eckzähne ruckeln ein wenig, bevor sie sich auf die Reise begeben. Die Backenzähne wackeln auch schon, und Sie verspüren Ekel und Scham – wie sehe ich denn nur aus - und das gruselige Vorgefühl mümmelnder Hochbetagtheit. Das ist ein Generalangriff auf die Integrität. Nicht die Welt geht in Stücke – das würde Sie weniger berühren -, sondern Ihre teure Person. Wenn Sie erwachen, werden Sie sich sogleich überzeugen, dass noch alles da ist, und sich froh und erleichtert finden.
Nackt in der Öffentlichkeit – Nur geeignet, wenn Sie nicht FKK-Anhänger sind, die kennen das schon, es hat sich für sie verbraucht. Alle Übrigen empfinden zunächst große, ungewohnte Lust am hüllenlosen Durchstreifen von Fußgängerzonen, Museen und anderen öffentlichen Orten. Sie gleiten geradezu dahin – bis ihnen Blicke begegnen, deren Skala von amüsiert über skeptisch bis offen ablehnend reicht. Leise meldet sich hier die Scham, die klar erkennbar sekundärer Natur ist. Als Hotelgast will man jetzt schnell mit dem Lift hinauf, um sich etwas überzuziehen. Die Lifttür öffnet sich, die Menschen im Aufzug lachen, entrüsten sich. Man versucht vergeblich, sich zu bedecken – und erwacht. Falls Sie nackt schlafen, werden Sie sich jetzt seltsam fühlen, vielleicht an sich hinabschauen.
In fremde Wohnungen eindringen – Auch hier verwandelt sich anfängliche Lust in zunehmendes Unbehagen, schließlich in Angst. Erst sind Sie ein Entdecker in Räumen, die Ihnen sonst unzugänglich. Wie viele Geheimnisse liegen jetzt offen vor Ihnen ausgebreitet … Man findet jedoch nie mehr hinaus. Der legitime Nutzer der Wohnung kommt unverhofft zurück und Sie Eindringling flüchten vor ihm auf den Balkon. Das Appartement liegt im dreizehnten Stock. In die Tiefe springen, an der Fassade hinabklettern? Ihr Schrei reißt Sie aus Traum wie Schlaf, und erwacht brauchen Sie einige Minuten, um sich vom Schrecken zu erholen. Kathartische Wirkung garantiert.
Reisen ohne Wiederkehr – Obwohl die Ausgangssituation dafür immer dieselbe ist, bietet dieser Typ Alptraum die größte Variabilität. So fängt es jeweils an: Sie müssen eine Heimreise antreten und zu diesem Zweck zum Bahnhof oder zum Flughafen. Doch Sie kommen dort entweder nie an oder zu spät. Zunächst vertrödeln Sie kostbare Zeit mit Packen. Der verwünschte Koffer will sich nicht schließen lassen. An der Rezeption folgen lange Streitereien wegen der Rechnung. Und was kann unterwegs nicht noch alles passieren: in die falsche U-Bahn steigen, ein Streik der Busfahrer … Dann platzt der Koffer und sein Inhalt entleert sich auf einer Rolltreppe. Diese Träume können sich gefühlt sehr lange hinziehen. Das Ziel erreicht man dennoch, wie gesagt, nie. Erschöpfung scheint zum Erwachen zu führen. Danach fühlen Sie sich ausgelaugt, wie nach einer langen, frustrierenden Reise. Denken Sie jetzt besser nicht an Jean Paul, der gesagt hat: Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt Leben Reisen ist. Vermeiden Sie diese Analogie doch lieber.
28. Bescheidener Vorschlag zur Reform des Wahlrechts
Von alten Leuten hat man wenig Nutzen, meinte schon der französische Philosoph Vauvenargues. In jüngster Zeit häufen sich nun die Klagen. Die Alten schaden sogar, heißt es, und zwar den Wahl- und Abstimmungsergebnissen, die wunderbar sein könnten, ja, wenn nur die älteren Semester mehrheitlich ihr Kreuz an eben der Stelle machen würden wie die ganz jungen. Und hinterher hat dann die Obrigkeit die Scherereien, muss ausbügeln, verschleppen, Ausreden erfinden. Sagte ich Obrigkeit? War nur ein kleiner Scherz am Rande. Sagen wir lieber die demokratisch legitimierten Instanzen – hört sich gleich viel besser an.
Was also tun? Ich hätte da einen bescheidenen Vorschlag: eine Art von Zensuswahlrecht, nein, nicht nach dem Vermögen – Geld regiert sowieso die Welt -, sondern nach dem verbleibenden Lebensalter. Wir siebteln die Gesamtwählerschaft. Das volle Wahlrecht – sieben Siebtel - erhält nur noch die jüngste Gruppe, die von 18 – 30 Jahren. Jede weitere nimmt einen Abzug von einem Siebtel hin und die älteste – 90 Jahre und älter – hat pro Wähler nur noch eine Stimme im Wert von 0,142857142. Das ist nur gerecht, wahrhaft gerecht: weniger Zukunft, weniger Verantwortung, weniger Stimmgewicht. Da die Gruppen getrennt erfasst und ausgezählt werden, entfällt die lästige Nachwahlfragerei.
Pfiffige werden einwenden, auch Kohorten junger Männer seien schon durch unliebsamen Gebrauch ihres Stimmrechtes aufgefallen. Was hindert uns daran, in Zukunft auch eine Differenzierung nach Geschlechtern vorzunehmen? Stellen wir die Frauen besser, geben wir ihnen einen Bonus, indem die Männer generell einen Malus bekommen, einen Stimmabschlag von 0,1. Das ist nicht viel und ebenfalls gerecht, historisch gerecht. Unendlich lange wurde Frauen das Stimmrecht vorenthalten, diese Schuld zwischen den Geschlechtern ist kaum je zu tilgen – ich erhöhe den Malus auf 0,2.
Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr Ideen kommen mir, wie mit derart mathematischen Modellen die Gerechtigkeit auf Erden vermehrt werden könnte. Ist nicht vergangener Völkermord jetzt ein Topthema? Was nützt alles Brandmarken, wenn sich keiner etwas dafür kaufen kann? Dass mit Deklarationen das Morden in Zukunft abnähme, wer hat denn noch diesen Kinderglauben? Man müsste dazu ja das ganze letzte Vierteljahrhundert vollkommen aus dem Gedächtnis tilgen … Also: Die Gerechtigkeit verlangt für jeden Schaden in der Vergangenheit einen konkreten Nutzen jetzt oder in Zukunft. Führen wir ein ethisch legitimiertes und wissenschaftlich nachprüfbares Punktsystem für Migranten ein. Nur ein Beispiel: Nachkommen von Opfern oder von Überlebenden des Völkermordes an den Heteros müssen bei Zuwanderung besser gestellt werden als Menschen aus Belutschistan. Warum? Es ist kein Völkermord an Belutschistanern bekannt, bis jetzt jedenfalls, und außerdem kommt man viel leichter von Belutschistan nach Europa denn aus Heteroland. Alles einleuchtend?
Das wird ein Riesenprojekt – wenn ich nur an die ganze Software denke, die nötig sein wird … Ich gründe dazu ein Startup-Unternehmen und nenne es Digital unterstützte neue Gerechtigkeit, abgekürzt DUNG. Ich suche mir Angestellte, beschäftige mich, statt mit Literatur, nur noch mit Marketing, Verträgen, Lizenzen. Ich unternehme Reisen, halte Vorträge über DUNG …
Ein Einwand? Wie, Seife? Nein, niemand beabsichtigt, die alten Menschen zu Seife zu verarbeiten. Sie werden doch gebraucht, als Konsumenten, z.B. von Seife. So haben sie immerhin für die Gesellschaft wenigstens einen Nutzen.
29. Das Humpelstilzchen
Politisieren kann den Charakter verderben - falls überhaupt vorhanden. Ein Beispiel gefällig? Bitte sehr …
Eine kleine Posse aus dem Literaturforenbetrieb: Einer – sein Nickname sei Humpelstilzchen - verlässt im Zuge heutiger Schlammschlachten, nachdem er nicht durchgedrungen, das Forum A mit der Begründung: Wo neben anderen der Autor X veröffentliche, wolle er nicht mehr dabei sein. Ein Mann – ein Wort! Allerdings gibt es ja noch das Forum B, und siehe: Jetzt stört sich Humpelstilzchen durchaus nicht daran, dass besagter X eben da zu den viel Publizierenden wie viel Gelesenen gehört. Es molestiert ihn so wenig, dass er dort eigene Texte sogar unter seinem vollen bürgerlichen Namen präsentiert.
Üb immer Treu und …? Ach was, Empörung ist wie Empathie synthetisch herstellbar. Ist regulierbar, dosierbar. Ich instrumentalisiere, also bin ich. Sie instrumentalisieren alles, nicht nur die Mitwelt, auch die eigenen Gefühle. Sein Name sei Redlich - Ehrenfried Redlich. So oder ähnlich. Oder noch ganz anders.
30. Die Zehn Gebote, aktualisiert
Das erste Gebot
Du sollst dich selbst verwirklichen. Werde, der du bist.
Das zweite Gebot
Du sollst dir die Geheimzahl deiner Kreditkarte merken und deine Passwörter monatlich ändern.
Das dritte Gebot
Du sollst den Feiertag heiligen, falls er nicht gerade verkaufsoffen ist.
Das vierte Gebot
Du sollst immer erreichbar sein, außer für deinen Vater und deine Mutter.
Das fünfte Gebot
Du sollst nicht töten - oder nur aus großer, sicherer Entfernung und wenn du hinterher ein Alibi hast.
Das sechste Gebot
Du sollst beim Sex Kondome benutzen.
Das siebte Gebot
Du sollst nicht stehlen - oder wenn, dann behaupte, es handele sich um unrechtmäßigen Besitz.
Das achte Gebot
Du sollst keine Fake News verbreiten - außer im Interesse einer guten Sache. (Definiere selbst, was das ist.)
Das neunte Gebot
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Wohnung oder Garten – oder behaupte, sie wegzunehmen läge im allgemeinen Interesse.
Das zehnte Gebot
Du sollst mit deinem Nächsten alles teilen: ob Auto, Fotos, Weib, Mann oder Transgender.
Fassung: Sommer 2019. Kann jederzeit geändert werden.
31. Variable Standpunkte aus sechs Elementen
Erste Versuchsreihe
Der Weg ist das Ziel.
Ein Zeichen setzen!
Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.
Umstritten!
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Die Kuh vom Eis holen!
Zweite Versuchsreihe
Rom ist das Ziel.
Der Weg ist die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Oder ein Zeichen vom Eis holen?
Nein, darauf eine Kuh setzen – umstritten!
Was wurde auch nicht an einem Tag erbaut?
Dritte Versuchsreihe
Der Weg ist die Absicht, eine Kuh aufs Eis zu setzen.
Rom wurde an einem umstrittenen Tag erbaut.
Das Zielzeichen: eine Mauer zu errichten.
Also niemand in Rom holen.
Schönen Tag noch …
32. Zum Diktat, bitte!
Im Büro ist sie unter den Schreibdamen die jüngste und nach allgemeiner Überzeugung auch die attraktivste. Sie ist Ende zwanzig, groß und kräftig, wohlgestaltet, hat ein frisches, Gesundheit anzeigendes Gesicht. Sie lacht nicht oft, nur aus besonderem Anlass. Übrigens ist sie verheiratet.
