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I N H A L T


1. Arno Welteroberer

2. Beinahe in den Tod gesprungen 

3. Momentaufnahmen 

4. Das karierte Reh 

5. Abstieg vom Berg 

6. Menschen von heute 

7. Wie ein wildes Tier 

8. Augenblicke in Rom 

9. Der Dealer und ich

10. Mit Gottfried Benn um die Welt

11. Arlington Park 

12. Auf und ab

13. Drei Friedhöfe 

 

14. Leute in Kassel 

 

15. Hotel Post 

 

16. Barocke Figuren 

 

17. Brieftasche verloren 

 

18. Wahrscheinlich Narkolepsie 

 

19. Eine Reise wie keine 

 

20. Empfindsame Fußreise von der Donau zum Rhein 

 

21. Stadt und Land

 

22. Chaos

 

23. Das war mal mein Zimmer!

 

24. Wir kamen bis Syrakus



1. Arno Welteroberer

Heute werfe ich einmal die Frage auf: Bis zu welchem entferntesten Punkt bin ich jemals in einer Himmelsrichtung gekommen?
      NACH SÜDEN? - Ich glaube, es war Syrakus auf Sizilien. Wir fuhren von Catania, wo wir logierten, mit dem Zug an der Küste entlang. O, diese Küste - wer sie je gesehen hat, wird mir beipflichten: Es gibt nichts Vergleichbares, es gibt nichts Abscheulicheres als die Petrochemie von Augusta ... Wir besichtigen also Syrakus in der Mittagshitze. Kein Mensch außer uns auf den Straßen - und ich liege abends mit einem Sonnenstich auf dem Hotelzimmer.
      Es kann anstelle von Syrakus auch Alexandria, Virginia, gewesen sein, ein Vorort von Washington D.C.. Ich müsste mal im Atlas nachsehen. Eine männliche Scarlett O'Hara hatte mich dorthin abgeschleppt, eine wirkliche Südstaatenschönheit, und als wir das heruntergekommene Hochhaus betraten, sagte er ganz nonchalant: "It's like a slum." Das war echter Alter Süden.
      NACH WESTEN? - Schon wieder ein Vorort, diesmal von Chicago. Arlington Park, da ist die weltberühmte Pferderennbahn der Stadt. Leider war gerade Rennpause - sagt man so? - und selbst Training war kaum zu sehen. Wenn ich bedenke, dass dies der westlichste Punkt in meinem Dasein war, kommt mir dieses Leben beinahe verpfuscht vor.
      NACH OSTEN? - Von Wien mit der S 7 nach Hainburg. (Bitte betonen Sie auf -burg.) Ich stand auf einem Hügel nahe der Donau und sah hinüber auf Bratislava, das alte Pressburg. Damals war die Grenze noch dicht, nur an wenigen Punkten passierbar. Ich sah mir Bratislava von fern an und stellte fest, dass es vor allem aus Plattenbauten bestand. Es sah aus wie München-Neuperlach, Köln-Chorweiler und Hamburg-Steilshoop zusammen. Da überkamen mich heimatliche Gefühle und ich fuhr rasch zurück ins alte Wien.
      NACH NORDEN? - Vor Bykle ist das norwegische Setesdal sehr eng. "Big mountains!" sagte bei unserer Ankunft der alte Mann, der Vermieter unserer Hütte. Schwarze, feucht glänzende Wände ragten senkrecht himmelhoch in die Höhe. Die Sonne kam erst um elf zum Vorschein und verschwand um zwei Uhr nachmittags. Es regnete ohnehin meistens.
      Die Deutschen hatten im Zweiten Weltkrieg Schützengräben in den Felsboden des Talgrundes gesprengt und die Norweger später Holzhütten darüber gebaut, um sich dafür an deutschen Touristen zu rächen. Unter den Hütten, in den Gräben fühlten sich die Mäuse pudelwohl, sozusagen. Ich sehe uns noch, jeder in seinem Schlafalkoven, und höre meinen damaligen Freund flüstern: "Arno, hörst du die Maus?" Die Matratzen waren zerfressen.
      Wir kauften Mausefallen. Sie guillotinierten die Nager im Zehn-Minuten-Takt. Mein Freund schaffte die vielen Kadaver fort. Dafür holte ich Holz aus dem Schuppen und fauliges Wasser aus dem Holzbrunnen. Ja, wir mussten im August heizen und wir hatten zwei Wochen lang Regenwetter. Entmutigt strichen wir die dritte Woche. Am Tag der Abreise war dann strahlend schönes Wetter. Jetzt erkannten wir doch noch, wie herrlich die Welt war.


2. Beinahe in den Tod gesprungen

Wir standen an der Talstation. Mein Freund wollte nicht mit hinauffahren. Mich reizte der Blick auf die hohen Grenzberge sehr, nur von da oben würde ich sie sehen können. Es war gerade Flaute im Liftbetrieb. Die Sessel schaukelten einer nach dem anderen leer aus der offenen Halle hinaus und glitten in geringer Höhe über die Grashänge bergwärts, vom Seil zuverlässig gezogen. Sie wirkten auf mich wie Loren, die kurz vorher ihre Last ausgekippt haben.
      "Du kannst ja am See warten. Ich bin in zwei Stunden wieder hier."
      Schon saß ich in einem dieser primitiven, vorne offenen Henkelkörbe. Die Aufsicht - ein dicker, mürrischer Mann - hatte etwas an meiner Position auszusetzen: "Mehr in die Mitte!" Obwohl ich mich dort generell unwohl fühle, gehorchte ich sofort und verlagerte meinen Schwerpunkt. Dann ein Ruck der Beschleunigung - und ich segelte auch schon über die Wiesen bergan. Wir, der Sessel und ich, gewannen rasch an Höhe, schneller als mir lieb war.
      Ja, es stimmt, ich bin nicht schwindelfrei. Doch ist dieser Schwindel selbst nicht sehr zuverlässig. Er ist abhängig von den Gegebenheiten. Ich kann im Gebirge über schmale Grate gehen, ohne Schwindel zu verspüren. Rechts und links geht es je tausend Meter in die Tiefe. Ich vermeide den Blick seitwärts, sicher setze ich einen Fuß vor den anderen und komme heil drüben an. Es liegt bei mir, ich habe es - nein, nicht in der Hand, in den Füßen. Ist die Kabine einer Seilbahn rundum geschlossen, schaue ich furchtlos in die Tiefe. Der Blick von einem hohen Turm, aus dem Fenster einer hoch gelegenen Hochhauswohnung, das macht mir nichts aus, wenn nur eine Glasscheibe zwischen mir und dem Raum unter mir ist.
      Aber wehe, ich kann den Kopf über die Brüstung des Turmes vorstrecken, wehe, das Fenster im neunzehnten Stockwerk steht offen. Dann spüre ich, wie es in den Füßen zu kribbeln beginn. Ich höre den Lockruf der Tiefe: Spring doch, dann ist endlich Ruhe, alles vorbei. Etwas Außerordentliches wäre geschehen, einmal im Leben.
      Meine Auffahrt oder Bergfahrt entwickelte sich zu einem Höllentrip. Und dabei geschah nichts, ich saß stocksteif da, vorsichtig angelehnt. Ich stellte mir nur dauernd vor zu springen. Wie lange dauert es, bis ich aufschlage? Welche Gedanken und Gefühle habe ich vorher noch? Wer wird mich als Erster zerschmettert finden? Natürlich wird der Seilbahnbetrieb sofort unterbrochen. Ich dachte an den Freund, mit dem ich in zwei Stunden verabredet war. Man muss Verabredungen einhalten, schon deshalb springe ich nicht. Ich entwickelte Techniken, mich abzulenken und an etwas anderes zu denken. Die Wipfel der Fichten reichten manchmal fast bis zum Sessel herauf, das war sehr beruhigend. Aber dann wieder ein steiler Graben, eine tiefe Felsenrinne ... Schau doch in den Himmel, du Idiot! Und dieses Ruckeln, wenn wir über eine Stütze glitten, war beängstigend. Es erinnerte mich daran und ließ mich fühlen, wie rasch unser Lebensfaden abgerissen werden kann: Ritsch, ratsch - genauso!
      Auf einmal kommt mir ein talwärts Schwebender entgegen. Er ruft mir zu: "Ihr Bügel! Er ist nicht zu!" Und er deutet mit den Händen die furchtbare Blöße um meinen Unterleib herum an. Tatsächlich - ich begreife es erst jetzt -, eben deshalb wäre es so einfach für mich zu springen. Die Aufsicht hat versagt, nachlässig so etwas. Kein Wunder, dass so viel passiert. Ich versuche den Bügel während der Fahrt noch zu schließen. Es misslingt, es hakt irgendwo. Ich will lieber nicht weiter herumschaukeln und lasse es sein. Ich kann ja die Bergstation schon sehen, die letzten Stützen bis zu ihr zählen, drei, zwei, eins ... Schnell raus aus dem Korb und aus der Halle! Gerettet!
      Der Blick auf die Grenzberge ließ mich dann eher kalt. Ich beschloss, zu Fuß zurückzukehren. Talwärts ist es fast unmöglich, den Blick in die Tiefe zu vermeiden. Und der See da unten würde allzu suggestiv wirken. Man müsste rückwärts sitzen dürfen ... Nein, nein, ich gehe zu Fuß. Wenn ich die Verabredung einhalten will, muss ich sofort hinunter.
      Es war ein schmaler, steiler, steiniger Pfad. Ich lief ihn rasch und ohne Zwischenfälle zu Tal. Daran bin ich gewöhnt. Unterwegs begegnete mir eine Gruppe von Italienern in leichten, eleganten Halbschuhen. Sie redeten viel und wortgewandt miteinander. Sie achteten kaum auf den Weg und torkelten ab und zu. Die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Knöchelbruchs schätzte ich recht hoch ein. Am Berg kann man auf viele Weisen zu Schaden kommen. Aber was für eine schöne, klangvolle Sprache: Italienisch vor Alpenkulisse. Was sagten sie da: Corto viaggio sentimentale?

Das kannte ich doch ...

 

 

 3. Momentaufnahmen

Auf Reisen sind wir empfänglicher für das Besondere. Der Alltag hat uns losgelassen, unser Bewusstsein wird schärfer. Was wir dann aufnehmen, sind oft Bruchstücke aus einem größeren Zusammenhang, den wir nicht kennen. So bleiben die Bilder in unserem Kopf Fragmente von Geschichten. Wir erinnern uns später oft an sie, aus Neugierde. Wir wüssten noch immer gern, wie es damals weitergegangen ist.

FRANKFURT UM 1980: Mein Zug steht im Hauptbahnhof, abfahrbereit. Ich blicke hinaus auf den Bahnsteig. Das übliche Gewimmel, die Routine von Abfahren und Ankommen. Plötzlich nimmt das Auge zwei stark beschleunigte Bewegungen wahr, es lösen sich zwei Einzelpersonen aus dem Chaos der Objekte. Ein junger Mann rennt, schlägt Haken und verschwindet blitzschnell in einer Unterführung. Ihm setzt ein anderer nach, schreiend. Er ist gerade bestohlen worden. Wird er den Dieb einholen? Oder ein anderer diesen festhalten? Ich werde es nie erfahren. Mein Zug fährt pünktlich ab.

WÜRZBURG 2001: Ich stöbere in einer großen Buchhandlung. Plötzlich spricht mich von der Seite eine junge Frau an und fragt mit slawischem Akzent: "Haben Sie Arbeit für mich? Oder kennen Sie jemand, der Arbeit hat?" Ich verneine beides und sie verschwindet rasch zwischen den anderen Kunden. Welche Art Arbeit sucht sie? Warum hat sie gerade mich angesprochen? Wie wird ihr weiteres Schicksal sein?

FRANKFURT 1979: Auch diesmal sitze ich in einem abfahrbereiten Zug und schaue hinaus. Auf dem Gleis gegenüber steht ein Zug in die DDR. Eine nicht mehr junge Frau zögert vor einer Wagentür mit dem Einsteigen und blickt unruhig den Bahnsteig entlang. Indem der Zug abfährt, kommt ein Mann angelaufen - zu spät. Die Frau schreit - Stimme und Gebärde ganz griechische Tragödin -: "Hans, Hans!" Beide lassen sich wie vernichtet auf eine Bank fallen. Warum scheint es eine Katastrophe für sie zu sein, diesen Zug verpasst zu haben?

DÜSSELDORF UM 1975: Ich bin zum ersten Mal da und habe mir das Stadtzentrum angesehen. Jetzt stehe ich vor dem Hauptbahnhof und will zurück nach Köln. In diesem Moment lösen sich aus einer dichten Menschentraube zwei junge Männer, schreiend und gestikulierend. Der eine hat eine stark blutende, großflächige Gesichtsverletzung. Offenbar ist er eben attackiert worden. Was werden die beiden tun? Sie gehen aufgeregt in den Bahnhof hinein. Ich folge ihnen. Der Verletzte blutet so sehr, dass er dringend einen Arzt benötigt, so meine Einschätzung. Und warum ruft keiner die Polizei? Die beiden bleiben vor der Übersichtstafel der abfahrenden Züge stehen und suchen sich einen heraus. Dann verschwinden sie wie andere auch in der Menge, die zu den Gleisen strömt. So verstörend das Bild, so unverständlich auch der Ablauf des Geschehens - für mich.

Im Rückblick sehen wir so viele Splitter von Geschehnissen, die wir nicht ganzen Geschichten zuordnen können. Wir müssten allwissend oder Gott sein, um sie von Anfang bis Ende erzählen zu können. Ehrlich gesagt, ich kann mir keine Geschichte vorstellen, mit der uns das im Leben je gelingen könnte.



4. Das karierte Reh

Juni 1994. Abendschön macht Urlaub an der Spree - nicht in Berlin, sondern an ihrem Oberlauf. Taubenheim liegt nicht weit von der Quelle im Lausitzer Bergland. Die Spree ist ein schmaler Bach, das Dorf klein, das Essen schmackhaft-deftig, schon ein wenig böhmisch. Es böhmelt überhaupt in der Gegend. Bautzen, Zittau, Görlitz - schöne, alte Städte, so gesättigt von ferner Geschichte, dass sie einem fast fremdartig erscheinen. Man ahnt, was das einmal war: Ostmitteleuropa.
      Schon damals rumorte es in den Zeitungen, im Regionalprogramm des Fernsehens. Die Leute waren besorgt wegen der häufigen Einbrüche.Die Täter kamen meistens über die grüne Grenze. Auch der Menschenschmuggel blühte schon. Etwas später wurden Zittauer Taxifahrer, die am Transport ab Grenze gut verdient hatten, zu Haftstrafen verurteilt.
      Ich hatte einen Ferienbungalow am Ortsrand gemietet. Er war aus der FDGB-Konkursmasse an die Gemeinde gefallen und von ihr etwas aufpoliert worden. Es ließen sich da bei Tag ländlich heitere Stunden verbringen - doch meistens kam ich erst am Abend zurück, wenn die bewaldeten Grenzberge sich mehr und mehr verschatteten. Dann nahm die Schwermut zu, die für mich dort immer zu spüren war. Die Melancholie der Landschaft benötigte nur noch einen Anlass, um konkrete Angst auszulösen.
      Die Jalousie neben meinem Bett war defekt. Ich konnte durch ihre breit klaffenden Lücken in die schwärzliche Nacht hinausstarren. Wer draußen vielleicht vorbeiging, konnte mich daliegen sehen: Arno allein zu Haus. Schlich nicht gerade einer um den Bungalow? Da war ein scharrendes Geräusch, wie von festem Schuhwerk auf Betonboden, wie schlurfende Schritte. Der Bungalow stand ja auf einer vorkragenden Betonplatte. Zweifellos trieb sich da jemand herum. Ich schlief dennoch ein, träumte unruhig.
      Am folgenden Abend identifizierte ich das Geräusch. Die Nachbardatsche war in privater Hand. Ihre Besitzer wohnten in der Nähe und verbrachten den größten Teil des Tages hier draußen. Wenn sie abends heimgingen, ketteten sie den Hund am Bungalow an. Er schleifte nachts die Kette über den Steinfußboden, er verrückte seinen Blechnapf auf dem Boden. Kein Grund zur Beunruhigung.
      Am letzten Tag ging ich noch einmal hinauf in die Grenzberge. Reisepass und gesamtes restliches Bargeld hatte ich auch jetzt dabei, aus Furcht vor Einbrechern. Dann stand ich auf einer Felsenkanzel und sah über den steil abfallenden Wald in die Ferne. Die jungen Fichten unter mir waren kaum anderthalb Meter hoch. Auf einmal musste ich niesen und unmittelbar darauf hörte ich da unten etwas hopsen oder plumpsen. Ganz kurz gewahrte ich verschwommen eine Silhouette am unteren Rand meines Gesichtsfeldes. Es musste ein Säugetier sein. Ich entschied mich für ein Reh.
      Es war dann wieder still. Plötzlich huschte mein Reh über eine kleine Lücke im Baumbestand, bemüht rasch wieder Deckung zu finden. Das Reh trug ein kariertes Oberhemd, mehr konnte ich nicht erkennen. Ich machte, dass ich schnell und möglichst geräuschlos aus dem Wald herauskam. Heute glaube ich, keiner von uns beiden war damals neugierig auf den anderen, den Fremden.


5. Abstieg vom Berg

Er war einer von den Seilbahntouristen, die von oben auf den See schauen und vor Entzücken fünf Sekunden die Luft anhalten - da unten ein blauer Fjord zwischen steilen schwarzgrünen Kanten. Dann wenden sie sich zur anderen Seite, erblicken die entfernteren Gipfel des Hochgebirges und atmen aus - majestätisch! Noch einmal der See als Ganzes, die Grenzberge im Süden, die Berge im Norden ... Und nun?
      Er war erst gestern angekommen und gleich heute Morgen heraufgefahren. Der See lag 500 Meter über dem Meeresspiegel, der Gipfel 1900 Meter hoch. Die Hochalm war mit Gastronomie und Hotellerie gut bestückt. Die Vierergondeln spuckten im Takt ihre menschliche Fracht aus. Die Wege kreuz und quer über die besonnten Wiesen belebten sich zusehends. Der Fremde sah von Nordwesten lang gezogene Wolkenbänke heransegeln. Wie lange wird sich das Wetter noch halten?
      Man fährt nicht schon um halb elf wieder hinunter. Wenn er zu Fuß den direkten Weg zum See nimmt, ist er um zwei Uhr nachmittags dort - viel zu früh. Also noch länger hier oben bleiben? Nein, auf dem Gipfel ist es ihm zu betriebsam. Er wählte den Höhenweg nach Nordosten, nachdem er die Karte studiert hatte. Die gerade durchgezogene Linie auf ihr versprach leichtes Fortkommen. Es geht immer geradeaus, nur durch dichte Wälder. Es wird dort ruhiger sein, vielleicht einsam. Am Spätnachmittag sollte er nach langem Abstieg an einem der Bahnhöfe der Seitenbahn herauskommen.
      Er verlor rasch an Höhe und verschwand im Fichtenwald. Mit den Wiesen ließ er die anderen Seilbahntouristen zurück. Aufatmend ging er schneller und kam auf dem nun eben verlaufenden Forstweg gut voran. Es war wirklich einsam hier, nicht einer mehr begegnete ihm. Der Himmel bezog sich erst unmerklich, dann war es nur noch grau über ihm. Hier am Boden war es jetzt viel kühler geworden. Er ging noch schneller. Der Weg verlief nicht immer so gerade, wie es die Karte darstellte. Es war eine Frage des Maßstabs. Welche Maßstäbe soll man für sich wählen, dachte er, eine im Leben manchmal entscheidende Frage ...
      Die Abzweigungen häuften sich, die Farbmarkierungen verloren sich. Er glaubte, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Aus dem Forstweg war längst ein schmaler Pfad geworden. Bei jeder neuen Gabelung wurde er unsicherer. Er musste sich auf seinen Instinkt verlassen. Der Wald hörte nicht auf. Am meisten beunruhigte ihn, dass er durchaus nicht an Höhe verlieren wollte.
      Dann ging es doch noch hinab. Er gewann wieder Zuversicht - und stand binnen kurzem am oberen Rand einer steilen Felswand. Umkehren, den richtigen Weg suchen - oder irgendeinen, wenn er nur hinunterführt. Der Alptraum begann erst jetzt. Er probierte immer neue Wege, neue Richtungen. Keine führte zurück in die Zivilisation. Die meisten Pfade endeten im Nichts. Es war schon mitten am Nachmittag. Nur einem Piefke kann so etwas passieren ... Leise Panik machte sich breit. Diese Zwangsvorstellung, niemals mehr ins Tal zu kommen - eigentlich hasst er das Gebirge ...
      Einmal stürzte er, verletzte sich zum Glück nicht. Nur die blauen Jeans waren über und über mit gelbem Schlamm bedeckt. Er hastete weiter und ging vermutlich im Kreis. Nach weiteren zwei Stunden lichtete sich der Wald seitlich in der Tiefe. Er verließ den Pfad und drang zwischen den Fichten ins Helle vor. Wie schön, die Wiesen eines Bauernhofes, so sanft, und dahinter das Talbecken, endlich. Er kletterte über einen Stacheldrahtzaun und entdeckte erst dann die Bullen auf der Weide. Sie hatten ihn noch nicht gesehen. Er schlich sich von der Wiese und zerriss sich beim erneuten Zaunübersteigen weiter unten einen Ärmel seiner Jacke. Immerhin stand er nun auf einem asphaltierten Feldweg. Die Dörfer an der Bahn mussten nach seiner Vermutung rechts liegen. Ein Bauernhof war noch zu passieren. Mit unsicheren Knien ging er so leise wie möglich an ihm vorbei - nicht dass er die Hunde weckte.
      Das Dorf sah wie andere in Kärnten aus. Eine Ortstafel suchte er vergeblich. Wo zum Teufel war er heraus-
gekommen? Hat dieses Nest überhaupt einen Bahnhof? Er ging durch ein Neubauviertel mit kleinen Häusern, wie sie überall in der westlichen Welt stehen. Diese Ruhe auf den Straßen, kein Mensch in den Gärten zu sehen - es war zu ruhig. Sollte hier unten inzwischen etwas Unausdenkbares geschehen sein?
      Dann entdeckte er doch zwei Einheimische. Sie und er saßen auf ihrer Terrasse. Das Haus war erst vor kurzem bezogen worden, der Garten noch nicht angelegt. Sie jausten und wirkten sehr gelassen. Die beiden redeten nicht miteinander. Die Dame des Hauses blätterte in einer Illustrierten.
      Und er, der Fremde, außer Puste, schmutzüberkrustet, ziemlich derangiert, ruft ihnen zu: "Verzeihung, wenn ich Sie störe, ich bin fremd hier, ich habe mich in den Bergen da oben verirrt ... Würden Sie mir bitte den Namen Ihres Dorfes sagen? Nur den Namen, ich weiß nämlich nicht, wo ich heruntergekommen bin. Wenn Sie mir den Dorfnamen sagen, finde ich ihn dann schon auf meiner Karte ..." Mein Gott, er ist doch nicht vom Mond gefallen, sie zeigen ihr Befremden allzu deutlich.
      Eine Viertelstunde später war er am Bahnhof, gerade recht zur Abfahrt des nächsten Zuges. Eigentlich unglaublich, wie reibungslos die Welt hier unten noch immer funktioniert.