„Frau Kessler, zum Diktat zu Herrn Lehmann! Er hat gerade angerufen. Eilig!“ Frau Kessler ist eben aus der Mittagspause zurückgekommen. Teufel noch mal, sie würde sich lieber erst einen Kaffee kochen … Die anderen haben es auch schon bemerkt: Der Alte lässt meistens sie kommen. Warum? Nun, sie ist eben flink und tüchtig, sie weiß es selbst.
Sie betritt sein Zimmer eine Etage höher. Er ist mit einer Akte beschäftigt, blättert in ihr, liest sich hier und da fest. Wie es scheint, hat er die junge Frau kaum wahrgenommen, ihr nur zerstreut zugenickt. Also nimmt sie schon mal Platz auf dem Stuhl an der Wand, wie üblich, und wartet. Sie betrachtet ihn verstohlen. Ganz schön alt geworden, denkt sie, und dabei mehr als stattlich, tja ... und rotgeädert die herabhängenden Backen, kein schöner Anblick, nee, nee … und wie er leise schnauft … Sie löst ihren Blick von ihm, schlägt die Beine übereinander, macht ein diensteifriges Gesicht und richtet schon mal den Stenoblock über ihrem Schoß.
Endlich schaut er von der Akte hoch, Erstaunen im Blick - seltsam. Irritiert bemüht sie sich um noch mehr artige Haltung, strafft sich, fragend ihre Miene jetzt. Alles an ihr drückt aus: Ich stehe zur Verfügung. Da verwandelt sich bei ihm Verwunderung in Befremden, wird zum Ärger: „Was soll das? Warum sitzen Sie hier? Einfach so da bei mir? Ich habe Sie doch nicht gerufen!“
Sie springt sofort auf, begreift jetzt. Ihr Gesicht ist nun röter als seines. Diese miese Person - na, das wird sie ihr heimzahlen! Aber ihm sagt sie nichts und sie flieht, mit Trippelschritten um etwas Würde bemüht.
33. Carmina burana und Alice Weidel als Schwan
Da habe ich mir doch neulich die Verfilmung von Orffs „Carmina Burana“ als DVD kommen lassen, von Ponnelle 1975 realisiert – großartig, fulminant. Ich muss es immer wieder ansehen und anhören. Das hat allerdings Folgen. Wache ich jetzt nachts auf, erklingen diese Melodien sogleich wie Ohrwürmer in meinem Kopf: zum Beispiel O Fortuna oder Swaz hie gat umbe ... Und gerade eben, bei meinem Nachmittagsnickerchen, habe ich sogar von diesem Stoff geträumt. Ich muss das jetzt aufschreiben, um mich von dem starken Eindruck zu befreien.
Diesmal war es Olim lacus colueram, der Schwan, der in der Küche gebraten wird und dazu ganz jämmerlich singt. Mir träumte, es sei Alice Weidel, die hier schmorte, in ein unförmiges Schwanenkostüm gezwängt und auf dem rotierenden Bratrost festgebunden. Ich war einer der Küchenjungen, die sie mit Fett beträufelten. Sie selbst sang den lateinischen Text und schrie dazwischen in hohem, schrillem Ton auf Deutsch. Es schien immer dasselbe und ich glaubte schließlich das zu verstehen: „Wer für Stopfleber die Freiheit aufgibt, wird beides verlieren, die Leber und das Gegacker.“ Für einen Schwan sonderbare Worte, über die ich jedoch träumend nicht lange nachsinnen konnte, denn Alice war jetzt durchgebraten und ich verwandelte mich im Nu in den Truchsess und ließ sie als Hauptgang auftragen.
Alice führte vor den Gästen an der langen Tafel ihren Klagegesang unbeirrt fort und der Chor respondierte: „Miser! Miser! Modo niger et ustus fortiter!“ Und dann wechselte sie wieder ins Neuhochdeutsche und artikulierte dabei sehr scharf: „Wer für Stopfleber die Freiheit aufgibt, wird beides verlieren, die Leber und das Gegacker.“ Aus der Tischgesellschaft trafen sie fragende Blicke und sie ergänzte weniger laut und ziemlich trocken: „Zitat von Thomas Alva Edison.“ Woraufhin einer der Speisenden einwarf: „Was hat denn der damit zu tun? Aber lasst uns jetzt anfangen …“ Sie zückten die langen Messer, um sich Stücke vom Fleisch der Alice herunterzusäbeln.
Ich war misstrauisch geworden: Stopfleber, Gegacker? Wenn sie nun gar kein Schwan war? Blitzschnell, wie das nur im Traum geschehen kann, löste sich mir das Rätsel. Die Weidel flog plötzlich von der Tafel auf und rauschte, arg ramponiert schon, über die Köpfe hinweg und zum Saalfenster hinaus. Man hörte nur noch eben als Begleitgesang: „… et ustus fortiter!“ Dann war sie außer Sichtweite. Aber das war doch kein Schwan gewesen, dünkte mich, sondern? Ein Storch vielleicht? Nein, auch kein Storch (Ciconia ciconia) … Es war unverkennbar – eine Gans.
Ich weiß, nur ein absurder Traum.
34. Monique und das Frauengefängnis
Monique streifte durch die Wälder, über die Heiden. Entspannung, das war es, was sie suchte, nach all der Plackerei mit dem Schreiben. Wenn die Leute wüssten, wie schwer das ist: Autorin zu sein. Und noch saurer wird es einem, für den Absatz der leider nur zu verderblichen Ware zu sorgen. Allzu groß ist die Konkurrenz - Überproduktion, wohin der Blick fällt. Da heißt es ständig auf dem Sprung sein, antichambrieren, Fremden schöntun, sich mit raschem Lob vordrängen. Kaufen und lesen sie oder kaufen sie nicht, nämlich dein Buch: die allein entscheidende Frage.