6. Menschen von heute

In Lohn und Brot


Einmal habe ich vier Wochen in A ... verbracht. Wenn ich dort zum Bahnhof ging, kam ich an der Dorfbäckerei vorüber. Oft stand der junge Bäcker vor der Backstube und rauchte. Er sog hastig an seiner Zigarette, blies nervös Qualmwolken in die gute Landluft und sah verdrießlich auf den kleinen Fluss. Dachte er an das Brot, das jetzt drinnen ausgebacken wurde? Er stützte einen Fuß auf die Hofmauer und stemmte einen Ellenbogen auf das gebeugte Knie. Ich sah zwei halb nackte Beine. Darf man in kurzen Hosen in einer Backstube arbeiten? Die zur Schau gestellte Wade zeigte eine auffallende Tätowierung: zwei Arabesken, eine rot, eine blau, wie umeinander züngelnde Schlangen. Er drückte seine Zigarette aus und warf die Kippe in den Fluss. Enten schwammen gierig herbei. Die Luft, die aus der Backstube kam, roch widerlich süß. Dieser Mehl- und Zuckerstaub kann schon jungen Bäckern die Zähne kosten - Bäckerkaries.
      Einmal erlebte ich ihn im Geschäft. Er trug ein Blech mit frischen Broten in den Verkaufsraum. Eine ältere Kundin rief bewundernd: "Das Brot des Bäckers - mit Liebe gemacht!" Da knurrte er verächtlich: "Mit Liebe gemacht? Die ganze Nacht hab ich Liebe gemacht ..." Und er sah danach aus: unausgeschlafen, unrasiert, mürrisch.


Existenz am Rand

Wenn das Wetter schlecht war, fuhr ich "auf Nürnberg", wie die Einheimischen sagen. Einmal blieb mein Blick dort an einem jungen Mann hängen. Er wartete wie ich auf die Straßenbahn. Er war lang und dürr und der permanente Missmut auf seinem Gesicht schien gerade in abschließende Gleichgültigkeit überzugehen. Bei diesem feucht-kühlen Wetter trug er eine feuerrote kurze Hose und seine dünnen, braunen Beine endeten in leuchtend blauen Badelatschen. Er stieg mit mir ein und saß seltsam unberührt auf dem Platz vor mir. Draußen neben uns spielte sich das Straßenleben ab, doch ihm nahm der Faltbalg den Blick dafür weg. Wir rollten durch eines dieser Viertel, wo die vier A's zu Hause sind: Arme, Alte, Arbeitslose und Ausländer. Dann wurde weiter vorn ein Platz frei und er wechselte hinüber, offenbar um doch noch alles besser betrachten zu können. Zeichen der Hoffnung! Wir alle sind eben zum Sehen geboren.


Der Waldbauer

Ich war lange bergauf gegangen, als er auf einmal im Wald vor mir auftauchte. Er ging zwischen den Bäumen herum und betrachtete sie. Er war um die sechzig, rüstig, schlank. Ich grüßte ihn. Als ich weiterging, kam er schnell nach und schloss sich mir an. Voller Erregung stieß er etwas in seinem Dialekt hervor - ich verstand ihn nicht. Er wiederholte es, der Sinn blieb mir unklar. Nur langsam kam ich dahinter: Dies war sein Waldstück und der Borkenkäfer hatte nun auch seine Fichten befallen. In der Woche fehle ihm für Kontrollgänge die Zeit, heute am Sonntag sei er nach dem Kirchgang einmal dazu gekommen. Einige Bäume müssten gefällt werden, doch zwei Geburtstage und eine Kirchweih stünden bevor, und ohne seinen Sohn komme er nicht mehr zurecht. Er legte mir seine Familienverhältnisse dar. Vor mir, dem Wildfremden, sprach er aus, was ihn bedrückte: Die Mutter sei auch schuld! Dann war von seiner Tochter die Rede, die nach dem ersten Kind Drillinge bekommen hat und trotzdem von ihrem Mann verlassen worden ist. Doch habe sie schon einen neuen Freund, der sich um die Kinder kümmere, als wären es die eigenen. Ja, es gibt doch noch gute Menschen ... Drei Kilometer weiter bog er ab. Ich werde ihn nie wieder sehen. Von mir hatte er so gut wie nichts erfahren.


Der berühmte Filmschauspieler

Der Wind blies kalt, Regen war vorhergesagt. Ich brach die Wanderung ab und nahm den Minibus, um zu einem Bahnhof zu kommen. Ich war der einzige Fahrgast und saß neben der Fahrerin. Ja, sagte sie, hier oben sei es das ganze Jahr kalt, doch solange der Wind wehe, komme der Regen noch nicht. Wir kamen an dem Schloss vorbei, das Nicolas Cage vor kurzem gekauft hatte. Sie fing an, darüber zu reden. Das Schloss könne nicht mehr besichtigt werden. Cage habe viel vom alten Inventar verkauft, auch den berühmten Wandteppich. Mit dem Erlös finanziere er die Sanierung des Gebäudes. Allein das neue Dach habe 300.000 Euro verschlungen ... Er sei schon zehnmal hier gewesen, meistens sei er mit dem Hubschrauber neben dem Schloss gelandet.
      Nun habe ich noch nie einen Film mit Nicolas Cage gesehen, ich weiß nicht einmal, wie der Kerl aussieht. Soll ich ihr von meinen Lieblingsschauspielern erzählen, von Jason Cadieux, Alex Dimitriades, Lance Lee Davis? Besser nicht. Also sage ich nur, was ich am Vortag zufällig in der Zeitung gelesen habe: "Er hat ja deutsche Vorfahren, dieser Cage. Ja, doch, seine Oma wohnt in Oer-Erkenschwick. Und wenn er sie besucht, gibt es sein Leibgericht: Sauerkraut." Jetzt ist sie baff.


7. Wie ein wildes Tier


Scheußlich, so ein Sessellift ... Es kam ihm vor, als berühre er mit seinen Füßen schon die steilen Felswände der Karawanken. Sein Oberkörper war durch eine Plexiglaskuppel gegen Wind und Wetter geschützt. Auf der Innenseite dieses Gebildes hatte sich Kondenswasser niedergeschlagen - vielleicht sein Angstschweiß? Es stand für ihn fest, dass er nur zu Fuß ins Tal zurückkehren würde.
      Oben stolperte er aus seiner Käseglocke ins Freie, gewann wieder Boden unter den Füßen und kehrte erleichtert zum aufrechten Gang zurück. Ein kurzer Weg und er stand am Dreiländereck. Er konnte jetzt auch nach Italien und Slowenien hinübersehen. Was war damit gewonnen? Er kehrte um und ließ die Bergstation links liegen. Von da an ging er immer nach Osten. Wenn er genug vom Gebirgskamm hat, wird er einen abwärts führenden Weg einschlagen.
      Es gab einen mühsamen Zwischenabstieg zu einem Pass hinunter. Lastwagen donnerten von beiden Seiten herauf. Er schaffte sich unter Lebensgefahr auf die andere Straßenseite. Dann kletterte er wieder bergauf und ging parallel zur Grenze weiter. Einzelne Kuppen und Zipfel aus Kalk ragten aus der dichten Waldmasse. Es war sehr einsam hier oben. Keiner, der ihm begegnete. Rechts begann also der Balkan, im weitesten Sinn ... Ob es illegale Grenzgänger gab? Von Grenzen werden einige magisch angezogen, er selbst auch. Ganz geheuer war es hier oben nicht.
      Es war mitten am Nachmittag und er war schon etwas erschöpft - Zeit, den Abstieg zu beginnen. Zu seiner Linken sah er sehr weit unten den Talboden. Er bog mit dem nächsten breiten Forstweg ab und kam rasch absteigend gut voran. Oft verlief der Weg im Zickzack. Man überblickte immer nur einige hundert Meter.
      Und dann sah er erstmals seit Stunden wieder Menschen. Ein Mann und eine Frau gingen vor ihm zu Tal. Sie waren beide nicht mehr jung und unterhielten sich angeregt beim Gehen. Dabei nahmen sie die ganze Breite des Weges ein. Er wollte sie anfangs nicht überholen, aber sie trödelten ihm zu viel. Er wollte heute noch unten ankommen. Sicher hatten sie seine eiligen Tritte längst gehört. Wenn er auf ihrer Höhe ist, wird er sich kurz umwenden und grüßen.
      Eben ging er an der Frau vorbei und streifte sie beinahe, als sie entsetzt aufschrie und zitternd, totenblass zur Seite torkelte. Auch ihr Begleiter hatte sich verfärbt. "Was ist denn so zum Fürchten?" fragte er leicht verärgert. Er fühlte sich von ihnen verkannt.
      "O, Sie können es nicht wissen", sagte die Frau. "Wir haben gerade über Bären gesprochen. Ich frage meinen Mann, ob es in Kärnten Bären gibt, und er sagt: Ja, hier in den Karawanken schon. Und genau in diesem Moment höre ich es hinter mir tappen und da war auch schon ein Körper neben mir ..." Langsam gewann sie ihre Fassung zurück.
      "Überzeugen Sie sich: ich bin kein Bär. Kommen Sie gut an ihr Ziel, ich empfehle mich."


8. Augenblicke in Rom

Stazione Termini. Das ist der Hauptbahnhof, ein großer Kopfbahnhof am Rand des Zentrums. Hier enden die meisten Züge von Norden und Süden. Gewöhnlich drangvolle Enge in den Hallen und Durchgängen. Man kann seinen Hunger im Stehen eilig stillen, wie anderswo auf Bahnhöfen. Vielleicht schmeckt es nicht oder man ist vorzeitig satt. Man hat keinen Abfallbehälter gesehen und legt das Angebissene verschämt auf den Tresen zurück. Der Angestellte wird es schon entsorgen. Das tut er, auf eine überraschende Weise: Verächtlich fegt er das schon bezahlte halbe Sandwich hinunter auf den Steinfußboden. Da liegt schon mehr herum: Der Hallenfußboden dient als Sammelstelle für Kehricht jeder Art. In der Nacht wird dann gründlich aufgeräumt. Römer, daran erkennt man euch: Ordnung halten nur in großem Stil. So habt ihr einmal ein Weltreich geschaffen und zusammengehalten.
      An der Via Appia Antica steht ein kleines Doppelgrabmal, er und sie frontal auf gemeinsamer Steinplatte abgebildet, wie zwei Medaillons dicht beieinander. Voller Demut schauen sie auf die Vorübergehenden. Die Plastik ist überaus realistisch: zwei alternde, eng miteinander verbundene Menschen, die gemeinsam schicksalsergeben das Ungewisse erwarten. Sie warten seit zweitausend Jahren. Von den Körpern ist vermutlich nichts geblieben, ihre Seelen haben sich in der Abbildung getreu erhalten.
      Du besuchst in der Nähe der Engelsburg ein großes Café mitten am Tag. Da debattiert eine Gruppe junger Männer. Gleich bei deinem Eintreffen wendet sich einer von ihnen dir zu, er lächelt. Du bist irritiert: Was soll das bedeuten? Er redet weiter mit seinen Freunden und schaut noch immer herüber. Er hat ein offenes, voraussetzungslos freundliches Gesicht. Du bist nahe daran, ihm zuzunicken - da hat er genug von deinem Zögern. Er wendet sich ab und sieht dich nicht mehr an, solange du noch im Café bist.
      Beim Besuch der Ruinen von Ostia Antica regnet es. Es ist feucht-kühl und riecht muffig zwischen den alten Mauerresten. Wie in den Ruinenfeldern Roms gibt es Katzenkolonien. Die Katzen warten auf trockenen Plätzen das Ende des Regens ab. Allein ein verwaister Hund sucht Kontakt. Es ist ein mittelgroßer Bastard mit nur drei gesunden Beinen, das vierte hat er zum größeren Teil eingebüßt. Bei diesem Mistwetter humpelt er auf drei Beinen durch die Ruinen von Ostia und hofft auf Anschluss an Menschen. Ist er verrückt? Wer nimmt einen dreibeinigen Hund? Er weiß auch nichts von Impfzeugnissen und Tiereinfuhrverboten. Man darf ihn sich nicht an einen gewöhnen lassen, man wird ihn dann nur schwer wieder los. Du hoffnungsloser Optimist: Hast keine Chance mehr und machst es dir nicht klar. Gott erhalte dir deine Illusionen - weiter bekommst du nichts mehr vom Leben.


9. Der Dealer und ich

Die allgemein anerkannten Sehenswürdigkeiten haben mich meistens gelangweilt. Was überall abgebildet ist, muss nicht auch noch von mir betrachtet werden. Paris und der Eiffelturm, Venedig und der Markusplatz - darf es nicht mal was anderes sein? Wer das tausendfach Reproduzierte reproduziert, wird selbst zur schlechten Kopie.
      In Nürnberg habe ich immer einen Bogen um das Dürerhaus gemacht. Dafür sitze ich gern in einem Kaufhausrestaurant am Aufsessplatz. Das ist ein großer, düsterer Saal in fahlen Braun- und Gelbtönen, ganz im Alt-Nürnberger Geschmack, wie ihn so erst das 20. Jahrhundert entwickelt hat. Herrlich, diese schwerfälligen, wie gedrechselten Holzmöbel ... An den Wänden Reproduktionen zum Wiedererkennen - Dürers Tucherin ist auch darunter. Man isst deutsch, also fränkisch, und das Publikum ist fast rein deutsch und zumeist im Rentenalter. Da sitze ich also bei gebratenen Klößen und sinniere über Dürer und das Wirtschaftswunder nach: Betende Hände in den Schulbüchern und Frau Tucher auf der Banknote, ja, ja.
      Ich bin in der Nürnberger Südstadt, die kaum ein Tourist zu Gesicht bekommt. Man könnte sie das Brooklyn von Nürnberg nennen. Hier ist das zweite Geschäftszentrum der Stadt, mitten in einem überwiegend proletarischen Stadtbezirk. An den Rändern sind noch immer große Industriebetriebe. Der Verkehr ist sehr dicht und die Luft vermutlich ungesund. Die Häuser sind teils Mietskasernen aus der Zeit um 1900, teils schnell hochgezogener Wiederaufbau nach dem Krieg. Die Südstadt ist dichter besiedelt als irgendein anderes deutsches Großstadtquartier, das ich kenne. Ihre Völkermischung ist selbst für eine heutige Großstadt ungewöhnlich. Ich habe die Gegend einmal zufällig aus der Straßenbahn heraus entdeckt und bin seitdem oft für ein oder zwei Stunden hingefahren.
      Manchmal bin ich den ganzen Tag auf dem Land gewesen und zum Abendessen in die Südstadt gefahren. So bummelte ich einmal in der Dämmerung die Wölckernstraße entlang. Sie ist, wie viele dort, nach einer Altnürnberger Patrizierfamilie benannt. Ich blickte forschend in jede Seitenstraße, ich suchte ein neues Restaurant zum Ausprobieren. Mein hungriger Blick fiel auf, er fiel gewissermaßen auf unfruchtbaren Boden. Das kam so: Statt an einem Ecklokal blieben meine Augen für Sekunden an einer Vierergruppe von jungen Schwarzen hängen. Sie standen müßig auf dem Gehsteig dieser Nebenstraße und beobachteten scharf den Hauptstrom der Fußgänger auf der Magistrale. Menschen, die andere Menschen beobachten, finde ich stets betrachtenswert. Sie filterten mich gleich aus der Menge heraus und machten sich gegenseitig auf mich aufmerksam; so viel bekam ich aus dem Augenwinkel noch mit. Dann war einer von ihnen hinter mir.
      Mit Drogen habe ich fast keine Erfahrungen, außer mit viel Koffein und ab und zu Alkohol. Dennoch wusste ich als Ex-Hamburger natürlich, dass sie einen potentiellen Abnehmer in mir sahen. Ich ging rasch weiter und blickte gleichzeitig auf die Geschäftsauslagen. So versuchte ich, dem Mann hinter mir zu signalisieren: Ich bin ein ganz normaler Passant, ich interessiere mich für Handys, Damenunterwäsche und alte Sammeltassen. Behalt deine Ware! - Offenbar wirkte ich unglaubwürdig, er blieb mir auf den Fersen und holte langsam auf. Dann gab er mir ein Zeichen: Er schlurfte anhaltend im Weitergehen. Aus diesem Geräuschbrei ringsum - Motorengedröhn, Klingeln von Straßenbahnen, Quietschen von Reifen und dem unendlichen Summen in zweihundert Menschensprachen - hörte ich zwei Minuten lang heraus, wie zwei Ledersohlen sich am Gehwegpflaster rieben. Dann fand ich einen Italiener, der mir zusagte, und ging schnell hinein. Überrascht stellte ich fest, wie bürgerlich es da zuging. Als hätte ich eine andere Stadt betreten.


10. Mit Gottfried Benn um die Welt

Wo war der absolut höchste Punkt in meinem Leben, gemessen in Metern über dem Meeresspiegel? Ich weiß es noch genau, weiß auch, welche Gefühle mich dort beseelten. Doch ich will den Höhepunkt noch etwas hinauszögern, unbekannter Leser, und deine Aufmerksamkeit vorher auf einen Gipfel deutscher Lyrik lenken. Es ist "Reisen" von Gottfried Benn. Zunächst nur die erste Strophe:

Meinen Sie, Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer zum Inhalt hat?


Ehrlich gesagt, auf Zürich wäre ich in diesem Zusammenhang nicht gekommen. Vielleicht wollte er sich damit an Thomas Mann reiben, den er anlässlich von dessen Tod als großen alten Erzengel sah. Sich selbst reihte er gleichzeitig, allzu bescheiden, um aufrichtig zu sein, unter die Putten und Amoretten ein.
      Wir kamen auf dem Weg ins Wallis nicht einmal über Zürich. Es ging via Basel und Bern nach Brig und von dort hinauf nach Blatten. Es ging täglich hoch hinauf, damit will ich niemand langweilen ... Und dann sollte der höchste Tag im Leben kommen. Wir nahmen den ersten Bus von Blatten (1327 m) hinunter nach Brig (678 m). Dort zwängten wir uns in die verflucht enge und immer bis auf den letzten Platz besetzte Schmalspurbahn nach Zermatt (1616 m). Sollte ich vielleicht doch an Klaustrophobie leiden oder ein pathologischer Misanthrop sein? Ach, war es schön, nach einer guten Stunde - guten? - das Züglein verlassen und die herrliche Hochgebirgsluft atmen zu können ...
      Was soll ich von Zermatt sagen? Viele Geschäfte und Restaurants, nicht ganz billig, und die Hotels und Pensionen schmücken sich im Sommer mit Geranienkaskaden. So viele Blumen der gleichen Art lösen bei mir die Frage aus: Essen sie die am Ende? Adorno hat seinen letzten Urlaub dort nicht gut vertragen. Er erlitt einen Schlaganfall und starb im Krankenhaus von Brig. Es sei allen zur Warnung ins Gedächtnis gerufen.
      Wir lösten zwei Billetts (nicht ganz billig) hinauf zum Unterrothorn (3103 m). Man muss zweimal umsteigen. Zuerst wird man in einer Alpenmetro unterirdisch den Berg hinaufgeschossen, sehr romantisch, dann mit zwei Seilbahnen noch weiter schwungvoll den Berg hinaufgeschaukelt. Oben angekommen waren wir noch nicht am Ziel unserer Wünsche. Wir wandten uns nach links - oder war es rechts? Im Kopf regte sich leiser Schwindel. Atmung und Kreislauf waren schon etwas mühsam geworden. Aber nicht aufgeben, das Oberrothorn (3413 m) will auch noch von uns bezwungen werden!
      Es kam noch ein Zwischenabstieg. Nun halten wir am Punkt 2981. Verschnaufen wir mal kurz und rechnen aus, wie viele Höhenmeter wir bis jetzt rauf und runter addiert zurückgelegt haben. Es sind 3196 m. Nach kurzer Rast wollten wir auch noch die restlichen 432 m stemmen, um anschließend den Rückweg anzutreten, womit wir dann auf 7256 m bewältigten Höhenunterschied an einem Tag gekommen wären. Ach, es war uns nicht vergönnt ... Mein Begleiter fühlte sich einem Kollaps nahe, mir ging es auch nicht gut. Wir ruhten noch einmal kurz in der Senke aus und schlichen dann zum Unterrothorn hinauf. Und von da an zogen wir uns wie Napoleon nach dem Brand Moskaus unaufhaltsam weiter zurück. Unten in Brig fühlten wir uns beinahe wieder wohl.
      Wenn das der Höhepunkt war, wie war dann erst der tiefste? Ich kann ihn nicht genau ermitteln, es gab zu viele Tiefpunkte. Nehmen wir also an, es war Cuxhaven (3 m). Was kann man in Cuxhaven treiben? Um den Bahnhof herum riecht es nach Fisch. Weiter Richtung Meer gibt es schöne alte Häuser - die gibt es in Hamburg auch. Man landet zwangsläufig am Wasser, wo die Elbe unbestimmbar ins Meer übergeht. Nur von der erhöhten Strandpromenade auf dem Deich hat man einen guten Blick. Ich stieg hinauf und ging immer weiter Richtung offenes Meer. Ich fühlte mich richtig gut.
      Dann fiel mir auf, die Promenade war eingezäunt und an jedem Zugang stand, sehr unromantisch, ein Kas-
senhäuschen. Ich folgerte, dass ich mich vorhin versehentlich an einem vorbeigeschmuggelt haben musste. Mein Gewissen ist überempfindlich. Auch fürchtete ich Kontrollen. Also verließ ich am nächsten Häuschen die Umzäunung und sah mir die Preistafel an. Sooo viel für eine Tageskarte, für einen Spaziergang am Meer? Mein Sinn fürs Ökonomische ist auch ausgeprägt. Die Promenade hatte ich doch schon gratis gehabt. Also blieb ich draußen und ging langsam hinter dem Deich in die Stadt zurück.
      Ich murmelte die letzte Strophe von Benns Gedicht vor mich hin:

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
Bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

 