Ach, wo sind sie geblieben, die Wälder, die Heiden? Stattdessen: eine Fußgängerbrücke über die Autobahn. Eigenheime, meilenweit, jedes anders und doch alle gleich. Das Plakat einer Baufirma: Kommen auch Sie nach Goldau, ins Dorf Ihrer Träume. Daneben zwei Discounter, ein Möbelmarkt. Monique schlüpfte durch die Pappelreihe dahinter und fand sich auf einmal in einer ganz anderen Welt …
Die Bauschutthügel waren nett begrünt: Goldrute und Ambrosia wucherten um die Wette. Ein Pfad schlängelte sich hindurch und auf ein Gebäude zu. (Monique, denk an die Zecken!) Sie blieb stehen und musterte das seltsame Haus – nun, ein Haus war es wohl nicht, eher eine Baracke, die zugleich von fern an ein Schloss gemahnte. Hm, gemahnte? Das war sonst nicht ihr Vokabular, doch von dem Bauwerk ging eine betörende Wirkung auf sie aus. Zwar schwankten einige Bretter der Vorderfront leicht im Sommerwind – aber farbig war es, so bunt, und es gab Spitzgiebel und Erker und Türmchen, poetisch anzusehen. Wer da wohl wohnte?
Gudrun sah ihm über die Schulter und überlas das zuletzt Geschriebene. Dann stellte sie etwas schnippisch fest: „Viel weiter bist du immer noch nicht gekommen. Hapert es auch diesmal mit dem Plot, Egon?“
„Ja, in der Tat. Es soll eine satirische Abrechnung mit der lieben Kollegin werden, aber ich sehe allmählich ein: Sie selbst stellt schon alles in den Schatten, was man, sie persiflierend, mit ihr veranstalten könnte. Hast du keine gute Idee?“
„Warte mal … Erst das Haus: vielleicht ein geschickt getarntes Frauengefängnis? Ein Privatgefängnis, betrieben von dem sadistischen Rezensenten einer Wochenzeitung? Er hat sie dahin gelockt, um sie mit einer Lesung aus seinen eigenen Werken zu foltern!“
„Nicht schlecht, Gudrun. Ich schmücke das alles noch aus mit diversen Accessoires schlechten Geschmacks. Es ist also schwüles Wetter, der Himmel verfinstert sich, Schmerzensschreie, die einem das Blut gefrieren lassen …“
An dieser Stelle unterbrach Werner seine Lesung und fuhr in freier Rede fort: „Weiter bin ich nicht gekommen, es ist noch Fragment. Kann mir einer aus dem Auditorium helfen?“
Da meldete sich eine Lange, Dünne schwer bestimmbaren Alters. „Erst mal will ich mich vorstellen, ich bin Monique, das heißt unter dem Namen publiziere ich. Gleichzeitig bin ich auch diese Gudrun, heiße nur in Wahrheit anders … Und Egon und Werner, das ist auch derselbe Kerl und er ist wirklich Redakteur.“ Sie musste sich unterbrechen, denn das erstaunte Gemurmel um sie herum wurde lautes Gelächter. Als es sich beruhigt hatte, fuhr sie fort:
„Der, der sich mal Werner, mal Egon nennt, ist in einer chronischen Schaffenskrise und rächt sich dafür mit Texten wie eben an mir. Er selbst macht schon seit Jahrzehnten in Kurzgeschichten. Es ist bei ihm im Grunde immer dieselbe Chose. Da trifft einer nach zwanzig oder dreißig Jahren zufällig seine große Jugendliebe. Beide kommen ursprünglich aus Oer-Erkenschwick. Er ist Pilot oder Börsenguru oder Stararchitekt geworden und sie wahlweise Opernsängerin, Statistikprofessorin oder Spitzenköchin. Jetzt lebt er in Singapur oder Davos oder auf Spitzbergen und sie in Sevilla oder Toronto oder auf Sansibar. Und rein zufällig treffen sie an einem einsamen Fjord auf der Südinsel von Neuseeland erstmals nach so langer Zeit wieder aufeinander. Nun ab in die noch einsamere Hütte und alles ist wieder so wie damals. Aber, große Überraschung: Entweder gibt es gleich ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch oder es steht ein nackter Psychopath mit Samuraischwert auf der mondbeschienenen Lichtung …“
„Aufhören, aufhören, das ist unerträglich. Seit achtzig Jahren immer die gleiche gequirlte Scheiße in der Literatur!“ Der das schrie, war ein altes Männchen mit verschleimter Stimme.
Egon-Werner übertönte ihn mühelos: „Genau das, verehrtes Auditorium, das ist es: die Krise der Kurzgeschichte. Und kein Ausweg in Sicht, auch der satirische nur eine Sackgasse. Liebes Publikum, das war es nun mit der Lesung, die auch eine Performance war. Unsere literarische Matinee ist zu Ende. Bitte verlassen sie zügig den Raum, wir haben ihn nur bis zwölf Uhr gemietet. Er ist schon für einen Kindergeburtstag dekoriert.“
Einer sagte im Hinausgehen zu einem anderen: „Wenigstens hat das Plakat da nicht zu viel versprochen: Noch kein Ende abzusehen – Lesung aus einem unvollendeten Werk mit anschließender Diskussion
35. Bitte keine Spoiler!
Es gilt als unfein, in Buch- oder Filmrezensionen alle Details der Handlung auszuplaudern. Ich habe mich dieses Vergehens schon wiederholt schuldig gemacht. Zu meiner Entlastung kann ich anführen: Gewöhnlich schreibe ich über Werke, die schon länger auf dem Markt sind, ihr ungefährer Inhalt ist, das setze ich voraus, den meisten am Stoff Interessierten bekannt. Ja, ich stelle mir beim Schreiben einen Leser vor, der das Werk kennt und dem ich es in seinen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen kann. Und dann sehe ich es auch nicht ein, die Sache mit den Spoilern nämlich …
Wer den Plot vor Spoilern unbedingt in Sicherheit bringen will, legt das Schwergewicht damit auf den äußeren Handlungsablauf. Ihm gibt er den Vorzug vor allem anderen: den Charakteren, der Darstellungsweise, der Atmosphäre – kurz allem, was das Kunstwerk erst zu einem solchen macht. Es wird im Kern auf den Informationsgehalt einer Vier-Zeilen-Meldung reduziert und das Verhalten des rezipierenden Zuschauers oder Lesers auf dasjenige einer Ratte in einem Versuchslabor: Er soll den Brocken erst mal runterwürgen.