11. Arlington Park

Mit Chicago wurden sie nicht recht warm. Das war ein zu kühner Entwurf, weder zu Ende gebaut noch zu Ende gedacht. Es war etwas Erregendes an der Stadt, etwas Elementares, etwas Verlorenes ...Die beiden Europäer standen am Fenster ihres Hotelzimmers im zwölften Stock und sahen die Nebelfetzen vom See herantreiben. Oft waren es riesige Nebelbänke, die in Sekunden halbe Stadtviertel verschluckten und dann ebenso schnell wieder freigaben. Hohe Türme, plötzlich weggewischt wie die antiken Fresken in Fellinis Roma beim Bau der Untergrundbahn. Das Hancock Building war für anderthalb Minuten ausgelöscht gewesen - jetzt stand es wieder da in der klaren durchsichtigen Atmosphäre eines Mainachmittags: breitbeinig, unerschütterlich, ein Förderturm für Geld und Mehrwert.
      Der Sears Tower wirkte von weitem wie ein seltsam verschobener altbabylonischer Stufentempel. Von nahem, aus der Tiefe der Franklin Street, gelang es nicht, seine höchsten Stufen ins Auge zu fassen. Man bekam den Koloss nicht als Ganzes zu sehen. Sie fuhren hinauf. Von oben zerfiel die Welt von Chicago klar in drei Teile: der riesige, fast leere See, leer wie die Hochsee - dann, hart am See, das schmale, lange Band der geballten hohen Türme - und nach Westen anschließend der breite und scheinbar unendliche Teppich flachster Vororte. Unverbunden, unversöhnlich, alles fiel auseinander wie Elemente, die sich nicht vermischen, vollkommen unharmonisch, brutal - eben darin bestand das Suggestive. Südlich vom Turm wies die Stadt weite, leere Flächen auf. Hier hatten die abgerissenen Schlachthöfe, die aufgegebenen Bahnhöfe gestanden. Das war der Platz für die Stadt der Zukunft, wie das den Blick anzog.
      Unglaublich schnell brachte der Expresslift sie in die Eingangshalle zurück. Sascha suchte den Waschraum auf, bevor sie in die Cafeteria gingen (der Welt größte, wie alles in Chicago).Von innen hörte er Martin im Durchgang keuchen und bellen. Spastische Tracheobronchitis war schon einmal die Diagnose gewesen. Er sagte ihm, er hätte vielleicht besser aufs Land fahren sollen. Dann mischten sie sich unter die lunchenden Angestellten.
      Am nächsten Tag wollten sie ins Grüne. Von der Lake Street nahmen sie die Hochbahn Richtung Westen. Fast alle Passagiere waren Schwarze. Sie selbst hatten keine Ahnung, wohin sie eigentlich fuhren. Es war die Richtung nach Oak Park. Das sagte ihnen nichts, von Frank Lloyd Wright hörten sie erst später. Bis zur Stadtgrenze fuhr der Zug durch meilenweite Slums. Sie bestanden aus zweistöckigen Reihen alter Holzhäuser mit hölzernen Außentreppen und Veranden, auf denen sich die Bewohner mit Vorliebe aufhielten. Zwischen der zum Trocknen aufgehängten Wäsche saßen arbeitslose Männer. Gelegentlich wiesen die regelmäßigen Reihen Lücken auf. Erst später erfuhren sie, dass hier Brände getobt hatten, während der Unruhen in den Sechzigern. Um die Häuser grünte und blühte es noch reicher als in den Parks am Seeufer. Es war ein fröhlicher Verfall, eine Art Operettenslum, jedenfalls solange man nur mit der Bahn durchfuhr. Die Fahrt verlief rasch und ohne Zwischenfälle.
      Scharf unterschied sich Oak Park als Vorort der oberen weißen Mittelschicht von den städtischen Slums davor: ältere freistehende Villen, meist auch aus Holz, an breiten, grünen Alleen. Es schien verlockend, hier spazieren zu gehen. Aber als sie einige Blocks umrundet hatten, empfanden sie bloß noch Langeweile. In ihrer perfekten Gleichförmigkeit reizten diese Quartiere nur zum Gähnen. Sie fuhren bald zurück.
      An einem der folgenden Tage saßen sie in einem Vorortzug Richtung Nordwesten. Dieser massige gelbe Doppeldecker sollte sie doch einmal an den Rand der unendlichen Stadt bringen, meinten sie. Sie hatten Fahrkarten nach Arlington Park in der Tasche. Nicht dass ihnen der Ort irgendetwas bedeutet hätte - in der Bahnhofshalle hatten große Plakate für verbilligte Rückfahrkarten dorthin geworben. Die Reklame, obwohl allgemein gehalten, schien sich dafür zu verbürgen, dass Arlington Park ein unbedingt lohnendes Ziel am Rand von Chicago sei; sie war unwiderstehlich. Es war mitten am Nachmittag. Der Zug stand noch lange in der Halle, bevor er abfuhr. Nur stündlich wurde die Strecke bedient. Die beiden Decks füllten sich allmählich mit weißen Angestellten. Dann schob der Zug sich hinaus, zunächst ins schon Bekannte, die Zone der Bahnanlagen und Fabrikhallen. In den Slums hielt er nicht. Nun glitten eine Stunde lang weiße Vororte draußen vorbei - wie langsam glitten sie vorüber! Die Suburbia war sich wohl bewusst, ein großes Ganzes aus ununterscheidbarem Einzelnem zu bilden. Daher die riesigen Lettern auf den hohen runden Wassertürmen: MOUNT PROSPECT ... DES PLAINES ... Einmal hielt der Zug auf freier Strecke. Sie sahen in ein Wohnzimmer hinein, wo auf flimmerndem Bildschirm gerade Palmen am Meer zu sehen waren. Vielleicht war es Fort Lauderdale, Florida. Martin dachte, wenn der Bewohner für einen Augenblick ans Fenster treten sollte, so würde ihn die Schrift auf dem hohen Wasserturm daran erinnern, dass er Bürger von Mount Prospect war und nicht von Des Plaines oder Fort Lauderdale.

In Boston hatte ihre Reise begonnen. Nicht dass es sie besonders nach Boston gezogen hätte - es gab einen billigen Flug von Amsterdam dorthin. Während des Fluges las Martin in seinem Führer, von den großen Städten an der Ostküste erinnere Boston am stärksten an Europa. Sie beschlossen, dort drei Tage zu bleiben, um sich leichter einzugewöhnen. Wegen irgendeines nationalen Kongresses waren alle Hotelbetten belegt. Sie kamen schließlich an der Huntington Avenue unter, in dem mausgrauen YMCA-Kasten, der etwas von einem Elefanten in Wartestellung hatte. Rundherum hundert Jahre alte Wohnblocks mit klassizistischen Fassaden, die die verwahrlosten Wohnungen dahinter nur unzureichend kaschierten. Wie in Europa war es zum nächsten McDonald's nicht weit, er war schräg gegenüber. Nach einem ersten Bummel durch die Nachbarschaft reihten sie sich ein in die Schlange der Slumbewohner, die ihr warmes Abendessen bei McDonald's bestellten, um es styroporverpackt in die umliegenden Wohnhöhlen zu tragen. Ein städtischer Polizist - ein Auge auf die Kasse und die Waffe bereit - sorgte dafür, dass die Geschäfte sich im bürgerlichen Rahmen abwickelten. Den Erdbeershake fand Sascha viel zu süß.
      Der Weg in die Stadtmitte führte sie täglich an der Zentrale der Christian Science vorbei. Das war ein Sammelsurium unterschiedlicher Bauten und Stile, Mutterkirche und Großdruckerei, Sonntagsschule und Verwaltungshochhaus. Und zwischen den Gebäuden ein zweihundert Meter langes, rechteckiges Wasserbecken. Der Wasserspiegel schloss auf den Millimeter mit der niedrigen Umfassungsmauer ab, und wenn wieder einmal Mary Baker-Eddys Geist über den Wassern schwebte, floss ein Bruchteil in die umliegende Rinne ab. Dieser Vorgang entzückte Martin stets aufs Neue. Wasser, Luft und Wind bildeten ein empfindliches Gleichgewicht. Jede Störung oder Reizung musste ein Überfließen herbeiführen. Nie war vorherzusehen, wo das Wasser den letzten, so geringen Widerstand überwinden würde. Es sah so aus, als zögere es, den entscheidenden Schritt zu tun und überzufließen. Wenn aber nur ein kleiner Abschnitt des Damm, der keiner war, überflutet wurde, so floss das Wasser bald auf breiter Front ab. Der Wasserspiegel sank dank unsichtbarer Quellen niemals merklich unter das Niveau des Mäuerchens. An dieser heiligen Stätte war Überfluss nicht mit Mangel verbunden. Jemand erklärte ihnen, dass das Becken der Klimatisierung des Bürohochhauses diene. Sie begriffen nicht ganz, wie das funktionierte.
      Sie nahmen den Zug nach New York und rollten fünf Stunden lang durch Neuengland. Sie kannten die Landschaft aus Filmen und von Fotografien. Aber sie erkannten sie nicht ohne weiteres wieder. Die Natur schien sich im Herbst, dem bekannten lang hingezogenen, trockenen Herbst mit seinen prächtigen Farben, verausgabt zu haben. Jetzt war nur zaghaftes Grün zu sehen, ab und zu eine kleine Stadt, steinige Meeresufer. Mitten auf der Strecke näherte sich der Zug einer etwas größeren kleinen Stadt mit kleinen Wolkenkratzern in der Mitte, einer richtigen kleinen Downtown. Wie war der Name der Stadt? - "Providence", murmelte der Schaffner ungefragt, "Providence", murmelte er, indem er durch den Wagen schlenderte. Er sprach so undeutlich, dass sie es mehr errieten als verstanden. Der Schaffner sah die beiden Europäer bedeutsam an. Ob sie sich die Weiterfahrt nicht noch einmal überlegen wollten, schien er anzuregen. Aber nein, sie wollten nicht in Providence aussteigen.
      "Rye, New York - Rye, New York!" Jetzt rief er es laut und triumphierend mit prächtig daherrollendem Akzent. Und er sah keinen dabei an, niemand war persönlich gemeint. Es war wie ein Appell an alle: Macht euch bereit, letzter Bahnhof vor Manhattan!
      Nach Rye gewann der Zug an Fahrt. Sie hätten wohl schon die Stadtgrenze erreicht, vermutete Martin. Es war die Bronx. Die Trasse verlief in tiefem Einschnitt zwischen steilen Böschungen. Halbwüchsige waren über den hohen Zaun geklettert und erwarteten sie auf halber Höhe über den Geleisen. Plötzlich flogen Steine. Manfred sah schwere Brocken heranfliegen und wich instinktiv aus. Ein Aufprall wie von Steinschlag im Gebirge - das dicke Waggonfenster hatte es abgehalten. "Nachts kannst du hier nur mit heruntergelassener Jalousie durchfahren, sonst wirst du erschossen", sagte Sascha. Woher er das wissen wolle, entgegnete Martin gereizt.

Die Tage in New York waren Regentage, dunkle, windige Regentage. Sie konnten doch nicht die ganze Zeit bei Bloomingdale's verbringen. Sie hatten keinen Sinn für diese Art von Luxus, der vor allem in luxuriöser Präsentation von Waren bestand. Draußen die Lexington Avenue lud keineswegs zum Flanieren ein. Die Überreste von Regenschirmen, von Regenböen zerknickt und zerfetzt und von den Besitzern weggeworfen, verstopften die Öffnungen der Gullys. Abflusslose Seen aus Regenwasser und Motorenöl machten sich am Straßenrand breit. Das Mauseloch neben ihnen war ein Eingang zur U-Bahn. Es war die Linie nach Queens. Die Bahn erreichte nach kurzer Zeit die Oberfläche, um als Hochbahn weiterzufahren. Sie freuten sich einen Moment lang. Sie würden den Blick über den East River genießen, von der Höhe der Brücke auf Long Island und Manhattan und die anderen Brücken sehen können. Aber starke Regengüsse pladderten aufs Dach, Sturzbäche liefen an den Seiten herunter. Die Fenster bedeckte ein dichter Tropfenvorhang. Dazu drang Feuchtigkeit ins Innere des Wagens, eine dampfige Atmosphäre machte sich breit, die Scheiben beschlugen von innen. Sie fuhren wie zwischen Milchglaswänden dahin. Die Stadt war schon wieder unsichtbar geworden. Natürlich war es, bei diesem Wetter, in Queens nicht weniger scheußlich als in Manhattan. Sie fuhren bald zurück.
      Ein anderes Mal fuhren sie in einem langen Tunnel unter Brooklyn dahin, Richtung Atlantik. Sie schwiegen während der Fahrt. Martin studierte die Reklametafeln. Für Kakerlakenfallen wurde geworben. Daneben sorgte sich ein Verleger um den Absatz seiner Ware. Jeder, aber auch wirklich jeder - everyone, absolutely everyone - müsse das neue Buch lesen, also kaufen. Diese Werbung kam einmal ohne Schmus aus. Mannhaft verkündete es der Verleger: Ich produziere und ihr alle müsst kaufen und an dieser Tatsache lasse ich nicht den geringsten Zweifel zu. Inzwischen war der Zug ans Tageslicht gekommen. Auf der ersten Station nach der Rampe hielt er ungewöhnlich lange. Fahrgäste wurden ungeduldig, stiegen aus, um nachzusehen, kamen nicht zurück. Martin und Sascha blickten durch die offen stehende Tür und konnten nichts Besonderes entdecken. Draußen auf dem Bahnsteig sahen sie es dann: Aus dem letzten Wagen drangen dichte Qualmwolken. Im gleichen Augenblick lief auf dem anderen Gleis ein Zug ein. Sie sahen sich bloß an und stiegen sofort um und fuhren zurück nach Manhattan.
      Die Wolkenkratzer von Midtown und Downtown ließen sich nur ausnahmsweise bestaunen. Ihren Namen allzu wörtlich nehmend, ließen sie es zu, dass ständig Wolken sie tief herunter verhüllten. Man hätte irgendwo nachlesen oder jemand fragen können, ob ein Gebäude dreißig, siebzig oder hundert Stockwerke hatte. Aber es nur zu wissen, hätte sie auch nicht gefreut. Nur in den Nächten gab es längere Abschnitte ohne Regen, ohne Sturm. Sie gingen dann gewöhnlich getrennte Wege. Martin erinnerte sich später, wie er in einer Nacht in Chelsea von einem Passanten angesprochen wurde: ob er Feuer habe. Und dabei rauchte der neugierige Frager gerade eine Zigarette. Martin stand unter einer Laterne und ließ sich ruhig betrachten. Dann gingen sie ohne weiteres auseinander.
      Auch zum Botanischen Garten ging Martin allein. Es war der letzte Tag vor der Weiterreise. Das Wetter war endlich umgeschlagen, es war schwül-warm. U-Bahn-Fahren war hier wie Aufsteigen in einem Fahrstuhl. Rasend wie sonst die Stockwerke neben einem glitten die Blocks unsichtbar über einem dahin: Zwoundsiebzigste, Sechsundneunzigste, Hundertzehnte ... Einzeln patroullierende Polizisten in den Zügen. Sie sahen besser aus als in Boston, von Hamburg nicht zu reden. Es waren gesunde, Knüppel schwingende Mannsbilder. Sie warfen den Knüppel ein kleines Stück in die Luft und fingen ihn spielerisch auf. Sie ließen sich gern begaffen - aber mehr auch nicht. Sie hatten den Schwanz auf dem rechten Fleck.
      Draußen zogen die zerstörten Viertel der Süd-Bronx vorbei. Man hätte sich Besseres vorstellen können nach der Rückkehr zur Oberwelt. Wann war jener Film über die Ruinen der Bronx im Fernsehen gelaufen, fragte sich Manfred. Dann musste er aussteigen. Der Park war nicht weit von der Station, die Gegend zum Glück nicht ganz so heruntergekommen wie weiter im Süden. Schade, dass er nicht noch einmal in den Garten kommen konnte, er hätte ihn gern Sascha gezeigt. Der Garten gefiel auch vielen New Yorkern, von denen manche sogar zum Picknick hierher gekommen waren, und dabei war es ein Werktag. Martin musste an Willi denken, der hier einmal Samen von Akazien gesammelt hatte. Er hatte ihn dann drüben keimen lassen. Nun wuchsen schon kleine Akazien aus der Bronx in Oberösterreich heran. Die alten Bäume, die Samenspender, standen noch als braune Gerippe herum. Über dem Park lag die Lärmglocke der Großstadt, ein fein zermahlener Geräuschbrei ohne herausragende Einzeltöne. Er verließ den Garten und ging zehn, fünfzehn Blocks nach Westen. Hier war alles solide und geschäftig. Es kam ihm wie Eimsbüttel vor, wie ein in die Breite gegangenes und in die Höhe geschossenes Eimsbüttel mit mehr Lärm, mehr Dreck und mehr Leben.
      Der Zug nach Philadelphia verließ Manhattan ebenfalls in einem langen Tunnel. Sie stiegen unterirdisch in der Penn Station ein, und als sie drüben in New Jersey herauskamen und zurückschauten, war alles verschwunden bis auf die oberen Hälften des World Trade Center, zwei Riesenfeuerzeuge in einem diesigen, brandigen Himmel, sonst nichts.
      "New York, New York ... Mal sehen, was uns in der Stadt der brüderlichen Liebe erwartet."

Nichts gegen Joe. Sascha kannte ihn von Europa her. Sie logierten zwei Nächte bei ihm in der Pine Street, in einem alten Mietshaus mit viel Holz. Auf den Dielen des Gästezimmers krochen Massen kleiner Insekten herum, die Martin nicht kannte. "Sie sind sogar im Kulturbeutel. Sind es Termiten?" - Sascha lachte: "Bestimmt nicht. Termiten bekommst du gewöhnlich nicht zu sehen, sie hausen in den Wänden. Das hier ist irgendein gewöhnliches Kroppzeug. Kommt vom alten Holz und der feuchtwarmen Luft." - "Sie haben sich sogar über die Schokolade hergemacht. Ekelhaft."
      Es war am Tag nach der Ankunft in Philadelphia, schon spät am Morgen. Joe hatte sie am Abend davor noch durch eine Reihe von Bars schleifen müssen. Sie sollten ihn mittags in der Bank treffen. Manfred dachte an den Barmann in einem der Läden. Mit einer Art Kohlenschaufel war er zu einem Wandschrank gegangen und mit der Schaufel voller Eisstücke zur Bar zurückgekommen. Er verteilte den klirrenden Bruch im Eisschrank und lagerte ein bis zwei Dutzend Bierdosen darauf. Lowenbrau stand auf den Dosen oder Tuborg oder Budweiser. Sie sprachen es amerikanisch aus und es schmeckte auch amerikanisch. Coke und Seven up schoss der Barkeeper aus langen Schläuchen mit Spritzpistolen in die Gläser, die er zuvor zur Hälfte mit dem Eisbruch gefüllt hatte.
      Da es schon so spät war, kamen sie auf dem Weg zur Bank bloß zu einem Schlenker durch das Geschäftszentrum. Die City Hall sah aus wie das Rathaus in Brobdingnag. Joe erwartete sie bereits am Portal der Savings Bank. Er schien gut gelaunt und besser ausgeschlafen zu sein als sie selbst. Zuerst schlenderte er mit ihnen durch die Abteilung, in der er arbeitete. Datenverarbeitungsanlagen schnurrten hier oder ratterten. Eine Menge von Aluminiumbüchsen mit Bändern lag herum. Es sah unordentlich aus, ohne malerisch zu wirken. Er stellte sie den meisten Kollegen in der Abteilung vor und sagte, er werde jetzt mit seinen Gästen aus Europa essen gehen. Zu Gesprächen kam es nicht. In der Kantine drehte sich alles um Salate. Sie seien wichtig für die Reinheit der inneren und äußeren Organe, sagte Joe, für die Reinheit der Haut zum Beispiel. "Wenn es vier Uhr ist und ich noch eine Stunde zu arbeiten habe, denke ich schon: Habe ich zu Hause auch alles für meinen Salat?" Martin verspeiste zum Nachtisch ein gelbes Stück Kuchen, schwer und süß, das ein wenig nach Erdnüssen schmeckte.
      Joe zeigte ihnen, wo sie das benutzte Geschirr zurückgeben konnten. Er stellte ihnen auch die Küchenhilfe vor, die die Tabletts leer räumte. Es war eine Deutsche, sie war gleich nach dem Krieg herübergekommen. Für ein paar Augenblicke wurde die verbraucht wirkende Frau lebhaft; es hielt nicht lange an. Sie beklagte sich, dass die Straßen gefährlich seien und man auch zu Hause nicht in Sicherheit lebe. Immer breiter mache sich das Verbrechen. Sie sprach Deutsch mit einem pfälzisch-amerikanischen Akzent, der Martin zugleich bekannt und fremd in den Ohren klang. Wenn sie unsicher sagte, so begann sie mit dem gedehnten U wie seine Tanten in der Pfalz. Auch das sonderbare Ch, ein laut irgendwo zwischen ich und Gischt , kannte er. Aber beim Auslaut ließ sie den Kiefer nicht herunterklappen, wie er vermutet hätte. Ihrem Mund war die rheinfränkische R-Faulheit längst ausgetrieben. Gehorsam wölbte sich der Kiefer zu einem Laut wie am Ende des englischen Wortes war.
      Mein Gott, wie lange die Mittagspause eines Angestellten in Philadelphia sein konnte. Und wie langweilig die kurze Geschichte der Stadt. Joe schleifte sie annähernd zwei Stunden durch das historische Philadelphia. Hier war die erste Flagge der Union genäht worden und dort der erste Pisspott geschmiedet. Als sie wieder allein waren, kopierte Sascha ihren Gastgeber: "Und in diesem Haus hat General Soundso sich 1781 nach seinem Marsch von achtundachtzig Tagen zum ersten Mal wieder rasiert. Brrr ..." Sie schüttelten sich und lachten. Joe war eifrig gewesen, ganz bei der Sache, die beiden Europäer hatten bald kaum noch hingehört.
      Immer wieder fielen ihnen städtische Autobusse mit derselben Botschaft auf den Seitenflächen auf: RIZZO FIGHTS FOR YOU. Sie unterbrachen ihren Führer schließlich in seinem gelehrten Vortrag und Joe erklärte ihnen, dass Rizzo der Bürgermeister sei und demnächst wiedergewählt werden wolle; im Übrigen sei er ein korruptes Schwein. Er wurde zornig, fasste sich aber schnell wieder. Sie beschlossen ihren Rundgang dann auf Society Hill. Scheinbar sehr fern, diese Stahl-und-Glas-Apartmenthäuser, aufs weiche, grüne Kissen gesetzt. Hier seien vor kurzem noch üble Slums gewesen - hatte Rizzo sie abreißen lassen? Eine Menge Geld müsse haben, wer hier wohnen wolle, eine unanständig große Menge Geld. Und in Philadelphia heiße es, dass einige der Bewohner mit dem Fernglas voyeuristische Gelüste befriedigten ...
      Auch Philadelphia hatte eine Subway. "Yes, it has a small one." Es waren bloß zwei oder drei Linien. Er verbot ihnen geradezu, sie zu benutzen. "Nehmt lieber den Autobus." Es war ein Verbot wie im Märchen, und sie mussten natürlich dagegen verstoßen. Unten auf der Station begriffen sie schnell, was Joe ihnen hatte ersparen wollen. Von der Decke tropfte es, an den Wänden rieselte es, der Bahnhof war schmutzig und schlecht beleuchtet. Das ganze Bauwerk verfiel offenbar seit längerem. Im Unterschied zu New York, wo alle Klassen die U-Bahn benutzten, waren hier fast nur arme Leute zu sehen. Sie fuhren zwei Stationen mit und gingen zu Fuß zurück.
      Joe kam am nächsten Vormittag zum Zug, als sie abreisten. Es war nicht mehr viel Zeit. Sie luden ihn nach Hamburg ein. Vielleicht werde er irgendwann kommen, sagte er, er habe nur zwei Wochen Urlaub im Jahr, und es sei schwierig, damit auszukommen. Sie trennten sich in der Halle. Er verschwand im Untergrund, denn auf dem Rückweg zur Bank nahm er die Subway, die er ihnen nicht hatte zumuten wollen.

Es sah aus, als zwinkere der Obelisk Tag und Nacht. Unaufhörlich wechselte das rote Signal von einer Höhlung zur anderen, ein Augenpaar hoch über der flachen Stadt. Mehrfach wand sich die Schlange der Besucher um den breiten Sockel des Obelisken. Eine Stunde Anstehen oder mehr, das war den beiden zu viel. Sie verzichteten auf Auffahrt und Überblick. Massen von Touristen aus der Provinz überall, auch am Weißen Haus, wo sie stundenlang am Parkgitter der Südseite Spalier standen, um in die Schauräume eingelassen zu werden. Sascha und Martin wollten nicht hinein, sie versprachen sich nichts vom Präsidenten.
      Die Stadt hielt Abstand vom Palast. Gegenüber seiner Nordfassade war ein Block ausgespart und nannte sich Lafayette Park. In diesen Hohlraum sickerte ein, was die Stadt als unbrauchbar ausgeschieden hatte. Es stimmte, was die Zeitungen in Europa damals schrieben: Der Präsident und der Penner, sie nächtigten in Rufweite. Aber sie scherten sich wenig umeinander. Wenigstens von dem Alten, der in der Dämmerung die vorderste Bank bezog, konnte Martin sagen, dass er dem Präsidenten den Rücken kehrte. Vielleicht hielten es diese Obdachlosen in den Ghettos nicht aus, die den größten Teil des District of Columbia ausfüllten. Am ersten Abend wagte Martin noch den Scherz, die Atmosphäre sei so düster und zugleich so schmierig, als würde hier gerade die Dreigroschenoper neu verfilmt. Aber er verspürte zum ersten Mal drüben Angst und wollte nachts draußen nicht mehr herumlaufen. Auch die Tage verbrachten sie dann nur noch in den weißen Enklaven der Stadt oder ihren Vororten.
      Mittags aßen sie manchmal in einer Cafeteria nicht weit vom Hotel. Der Laden war bei den Angestellten der Umgebung beliebt; die Schlange reichte vom Tresen bis hinaus auf den Gehweg. Man stand nie lange an, man stand überhaupt nicht an, alles war in fließender Bewegung. Personal und Gäste waren gut aufeinander eingespielt. Die Kunden rückten einer dicht hinter dem anderen vor und glitten mühelos durch die Drehtür. Hier störten Sascha und Martin bereits das rhythmische Gleiten. Sie benötigten für dieses kleine Manöver immer mehr Zeit und Raum als die anderen. Drinnen am langen Tresen, der um zwei Ecken ging, war die Auswahl beträchtlich. Aber was bedeutete das? Jeder vor und hinter ihnen hatte sein Lunchprogramm genau im Kopf. Wie zweibeinige Disketten spulten sie es rasch ab, grapschten im Weitergehen nach Tellern und Gläsern, bestellten und empfingen beinahe im Laufschritt - und jeder genau Seines. Es war wirklich ein Schnellrestaurant. Der Büfffetier kam in seinem aktiven Wortschatz mit nur einem Einsilber aus: "Next ... next ... next!" Ohne einmal zur Besinnung gekommen zu sein, fanden die beiden sich in einer Nische ganz hinten wieder und wunderten sich, wofür sie diesmal an der Kasse bezahlt hatten.
      Ähnlich funktionierte die U-Bahn, die erst einige Jahre alt war. Alles war elektronisch, sauber, schnell. Keiner verkaufte Fahrkarten in der Wanne wie in Philadelphia, eine lächerliche Vorstellung. Kein Drehkreuz konnte man mit 25-Öre-Münzen betrügen wie in New York - davon hatten sie gehört. Mit codierten Streifen, aus einem Automaten bezogen, öffnete jeder für sich die Schleuse beim Eingang und beim Ausgang. Ein ferner Rechner verglich in Sekundenbruchteilen Fahrpreis mit Guthaben und saldierte. Unaufhörlich klappten die Schranken: auf und zu, auf und zu. In der Rush hour war es reines High-Tech-Ballett - und natürlich tanzten sie auch hier aus der Reihe. Bei ihnen klappte es eben nur manchmal. Immer wieder öffnete sich die Schranke nicht, da ihr Saldo negativ war und sie nachzahlen mussten, oder der codierte Schnipsel blieb einfach liegen. Dann kam es zu Stockungen.
      Silver Spring war ein hübscher Name. Sie fuhren hin und sahen, dass es sich da leben ließ. Sie gingen einen Waldhang hinunter, an den Wegkreuzungen blühende Sträucher. Unten im Tal standen lauter einzelne Holzhäuser, jedes vereinzelt im Wald. Die Grundstücke waren nicht groß, die Häuser standen nah beisammen. Aber die Baumgruppen zwischen ihnen bewirkten die Illusion, dass jedes allein in einsamer Landschaft stände. Auf kleinen ausgesparten Flächen blühten die Rhododendren. Ihre Pastelltöne - lachsfarben, mauve, kirschrosa - hoben sich vom dunklen Grün der Nadelbäume wie vom dunklen Braun der Hausfassaden überdeutlich ab. Einige Häuser waren bunt angestrichen, dunkelrot oder dunkelblau. Sie dachten an Japan.
      Sie besuchten auch den Rock Creek Park. Während sie jetzt durch die Vorstädte Chicagos geschaukelt wurden, wusste Martin, dass er sich dort am wohlsten gefühlt hatte. Sie waren nur zwei Stunden da gewesen, aber es hatte genügt, ihn die Stadt und das ganze Land für eine Weile vergessen zu lassen. Da waren nur noch der Wald, das Tal mit dem Bach und der steile Hang. Die hohen alten Bäume hielten den Abhang fest, waren mit ihren Wurzeln in ihn eingekrallt. In seiner Erinnerung überlagerte sich der Park am Rand von Washington D.C. schon mit einem Tälchen, das er im Jahr davor entdeckt hatte. Der kleine Weg führte vom Schloss Rosenau nach Niederneustift. Es war keine richtige Schlucht, aber der Wald war so dicht, dass man sich während des Spaziergangs dort der Welt entrückt fühlte. Kein Geräusch von außerhalb, nicht einmal der Wind ließ sich hören. Auf lichteren Plätzen wuchsen Schierlinge, ungewöhnlich große Exemplare mit riesigen weißen Dolden. Auch die Huflattiche waren ihm dort größer als woanders vorgekommen. Ich will mir nach der Reise Huflattichtee besorgen, dachte Martin, ich muss etwas für meine Bronchien tun.

"Wir sind da. Arlington Park." Sascha sah als Erster das Stationsschild.
      Einige Fahrgäste stiegen mit ihnen aus und schlugen vom Bahnhof den Weg nach rechts ein, wo die gewöhnlichen Vorstadtstraßen begannen. Sascha und Martin sahen sich erst einmal um und entdeckten auf der anderen Seite das halbrunde, hohe Bauwerk, das dem Bahnhof den Rücken kehrte. Sie erkannten nicht sofort, worum es sich handelte.
      "Es könnte ein Einkaufszentrum sein", sagte Martin, "lass uns hinübergehen."
      Das komplexe Gebäude schien noch zu wachsen, als sie näher kamen. Es wirkte ziemlich abweisend mit seiner bunkerähnlichen Rückseite und ihren geschlossenen Stahltüren. So sah kein Einkaufszentrum aus. Sie gingen um die Seite herum, da wo das Halbrund aufhörte. Nun konnten sie das weite unbebaute Gelände jenseits des konkav geschwungenen Riegels überblicken, und die Art der ganzen Anlage machten ihnen sofort klar, dass Arlington Park - die Rennbahn von Chicago war. Es fanden jetzt keine Rennen statt, die Tribüne war fast leer. Einzelne Männer, die Pferde trainierten, und einige Zuschauer verloren sich in der weitläufigen Anlage.
      "So geht's, wenn man ins Blaue fährt." - "Wir sind die richtigen Weltenbummler." Sie lachten beide.
      "Und dabei bin ich zu Hause noch nie auf der Trabrennbahn gewesen. Würde mir nicht einfallen, deshalb nach Bahrenfeld zu fahren."
      Sie interessierten sich nicht für Pferderennen. Dann versuchten sie, jenseits der Bahn spazieren zu gehen. Aber die Straßen waren ohne Gehwege angelegt, und außer ihnen ging hier keiner zu Fuß. es machte keinen Spaß. Die restliche Zeit bis zur Rückfahrt verbrachten sie in einem Hamburgerladen im Bahnhof.

Man hätte denken können, es wären lauter Fähnchen, Millionen von Fähnchen. Beflaggt und bewimpelt schien der ganze Park. Alles gelb, rosa und weiß, eine Explosion von Blüten: Rhododendren, Hartriegel, Zierkirschen. Der Frühling kam spät an den See, der groß war wie ein Meer, und wenn er kam, hatte er etwas Gewalttätiges.
      Der Himmel war bedeckt. Vom See strich ein leichter Wind über den Park. Leichthin berührte er Bäume und Sträucher; sie schwankten nicht, nur die Blütenblätter kräuselten sich. Widerstand fand der Wind vom See erst an der Front der Michigan Avenue, die ihn kanalisierte und mit Druck in die westöstlich verlaufenden Straßen des Loop hineinströmen ließ. Die beiden Touristen waren zu Fuß vom Hotel zum Seeufer gegangen. Sie wohnten nördlich vom Fluss, waren von Norden über eine Brücke gekommen und hatten dabei einen Blick auf den verschnörkelten Kaugummipalast geworfen. An den Kreuzungen war es zugig und böig gewesen. Als lind und belebend empfanden sie nun den Wind in seiner natürlichen Stärke. Sie würden in Kürze das bekannte Bild von Seurat sehen - im Original!
      Hinein - und drinnen im Art Institute fühlten sie sich wie im Louvre oder im Reichsmuseum in Amsterdam. Die Masse der Besucher und die Masse der Objekte verschmolzen zu einem erregenden und erregten Ganzen, einem mitreißenden Prozess, der keinen Stillstand duldete und jede Konzentration aufs Einzelne ausschloss. Man fühlte sich angesogen und weitergespült und wartete innerlich schon aufs Ausgespucktwerden. In solcher Lage suchen Gehirn und Gemüt nach einem Ruhepunkt und finden ihn regelmäßig in einer Zwangsvorstellung. Der ganze quälende, ungenießbare Museumsbetrieb reduziert sich nun auf ein Kunstwerk, auf ein Bild, in dem man die Essenz des Ganzen vermutet Die Mona Lisa und die Nachtwache, sie sollen die Mühe lohnen, die sechs-
unddreißig überfüllten Säle davor, voller Nervosität und zahlloser Angriffe auf unser Sehvermögen, das so rasch ermüdet. Die Verwaltung des Museums trägt ihm Rechnung, diesem Bedürfnis, ans Ziel zu gelangen, sich nicht ablenken zu lassen und nicht auf Umwege zu geraten. Daher überall die deutlichen Hinweise, die spitz zulaufenden Blechschilder oder Kunststofftäfelchen: To the Nightwatch - to the Nightwatch. Abgeschossen wie ein Pfeil gelangt so jeder rasch und unfehlbar ans Ziel, jeder aus den Heerscharen von Japanern, Amerikanern und Deutschen. Dort verspüren sie Genugtuung. Sie haben es geschafft, es beinahe hinter sich gebracht. Das Gefühl, auf einem Höhepunkt der eigenen Biographie angelangt zu sein, durchdringt sie und ist ganz unabhängig von dem Bild, dem sie da in einer Riesentraube von Menschen gegenüberstehen. Der Abstand zum Bild erlaubt keine Betrachtung der Details. So überlassen sie sich ihrem Gesamteindruck, einer Mischung aus Ehrfurcht und Erleichterung. Das ist Kunst! Und sie eilen zum Ausgang der Touristenmühle.
      Manfred indessen gab zu, er sei enttäuscht. Das Bild sei eben nur sehr groß. Im Übrigen wirke das Original nicht anders auf ihn als die viel kleinere Reproduktion in seinem Schlafzimmer zu Hause.


12. Auf und ab

650 m über dem Meeresspiegel

Demnach beginnt dieses Prosastück in einer zivilen Höhenlage - in zivilisierten Breiten ohnehin - und führt erst allmählich zu Schwindel erregenden Höhen, um am Ende wieder das gemäßigte Niveau des Anfangs zu erreichen.
      Augustin kannte das Tal schon. Im Jahr davor hatte er eine Tour am Hang gegenüber unternommen. Der Zug passierte die Stelle, an der die Talaue sich weitete; da war eine Schafweide, er erkannte den Fleck wieder. Wie damals flüchtete die Herde in panischem Schrecken vor der Schmalspurbahn, die beachtliches Tempo vorlegte. Die Schafe rannten bis ans äußerste entgegengesetzte Ende der Weide, ungeachtet der Tatsache, dass sie einen ganzen Sommer lang Tag für Tag zweimal stündlich den Zug heranbrausen sahen und hörten, den Zug, der niemals von seiner exakten, wenn auch kurvenreichen Bahn abwich. Es war bei ihnen jedes Mal ein Sieg des Instinkts über die Erfahrung.
      In Sant'Agata, nahe dem oberen Talende, verließ er den Zug und begann sofort den Anstieg.

1500 m über dem Meeresspiegel

Die Sonne kam noch nicht durch. Er stapfte durch nebelnässende Bänke und spürte beklommen die Bronchien. In seiner Brust war dieselbe feucht-kalte Luft wie zwischen den Bäumen des Waldes. Die Lärchen hatten sich schon verfärbt, die Nadeln zeigten ein illusionistisches Gelb, einen fahlen, wenn auch intensiven Farbton wie der Widerschein der untergegangenen Sonne in den Fensterscheiben städtischer Miethäuser. Je näher Sonnen an ihr Ende kommen, umso heller erstrahlen sie - je knapper der Heliumvorrat wird, umso bedenkenloser verschleudert ihn das himmlische Gestirn. Das hatte er einmal in der Zeitung gelesen. Überhaupt, dieses herbstliche Farbenspiel ... Man konnte es erklären: Chlorophyll und so weiter. Aber diese kausalen Zusammenhänge befriedigten ihn nicht - er vermisste den Zweck. Alles Übrige verfolgt Absichten. Frühjahrsblumen leuchten, um Insekten oder Vögel anzulocken und sich bestäuben zu lassen. Tiere wechseln das Fell, um gerade nicht aufzufallen und nicht von anderen Tieren gefressen zu werden. Und nun dieser sinnlose Farbenzauber, wo es doch gar nicht mehr darauf ankam. Sollte er etwa über Verfall und nahendes Ende hinwegtäuschen?
      Augustin fragte sich wieder einmal, warum er eigentlich Bergtouren unternehme. Er fand so wenig Vergnügen an ihnen! Naturschwärmerei war seine Sache nicht, jede Erscheinung führte ihn bald zu entlegenen Assoziationen und seine Empfindungen glichen niemals denen, von denen in den Büchern die Rede ist. Vielleicht war es so, dass er ein Übel mit dem anderen kurierte. Er war Neurastheniker und daher oft menschenmüde - das trieb ihn immer wieder hinaus. Aber schon nach einigen Tagen war er ebenso naturmüde und wieder neugierig auf Menschen. Er ging dann sozusagen nur noch mechanisch durch die schönsten Landschaften, nur physisch anwesend, und sein Körper kräftigte sich mit jedem Tag, doch seelisch war er unbeteiligt. Vielleicht war auch Masochismus im Spiel.

2000 m über dem Meeresspiegel

Er trat aus dem Wald. Die Sonne setzte sich jetzt endlich durch. Die letzten Nebelfetzen verwehten ins Nirgendwohin. Eine herrliche Landschaft war das hier und vor allem: leer. Niemand war ihm bisher begegnet. Er ging noch immer bergauf, weit schweifte sein Blick über kahle, steinige Hänge. Unten war das Tal als unbedeutender Schlitz zu erkennen. Die Kette der jenseitigen Berge war überaus schroff. Er konnte sich kaum noch vorstellen, dort einmal herumgegangen zu sein.
      Während er weiter rasch aufstieg und dazwischen manchmal stehen blieb, um in die Ferne zu schauen, erklang deutlich ein kleines musikalisches Thema in ihm. Die herbe felsige Landschaft brachte ein Stück Erinnerung in ihm zum Tönen. Es waren bloß drei Töne, ein Sichaufschwingen aus Bedrückung und Erniedrigung, eine Art kurzer schriller Triumph, Reflex plötzlicher Freiheit. Dunkle Männerstimmen sangen, es war slawisch - da hatte er es: Es war das Motiv des Adlers, der verletzt ist und gefangen gehalten wird und am Ende freikommt. Sie sangen auf Tschechisch: Adler, Zar der Wälder ... Er allerdings hatte den Wald schon unter sich und es war ihm, diese Bergtour, ja die gesamte Reise läge bereits hinter ihm. Er freute sich schon auf den Winter und die künftige Erinnerung an den heutigen Tag. An einem Wintertag wird er sich erinnern und dann eine eisige und leidenschaftliche Musik hören, zum Beispiel Janáceks letzte Oper.
      Augustin hatte sich am Fernblick schon satt gesehen. Die Nähe war viel interessanter. Er hob den Blick kaum noch. Die Steine zu betrachten, war auch reizvoll. Von Geologie verstand er allerdings so gut wie nichts. Vor allem liebte er die Steine, die einen Überzug von Glimmer hatten - seine Schwäche für alles Gleißende und Blendende. Dabei kam ihm jetzt wieder einmal ein Wort von Polgar in den Sinn: Dreck bleibt Dreck, auch wenn er phosphoresziert. In Gesellschaft zitierte Augustin den Satz gern, um fortzufahren: ... aber er phosphoresziert eben doch! Der Oberflächenreiz war ihm schon lange zur Hauptsache geworden.
      Der Weg senkte sich zweihundert Meter, um einen Tobel zu überwinden. Unten, wo das Schmelzwasser zwischen Schlamm und Geröll dahinschoss, wuchs bereits wieder verkrüppeltes Nadelgehölz. Hier entdeckte er auch einen Fliegenpilz, ein seltenes Exemplar in dieser Höhe. Rot und weiß leuchtete es ihm aus all dem fahlen Graubraun und Graugrün entgegen. Unter allen Pilzen ist ohne Zweifel dieser Giftpilz der schönste, sein Farbenspiel stimmt einen froh, stimmt optimistisch - nur essen darf man ihn nicht. Übrigens gewinnen alle Farben im Kontrast zu Weiß oder Schwarz. Mit Weiß zusammen erzeugen sie eine fröhliche Schönheit, mit Schwarz eine düstere.
      Der folgende Anstieg führte steil durch eine Blockhalde. Auf einem der letzten großen Steinblöcke ließ er sich zum Picknick nieder. Wie sich der Stein in der Sonne bereits erwärmt hatte! In der frischen klaren Luft eines späten Herbstvormittages saß er wie auf einer Ofenbank. Er aß halb im Liegen, den linken Arm aufgestützt, wie es im Altertum Sitte gewesen war. Nach und nach gab sein Rucksack Folgendes her: dünne Scheiben von feinstem Schinken, Knusperbrot, wie er es zu Hause nicht bekam, rahmigen, würzigen Käse aus einem Hochtal, weiße Schokolade und einen grünen, säuerlichen Apfel, Saft von Blutorangen. Er überlegte wieder einmal, ob es Gommer Käse hieß oder Gomser, wie er auch schon gehört hatte, und befand sich jetzt auf einer Höhe von

2200 m über dem Meeresspiegel

als man ihn hinterrücks grüßte. Man wünschte einen Guten; vermutlich war sein Imbiss gemeint.
      Von nun an war er nicht mehr allein. Im Gegenteil, immer wieder war er auf schmalem Weg und abschüssigem Terrain gezwungen, Paaren oder Gruppen auszuweichen, die ihm in dichter Folge und meist im Gänsemarsch entgegenkamen. Offenbar verhielt es sich so: Man fuhr in aller Regel von Fomaru mit der Seilbahn hinauf, um am Schluss nach Sant'Agata abzusteigen. Das war viel bequemer als umgekehrt. Nach zwei Stunden vollkommener Einsamkeit standen ihm jetzt zwei weitere auf überlaufenen Pfaden bevor.
      Wenn er zur Seite trat und die Entgegenkommenden passieren ließ, musterte er sie jeweils kurz und intensiv. Da gab es beleibte Ehemänner in mittleren Jahren, deren Leibchen - rot oder weiß - den Bäuchen sehr knapp aufsaßen; dazu Lippen, die vom Gebrauch eines speziellen Stifts gebleicht waren. Diese Männer wirkten auf Augustin wie Transvestiten beim Abschminken in der Garderobe eines Varietés. Eine andere nicht seltene Spezies waren Nonnen, die sich paarweise in der herrlichen Gottesnatur ergingen. Ein traditionalistischer Bischof war seit längerem dabei, das Hochgebirge ringsum zu einer Festung der Rechtgläubigkeit auszubauen, und von allen Kontinenten strömte der priesterliche und klösterliche Nachwuchs ihm zu. Es gab ja ein wahrhaft gigantisches, nie zu befriedigendes Bedürfnis nach Rechtgläubigkeit. Augustin sah selbst afrikanische und asiatische Nonnen scherzend daherkommen. Eine Schweizer Klosterfrau frappierte ihn durch den Anblick eines leuchtend rotblauen Rucksacks auf schwarzer Ordenstracht.
      Es war nicht viel anders als zu Zürich auf der Bahnhofstraße, fast ebenso belebt und eine ähnliche Völkermischung. Allerdings grüßte man sich hier immerzu, man kam aus dem Grüßen und Wiedergrüßen nicht mehr heraus. Insbesondere die Einheimischen zeigten dabei im Gebirge gewöhnlich ebenso manische wie höchst rationale oder auch rationelle Züge; letztere äußerten sich darin, dass sie Entgegenkommende gern im Plural auf einen Schlag abfertigten und abgrüßten: Grüezi mitenand! Ein rationalistisches Volk, diese Schweizer. Heute indessen hatten sie keine Gelegenheit, auf solche Weise summarisch zu grüßen, da sie jetzt nur ihm, dem Einzelgänger, begegneten. Er seinerseits pflegte noch immer für jeden Gruß eigens zu danken, wenn auch zunehmend mürrisch. Zu Zürich auf der Bahnhofstraße war es weniger anstrengend. Doch konnte er sich gegen das Ende hin einen Scherz nicht versagen, er selbst rief einem, der allein daherkam, zu: Grüezi mitenand! Worauf der sich erst um- und dann ihn ansah: wie einen Berggeist von der gefährlichen Sorte.