Die Vertriebsfirmen sollten ihr Publikum kennen. Ist es wirklich so flach, so denkfaul, so leicht zu verschrecken? Ich kann es nicht glauben. Und ich ärgere mich nicht selten, wenn ich selbst durch den Text auf einer DVD-Hülle genasführt werde. Da wird mir der Amoklauf eines eifersüchtigen Psychopathen als amüsanter Party- und Beziehungsspaß verkauft oder die Geschichte des unvermeidlichen Scheiterns einer Beziehung als noch offen dargestellt. Oft lege ich die Ware zurück ins Regal: zu seicht – und erfahre später: Es ist ein mitreißendes Drama.
Tragödien, im wirklichen Leben nicht selten, scheinen, wenn von vornherein als solche erkennbar, die absoluten Verkaufsbremsen zu sein. Dürfen die kathartischen Mittel nur in homöopathischen Dosen verabreicht werden? Das bringt mich auf einen Einfall, eine Geschäftsidee … Man nehme einen alten Dichter und eines seiner tragischen Werke und preise sie neu an. Zum Beispiel so:
Shakespeare, Romeo und Julia: Eine anrührende Geschichte vor der atemberaubend schönen Kulisse Veronas: Ein Spiel um Macht und die Macht der Liebe. Der unerschrockene Romeo und die hingebungsvolle Julia setzen alle Mittel ein - und sie haben starke Verbündete. Werden sie gemeinsam das Schicksal bezwingen?
Goethe, Faust: Er ist rastlos auf der Suche nach der Weltformel – Doktor Faustus. An seiner Seite der geheimnisvolle M … Wer ist er und was hat er mit Faust vor? Als die kindlich-reizvolle Margret ins Spiel kommt, überstürzt sich die Handlung …
Schiller, Die Jungfrau von Orléans: Ein moderner Stoff in historischem Gewand. Johanna, eine Alice Schwarzer des Mittelalters, akzeptiert die zementierten Geschlechterrollen nicht länger. Sie will teilhaben am Kampf um Freiheit und in vorderster Reihe stehen, will kämpfen und führen, gerade wie ein Mann. Doch dann kommt ihr ein anderes großes Gefühl in die Quere …
Tolstoj, Krieg und Frieden: Eine Welt im Umbruch. Stolze Adlige, berückend schöne Frauen, starke Gefühle. Ein großer Kaiser führt Krieg. Ein Kontinent in Flammen. Und dann brennt auch noch Moskau. Wird Napoleon diese Schicksalsprobe bestehen?
Thomas Mann, Buddenbrooks: Eine alte Familie in großen Schwierigkeiten: Finanzkrise, Missernte, soziale Unruhe, gescheiterte Existenzen. Doch Senator Buddenbrook gibt noch nicht auf. An seiner Seite die rätselhaft schöne, rothaarige Gerda aus Amsterdam. Als ihr kleiner Hanno an Typhus erkrankt, steht das Schicksal der Buddenbrooks auf Messers Schneide. Fiebern Sie mit …
Das Neue Testament: Gott schuf die Welt in nur sieben Tagen, ein göttlicher Rekord. Später zeigt sich ein kleiner Konstruktionsfehler: der Mensch. Gott bessert nach und schickt seinen Sohn als Erlöser. In den Nebenrollen zwölf attraktive junge Männer. Grandiose Besetzungen. Erschütternde Szenen. Alle Raffinessen neuester Aufnahmetechnik. Lassen Sie sich verzaubern, lassen Sie sich bekehren … GOTT SPOILERT NICHT.
36. Er wird Genosse
Da ist ein Brief gekommen – von der Genossenschaft! Damit hat er nicht mehr gerechnet. Er eilt treppauf in seine derzeitige Klause und öffnet hastig, schneller atmend den Umschlag mit dem Obstmesser. Sich nur nicht schneiden jetzt … Also? Hurra, sie können sich vorstellen, ihn als Mitglied aufzunehmen! Die erste Hürde genommen, das spezielle Objekt seines Verlangens rückt auf einmal aus großer, vager Distanz in erreichbare Nähe. Zuvor soll er einige Unterlagen beibringen. Aber gern, er sitzt schon am Schreibtisch, kopiert wie am Fließband eilig aus seinen Papieren, was sonst nur Steuerberater und Finanzamt sehen dürfen. Dann alles in einen Umschlag gesteckt und zum Postamt an der nächsten Ecke – das aber für heute schon geschlossen ist. Also fährt er mit der U-Bahn zur Genossenschaft, wirft seine allergeheimsten Daten, frisch und sauber ausgedruckt, in den Hausbriefkasten. Morgen sollen sie auf dem für ihn entscheidenden Schreibtisch liegen.
Und so hurtig geht es weiter. Schon einen Tag später signalisiert ihm eine E-Mail, die Genossenschaft will ihn persönlich sprechen. Sie vereinbaren telefonisch einen Termin … Dazu kleidet er sich eine Spur weniger nachlässig als üblich. An der guten Hose, die er sonst angezogen hätte, ist leider die Naht ein kleines Stück aufgerissen – geht nicht. Er entscheidet sich für ein neues Beinkleid, das er erstmals trägt. Betrachtet sich im Spiegel – er wirkt ein bisschen jägermäßig. Halali, ist ja auch auf einer Jagd … Den Hut lässt er heute lieber weg.
Er wartet in einem stillen Vorraum. Gediegene Atmosphäre, doch nicht zu gediegen, hier ist man ja unter Genossen. Dann begrüßt ihn eine Sachbearbeiterin, halb so alt wie er, zurückhaltend freundlich. Bewundernswert, wie sie das ausbalanciert. Sie komplimentiert ihn in ihr Zimmer, lässt ihn vorangehen, zeigt auf den Besucherstuhl. Er erwartet, noch bevor er sich setzt dass er zum Ablegen aufgefordert werde. Stattdessen ein bestürzter Ausruf: „Was ist denn mit ihrer Jacke geschehen?!“ Er blickt an sich herunter. „Nein, hinten!“ Also sieht er sich die Rückseite selbst mal an - vielleicht zum ersten Mal seit Jahren?
Er versucht den Schaden zu bagatellisieren und murmelt etwas wie Muss-eben-in-der U-Bahn-passiert-sein … Das ist wenig glaubwürdig. Das Gewebe da unten ist großflächig zerrissen, als ob einer vor langer Zeit mal durchs Unterholz geflüchtet oder an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben wäre. Schuld war wohl der Rucksack, der dort auf so vielen Gängen den Stoff durchgescheuert hat.
Die Jacke spielt weiter keine Rolle. Die Verhandlungen kommen gut voran. Dann eine kleine Klippe, die sie beide wiederum in guter Haltung meistern. Sie will seine Unterlagen noch einmal kopieren und ihm die übersandten Seiten zurückgeben? „Sie haben Schmierpapier benutzt …“ sagt sie sanft. Nachher fragt er sich, ob sie all das auf den Rückseiten gelesen hat, den ausgedruckten E-Mail-Verkehr eines Winters, die Mängelrügen, den Knatsch mit Nachbarn, die Ratschläge seines Anwalts … Das war alles abgehakt und das Papier Rohstoff, um darauf neue Texte Schöner Literatur aufzunehmen. Schöne Bescherung …
So trottelig einer wie er sich auch anstellt, er kann immer noch Mitglied einer Genossenschaft werden: Trost seiner alten Tage.
37. Alarm im Kaufhaus
Schrilles Piepen, als ich die elektronische Schranke passiere – nicht schon wieder! Es ist im vierten Stock eines Hamburger Warenhauses, am Durchgang zum WC.
Es hat vorhin auch am Eingang beim Reingehen gepiept, sage ich zur Toilettenfrau, neuerdings erlebe ich das öfter. Keine Ahnung, warum. – Dann weiß ich es auch nicht, ist die schmallippige Antwort der Alten. Dazu ein angedeutetes Lächeln, ein bisschen sybillinisch. Vielleicht meint sie: Das kann jeder sagen …
Ich öffne die Tür für Herren. Und während ich an einem der Becken kurz verweile, überschlage ich, wie oft ich zuletzt in Geschäften Fehlalarm ausgelöst habe. Nebenan im Elektronikfachmarkt zum Beispiel, beim Hineingehen hat es gepiept und beim Hinausgehen wieder. Ich ging damals auf den bulligen Gentleman zu, um die Sache zu klären. Nur eine DVD gekauft, versicherte ich, ganz normal gekauft. – Er zuckte mit den breiten Achseln: Es hat ja auch gepiept, als Sie vorhin reinkamen … So genau wird man also überwacht.
Dieses wohlbekannte Geräusch – es war unter anderem auch in zwei Textilkaufhäusern von mir ausgelöst worden, und zuletzt sogar in meinem Supermarkt auf dem Land, dort allerdings erst nach dem Bezahlen, nicht beim Hineingehen. Und begonnen hatte die Serie in einem Berliner Geschäft … Ich überlege: Was trage ich heute an mir, das ich mit Sicherheit auch damals am Leib hatte? Ich komme nur auf die Schuhe, aber die hatte ich schon letzten Sommer bei Einkäufen an, problemlos. Könnte es die Wäsche sein? Doch wer führt schon Buch darüber, wann er welche Unterhose benutzt? Oder der neue Spenderausweis, vielleicht falsch ausgefüllt?
Ich bin fertig. Im Waschraum macht sich jetzt die Sybille zu schaffen und wirft mir dabei schräge Blicke zu. Habe ich genügend Zeit gehabt, das Sicherungsetikett drinnen abzureißen, wegzuspülen? Sie geht vor mir hinaus, nimmt wieder Platz neben dem Teller, auf den ich eine Münze fallen lasse. Dann ab durch die Schranke, und es piept – nicht mehr. Jetzt zucke ich mit den Achseln und die Alte lächelt breit: Also doch … Wird sie mir den Kaufhausdetektiv hinterherschicken?
Er kam nicht. Es kommt übrigens nie einer. In Aschaffenburg sah ich einmal eine Frau ein Sommerkleid unverpackt, noch auf dem Bügel, rasch hinausschaffen, und der Alarm gellte durch die Fußgängerzone. Auch in diesem Fall geschah weiter nichts.
Nur für die argwöhnischen Blicke rundum hänge ich mir in Zukunft ein Stück Pappe vor die Brust oder auf den Rücken, darauf mit Filzschreiber gemalt: Bei mir piept es IMMER!