2300 m über dem Meeresspiegel

Da drüben lag Oberwinkelried. Ein langer Abstieg, ein kurzer Wiederanstieg, und er hatte den Weiler, der nur zeitweilig bewohnt war, erreicht. Inzwischen war der Strom der Seilbahntouristen allmählich versickert, am Ende ganz versiegt. Es war fast schon später Nachmittag, um diese Zeit brach keiner mehr auf, um von Fomaru über Oberwinkelried nach Sant'Agata zu gelangen.
      Die Bauern von Oberwinkelried waren von anderem Schlag. Sie nahmen keine Notiz von Augustin, und wenn er als Erster grüßte, dankten sie nicht, sondern stampften weiter den Mist neben den uralten Gehöften aus schwarz verkohltem Holz oder setzten die Schafschur fort. Er verspürte keine Lust, zu Fuß ins Tal abzusteigen, und beschloss, die Seilbahn zu nehmen. Damit fing nun alles an!
      Die Station lag hinter der Häusergruppe und war unbesetzt. Ein Anschlag informierte dahingehend, dass der Betrieb vollautomatisch erfolge, man möge sich telefonisch unten anmelden und dann in die bereitstehende Kabine einsteigen. Es meldete sich indessen niemand am anderen Ende der Leitung. Augustin gab nach drei oder vier Versuchen auf und trat nun doch den Fußweg hinab an. Er musste erneut den Weiler durchqueren. Die Bauern stampften noch immer in den Mistgruben oder schoren die Lämmer.
      Hinter dem Weiler bog er jetzt rechts ab. Es ging gleich steil hinunter, erst über Wiesen, dann durch schütteren Lärchenwald. Hier war er wieder allein. Nur auf einer Lichtung, schon ziemlich weit unten, hütete ein alter Mann eine Kuh. Sie graste im hohen, dürren Futter, er lag etwas abseits und sah seelenruhig in die Luft. Augustins eilige Schritte auf dem schmalen, immer noch steil abwärts führenden Pfad brachten ihn für zwei Augenblicke dazu, den Kopf zur Seite zu drehen und den Blick zu senken. Er grüßte nur kopfnickend und wandte sich dann ab, um weiter in den blasser werdenden Himmel zu schauen, nicht einmal auf die Berge ringsum, nur fortwährend in den Himmel hinein. Über der Szene, so empfand Augustin es, lag mehr als nur Ruhe und Frieden, es war mehr als eine Idyllle, es war Versenkung, Stillstand, ein Stillleben, in das er sich am liebsten auch zurückgezogen und eingeschlossen hätte, für lange Zeit. Aber er hastete weiter, der Nachmittag schritt ja auch immer weiter fort - Zeit, dass er zu Tal kam.

1500 m über dem Meeresspiegel

Endlich in Unterwinkelried! Da war die Mittelstation der Seilbahn, wo man auf dem Weg hinauf die Kabine wechseln musste. Er ging die schmale Betontreppe an der Außenseite des grauen Würfels hinauf und betrat den schlecht beleuchteten Kasten. Ein Pfeil wies ihm den Weg zur Kasse. Hinter der Scheibe saß niemand. Er entdeckte den jungen Angestellten weiter hinten in einer Ecke des Kassenraums. Er kehrte Augustin den Rücken, allein den Klängen aus einem Kopfhörer hingegeben. Man müsste sich ihm bemerkbar machen, nur wie - stierte er doch immerzu auf die fensterlose Wand gegenüber. Dort hing ein Plakat, das für Flugreisen auf die Kanaren warb. Indessen spazierte jetzt eine Fliege über die kanarische Ansicht, setzte zum Rundflug an - und an sie heftete sich der Blick des Angestellten. Diesem glücklichen Umstand verdankte es Augustin, bemerkt zu werden. "Einmal nach unten, bitte." - Der andere sah ihn sprachlos an, vielleicht auch verständnislos? Dann schob er ein Pappkärtchen herüber, das den Aufdruck Fomaru trug. Also war er doch verstanden worden, alles hatte seine Richtigkeit.
      Die Kabine stand bereit, er hatte sie schon von der Kasse aus gesehen. Dann hatte er noch einige Minuten in einer kleinen Gruppe von Deutschschweizern zu warten. Sie unterhielten sich im Dialekt, er verstand sie nicht. Es waren keine Touristen. Augustins Blick war auf die Mauer vor ihm gerichtet, sie versperrte den Blick ins Tal. Wie würde die Kabine dieses Hindernis überwinden? Das war eine technische Frage, an und für sich belanglos. Der Gedankengang brach ab. Womit vertrieb er sich noch die Zeit? An das Buch zu denken, in dem er gerade abends las. Die Tür schloss sich automatisch, und die Seilbahn schwebte sofort - hinauf. Es gab da natürlich nichts zu begreifen, er war falsch eingestiegen, verdammt, und der ganze lange Abstieg vorhin umsonst. Er hatte Mühe, seine Verstörung vor den übrigen Fahrgästen zu verbergen.

2300 m über dem Meerespiegel

Wieder einmal bezeichnend für ihn, dass er oben nicht auf die nächste Abfahrt warten konnte. Es war Trotz: jetzt erst recht. Den Ober- und Unterwinkelriedern wird er es schon zeigen. Und noch etwas war im Spiel: Allmählich verspürte er Widerwillen gegen Berge überhaupt und diesen Teil der Alpen besonders. Eine quälende Zwangsvorstellung kristallisierte sich in ihm: die Furcht, überhaupt nie mehr ins Tal zu kommen.
      So durchquerte er den Weiler zum dritten Mal und nun beinahe im Laufschritt. Er sah keinen Menschen mehr, die Arbeiten um die Gehöfte waren eingestellt worden. Es herrschte bereits die empfindliche Kühle des nahenden Abends. Er lief so rasch hinunter, wie es nur möglich war. Das fehlte noch, dass er hier stürzte und in der Einsamkeit liegen blieb ... Er kam schneller voran, da er den Verlauf des Weges schon kannte und bei Abzweigungen nicht erst überlegen musste. Vieles erkannte er wieder: den Stumpf der Lärche, in die ein Blitz gefahren war, die Fassung eines Baches unter dem Weg hindurch (und er war doch überspült worden), die Kotspuren einer Schafherde, die vor Tagen hier geweidet haben musste. Es kam ihm vor wie ein Film, der zweimal hintereinander abgespult wird: in welchem Fall seine eigene Sinneswahrnehmung der Projektor war. Nur die Lichtverhältnisse hatten sich verschoben, ein wenig ins Verdämmernde hinüber. Mit der Beleuchtung stimmte etwas nicht, ein Defekt, das kam vor.
      Zu der völlig identischen Szenerie gehörte auch der erneute Anblick des alten Hirten. Wieder sah der nur kurz herüber, um sich gleich abzuwenden.Aus seinem Blick ersah Augustin, dass der Hirt ihn durchaus nicht wieder erkannte. Keine Spur hatte er im Bewusstsein des Alten eingeritzt, es würde ihm auch zu wiederholten Malen nicht gelingen. Er lebte hier in seiner eigenen Welt, einer tiefen und idiotischen Glückseligkeit.

1000 m über dem Meeresspiegel

Warum hatte er am Punkt 1500 nicht erneut versucht, die Kabine hinunter zu bekommen? Wieder dieser Trotz - ich schaffe es schon. Dann die Ungeduld, die Unmöglichkeit zu warten. Und da er nicht fünfzehn Minuten hatte warten wollen, würde es ihn noch einmal eine Stunde kosten, mindestens. Die Luftseilbahn rauschte jetzt kaum hörbar über ihn hinweg, in gerader Linie auf Fomaru zu. Er selbst kam nach nicht enden wollenden Serpentinen auch dort an, als es schon finster war.
      Zum Glück fuhr der nächste Zug talauswärts bald darauf. Der Pfiff des Bahnbeamten erinnerte Augustin an Murmeltiere, wie er sie früher schon gesehen und gehört hatte. Richtig, Murmeltiere hatte er auf dieser merkwürdigen Tour heute wieder nicht zu Gesicht bekommen ...

Ende in 500 m über dem Meeresspiegel



13. Drei Friedhöfe

St. Johannis ist ein spätmittelalterlicher Friedhof in Nürnberg. Er lag lange vor der Stadt, heute umgibt ihn eine der älteren Vorstädte mit hohen Mietshäusern. Der Autoverkehr neben dem Friedhof ist dicht und laut, Straßenbahnen rattern vorbei. Der Friedhof St. Johannis ist nicht von unserer Welt.
      Natürlich, das Dürergrab ... Aber deshalb müssen Sie nicht hin. Es gibt dort viele Patriziergräber aus Dürers Zeit, die die Zeiten überdauert haben. Jede Grabstelle ist vollkommen abgedeckt von ihrer Steinplatte, kein Stück Erde bleibt frei. Der Raum zwischen den Gräbern ist abgestreut. Es sieht so aus, als warteten alle unter ihrer Grabplatte auf den Jüngsten Tag. Am Tag des Gerichts öffnen sich die Gräber, die Steinplatten heben sich, die Skelette steigen heraus. Die Zeit beginnt rückwärts zu laufen. Dürer steht als junger Mann vor seinem Selbstbildnis, es wird zur Skizze, zur leeren Leinwand ... Halt, halt!
      Außerdem müssten am Jüngsten Tag erst die Blumentöpfe weggeräumt werden. Da es keinen freien Fleck Erde gibt, sind alle Pflanzen in Töpfen auf den Grabplatten untergebracht. Es sind vor allem Geranien, eine Farbensymphonie aus Rot, Rosa und Weiß auf den grauen Steinen. Kein Blau, kein Gelb. Gehen Sie im Sommer hin und lassen Sie den Anblick auf sich wirken. Ein Bild wie von Milch und Blut, wie das Leben selbst.
      Aus den Gräbern, unter den Steinplatten heraus wachsen Rosenstöcke zur Seite heraus, uralte, sehr knorrige Rosenstöcke. Auch sie blühen rot, rosa und weiß neben den grauen Steinen. Ein Bild von Schönheit und Dauer, selten schön.

Der Heidelberger Bergfriedhof beginnt in der Rheinebene und steigt den unteren Hang des Königstuhls ein Stück an. Auf dem meterdicken Lössboden wuchert eine fast tropisch dichte Vegetation. Der Bergfriedhof ist auch einer der schönsten Botanischen Gärten Mitteleuropas. Er atmet in seiner Fülle, mit seiner Überladenheit an Monumenten den Geist der Spätromantik. Das Leben ist, auch nach dem individuellen Tod, ein unentwirrbares Rätsel, ein ewiges Labyrinth. Hier liegen die einheimischen Größen, die Professoren, hohen Beamten, reichen Kaufleute, die Generäle und die besten Ärzte ihrer Zeit. Heidelberg war, vor und nach 1900, ein beliebter Altersruhesitz. Einige adlige Großgrundbesitzer haben sich hier ihre Grabkapelle errichten lassen. Man sieht viele geborstene Säulen. Ein Kruzifix verrät, dass Reichspräsident Ebert, der Sozialdemokrat, katholischer Herkunft war.
      Beim Umherwandern verstieß ich gegen ein Verbot. Man darf die jüdische Abteilung nur mit Genehmigung der Kultusgemeinde betreten. So steht es am Haupteingang zu dieser Abteilung zu lesen. Ich näherte mich ihr jedoch erstmals an einem Nebenzugang. Die Absperrung war heruntergelassen, ein Hinweis auf das Verbot fehlte. Ich schlenderte hinüber. Die jüdischen Gräber sind zumeist gut instand gehalten. Man kann feststellen, wie die hebräische Schrift um 1900 allmählich der lateinischen wich. Auffällig ist, dass auf den jüdischen Gräbern Amts- oder Berufsbezeichnungen weitgehend fehlen. Anders bei den Gojims: Dort bleibt ein Ordentlicher Professor auch nach seinem Ableben ein solcher, ebenso der Hauptpastor, der Oberlandesgerichtspräsident usw. Hinter manchen jüdischen Namen fehlen Sterbedatum und -ort. Dafür z.B. der Hinweis: Verschollen 1943 in Frankreich.

Geborstene Säulen fehlen auf dem Stadtfriedhof Stöcken in Hannover fast ganz. Auch dieser Friedhof stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Er ist heute ein weiter Parkfriedhof mit großen und kleinen Wiesenflächen zwischen alten Baumgruppen und Wänden aus Blütensträuchern. An den Hauptalleen haben sich zahlreiche Gräber aus Großväter- und Urgroßväterzeit erhalten. Ich spreche von dem sehr gehobenen Bürgertum der Stadt damals: Großindustrielle, vermögende Kaufleute, hohe Militärs, diese meist adlig. Auch ein Pastor von St. Ägidien, als die Kirche noch nicht Ruine war, liegt unter ihnen. Die Grabdenkmäler sind preußisch schlicht und verraten zugleich das barocke hannöversche Erbe. Man weiß, was man sich schuldig ist - aber alles mit Maß.
      Aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es eine makabre Sehenswürdigkeit: die Grab- und Gedenkstätte der Opfer des Massenmörders Haarmann. Richtig, der mit dem Hackebeilchen ... Die dreiflüglige Steintafel imitiert ein Gefallenendenkmal aus gleicher Zeit. Siebenundzwanzig Namen stehen auf ihm. So viele waren es?! Der Älteste war zweiundzwanzig, der jüngste zehn. Als meine Mutter ein kleines Kind war, wurde ihr ab und zu mit Haarmann gedroht, sollte sie nicht artig sein. Der schon tote Knabenmörder als Kinderschreck für ein kleines Mädchen - die wahren Schrecken lernen wir später selbst kennen.
      Es gibt auch einen See mit einer Toteninsel, wie von Böcklin. Ein einsamer Schwan zieht auf dem See seine Kreise. Entdeckt er einen neuen Friedhofsbesucher am Ufer, rudert er rasch auf ihn zu. Will er sich als Transportmittel zur Verfügung stellen? Lohengrins Schwan als Charons Nachen? Niemand will zur Toteninsel übergesetzt werden. Der Schwan dreht ab und hält weiter Ausschau.

 

 

14. Leute in Kassel

 

Anderswo macht sich in Presse-Shops unbeliebt, wer dort Zeitungen liest, ohne sie zu erwerben, oder wer Zeitschriften unter der Jacke mitgehen lässt, sie also klaut – in Kassel haben sie andere Probleme. „Sie da drüben“, ruft die Angestellte in einen entfernten Winkel hinüber, „Sie - Sie dürfen nicht auf die Zeitungen spucken! Hören Sie sofort auf, auf die Zeitungen zu spucken – da hat sich gerade ein Kunde beschwert. Da muss ich es ihm doch sagen (erklärt sie uns an der Kasse), Sie … Sie dürfen nicht auf die Zeitungen spucken …“ Das spuckende Subjekt äußert sich dazu nicht, es bleibt einfach stumm.

Kassel ist ein wenig sonderbar. Die Normallage dort ist die schiefe Ebene. Wo man auch geht und steht, es geht fast immer ein wenig bergauf oder bergab und das in ständigem Wechsel. Blickt man etwa vom einen Ende der schnurgeraden Wilhelmshöher Allee zum anderen hinüber, hebt und senkt sich das Terrain vor einem in Wellen wie nach einem schweren Erdbeben. Bei Glatteis stelle ich mir das Herumgehen in dieser Stadt, sagen wir mal, spannungsreich vor.

Die Hauptstraße senkt sich von Südwest nach Nordost und heißt erst Obere, dann Untere Königsstraße, eine Fußgängerzone mit regem Trambahnverkehr in der Straßenmitte. Pro Stunde verkehren hier gut fünfzig Straßenbahnen. Dessen ungeachtet schreitet eine junge Dame auf dem gepflasterten Gleiskörper wie ein Model auf dem Laufsteg einher, wirft Blicke nach rechts wie nach links, eine Schiene als ihr Leitfaden. Die Schöne hat kein Ohr für das heransurrende blaue Ungetüm hinter ihr. Jetzt die Glocke! Kurzes Erstaunen in guter Haltung, zu spät versucht man, Abstand zu gewinnen – sie wird schon touchiert und … nein, sie scheint nicht ernstlich verletzt, dreht sich zur Seite und lächelt ins Publikum am Straßenrand - ganz Model am Ende seines Laufstegs. 

Die fünf Kilometer lange Wilhelmshöher Allee führt vom Zentrum zum gleichnamigen Schloss, das dort auf einem Rasenhügel thront, seinen Zugang jedoch auf der stadtabgewandten Rückseite hat. Man muss daher erst ausweichen und rechts oder links um eine Schlossecke herumgehen. Was aber machen viele Kasseler? Sie erklimmen den steilen Rasenhügel und verlängern so die breite fürstliche Allee zu einem aufwärtsführenden schmalen Ochsentrampelpfad. (Es hat sich dort bereits eine Erosionsrinne gebildet.) Das sieht nicht schön aus, zeugt immerhin von zweckfreier Konsequenz, denn oben angekommen, müssen sie doch ums Schloss herumgehen. („Kasseläner sind stur“, behauptet ein Plakat, das meine Vermieterin an der Wand befestigt hat.)

Die Straßenbahnen befördern hier nicht nur Fahrgäste, sondern auf großzügigen Stellflächen noch vieles mehr: jede Menge Kinderwagen – Kassel muss eine ungewöhnlich kinderreiche Stadt sein – viele, viele Fahrräder – es ist nur ein Aberglauben, anzunehmen, Fahrräder seien zum Fahren da, ihre wahre Bestimmung ist der Huckepackverkehr – Rollatoren und immer wieder Rollstühle – in der Königsstraße gelangte eine Benutzerin erst beim zehnten Anlauf aus der Bahn hinaus: „Links herum! Links herum!“ rief man ihr zu, doch das war ihr in der Seele zuwider, sie steuerte rückwärts stets nach rechts und blieb immer wieder in der Tür hängen – und einmal sogar ein Palettenwagen (ohne Paletten) – eine junge Frau schob ihn siegesgewiss lächelnd in die Straßenbahn hinein.

Ob ich auch die Wasserkünste in Wilhelmshöhe gesehen habe? Gewiss doch, es war an einem wolkenverhangenen Mittwoch. Zuerst oben am Herkules eine kleine Fontäne, die nach Minuten, in denen keiner „Oh!“ sagte, ein bisschen größer wurde. Da fielen wie aus Mitleid vereinzelte Tropfen aus den Regenwolken. Synchron ergossen sich jetzt die Wassermassen – 1.300.000 Liter aus dem Speicherbecken – die Kaskaden hinunter. Mit Hunderten weiterer Schaulustiger beeilte ich mich, bergab Station 2 zu erreichen: den „Steinhöfer Wasserfall“. Es regnete schon merklich, als die Wassermassen – 1.300.000 Liter aus dem Speicherbecken! – den verzwickt verzweigten Wasserfall hinunterstürzten. Es kamen noch weitere Wasserfälle. Mal schossen die 1.300.000 Liter unter der „Teufelsbrücke“ hindurch, mal stürzten sie vom ruinösen „Aquädukt“ herunter, um sich anschließend in den „Kleinen Kaskaden“ zu verläppern. Was soll ich sagen: Von einem künstlichen Wasserfall zum anderen wurde der echte Regen von oben stärker, schauerlicher. Ein Meer von Regenschirmen zog sich wie ein Lindwurm die Hänge des Bergparks hinab. Endlich, nach einer Stunde, am „Fontänenteich“ angelangt. Der Baedeker formuliert es so: „Hier finden die ‚romantischen Wasserspiele’ in dem 60 m hoch aufsteigenden Strahl der großen Fontäne ihr grandioses Ende.“ Die Wolkendecke war niedriger, und der Strahl der Fontäne muss etwas in ihr angebohrt haben. Es hatte schon einige Zeit gegrummelt, jetzt war das Gewitter direkt über uns. Und alles floh panisch aus dem Park, weiter hinab zu den Auto- und Busparkplätzen wie zur Straßenbahn, Alte und Junge, Kinder und Hunde. Was für ein schönes Gemeinschaftserlebnis.

 

 

15. Hotel Post

 

Der neue Gast betritt das Hotel durch den Caféeingang. Vom Personal ist nur eine junge Serviererin da, die an einem entfernten Tisch kassiert. Er wartet am Tresen, bis sie zu ihm kommt. Ob er ein Einzelzimmer für zwei Nächte haben kann? Sie verstaut zunächst die pralle Geldtasche in der Servierschürze und sagt dann mit ausdrucksloser Stimme, er solle mitkommen, sie werde ihn zur Rezeption bringen. Wie üblich geht es dahin durch viele Nebenräume, mit einzelnen Gästen, mit geschlossenen Gesellschaften, durch ganz verlassene Räume, über kurze und lange Flure, um Ecken herum, Stufen hinauf und hinab, durch Pendeltüren und solche, die ruckartig hinter einem zufallen. Erstaunlich, wie viel Innenleben so ein alter Landgasthof besitzt. Sie geht, trotz des engen schwarzen Rocks, rasch vor ihm her. In dunklen Ecken signalisiert ihm ihre weiße Schürze, wo es langgeht. Seine Aufmerksamkeit ist stark gefordert.

     Endlich stehen sie in einem kleinen Kabuff mit Tür nach draußen. Das ist der Hoteleingang, hier hätte er hineingehen sollen.

     „Gustl, haben wir ein Einzelzimmer für den Herrn?“ Der Angesprochene, ein hübscher Schwarzhaariger, sicher noch keine zwanzig, erhebt sich eilfertig. Dann steht er schief hinter dem Tresen und sieht Gast wie Kollegin treuherzig an.

     „Schau halt im Buch nach!“ fordert sie ihn auf. – „Schau ich im Buch nach …“ Er nimmt den abgewetzten schwarzen Folianten und beginnt, unsystematisch zu blättern. Die Kollegin findet schließlich heraus, dass die Siebzehn frei ist.

     „Und jetzt, Gustl, der Meldezettel!“ – „Mein Herr, darf ich bitten …“

     Der Gast füllt den Bogen mit raschen Zügen aus. Gustl sieht ihm dabei argwöhnisch zu und fragt, als der Gast genialisch unterzeichnet hat: „Muss ich jetzt unterschreiben?“ – „Aber geh’, Gustl! Führ den Herrn jetzt aufs Zimmer.“

     „Würden Sie mir bitte folgen?“ Er lacht gleich hinterher, es scheint ihm wohl seltsam, dass einer sich ihm anvertrauen solle. Richtig, als beide die Treppe zum Oberstock hinaufgehen, verfehlt er die vorletzte Stufe und schlägt der Länge nach hin. Der Koffer des Gastes wird dabei einige Meter weit auf den Dielenboden des sich anschließenden Flures geschleudert.

     „Jo, die Stuf do!“ schimpft er - er muss sie schon länger kennen. Der Gast bemerkt außerdem, dass er den weichen Akzent des Unterlandes hat.

     „Haben Sie sich verletzt?“ Er hat sich nichts getan, auch der Koffer ist unbeschädigt. Sie finden das Zimmer am Ende des breiten Flures.

     „Es ist ein Doppelzimmer. Unsere Einzelzimmer sind alle belegt. Das andere Bett bleibt dann halt frei. Aber wo ist jetzt die Dusche?“ Sie stecken gemeinsam jeder seinen Kopf durch die seitliche Tür in den Baderaum und ziehen ihn dann rasch wieder zurück. Gustl zuckt noch verlegen mit den Schultern und empfiehlt sich mit unartikuliertem Brummen.

     Der Gast tritt an eines der beiden Fenster. Zum Glück liegt das Zimmer nach hinten, nicht zur lauten Dorfstraße. Man sieht keine anderen Häuser mehr, und hinter dem Garten beginnen schon die Wiesen. Und da ist es, das Ochsenhorn, das er morgen besteigen will. Er denkt: Auf der Abbildung im Buch sah es anders aus, gewaltiger. Der Berg interessiert ihn auf einmal nicht mehr. Er beschließt auszupacken, doch gegen seine Gewohnheit lässt er sich stattdessen auf einem Sessel nieder. Er sieht auf die Betten: In welchem will ich schlafen? Hier, wo es so ruhig ist, einmal am Fenster.

     Dann muss er an Gustl denken – unmöglich, der Junge. So unbeholfen, so tollpatschig. Ein Praktikant oder eine Aushilfe? Der Gast, der auf Reisen abends gern ein wenig psychologisiert, würde ihn sich gern erklären. Da scheint einer ständig ausdrücken zu wollen: Helft mir, unterstützt mich, damit ich euch nützlich sein kann. Rührend und komisch ist so etwas, und er scheint sich dessen gar nicht bewusst. Eben, sagt der Gast halblaut zu sich selbst, ein unbewusster Reiz und daher so stark.

     Dann packt er doch aus. Später entdeckt er eine direkte Verbindung seines Flures mit dem Speisesaal und kommt also an diesem Abend nicht mehr an der Rezeption vorbei. Im Saal ist er der Erste zum Abendessen. Als serviert wird, es war nicht die Kellnerin aus dem Café, bietet man ihm an, den Fernsehapparat für ihn einzuschalten. Dankend lehnt er ab, halb belustigt, halb ärgerlich. Nach dem Essen liest er auf dem Zimmer und geht früh schlafen.

 

Als er am anderen Morgen den Schlüssel an der Rezeption abgibt, findet er die Patronin vor, eine stattliche Vierzigerin von milder Würde und zeitweiliger Leutseligkeit. Mit scheinbarer Teilnahme fragt sie nach seinen Plänen für den Tag, sobald er aber darüber zu sprechen beginnt, zeigt sich ihr Desinteresse. Er findet, sie funktioniert wie jene Alarmanlagen, die auf Infrarotstrahlen empfindlich reagieren – bei Wärme und Annäherung treten die Sicherungsvorkehrungen in Kraft.

     In seinem Buch hat der Hotelgast gelesen, neunundvierzig Prozent des Bezirkes sind unproduktiv, worunter man Ödland, Fels und Geröll zu verstehen hat. Durch diese unnützen Gegenden steigt er vier Stunden hinauf, um oben auf einer schmalen Steinrippe zu sitzen und auf die produktiven Täler hinabzusehen, deren Erzeugnisse er dabei heißhungrig verspeist. Er teilt diesen Ess- und Aussichtsplatz mit zwei lachlustigen jungen Frauen und einem verschlossenen Mann Ende dreißig, wohl Einzelgänger wie er selbst auch. Man sitzt eng beisammen, notgedrungen, bleibt aber für sich, aus freien Stücken. Für den Spätnachmittag sind Gewitter angesagt. Der Gast beeilt sich, ins Dorf zurückzukehren.

     Nun hat er es hinter sich und fühlt sich befreit, befriedigt. Die Rezeption ist unbesetzt. Er nimmt den Zimmerschlüssel vom Bord und geht die Treppe hinauf. Als er die gestern von Gustl verwünschte Stufe erreicht, sieht er, dass er erwartet wird. Er hat wenig Umgang mit Kindern und kann das Alter des Jungen kaum schätzen – vielleicht acht oder neun. Nichts an ihm erscheint auffallend, zwei Tage später wird er sich nicht mehr an sein Aussehen erinnern. Nur die Stimme bleibt ihm länger im Ohr, eine ernsthafte Stimme, die akzentfreies Hochdeutsch spricht. Das ist ungewöhnlich für das Gebirge, falls der Junge nicht zu norddeutschen Feriengästen gehört. Aber dafür tritt er zu sicher auf, scheint zu vertraut mit der Umgebung. Gehört er nicht zum Haus, muss er hier schon oft und lange zu Besuch gewesen sein.

     „Guten Tag“, sagt das Kind vom Treppenende her. Es spricht wie auf dem Theater. Der Gast grüßt zurück. Sie mustern sich gegenseitig – oder vielmehr wird nur der Gast einer intensiven stummen Prüfung unterzogen, ein bis zwei Minuten lang, er lässt das eigenartig berührt über sich ergehen.

     Dann sagt das Kind: „Sie sind schön.“ Der Gast erschrickt, spürt Verlegenheit in sich aufsteigen, wie aus der Brust heraus in immer neuen Wellen Körper und Kopf überflutend. Er denkt: Darauf muss ich irgendetwas sagen, doch was nur? Und wie er mich ansieht …

     Der Junge greift jetzt nach den Händen des Gastes, fährt an dessen entblößten Unterarmen hinauf und fingert an den umgekrempelten Hemdsärmeln herum. Etwas scheint ihn zu stören, er kann es nicht richtig ausdrücken. Der Gast hört nur: „Aber … nicht …“ Dann wieder Schweigen. Der Gast nimmt die letzte Stufe und das Kind zieht sich langsam zu einer unscheinbaren Tür zurück. Ist da eine Besenkammer? „Auf Wiedersehen.“

     Der Gast geht aufs Zimmer, duscht, zieht ein frisches Hemd an und geht essen. Der Abend verläuft in der gleichen Weise wie tags zuvor.

 

Die sonderbaren, teils auch lächerlichen Vorfälle setzen sich fort. Am folgenden Morgen tritt er auf den Flur und sieht vor der gegenüberliegenden Zimmertür einen Mann auf dem Boden hocken, etwa wie es ein Junge beim Murmelspielen tut. Eine dunkle Ecke, aber der Gast erkennt in dem anderen doch sogleich den Herrn: Geschäftsuniform, dunkle Hose, helles Oberhemd, teure Markenschuhe, die Krawatte noch nicht umgebunden. Regelmäßig erinnert ihn ein solcher Anblick an einen Tadel seiner Großmutter: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein richtiger Herr!“ Das war eben der durch nichts zu verwischende Unterschied. Dieser Herr da, auf dem rustikalen Boden hockend, hantiert mit einem Elektrorasierer in der Rechten und einem Taschenspiegel in der Linken. Natürlich, gut gekleidete, gut genährte Herren mittleren Alters begeben sich nicht ohne triftigen Grund in derart närrisch unbequeme Stellungen. Unter keinen Umständen unrasiert zum Kunden fahren! Versagt die Steckdose im Bad, versucht man es dort, wo sonst nur der Staubsauger angeschlossen wird.

     Sich ein Grinsen verbeißend, grüßt der Gast den Herrn, indem er bloß ein Kopfnicken andeutet. Er kommt sich dabei selbst recht taktvoll vor. Aber er schmunzelt, während er die Treppe hinuntergeht, und er grinst in sich hinein, solange er frühstückt. Als er nachher seinen Koffer packt, sagt er sich, es sei schlecht sich am Schaden anderer zu weiden. Ach, er war chronisch schadenfroh, und das von Kindesbeinen an. Er ruft sich jetzt uralte Episödchen ins Gedächtnis unter dem Vorwand, sich schämen zu müssen für diesen Charakterfehler, und amüsiert sich doch bloß über Geschichten, die dreißig Jahre her sind.

 

Er will abreisen und geht wieder die Treppe hinunter. Ob Gustl jetzt an der Rezeption ist? Aber sie ist wieder unbesetzt. Und in zwanzig Minuten geht schon sein Zug … Da kommt das Kind von gestern durch eine offen stehende Seitentür. „Guten Tag“, sagt es, heute ganz unbefangen, und fügt mit großem Nachdruck hinzu: „Wir haben uns ja gestern schon kennengelernt.“ Der Gast nickt ihm bloß zu: Der Junge wird doch nichts Missverständliches von sich geben, das fehlte noch … Ist doch gar nichts gewesen.

     Gleich darauf kommt auch die Chefin durch die kleine Tür und drängt das Kind in die Privaträume dahinter zurück. Es soll nicht weiter am Tresen stören. Seine Rechung ist schon ausgestellt, er hat es passend. Sie sagt noch: „Kommen Sie bald wieder“, aber er merkt, sie hat es schon tausendmal gesagt.

     Dann steht er auf der Straße und ist kein Gast mehr, sondern wieder Reisender geworden. Und als er zum Bahnhof geht, scheint ihm wieder einmal, er hat irgendetwas versäumt.

 

 

16. Barocke Figuren

 

Die Mönche sind schon lange fort.

     Augustin steht im Klosterhof und betrachtet die Gebäude. Das war einmal eine reiche Abtei, solides achtzehntes Jahrhundert. Heute werden die Fenster auf der Rückseite vergittert sein; vielleicht gibt es dort auch einen Zellentrakt und Wachtürme – so sieht es gewöhnlich hinter der barocken Schaufassade aus. In Württemberg sind die Klöster Irrenhäuser geworden und hier Gefängnisse. Das ist eben der Unterschied zwischen Schwaben und Bayern, sagt er sich und wendet sich um zu den Nebengebäuden. Da gibt es ein Café Prälatur. Er muss grinsen. Schläft er heute Nacht im Hotel Dormitorium, nur mit Luxuszellen?

     Das Gasthaus gibt sich von außen bescheiden. Innen ist es ein weiter, hoher Saal. Er ist eingerichtet wie jeder anständige fränkische Landgasthof. Die langen Holztische stehen in zwei Kolonnen da, die eine auf den Tresen ausgerichtet, die andere auf die Eingangstür. Augustin setzt sich an einen Tisch ziemlich weit hinten, mit Blick durchs nahe Fenster. Es ist fast leer im Saal. Musik dudelt nicht, es ist eine Wohltat. Vorne, gleich am ersten Tisch vor dem Tresen, murmeln Stimmen. Dort sitzt eine Gruppe sehr junger Männer und zwischen ihnen eine einzelne Frau; Augustin schätzt sie auf Ende dreißig. Sie drückt ihre Zigarette aus, steht vom Tisch auf und kommt zu ihm herüber. Sie ist sehr mager. Hat er auf dem Land schon einmal eine so dürre Kellnerin gesehen? Während sie nach seinen Wünschen fragt, betrachtet er die Ruinen ihrer Vorderzähne. Sie sieht abgearbeitet aus und wirkt doch nicht verbraucht. Sie ist sachlich und freundlich, dabei sanft. Ihre Erscheinung, findet Augustin, hat auch etwas Madonnenhaftes.

     Sie geht in die Küche, um seine Bestellung weiterzugeben. Dann bringt sie ihm sein Mineralwasser, das Besteck und die Serviette. Während er auf sein Essen wartet, betrachtet er die vier jungen Männer am Stammtisch. Verstehen kann er nicht, worüber sie da vorne reden. Die Kellnerin ist wieder in die Küche gegangen. Wie gewöhnlich konzentriert sich seine Aufmerksamkeit bald auf einen aus der Gruppe, einen Dunkelblonden um die zwanzig. Er hat etwas Gefälliges, denkt Augustin, und dann noch etwas anderes, einen Beigeschmack. Das Wort verschmitzt meldet sich in seinem Kopf zur Stelle, aber es passt nicht ganz. Er hat ziemlich kleine Augen, sie neigen zum Blinzeln, dann hat das Gesicht für Sekunden einen tückischen Ausdruck – das ist es. Er hat schon etwas feiste Backen, doch der scharf gestutzte Schnurrbart schwächt den Eindruck weicher Schlaffheit im Gesicht dann wieder ab. Er braucht den Bart, er macht ihn männlicher. Er schaut sich nicht wie die anderen ab und zu im Saal um. Sie haben Augustin schon als fremden Vogel ausgemacht. Der Blonde ist nur mit der nächsten Umgebung befasst, für ihn ist der Stammtisch jetzt die Welt. Ruhig wirkt er, sehr ruhig. Er hört lieber zu, als dass er selbst spricht, und beim Zuhören macht er ein verständiges Gesicht. Etwa vorhandene motorische Unruhe leitet er übers Bein ab. Der Fuß wippt dabei bloß auf den Zehen, und die Hebelwirkung lässt den massigen Oberschenkel schnell hintereinander auf und ab tanzen.

     Sie trinken alle auf einmal ihr Bier aus, legen Münzen auf den Tisch und stehen auf. Da kommt die Kellnerin mit seinem Braten und den heftig dampfenden Knödeln. Als sie den Blick geradeaus wieder freigibt, sieht er den Dunkelblonden noch als Letzten hinausgehen. Er ist nur mittelgroß, recht stämmig, und sein Fettbauch ist schon gut entwickelt.

     Nach dem Essen lässt er sich ein Zimmer geben. Es ist noch früh am Nachmittag, er hätte auch weitergehen können. Aber er will die Kirche in Ruhe betrachten. Und hat er selbst nicht auch Ruhe nötig? Er ist heute schon den vierten Tag zu Fuß unterwegs und bis hierher fast hundert Kilometer marschiert. Das Zimmer liegt im Oberstock. Es geht eine breite Steintreppe hinauf. Der Vorsaal sieht aus wie das Magazin eines Trödlers. Da steht sogar ein altes Klavier. Das Zimmer ist groß und sehr hoch, es werden fast vier Meter sein. Durch das Fenster blickt er auf die Schaufassade des Klosters. Er macht sich etwas frisch und zieht sich um.

     Sie verlangen Eintritt für die Kirche, das ist ihm selten vorgekommen. Das karge gotische Gehäuse ist innen prächtig ausstaffiert. Viel Stuckmarmor. Klassizismus, sagt der Führer. Anscheinend hatte man das Barocke satt nach anderthalb Jahrhunderten, aber nicht die Farbigkeit. Die strengen Schmuckformen leuchten und strahlen in Rosa- und Gelbtönen. Er ist nicht ganz bei der Sache und kann sich nur schwer aufs Einzelne konzentrieren. Die Fensterrose ist natürlich nicht zu übersehen. Übrigens soll es eine Kopie sein, eine gute Kopie, wie das Buch sagt. Als er hinausgeht, denkt er, das Museum in München hätte sich auch mit einer guten Kopie begnügen und das Original an Ort und Stelle lassen können.

     Nachher vertrödelt er die Zeit auf dem Zimmer. Manchmal steht er am Fenster und betrachtet zerstreut die Klosterfront, doch sein Blick will nicht haften am grauweißen Sandstein. Dann beobachtet er den Verkehr auf der Straße, die durch den Klosterbezirk führt. Ab und zu halten Autos auf dem Parkplatz. Touristen steigen für drei oder vier Minuten aus. Nein, er will nicht hasten wie sie. Lange hat er sich auf diese Reise gefreut. Soll er noch einen Tag dranhängen, die Atmosphäre stärker auf sich wirken lassen? Er liegt im Sessel und ist schnell entschlossen. Und übermorgen dann ganz aus der Gegend wegfahren.

     Schon kurz nach sechs sitzt er wieder unten und will zur Nacht essen. Er hat sich zwei Tische vorgearbeitet und den Stammtisch besser im Auge. Jetzt sitzen nur noch drei junge Männer dort, der Dunkelblonde von heute Mittag ist wieder dabei. Augustin bemerkt, dass er das T-Shirt gewechselt hat. Das dunkelblaue jetzt ist viel weiter als das weiße am Mittag, es kaschiert den Bauch besser.

     Wieder steht die dürre Kellnerin vom Stammtisch auf und kommt zu ihm herüber. Er fragt zuerst, ob er das Zimmer auch für zwei Nächte haben könne. Freilich, das lasse sich machen. Er bestellt einen Wurstsalat und, sozusagen überredet durch die Bier trinkenden Männer am Stammtisch, ein Kristallweizen.

     Leider bekommt er nur Gesprächsfetzen mit. Worüber reden sie eigentlich? Einer sagt, fast schon energisch: „Aber Weißbier hat doch weniger Kalorien!“ Ein anderer im roten Trainingsanzug resigniert: „Da komme ich nicht mehr hoch.“ Der Blonde sagt gar nichts. Er klatscht bloß mit der Linken auf seinen Bauch, eine fast schon sachlich wirkende Geste. So klopft man einem Hund auf den Rücken.

     Die Kellnerin bringt das Bier, etwas später den Wurstsalat und setzt sich dann wieder zu ihren Stammgästen. Es ist nicht viel zu tun um diese Zeit. Augustin bricht Brotstücke ab, fischt Zwiebelringe auf  und behält den Stammtisch im Auge. Er spekuliert über die Rolle, die die Frau für das Trio spielt. Nun gut, sie bedient eben, bringt von Zeit zu Zeit frisches Bier. Mit dem Ausdruck von Interesse und Sachverstand hört sie zu. Stockt dass ruhig fließende Gespräch einmal, wirft sie kurz etwas ein, und dann geht die Unterhaltung weiter. Keiner ereifert sich dabei. Es ist fast wie zu Hause, eine bequeme Behaglichkeit. Die Kellnerin raucht fast die ganze Zeit, bläst Ringe in die Luft und schlägt die Beine gern übereinander. Eine Mutter zu Hause tut so etwas nicht. Aber deren Aufgabe ist es auch nicht, ihren Männern eine Spur Erotik anzudeuten, während sie sie bedient. Augustin bewundert die Kellnerin. Wie viele Rollen vereint sie in ihrer Person: Dienstmagd und Kumpel und Madonna und Hausfrau und Vamp. Dass einer von ihnen mal mit ihr schläft, glaubt er nicht. Sie ist ja viel zu alt für sie und, wenn er’s überhaupt beurteilen kann, nicht gerade sehr attraktiv. Aber eines schafft sie: Sie erhält in ihren Gästen das Bewusstsein am Leben, dass sie Männer sind und es gut haben und dass sie wieder einmal nach Nürnberg fahren können, wenn ihnen danach ist. Manchmal ist es ja schwierig, hinterm Plärrer einen Parkplatz zu finden. Jetzt aber sitzt man hier recht gut und trinkt sein Bier.

 

Von anderen Zimmergästen sieht und hört er nichts. Beim Frühstück erweist sich, er ist über Nacht allein im Gästetrakt gewesen; nur für ihn ist gedeckt. Er holt sich eine Zeitung und steigt den Hang hinter dem Dorf hinauf. Oben am Waldrand sind Bänke, die Stelle heißt Klosterblick. Übersichtlich wie ein Modell steht die Anlage da unten, das Klostergefängnis mit allen Flügeln, Höfen und Mauern. Die Zeitung ist dick und berichtet vieles und sehr Verschiedenes, was ihn jetzt gar nicht interessiert. Die Landschaft sieht bräutlich aus. Weiß blühende Schwarzdornhecken sind die Schleier um die hellgrünen Buchenwälder voller Hoffnung.

     Wie steif die Gelenke heute sind. Das kommt vom Ausruhen nach großen Strapazen. Er quält sich gerne, geht fünf oder sechs Stunden ohne Unterbrechung, von zweimal fünf Minuten abgesehen. In diesen kurzen Pausen verspeist er einen Riegel weißer Schokolade und einen grünen, säuerlichen Apfel. Er genießt es, sich zu plagen. Zu seiner Unterhaltung phantasiert er sich auf diesen langen Märschen andere Gestalten herbei. Der Blonde von gestern Abend könnte einer von ihnen sein. Sie sind anders als er selbst, mögen sich nicht anstrengen und sind ihm, wenn er sich so schindet, zutiefst sympathisch. Doch zur selben Zeit verachtet er sie auch ein wenig. Er scheint diese Behäbigen in sich zu tragen und in seinem Inneren gleichzeitig mit ihnen zu kämpfen. Jetzt ruht der Kampf. Sie sind außerhalb, weit fort und ohne Bedeutung. Er ist eins mit sich und versenkt sich in diese Landschaft, die nur aus Pastelltönen besteht. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht und auf den Bauch. Es wird Mittag, und er ist nicht wieder in die Kirche gekommen, wie eigentlich geplant.

     Er isst im Gasthaus und sitzt diesmal gleich neben dem Stammtisch. Er registriert dort wieder den Blonden, den im roten Trainingsanzug und ein neues Gesicht. Sie reden über Sport. Obwohl er fast alles mitanhören kann, versteht er nicht viel davon. Fußball hat ihn immer gelangweilt. Die Sätze rauschen an ihm vorbei. Dabei reden sie langsam, voller Verdruss. Gestern Abend hat es eine Übertragung im Fernsehen gegeben. Sie sind unzufrieden mit dem, was ihnen geboten worden ist. „Die strengen sich zu wenig an“, sagt der Blonde.

     Die Tür geht auf, ein Mann in den Dreißigern kommt herein und geht auf den Stammtisch zu. Sie begrüßen ihn mit einer Erregung, die er an ihnen bisher noch nicht wahrgenommen hat. Wie habe das bloß passieren können? Und wann denn die Beerdigung sei? Er solle genau berichten, wie es vor der letzten Fahrt abgelaufen sei. Augustin begreift, dass da einer im Suff gegen einen Chausseebaum gerast ist. Der hier hat ihn zuletzt gesehen, in einem Gasthaus. Es ist in B … gewesen, einem Marktflecken talauswärts. Natürlich ist alles wie üblich gewesen. Man hat ihm gar nichts angemerkt. Seine vier oder fünf Halbe wird er schon getrunken haben, von mittags an gerechnet. Nichts ist ihnen aufgefallen, er hat ganz normal mit ihnen gesprochen und ist aufrecht hinausgegangen. Immerhin sind bei der Obduktion gut zweieinhalb Promille herausgekommen. Aber man hat ihm wirklich nichts angemerkt, es ist nicht zu begreifen … Sie seufzen alle und wissen nichts mehr zu sagen. Auch die Kellnerin ist jetzt still. Augustin unterbricht das Schweigen und ruft hinüber, er wolle zahlen. Es kommt ihm selber taktlos vor.

     Nachher hat er auf der Post zu tun. Es dauert länger als gedacht. Den Rückweg nimmt er über den Parkplatz. Die Stammtischmänner stehen um ihre Autos herum und schlecken Eiskrem. Die Wagentüren stehen offen. Er sieht nicht gleich, was sie beschäftigt. Vom Fenster seines Zimmers kann er besser beobachten. Sie bauen ein Radio aus und in ein anderes Auto wieder ein. Dabei lassen sie sich viel Zeit, sind ernsthaft bei der Sache und erledigen alles mit einer ihm übertrieben vorkommenden Gründlichkeit. Sie erinnern ihn an Hamster in einem Käfig. Und wäre dann die ganze Klosterkulisse nichts weiter als eine geschmackvolle Hamsterburg? Was für absurde Assoziationen, denkt er und geht vom Fenster weg. Er vertieft sich in die Landkarte und plant die nächsten Tage, die nächsten Märsche. Inzwischen ist es drei Uhr vorbei und damit auch die letzte Gelegenheit, im Kloster den Saal und das Treppenhaus zu besichtigen.