38. Grausliche Wörter und Begriffe
Fangen wir mit „Kulturschaffende“ an. Der neuerdings wieder beliebte Ausdruck hat im 20. Jahrhundert eine Karriere hinter sich, die einen schon Distanz wahren lassen müsste. Dann gibt es wieder das bekannte Problem mit dem Partizip Präsens: Ein Maler in einer Schaffenskrise oder ein Schriftsteller mit Schreibblockade ist gerade kein Kulturschaffender mehr – momentan schafft, d.h. erzeugt er gar nichts. Er kann sich aber immer noch Maler oder Schriftsteller nennen, da er Werke dieser Art schon produziert hat und zumeist auch weiterhin hervorzubringen hofft. Und was hat es mit „Kultur“ auf sich? Das ist ein Sammel- und Oberbegriff, dessen mögliche Inhalte so vieles umfassen können: das Blockflöte spielende Mädchen auf einem Schulfest wie den Entwerfer eines Bühnenbildes, den Verfasser eines Gedichtes, das es nie in auch nur eine Anthologie schaffen wird, und die Arbeit einer Videokünstlerin, die auf der Biennale in Venedig vertreten ist. Kulturen „schafft“ selbst ein Laborant, der solche zum Nachweis oder Ausschluss einer gefährlichen Krankheit anlegt. Es gibt Hefekulturen, Zellkulturen … Wir kennen den Kulturbeutel und Firmen rühmen sich einer Unternehmenskultur. Bannen wir das Wort „Kulturschaffende“. Es ist so hochtrabend wie nichtssagend, passend zu einer Zeit, auch der mal einer prophezeit haben könnte, sie werde eine Kultur sein, aber keine mehr haben.
Apropos Firmen - sie tönen gern so: Die Philosophie unseres Unternehmens lautet … Womit wir bei einem Fall von sprachlicher Hochstapelei sind. Kaum eine Firma dürfte sich tatsächlich mit Philosophie beschäftigen, sondern mit: Produktion, Marketing, dem Erzielen von Gewinnen. Soll das überhöht oder verschleiert werden? Fabrikanten, Betriebswirte, bleibt beim Produzieren und beim Werben für eure Produkte, aber Letzteres bitte nicht mit lächerlich hochtrabender, verfälschender Diktion. Zwar will ein Bonmot wissen, Philosophie sei ein eigens zum Zweck des Missbrauchs erfundenes Vokabularium, aber eben eines nur für Philosophen, nicht für Geschäftsleute.
Weiter … Zu lesen und zu hören ist jetzt von "Impfdurchbrechern". Gemeint sind Menschen, die trotz kompletter Schutzimpfung an Covid 19 erkranken. Tatsächlich durchbricht das Virus den Impfschutz und der geimpfte Patient ist, anders als der Sprachgebrauch suggeriert, das passive Objekt dieses Vorgangs. Leser und Zuhörer werden schon verstehen, wie es gemeint ist? Möglicherweise, doch der Eindruck mangelnden Bewusstseins für exakte Sprache ist fatal. Merke: In Deutschland kann auch ein Staatssekretär öffentlich falsches Deutsch reden und fast niemand stört sich daran.
(Kann fortgesetzt werden.)
39. Die Gartenlaube und der Elfenbeinturm - Moderne Fabel
Liebe Kinder, sagte die Kindergartentante, heute wollen wir Elfenbeinturm spielen … - Wie geht denn das Spiel? wollten sie wissen. - Also, hört genau zu: Wir tun so, als ob wir in einem hohen, schmalen, feinen, stillen Turm säßen. Da kann uns keiner stören und wir reden nur ganz, ganz kluges Zeug. - Au fein!
Sie bemühten sich sehr. Versuchten es mit richtigem Hochdeutsch und sprachen geziert von Dingen, von denen sie nicht viel verstanden. Die Tante schlug das Thema Blumen vor und sie ließen im Frühjahr Dahlien blühen und im Herbst Narzissen. Dann fragte Uschi plötzlich: Was ist denn Seelenwanderung? - Und Maximilian krähte: Wenn du tot bist und dann bist du nicht mehr tot, sondern irgendwas anderes, eine Katze oder ein Kanarienvogel. - Ah, ich bin dann die Katze, meinte Katharina, und Bodo ist der Kanarienvogel. - Bodo schrie: Ich will aber nicht gefressen werden! - Darauf Maria: Musst du aber, es ist doch Krieg. - Uschi: Ich will lieber keine Seelenwanderung! - Maximilian: Im Krieg wirst du nicht gefragt, mein Papa sagt: Man wird einfach geschnappt und muss mitmachen, wie in der ---
Hier griff die Tante rasch ein: Schluss, Kinder, mit euch kann ich jetzt nicht im Elfenbeinturm bleiben. Kommt alle wieder runter. Schaut mal aus dem Fenster. Wie schön die Sonne scheint … Wir sitzen in einer Gartenlaube und bald kommt Oma und bringt euch Kuchen, den sie selbst gebacken hat. - Habt ihr die Taube gesehen? fragte Maria. Sie ist gerade vorbeigeflogen. - Bodo: Ich hab gestern ganz viele Tauben gesehen, sie waren alle aufgemalt auf weißen Schildern, und da waren Leute, die haben die Schilder mit den Tauben ---
Da schlug die Tante schnell einen Spaziergang in den Stadtpark vor und alle jubelten.
Es war nicht mal ein richtiger Kindergarten, nur eine Kindergruppe, aber sie saß tatsächlich in einer richtigen Gartenlaube.
40. Amor, Sohn von Mars
Eine von Bodos Stammkneipen damals hatte den Grundriss eines Tortenstücks, gleichschenkliges Dreieck und Kreisbogenausschnitt als Schmalseite. Es war ein Ecklokal in einem alten Haus mit abgerundeter Fassade. Ursprünglich war die weit ausschwingende runde Ecke eine Pinte für Hafenarbeiter gewesen. Die meisten ihrer Wohnblocks im Viertel waren im Krieg zerbombt worden und Hafenarbeiter verkehrten längst nicht mehr in der Bierbar. Inzwischen hatten Büroangestellte sie für sich entdeckt. Hat was Dynamisches, fanden sie, wenn sie auf dem Platz davor ihre Autos oder Motorräder parkten und die Fassade kurz musterten. Dann gingen sie mit energisch federndem Schritt auf den Eingang zu, die drei Stufen hinauf und durch die massive Tür hinein.