     Abends erwarten sie ihn schon am Stammtisch. Der Nachbartisch ist leider besetzt. Er muss sich wieder aufs Schauen beschränken. Der Blonde wirkt noch träger als sonst. Er sackt allmählich zusammen, sein Rücken rutscht an der Stuhllehne hinab. Weitab vom Tisch steht der Stuhl – so hat der Bauch viel Platz und wölbt sich immer mehr auf. Er liegt wie in einer Hängematte. Aber der ungepolsterte Stuhl drückt aufs Gesäß. Also verlagert er das Gewicht des Unterleibes auf die linke Hüfte. Über dem Hosenbund bildet sich dabei eine mächtige Falte, ein Mittelding zwischen Fahrrad- und Autoreifen. Der Gürtel schneidet jedoch allzu sehr ins weiche Fleisch – jetzt ist die rechte Hüfte dran, er verschiebt die Achse um neunzig Grad. Auch das bringt nur vorübergehende Erleichterung. Der Blonde ermannt sich und richtet sich auf. Er hat ja ein breites Kreuz, nur rundet sich der Rücken zusehends unter der Last des Bauches, der dabei auch mehr und mehr eingezwängt wird und Entlastung verlangt. Daher gleitet er in die ursprüngliche Position zurück, die Stuhllehne hinab. Er führt ja das reinste Ballett im Sitzen auf, stellt Augustin anerkennend fest und verfolgt noch mehrmals diesen Ablauf, der ihn an die vier Phasen des Mondes erinnert. Unterbrochen wird er harmonische Zyklus immer dann, wenn der Blonde Bier trinken will. Wenn er sich zur Höhe der Tischplatte emporzieht, sieht es für einen Augenblick so aus, als trenne sich der Oberkörper vom Unterleib, der den Gesetzen der Schwerkraft in ganz besonderer Weise unterworfen zu sein scheint.

     Später beobachtet Augustin vom Fenster seines Zimmers aus, wie der Blonde wegfährt. Er steigt in sein Auto, schließt die Tür rasch und versinkt im Inneren des Wagens. In der Dämmerung ist sein Kopfumriss gerade noch zu erkennen. Schon startet er und fährt in die einbrechende Nacht hinaus.

 

Zehn Tage später. Augustin ist auch noch Rad gefahren. Die Landschaften, die Dörfer, die kleinen Städte – er ist immer weitergefahren, von Unruhe erfüllt. Nur mit der Heimreise lässt er sich Zeit. Erst morgen, am Sonntag, muss er zurück in den Norden. Zögernd hat er sich Würzburg genähert und ist dann doch in einer kleinen Stadt am Main geblieben. Unten am Fluss, wo es sehr ruhig ist, bekommt er in einem Gasthof ein Zimmer. Die Wirtsleute, ein älteres Ehepaar, sind so grämlich, dass er Mühe hat, sich daran nicht schuldig zu fühlen. So sehen alte Leute aus, denen der einzige Sohn weggestorben ist, sagt er sich.

     Das Zimmer liegt im ersten Stock. Augustin überblickt den großen, fast leeren Parkplatz, von Rasen umgeben, er sieht den Fluss in den Wiesen und den gelben Rapsfeldern, dahinter die Waldberge. Dort oben muss das Kloster sein, das keines mehr ist, sondern ein Gefängnis.

     Augustin geht am Fluss spazieren. Es ist noch immer warm und dabei luftig. Doch der Wind hat vor einigen Stunden gedreht und kommt jetzt von Westen. Dort zeigen sich die ersten Wolken. Mit der Reise geht auch das sommerliche Wetter zu Ende, dieser falsche Hochsommer, wie es im Tod in Venedig heißt und woran Augustin sich jetzt erinnert. Auf dem Parkplatz steht ein Mercedes mit Kölner Kennzeichen, daneben ein großer Campinganhänger. Drei junge Roma fallen Augustin auf. Die Schwester bereitet hinter dem Anhänger auf einem Gaskocher das Essen zu, die Brüder waschen den Mercedes. Der Jüngere ist sehr mager und zeigt nichts von seinem Körper, der Ältere trägt nur dunkle Shorts. Er hat einen kräftigen Oberkörper, ziemlich athletisch. Wenn er sich bei der Wagenwäsche bückt, kommen an den Hüften Spuren leichter Verfettung zum Vorschein, kleine Wülste, noch nicht sehr dick.

     Zwei Motorradfahrer kommen vom Städtchen herunter, biegen auf den Parkplatz ein. Der vordere, ein stattlicher Brocken in schwarzem Leder auf einer schweren Maschine, ist der Fahrlehrer des hinteren, eines mageren Jüngelchens in zusammengestoppelter Tracht. Der Fahrschüler fährt ein sehr leichtes Motorrad. Sein Lehrer hält an, bockt die Maschine auf, nimmt den Helm ab und stemmt den Hintern quer auf die Sitzbank. Dann beginnt er zu rauchen. Der Schüler muss währenddessen Runden drehen. Der Lehrer wirft nachlässig drei rotweiß gestreifte Warnbaken auf den Boden. Mit einer Handbewegung weist er den Schüler an, um jede einzelne Bake herumzufahren. Das gelingt dem Schüler gut; er fährt überhaupt schon recht sicher – bis er am Ende des Parkplatzes beim Wenden ums Haar die Maschine umgeworfen hätte. Der Fahrlehrer lässt ihn anhalten und geht sogar einige Schritte zu ihm hinüber. Augustin sieht, wie er gestikuliert. Es sind souveräne Handbewegungen. Der Schüler, den Helm noch immer auf dem Schädel, nickt zum Zeichen, dass er verstanden hat. Die Szene wirkt absonderlich auf Augustin; eine Pantomime, denkt er, die ebenso gut religiöse wie pornographische Bedeutung haben könnte. Jedenfalls wirkt der Schüler erlösungsbedürftig, und die Fahrstunde endet auch bald.

     Zügig fährt das ungleiche Paar den Hügel zur Stadt hinauf. In der Kurve begegnen sie einem Polizeiwagen, er ist unterwegs auf einer Kontrollfahrt. Wie zu erwarten, hält die grünweiße Limousine bei den Roma. Durch das offene Fenster fordert der Freistaat Bayern, vertreten durch den Polizeimeister Soundso, den älteren Bruder auf, einmal näher heranzukommen. Der halbnackte Junge trabt ohne Scheu zum behördlichen Gefährt, ja, er legt gleich die rechte Hand auf die Dachoberkante des Polizeiwagens und plaudert eher ins offene Fenster hinein, als dass er Rede und Antwort steht. Augustin, der weitergegangen ist, hört die Schwester laut zu den Polizisten hinüberrufen, der Vater sei in München. Kurz darauf wendet das Polizeiauto und fährt ohne weiteres zur Stadt zurück. Augustin verspürt etwas wie Befriedigung oder Erleichterung und geht weiter durch die Anlagen flussabwärts.

     Er weiß nicht, was ihn auf die Brücke hinauftreibt, fort von der Stadt. Am jenseitigen Brückenkopf mündet ein Weg ein, der aus den Wiesen heraufführt. Da unten ist der Sportplatz. Ein intelligentes, hübsches Gesicht sieht ihn an. Der Schuljunge scheint unschlüssig zu sein, wohin er sich wenden soll. Augustin betrachtet ihn, Er ist gewiss ein guter Schüler, nicht nur aufgeweckt, sondern vermutlich auch brav. Mühelos eignet er sich den Lehrstoff an, er verleibt ihn sich ein, zur Freude von Eltern und Lehrern. Und dann scheint er gutes und reichliches Essen zu lieben – für sein Alter ist der Bauch schon recht üppig. Er trägt rote Boxershorts und ein weißes Leibchen. Er hat zarte Schenkel, und er sucht die Nähe der Athleten. Jetzt schlägt er sich ins Gebüsch.

     Augustin kehrt um und geht auf die Stadt zu. Ja, sie lieben das Wohlleben, denkt er, ihre Behaglichkeit, das gute Essen. Bier schenkt man gewöhnlich in halben Litern aus. Es ist ihr barockes Erbe mit all seinen Rundungen und Wölbungen. Die Putti sind noch nicht ausgestorben. Er muss jetzt an die Führung durch die Bamberger Residenz denken, die er vor einigen Tagen mitgemacht hat. Schon am Vormittag war es heiß, außer ihm wollte kein Mensch ins Museum. Die schlanke junge Kunsthistorikerin führte ihn allein durch die Schauräume. Allein gegenüber so viel Kompetenz fühlte er sich befangen. Doch sie schnurrte alles nur herunter, drei Gobelins in zwanzig Sekunden – es gab ja noch so viele andere. Aber dass Lothar Franz von Schönborn einen Bauchumfang von einhundertfünfzig Zentimetern gehabt hatte, war ihr doch besonderer Erwähnung wert. Sie kam noch mehrmals auf diesen Umstand zurück. Zuletzt wies sie ihn darauf hin, dass der Betschemel in des Oberhirten Privatkapelle statt wie gewöhnlich zwei Stufen deren drei aufwies. Weswegen wohl – natürlich, die mittlere Sprosse stützte den priesterlichen Wanst. Aber der Schemel sei noch raffinierter – sie klappte ihn um; nun stand ein ausladender Barockstuhl gerade vor dem Kruzifixus. „Da, bequemer geht’s nimmer.“ Sie war etwas zu mokant, fand Augustin. 

     Unter diesen Gedanken gelangt er in die Stadtpfarrkirche und verweilt lange vor Riemenschneiders Johannes dem Täufer. Der war schlank, ganz auf das Lamm und die kommende Erleuchtung konzentriert. Unmöglich, sich ihn vorzustellen, wie er einen Schweinebraten verzehrt und dazu ein Bier der Marke Hiernickel trinkt …

     Ein Mesner sagt ihm, dass gleich eine Hochzeit gefeiert werde, die Kirche könne nicht länger besichtigt werden. Augustin verlässt das Schiff. Am Portal hat er Mühe, durch die hereinströmende Hochzeitsgesellschaft ins Freie zu gelangen. Draußen auf dem Marktplatz macht sich ein junger Motorradfahrer abfahrbereit. Er stülpt die Handschuhe über. Es ist ein kräftiger Bursche um die zwanzig. Als er sich gemustert fühlt, geht ein merklicher Ruck durch seinen Körper, der bis dahin teilnahmslos und wenig belebt erschienen ist. Augustin sagt sich, dass Beobachten in der Kleinstadt viel einfacher sei, die Leute lassen sich bei allem mehr Zeit als in der Großstadt. Sie sind es gewohnt, Blicken nicht auszuweichen, sondern ihnen zu begegnen, ja, sie zu suchen. Bekannte müssen gegrüßt werden, Fremde erregen Neugier. Verrät der Fremde selbst Interesse, lässt man sich ruhig betrachten. Das ist eine ganz andere Sache als das blicklose Aneinandervorbeigleiten der städtischen Massen. Ist es erlaubt, daraus weitere Schlussfolgerungen zu ziehen, etwa größere Empfänglichkeit zu vermuten? So weit geht Augustin keineswegs. Er genießt indessen das reizvolle Spiel mit ungewissem Ausgang, ein Spiel mit bewussten und unbewussten Regungen. Jetzt verschwindet der Rundschädel unter dem Helm, das Visier wird heruntergeklappt. Schade, er hat ein so frisches, dabei etwas gerötetes Gesicht, eigentlich sympathisch. Augustin geht langsam weiter und sieht währenddessen zu, wie der Motorradfahrer startet. Wenn Augustin sich nicht täuscht, drückt dessen Haltung jetzt auch Befriedigung aus. Er wirkt gestrafft, wie aufgepumpt, vor Stolz gebläht. Aber es ist ein freundlicher Stolz, der Blick zuletzt ist freundlich gewesen. Augustin hat einen Fremden mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, der Bursche hat dadurch zu der Idealform gefunden, die er in seiner Vorstellung von sich selbst hat. Man könnte es visuelle Symbiose nennen, denkt Augustin. Da, jetzt nimmt er die Kurve schneidiger als nötig. Will er mir noch ein Kunststückchen vorführen?

     Augustin biegt in die Hauptstraße ein. Sie ist verlassen, die Geschäfte sind seit Stunden geschlossen. Es ist eine breite Straße mit viel Fachwerk. Die Amtsgebäude haben Sandsteinverzierungen. Er blickt in jede Geschäftsauslage. Da liegt eine Illustrierte aus Hamburg, die er gewöhnlich nicht liest. Sie zeigt auf dem Titelblatt einen Sonderteil an über Männer, die nicht erwachsen werden wollen, sechzig Seiten dick. Scheint ein ergiebiges Feld zu sein, denkt er bei sich und weiter: Sind mir eigentlich sympathisch, diese Burschen, die nicht erwachsen werden wollen … Gehöre wohl selber dazu … und hätte wohl mehr als genug Zeit dafür gehabt …

     Wie es scheint, endet das Städtchen am Bamberger Tor. Er geht trotzdem weiter, und die Hauptstraße verbreitert sich dahinter noch. Sie heißt jetzt Vorstadt und ist von Geschäften und Gasthäusern gesäumt. Eine schmale und hohe gotische Kirche zwingt die Vorstadt zu einem Knick. Wo sie ausweicht, ist ein kleiner Platz, auf dem ein Eissalon Tische und Stühle placiert hat.

     Wie viele Kirchen hat er auf dieser Reise schon betreten - diese hier wird die letzte sein. Nachher geht er außen um sie herum. Hoch oben am Chor haben die Rittergeschlechter ihre Wappen in Stein ausführen lassen, zu Hunderten dicht beieinander, auch die Farben fehlen nicht. Es ist ein Patchwork ausgestorbener Sippen, kraus und bunt. Alles Übrige hat die Zeit vernichtet. Dann steht er wieder vor der Pforte und betrachtet die Steinmetzarbeiten. Sankt Georg bezwingt den Lindwurm. Merkwürdig, der Drachen hat einen Schafskopf. Sanft und beinahe freudig erwartet das Drachenlamm den Todesstoß. Da hat es der Heilige Georg leicht, den Mutigen und Kraftvollen herauszukehren.

     Der Eissalon hat viel Zulauf. Die meisten Tische im Freien sind besetzt. Augustin findet noch einen für sich, ganz am Rand. Die Bedienung lässt auf sich warten; tut nichts, er hat viel Zeit. Jäh wird auf einmal die schläfrige Stille des Straßenplatzes gestört. Eine motorisierte Kohorte bricht aus der Stadt hervor. Sie unternehmen einen Ausfall. Als wäre der alte Torturm die Geburts- oder Fabrikationsstätte eines Menschentyps einer neuen Zeit, so pulsiert es aus ihm heraus, in gleichen Abständen, in gleicher Aufmachung und mit der gleichen Haltung. Nach Passieren des Tores beschleunigen die Männer ihre Motorräder, bremsen vor dem Eissalon, blicken herüber und verschwinden dann, Gas gebend, in der Kurve. Im Chaos geboren, denkt Augustin, und im Nu bis ins Letzte durchgeformt, nicht nur ästhetisch ein bedenklicher Prozess. Die uniforme äußere Glätte, schimmernd und abweisend, deckt die individuelle mannigfaltige Schwäche zu. Alle haben auf dem Rücken ihrer schwarzen Lederjacken einen roten Stierkopf aufgenäht, im Kreis herum – wie bei einer Rosenkranzmadonna – etwa ein Dutzend kleiner Aufkleber, Wimpel oder Aufnäher. Es sind Spuren der Orte, die sie hinter sich gebracht, Merkzeichen der Männer, mit denen sie, die Identischen, sich identifiziert haben. Wenn sie sich in die Kurve legen, fallen die von Gewitterwolken gefilterten Lichtstrahlen auf ein farbiges Mosaik, das sich rasch entfernt; dann hat es große Ähnlichkeit mit dem abstrakten Fries der Ritter hoch oben am Chor.

     Warum schauen sie beim Vorbeifahren derart intensiv herüber? Jetzt erst bemerkt Augustin drei am Straßenrand geparkte Motorräder. Die Fahrer sitzen an einem Tisch in seiner Nähe, bisher außerhalb seines Blickwinkels. Unauffällig dreht er den weißen Plastikstuhl ein wenig in diese Richtung, wie um bequemer sitzen, in Wahrheit jedoch um besser beobachten zu können. Zwei aus der Gruppe hätten den Helm besser nicht abgenommen. Den Dritten will er schärfer ins Auge fassen, wird aber von der Kellnerin unterbrochen. Immer kommt das Personal zur falschen Zeit. Er bestellt den Traumbecher, den er sich auf der Karte ausgesucht hat.

     Der dritte Mann also. Augustin hat ihn im Halbprofil vor sich. Gesund sieht er aus, etwas rundlich, schnauzbärtig, brünett. Er hat sich nichts auf seine Jacke geklebt. Dafür baumelt eine schmale silberne Kette von der rechten Hüfte herab. Für die Fahrt zum Eissalon hat er die Lederhose nicht aus dem Schrank genommen. Eng sitzen die blauen Jeans. Die kurzen Stiefel, in die er sie hineingestopft hat, zurren den groben Stoff über dem Fleisch fest. Augustin mustert ihn rasch und intensiv wie ein Konfektionär. Unter dem weißen T-Shirt ein kleiner Hügel. Einstweilen beteiligt er sich nicht am Gespräch, hört den anderen zu und schleckt sein Eis. Wie er das tut, das mutet kindlich an. Der Löffel schabt jeweils eine stattliche, weit aufgefächerte Portion aus der Glasschale, befördert seine Fracht aber vorerst nur bis vor das Eingangstor des Verdauungsapparates. Die Lippen öffnen sich weit, sie schieben sich auseinander, die Zunge tritt heraus und nähert sich der süßen, kühlen Materie. Die Zunge beginnt, emsig zu arbeiten. Sie leckt zuerst ein wenig – wie die Katze mit der Maus spielt – und löst dann kleine Brocken heraus, um sie rückwärts hinter die Lippen zu rollen, die sich dabei für kurze Zeit schließen. Eben dann schließt er auch die Augen, die während der übrigen Zeit die Tätigkeit der Zunge mit strengem Ausdruck überwachen. Sein Gesichtsausdruck ist insgesamt tief befriedigt. Offenbar verfügt er über ein Verfahren, das alle Geschmacksnerven kitzelt und dem Vorgang ein Maximum an Lust abgewinnt.

     Augustin muss an Fridolin denken, den Freund in Wien. Eis schleckende Erwachsene seien ihm ein Gräuel. – Und du, isst du nie Eis, Fridolin? – Nur heimlich, und dann immer nur eine Kugel. – Augustin lächelt in der Erinnerung daran.

     Nachher sieht sich der Brünette neugierig um, auch während er spricht. Seine Blicke erinnern Augustin an Wellen am Strand. Von einem unbekannten Zentrum ausgehend, breiten sie sich aus, belecken die Gestade und ziehen sich doch stets wieder zurück. Gleichmäßig gleiten diese Blicke, noch ein wenig getrübt von der eben empfundenen Lust, über die anderen Tische, die anderen Gäste und den Platz vor der Kirche. Die Welle zieht sich zurück – er sagt mit Nachdruck einen Satz zu seinem Nachbarn, Augustin kann ihn nicht verstehen – die Welle kehrt zurück. Augustin möchte einmal den Mond spielen, er will eine Flutwelle auslösen, am besten eine Springflut. Er mustert ihn zweimal kurz hintereinander, bohrt sich in die nächste Welle, versucht sich ihr entgegenzustemmen. Die Wirkung ist beträchtlich. Die Wogen der Rundblicke gehen für eine Weile deutlich höher, bleiben länger am Einzelnen haften, auch an Augustin. Noch unruhiger sind die Augen geworden. Für kurze Zeit ist der Ausdruck von Befriedigung aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkt jetzt wacher. Aber es scheint eine unsichtbare Schutzmauer zu geben. Die Blicke brechen sich an einem Widerstand, den Augustin nicht sieht. Sie kehren zu sich selbst zurück. Schließlich hat er sich beruhigt.

     Unterdessen hat Augustin seinen Traumbecher bekommen und ihn mechanisch verzehrt. Er kann jetzt nicht sagen, was darin gewesen ist. Vielleicht waren es Pflaumen in Alkohol, meint er nachher.

     Der Brünette verabschiedet sich von seinen Kameraden. Er klopft ihnen auf die Schulter und geht zu seiner Maschine. Seine Bewegungen verraten eine gewisse Sattheit. Mit Umsicht startet er und fährt ins Städtchen hinein. Waghalsiges, Bravourstücke sind von ihm nicht zu erwarten. Wenn nur die unruhigen Blicke nicht wären.

     Auch Augustin zahlt und geht weg. Ein Plakat macht ihn neugierig auf das Schützenfest unten in den Wiesen. Es ist am anderen Ende der Stadt. Unterwegs stellt er fest, dass sich die dunklen Wolken aufgelockert haben. Es wird hier kein Gewitter geben, vielleicht woanders.

     Um diese Zeit ist der Festplatz kaum besucht. Noch sind nicht einmal alle Buden geöffnet. Eine Kirchhofsruhe ist das hier. Er hat jetzt alles gesehen, nur auf dem Friedhof ist er nicht gewesen. Plötzlich hat er die Kleinstadt satt und freut sich auf die Abreise.  

 

 

17. Brieftasche verloren

 

Einer muss sie ja gefunden und dann in ihr wie in einem offenen Buch gelesen haben. Er kennt nun meinen Namen, meine Adresse, mein Alter, meine Bank, weiß, dass ich oft mit der Bahn im Raum Hamburg unterwegs bin. Ferner, dass ich mich zwei Wochen in Berlin in einer Ferienwohnung einquartiert habe, sogar den Mietpreis kann er ablesen. Dazu einige Telefonnummern auf Zetteln, privat und geschäftlich. Er oder sie weiß so viel über mich – ich aber nichts von ihm oder ihr. Ist das nicht unbefriedigend?

Wie ist es denn passiert? Nicht einmal das kann ich genau sagen, nur einiges vermuten, das sich gegenseitig ausschließt. Die letzte Erinnerung an meine Brieftasche: Ich halte sie in der Linken, während ich durch einen Bus nach hinten gehe und einen Platz suche. Es war an einem Donnerstag im August auf der Strecke vom Bahnhof M. nach B., Abfahrt 10.30 Uhr. Danach sollte ich sie in die Innentasche meiner Jacke gesteckt haben – sollte ich, aber vielleicht habe ich sie geistesabwesend neben mir abgelegt? Und wer hat sie dann an sich genommen? Im Fundbüro ist sie nicht eingetroffen.

Ebenso gut kann sie später in B., von mir unbemerkt, aus der Innentasche gefallen sein, als ich die Jacke der Hitze wegen auszog und im Rucksack verstaute. Es war in jener kleinen Parkanlage neben der Bushaltestelle. Ich setzte den Rucksack auf einer Bank ab, genoss vielleicht beim Umpacken den Blick über den See – und in eben jenen See kann der Finder die Brieftasche geworfen haben, nachdem er die fünfzig Euro an sich genommen. Jedenfalls habe ich später die Grünanlage vergeblich abgesucht.