Drinnen trug eine schwarzlackierte Eisensäule die hohe Decke; rund um die Säule in Ellenbogenhöhe ein schmales Abstellbord für Gläser und Flaschen. Ein riesiges Gründerzeitbuffet, vom ewigen Qualm geschwärzt und zernagt, dräute hinter dem Tresen.
Um Mitternacht wurde es fast immer voll. Ein Stammgast erklärte einem Fremden den Ablauf der Nacht: „Von halb zwölf bis halb eins hier im X, dann ins Y und ab halb zwei endlich alle im Z. Das ist der Circulus vitiosus bei uns.“ Bodo, der es aufschnappte, dachte, das sei ja gar kein Circulus. Sondern? Ein anderer Tourist fand das von Hafenarbeitern aufgegebene und nun von Angestellten bevölkerte Gehäuse echt rustikal.
Die Säule bildete mit dem Abstellbord und der Traube biertrinkender Männer um sie herum einen Pfropf. Die kleine Stehbierhalle zerfiel so in mehrere Stauräume, die Zirkulation war erschwert. Eigentlich hasste Bodo Kneipen, in denen man nicht auf und ab gehen kann. Während aus den Boxen an der Decke stampfende Musik erdröhnte, stand man darunter zusammengepresst wie Spargeltriebe in einer Blechdose. Von Körpern nahm man Ausschnitte wahr, von Köpfen Profile, von Gespräche Satzfetzen. Bodo langweilte sich und dachte schon an die Zeit, zu der man ins Y wechselt. Dort würde es zwar auch beengt sein, aber er kann ja später noch ins Z, wo man, jedenfalls gegen Morgen, etwas freier atmet.
Außerdem war es im vorigen Winter eine Zeitlang noch schlimmer gewesen. Die beiden Wirte hatten den Zeitpunkt hinausschieben wollen, zu dem die Gäste der betriebsamen Langeweile entfliehen und sie dabei doch nur an einen anderen Ort mitnehmen. Also suchten die Kneipiers neue Attraktionen für ihr Lokal. Die rustikale Atmosphäre sollte noch machomäßiger werden. Der Stil, der herauskam, war military.
Bodo erinnerte sich später vor allem an das große, schwere, engmaschige Tarnnetz aus NATO-Beständen, das sie zwischen einem Türpfosten und der Mittelsäule aufgespannt hatten, von der Decke bis zum Dielenboden. Aus Stauräumen wurden so Staukammern. Das Gedränge begann gleich hinter der Tür; fast unmöglich, zum Tresen vorzudringen, bis einen eine Woge neuer Gäste doch um die Säule herumspülte. Angestrengt bemüht, die Eingetroffenen durch das dichte Netz zu erkennen, starrte man auf einmal seinem Intimfeind in die Augen.
Bodo kam mit Günther ins Gespräch. Sie standen eingekeilt nebeneinander und Günther sagte: „Du schaust missmutig drein. Gefällt es dir nicht?“ - „Man kann’s mit der Nachrüstung auch übertreiben. Mich stört, dass der militärische Scheißkram jetzt sogar zivile Bierkneipen erobert.“ - Günthers Lachen klang amüsiert. „Mich nicht. Und dann, mein Lieber, habe ich ja verweigert und Ersatzdienst gemacht. Habe ich also nicht das Recht, Spaß an der witzigen Dekoration zu haben?“
Sie wurden unterbrochen, als sich ein Paar an ihnen vorbei den Weg hinaus zu bahnen suchte. Die beiden strandeten am Netz, das einige auf der anderen Seite gerade vordrückten und ausbeulten. Der Größere, die Rechte auf der Schulter des Begleiters, zerrte mit der Linken eine Weile an den Schnüren. Endlich kamen sie durch. Sie lachten sich an, als sie die Tür passierten.
„Eine schöne Szene“, fand Günther. - „Hm, sozusagen: Amor, Sohn des Mars …“ - Aber sie sind doch im gleichen Alter.“ - „Nein, es war sinnbildlich, ich meine, die ganze Situation, das Ambiente und was es mit den Gästen macht.“
Bodo sollte auch noch über das Riesenmoskitonetz grinsen. Hatten die Behörden eingegriffen, war gegen feuerpolizeiliche Vorschriften verstoßen worden? Er betrat schlecht gelaunt die Bar und fühlte sogleich, wie seine Mundwinkel unwiderstehlich nach oben gezogen wurden. Das Netz – es war nicht gefallen, das nicht. Sie hatten es vielmehr wie eine Tüllgardine zur schönsten Portiere gerafft, unter der man bequem hindurchschritt.
Günther kam auf ihn zu und deutete auf die verwandelte Dekoration: „Recht so? Zivil genug?“ - „Ja, und auch noch komisch. Aber auf die Dauer würde ich etwas edleren Stoff empfehlen, vielleicht blauen Samt.“ - Günther im Weitergehen: „Zum Beispiel. Oder noch etwas anderes. Anything goes.“
Im Mai fiel die militärische Tüllgardine. Sie verwandelten das Lokal in einen Frühlingswald. Frisch belaubte Sträucher waren ausgegraben, einige kleine Bäume gefällt und mit bunten Glühbirnen versehen worden, um aus der alten Hafenarbeiterkneipe für zwei Nächte eine illuminierte Stadtparkecke zu machen. Barbarisch, fand Bodo. Aber die anderen Gäste sagten anerkennend, die Wirte ließen sich immer was Neues einfallen.
Es kam der Sommer und sie schütteten weißen Sand ins Lokal. Man stapfte unbeholfen durch eine Dünenlandschaft und lag um Mitternacht in Liegestühlen, von grellem Scheinwerferlicht angestrahlt.
Jetzt darf man sich auf den Herbst freuen. Wie Bodo hört, wird es ein Weinfest geben. Sie werden Girlanden aufhängen und echte, reife Trauben an ihnen befestigen. Die Trauben werden im Zigarettenqualm gegrillt werden. Es wird sehr komisch werden, zum Kichern.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2009
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