Auch im Schlosspark keine Spur von ihr. Dort habe ich mittags auf einer Bank gesessen, etwas aus dem Rucksack gevespert und, um an mein Essen zu gelangen, die Jacke aus dem Rucksack genommen. Wie leicht kann die Brieftasche dabei herausgefallen sein. Ganz in der Nähe, ich erinnere mich genau, machten vier Gärtnergehilfinnen Pause. Zwei von ihnen nahmen ihr Jäten in meiner Nähe wieder auf, während ich noch dasaß. Schon kurz darauf unterbrachen sie die Arbeit erneut, kehrten zu den beiden anderen zurück. Am Nachmittag keine Spur mehr von dem Quartett. Dafür war nun der Rasen rund um meine Bank frisch gemäht. Nicht dass ich einen konkreten Verdacht hätte …

Dann kam ich an dem Sommerhaus des berühmten, schon lange toten Dichters vorbei. Ich ging nicht hinein. Es war ums Haus sehr unruhig, Filmleute bereiteten Aufnahmen vor. Ich ging einige Meter weiter, öffnete zwischen parkenden Autos den Rucksack, um für den Weiterweg die Karte zu studieren – habe ich die Jacke dabei herausgenommen oder nicht? Woran ich mich nur erinnere: Ein Angestellter des Museums trat auf mich zu, ich könne das Haus durchaus besichtigen. Hätte ich doch nicht abgelehnt – um die Eintrittskarte zu bezahlen, würde ich an der Kasse nach der Brieftasche gegriffen, würde zumindest die Anzahl der möglichen Verlustorte um einen verringert haben …

Die Rückfahrt trat ich früher als geplant an – Stechmücken hatten mir den Ort schon verleidet – ich wollte sie früher antreten, denn vor den Busfahrer hingetreten, griff ich beim Griff nach der Brieftasche ins Leere. Das Weitere kann man sich denken.

Der Kreis hat sich geschlossen. Ich bin weniger unbefriedigt als am Anfang dieser Überlegungen. Zwar bleibt die Brieftasche verschwunden, doch ich erkenne: Ihr Finder weiß wohl viel über mich, doch ich dafür auf lange Zeit so viel mehr über jenen Tag, als ich mir ohne den Verlust jemals ins Gedächtnis hätte zurückrufen können; in meinem Kopf sogar mehr Bilder von Abläufen, als der reale Tag enthalten haben kann. So gesehen sind wir quitt. (Und den Stechmücken verdanke ich, noch vor Ende der Dienststunden im Rathaus von B. eingetroffen zu sein. Man war dort sehr hilfsbereit.)

 

 

18. Wahrscheinlich Narkolepsie

 

Wer das Pech hat, im Bahnhof von *** eine knappe Stunde auf seinen Anschlusszug warten zu müssen, dem stehen in der Halle dort sage und schreibe 2 – in Worten: zwei – Sitzplätze zur freien Auswahl. Einer davon war neulich abends schon von einem jungen Mann belegt. Ich ließ mich rasch auf dem anderen nieder. Mein Nachbar sah mich von der Seite an, ich nahm es aus dem Augenwinkel wahr.

Die beiden unbequemen Holzstühle, fest zusammenmontiert, stehen gerade hinter einer dicken Säule. Sie ist quietschbunt und hat seltsame Schwellungen wie Tumore - gebauter Schwulst. Man kann nicht immerzu auf sie starren. Wohin also den Blick richten? Blicke ich links an der Säule vorbei, fixiere ich den jungen Mann – geht nicht. So kam es, dass mein Blick fortwährend nach rechts ging, in die Mitte der Halle. Ihr Baumeister war dafür bekannt, den rechten Winkel von ganzem Herzen zu hassen. Aber wie viele rechte Winkel gibt es trotzdem hier und von ihm so ungeschickt garniert mit lauter Verlegenheitskurven … Ich begann sie zu zählen.

Da tat sich links von mir etwas. Ein Mann in mittleren Jahren, Bahnbediensteter unterwegs in den Feierabend, rüttelte meinen Nachbarn an der Schulter, sprach auf ihn ein. Und das Sonderbare: Der junge Mann reagierte überhaupt nicht, schien jetzt einfach nur tief zu schlafen, stark vornübergebeugt, Arme auf die Knie aufgestützt. Der Eisenbahner zu mir: „Sehen Sie, dem ist das Handy runtergefallen.“ – „Ja, was soll man da machen? Wenn Sie ihn schon nicht wach kriegen …“ Der Ältere ging hinüber zur Dame am Infostand, schien mit ihr den Fall zu bereden. Ich sah weiter an der Säule vorbei auf die rechten Winkel.

Minuten später stürzte der junge Mann neben mir zu Boden. Mit dem Kopf auf den Fliesenboden knallen und schon instinktiv die rechte Hohlhand schützend um den Hinterkopf legen, das war eins und sprach für eine gewisse Vertrautheit mit solchen Stürzen. Dann lehnte er den Rücken gegen die Säule, die nun endlich eine Funktion erhielt, und schlief weiter, die Beine lang ausgestreckt. Passanten wunderten sich. Die Dame am Infostand telefonierte hektisch. Bald würde die Bundespolizei kommen, nahm ich an.

War es Narkolepsie? Ich kannte Gus Van Sants Film „My Own Private Idaho“ mit dem narkoleptischen Stricher, den River Phoenix so ausdrucksvoll gespielt hat. Ich hatte auch einiges über die Symptome gelesen. In diesem Fall würde abzuwarten sich empfehlen …

Fünf Minuten später regte er sich, streckte sich, saß auf und sah zu mir herüber, durchaus wach. Er war älter als bisher von mir angenommen, schon Ende zwanzig. Er sprach mich an: „Alles okay?“ – „Bei mir schon. Aber was ist mit Ihnen?“ Ich wollte auch wissen, wohin er müsse, ob er einen Zug versäumt habe usw. Er begann lange und viel auf eine wolkige Weise zu reden - nur kam dabei nichts heraus. Er mischte ständig deutsche und, wie mir schien, polnische Sprachbrocken in einer Weise, dass kein einziger Satz irgendetwas aussagte. Dabei lächelte er selbstbewusst und sich mir offenbar überlegen fühlend. Sein Lächeln schien sich tatsächlich auf mich zu beziehen und es verstärkte sich mit jeder Frage, die ich ihm stellte, um herauszufinden, ob er denn Hilfe benötige. In der Tat, er kannte sich mit der Situation aus und ich war irritiert und hilflos. Gestrandet kam er mir dennoch vor. 

Mein Zug ging bald, ich musste zum Bahnsteig. Und wie bringe ich diese begonnene Geschichte hier zu einem befriedigenden Ende? Es gibt keins. Nicht einmal ein Bundespolizist ließ sich blicken, sagte: Ach, Sie sind die hilflose Person, die in Warschau vermisst gemeldet wurde … Kommen Sie doch bitte mal mit zur Bahnhofsmission. – Vielleicht war er gar nicht hilflos, vielleicht ist er bald darauf in den Zug nach Hannover gestiegen. Oder irgendeiner hat sich nach Mitternacht seiner erbarmt.

 

 

19. Eine Reise wie keine 

 

Robert Walser kam aus Biel, da bist du doch auch mal gewesen? - Gewiss, an das Hotel dort erinnere ich mich, sonst an kaum etwas. Es lag an einer der Hauptstraßen im Zentrum, war gediegen und plüschig nach Schweizerart. Auf meinem Zimmer schrieb ich einen Brief, darin ein bisschen Walser imitierend. Während ich mir die Stadt jetzt vorzustellen versuche, kommt mir die gleißende Kathedrale von Solothurn in den Sinn. Vielleicht habe ich anstelle von Biel in Solothurn übernachtet und dort den Brief geschrieben? Ich weiß es nicht mehr.

      Dieser Monat in der Schweiz gehört zu den seltenen Abschnitten meines Lebens, die nicht dokumentiert sind. Ich fuhr und lief damals kreuz und quer durch das Land, ließ mich vom Wetter und von Zufällen leiten. Schon die Vorgeschichte war chaotisch gewesen. Kurz vor einer lange geplanten Reise nach Wien war ein Freund dort überraschend an Aids gestorben. Ich hatte sogar geweint, nur kurz, hatte mich wieder gefasst und umorientiert.

     So fuhr ich zu Ostern nach Basel. Mein Gastgeber beklagte den Puritanismus der Schweizer. Wenn es ihm einfiele, jetzt am Feiertag die Fenster zu putzen, würde gewiss irgendeiner die Polizei rufen. Wir unternahmen stattdessen eine Jurawanderung, die mir nur etwas kurz vorkam - es musste daheim noch ein Festtagslammbraten fachmännisch präpariert werden.

     Am Ostermontag nach Lugano und du empfandest dasselbe wie Hermann Hesse anno 1927: freudloser Rummel am See und in den Gassen. Montagnola ließ ich rechts liegen, als ich anderntags am Hang des Monte San Salvatore nach Süden ging - mein jugendlicher Enthusiasmus für Hesse hatte schon nachgelassen. Womöglich kam ich durch Carabbia und Carona, ob ich auch im, wie man sagt, herrlichen Morcote war, ist mir entfallen. Ich sollte von Melide den Zug bis Capolago genommen haben. An die einfache, freundliche Pension in Riva San Vitale denke ich noch gern.

     Vor mir türmt sich jetzt die Frage auf: War ich je auf dem Monte Generoso? Wohl doch, einmal genoss ich ja, scheint mir, diese Aussicht, die nur zu oft als grandios bezeichnet wird. Aber es kann kaum von Riva aus gewesen sein. An diesem Tag stieg ich, falls ich mich nicht irre, schon an der Station Bellavista aus und wanderte durch die grünen Hügel Richtung Mendrisio. Mir ist, als ob ich dahin zuletzt den Bus genommen hätte. Mendrisio kam mir lombardisch, nicht helvetisch vor. Nach einer Nacht dort muss ich auf einem der vielen Bergwege zum Gipfel des Monte San Giorgio gelangt sein. Mir hat sich vor allem eingeprägt, wie ein Vater seinem auf der Kante über dem Absturz hängenden Söhnchen immer wieder zurief: „Reste là, reste là!“ An diesem Tag oder an einem anderen machte ich Bekanntschaft mit einer sinnreichen Vorrichtung: Kettenhund mit langer Schiene für die Kette. Fast wäre einem so die Attacke auf mich geglückt.  

   War ich abends nicht in Chiasso und musste über Nacht zur Sicherheit meinen Pass an der Rezeption hinterlegen? Nichts weiter über Chiasso! Am Morgen darauf rasch nach Lugano gefahren und mit einem Bus in die Berge nördlich davon. Ein schöner Tag, von dem kaum ein Hauch von Erinnerung geblieben ist. Ich übernachtete in einem frisch renovierten Zimmer in Tesserete. Der Gastwirt war sehr stolz auf den guten Geschmack, der da gewaltet hatte. Ich machte abends Pläne für Touren in noch höhere Regionen, doch das Wetter passte anderntags dazu nicht. So flüchtete ich am Morgen ins niedrigere Malcantone, spürte im April vereinzelte Schneeflocken auf meiner Haut und zog mich, da Nordföhn war, mittags mit dem nächstbesten Schnellzug über die Alpen zurück. Und das war erst der strukturiertere Teil meiner Reise, wie war dann wohl der Rest?

     Der weitere Ablauf ist im Detail nicht mehr rekonstruierbar. Zu viele und zu weit auseinanderliegende Orte, mit immer anderen Bahnen oder Bussen und oft auch zu Fuß erreicht. Ich suche im Atlas Namen, die etwas in mir wachrufen. Da ist das kleine Goldau mit dem großen Bahnhof. Vom Gasthofzimmer sehe ich, wie sich die stille Straße in der Dämmerung mit amüsierwilliger Jugend belebt. Oder Einsiedeln mit seinem Kloster wie ein Großkaufhaus des Glaubens. Pfauenschreie in einem Privatgarten im Mittelland – ist es am Sempacher See? Ich musste Murten sehen und Fribourg, Beromünster und St. Gallen, auch das Kunstmuseum in Winterthur. In dieser Stadt schob sich ein reisender Kaufmann abends am Tresen der Hotelrezeption dreist an mir vorbei, ich kann sehr nachtragend sein … Im Bahnhof von Bern spielte ich den unbeteiligten Beobachter und nahm sie doch wahr, die einzeln flanierenden Männer. Auch bei der Maifeier auf dem Thuner Marktplatz sah ich mich unter den Teilnehmern um. Am Bodensee war ich nur so lange, wie man zum Umsteigen braucht. Nach einer Nacht in Buchs, gegenüber Liechtenstein, ging ich zu Fuß rheinaufwärts bis Sargans und fuhr vielleicht von da nach Chur. Und wann stieg ich vom Berninapass ins Puschlav hinunter, damals oder auf einer späteren Reise? Als ich an der Aare war, schlief ich da in Brugg oder in Aarau? Wer das noch wüsste.

     Zum Übernachten fand ich in Brienz ein hellhöriges Gründerzeithotel und im Emmental ein altes, behäbiges, ganz aus Holz, in dem große, wohltuende Stille herrschte. Es kann in Burgdorf gewesen sein, als mir beim Frühstück eine Dame auf meinen fragenden Blick hin ihr Schweizerdeutsch übersetzte: Ich habe meiner Freundin eben gesagt, ich hätte gestern gekotzt. Noch einmal kam ich ins Tessin, übernachtete in Bellinzona. Vielleicht fuhr ich erst von da zum Monte Generoso und weidete mich am spektakulären Panorama, alles zugleich im Blick, die Gebirgsmauern und die Riesenseebecken dazwischen.

     Auf dieser Reise durch die Schweiz, die ich bis dahin kaum gekannt hatte, tat ich alles, was ich gewöhnlich bei Reisen für falsch halte. Später fuhr ich noch wiederholt hin und vermied es mit Bedacht. War das nun recht getan?

 

 

20. Empfindsame Fußreise von der Donau zum Rhein

 

Ich will zurückblicken auf jene Schwabenreise. Im Typoskript von damals lag sie nur wenige Monate zurück, daraus sind für den heute Redigierenden Jahrzehnte geworden.

     Donauwörth, meine erste Station, machte auf mich mit farbigen Fassaden und quirligem Leben sogleich einen bayerisch-schwäbischen, auf jeden Fall süddeutschen Eindruck. Ich logierte zwei Nächte in einem Gasthof an der Reichsstraße, nahe dem Liebfrauenmünster, die erste von so vielen Kirchen, in die ich auf dieser Reise trat. Mir ist vor allem ihre scheußliche Betonkanzel aus der Nachkriegszeit im Gedächtnis geblieben. Viel harmonischer fand ich die frühere Klosterkirche Heilig Kreuz. Zeigen die Deckengemälde nicht byzantinischen Einfluss, ungewöhnlich für eine barocke Kirche? Ich ging am Ankunftstag im Städtchen herum, saß an manch idyllischem Ort, auch an der Wörnitz. Der Zusammenklang von ruhigem Fluss, Wiesenufer, hohen Bäumen und dem Blick auf das weiß-gelbe Kloster sprach mich besonders an. Ich begann mich zu entspannen und Eindrücke aufzunehmen, die ich im Winter in der Großstadt entbehre. Besuchenswert sind in Donauwörth auch die Reste der alten Stadtbefestigung, nun eingebettet in Parkanlagen und Privatgärten. Weder zu übersehen noch zu überhören waren die vielen Motorradfahrer, die den ganzen Nachmittag und Abend über die Flussbrücken sowie die Reichsstraße auf und ab fuhren; eine etwas geräuschvolle Art, sich zu präsentieren und am sozialen Leben teilzunehmen.

     Am Tag zwei, Pfingstsamstag, brach ich vormittags in Richtung Kaisheim auf, vom Donauwörther Stadtrand durch Wälder, die schon zur Frankenalb zählen. Die eingestreuten Felder verströmten den Duft von blühendem Raps. Aus solchen intensiven gelbgrünen Farbflecken tauchte der Turm der alten Abteikirche auf, zunächst nur die Spitze, dann die unteren Geschosse, schließlich der ganze Klosterkomplex, der jetzt bayerisches Staatsgefängnis ist. Das Nebeneinander von gut restaurierten barocken Fassaden und Stacheldraht, Vergitterungen sowie Wachtürmen berührte seltsam. Die Kirche selbst, ein gutes Beispiel für Zisterzienserarchitektur des Mittelalters, kann besichtigt werden. Ihre Größe weist darauf hin, wie bedeutend das Kloster einmal war. Schön ist der Umgang um den Chor, in dem sich in einer Nische ein krasses Beispiel findet, wie Tod zur Schau gestellt werden kann. Man hat sich dafür vor Zeiten die Gebeine eines Heiligen beschafft und sie in einem einsehbaren Schrein präsentiert, mit reich bestickter Prunkdecke über dem hingestreckten Skelettleib und mit nacktem Totenschädel.

     Ich ging dann über die Landstraße nach Leitheim. Diese Seite der Alb ist beinahe lieblich, so sanft und leicht hügelig. Man blickt von ihr über die Donauebene und über das Lechfeld bis zu den Türmen von Augsburg. Die Leitheimer Sommerresidenz der Kaisheimer Äbte ist ein hübscher, eleganter Bau und war leider innen gerade nicht zu besichtigen. Ich war jetzt hungrig, fand aber am Ort keine geöffnete Speisewirtschaft. Im nächsten Dorf gab es zwar eine, doch sie war komplett von einer Hochzeitsgesellschaft in Beschlag genommen. Ich musste also mit leerem Magen noch Stunden bei großer Hitze bis Donauwörth gehen. Aber die weiche Landschaft gefiel mir so gut, dass ich kaum auf die Strapazen achtete.

 

     Am Pfingstsonntagmorgen trennte ich mich bei rechtem Sommerwetter von Donauwörth. Ich folgte dem weiten Tal der Wörnitz etwa zwei Stunden lang und hatte eine weitere durch hügeligen Wald bis Harburg zu gehen, wo ich gut schwäbisch aß. Auf die Burg selbst warf ich nur im Vorübergehen einige Blicke. Eine Besichtigung hätte einen Großteil des Nachmittags ausgefüllt. Ich gewann rasch an Höhe, jetzt auf der Schwäbischen Alb, zog über die erste Wacholderheide und stand auf einer Anhöhe, die schon einen Blick ins Ries hinunter erlaubte. Dann kamen große, dichte Wälder. Wo sie am Albrand aufhörten, lag unter mir das Kloster von Mönchsdeggingen. Ich betrat den Klosterhof und ließ mich von der Schenke aus in mein vorbestelltes Zimmer führen. Es lag im ersten Stock eines der beiden Hauptflügel des Barockbaus und war sicher die großartigste Unterkunft auf der ganzen Reise. Das sehr große und hohe Zimmer lag an breitem Gang, der mit prächtiger Fensterfront auf den Innenhof sah. Dieser Trakt stieß unmittelbar an die Kirche. Ich hörte vom Zimmer aus sowohl den Chorgesang wie auch das Orgelspiel. Als ich vom Abendessen zurückkehrte, sah ich beim Betreten des Gebäudes, wie am anderen Ende des Ganges eben der Priester mit dem Ministranten aus der Sakristei in die Kirche hastete, wie Werktätige zur U-Bahn, wenn sie spät dran sind. Es hatte nämlich schon vor geraumer Zeit geläutet. Aus dieser Perspektive machte der Kultus einen etwas prosaischen Eindruck. Übrigens fand im Dorf Mönchsdeggingen eben ein „Spiel ohne Grenzen“ statt – nicht das originale fürs Fernsehen -, das ich mir am Nachmittag eine Stunde lang ansah, dabei nicht nur die Mitspieler, sondern auch den einen oder anderen Zuschauer im Auge behaltend. Ich schlief vorzüglich in meinem Klosterbett. Eigentlich wäre das eine ideale Unterkunft, wenn man nur Ruhe und eine stimmungsvolle Umgebung sucht.

     Am Tag darauf hatte ich bei großer Hitze noch einen halben Tag bis Nördlingen zu gehen, erst durch dichte Wälder, dann über die Vorberge und die Hügel hinunter ins Ries und hinein in die alte Stadt auf eiförmigem Grundriss. Ich quartierte mich gegenüber vom Daniel in einem altertümlichen Gasthof mit knarrenden Treppen ein, in dem schon die römisch-deutschen Kaiser Friedrich der Dritte, Maximilian und Karl der Fünfte sowie später auch Goethe geschlafen hatten. Ich blieb dort zwei Nächte. Am Pfingstmontag verbrachte ich den Nachmittag mit stundenlangen Spaziergängen durch die Stadt, besah auch die Georgskirche von innen. Anderntags bestieg ich zuerst den Daniel, genoss die Aussicht und wanderte nordwärts über Wallerstein bis Maihingen, wo ich die nächste alte Klosterkirche kennenlernte und eine Kleinigkeit aß. Dann brachte mich ein Bus, der umständlich und so für mich sehr ersprießlich durch die Dörfer am Nordrand des Rieses fuhr, nach Oettingen. Hier hatte ich vier Stunden Aufenthalt, fast zu viel für das zwar ansehnliche, doch auch sehr kleine Städtchen. Ich saß lange herum und las Zeitung. Das Wetter war noch immer sommerlich warm. Erst während der Rückfahrt abends mit dem Bus nach Nördlingen begannen Regen und ein Gewitter, die die ganze Nacht anhielten.  

 

     Es regnete auch häufig, als ich mit dem Bus von Nördlingen nach Bopfingen fuhr und von da über die herrliche Hochfläche des Härtsfelds nach Neresheim ging. Dies ist eine der Gegenden, die ich mir für erneuten Besuch vormerke. Beim Wirt in Elchingen gab es einen bei Arbeitern aus der Umgebung sowie Lkw-Fahrern beliebten Mittagstisch. Ich mischte mich unter sie und fiel, hoffe ich, nicht weiter auf. In Neresheim musste ich in einem Gasthof an der Hauptstraße Unterkunft nehmen. Die Lastwagen waren eine große Plage, ich hatte zum Glück meine Ohrstöpsel mit. In Balthasar Neumanns Klosterkirche war ich gleich zweimal an nur einem Nachmittag, so überwältigend ist sie. Tags darauf zog ich wieder westwärts und kam nachmittags in Königsbronn an, wo ich ein Zimmer in der uralten Klosterschenke dicht beim Brenztopf bekam. Die nach der Zerstörung im 16. Jahrhundert neugebaute Kirche konnte ich nicht von innen betrachten, auch den erhaltenen Torbau nicht.

     Den folgenden Tag, das Wetter war wieder sommerlich, durch die schönen Albuchwälder zum Rosenstein und ich sah das Remstal unter mir liegen. In Heubach fand ich keine Unterkunft, nahm daher den Bus nach Schwäbisch Gmünd. Sonderbare, groß gewordene Kleinstadt, die mich, warum nur, ausgerechnet an Frankfurt erinnerte. Ich hatte ein ziemlich komfortables Zimmer am Marktplatz. Nachmittags war ich stundenlang in der Altstadt unterwegs, um die Gassen, Plätze und Kirchen kennenzulernen. Es gab da einen hübschen Jungen, der an einer Kirchenpforte Eintrittsgelder kassierte und Karten verkaufte. Ich muss wohl gestutzt haben, als ich seiner ansichtig wurde, und er schien den Strom zwischen uns zu bemerken. Er wurde recht nervös, seine Stimme klang unsicher und sehr tief, als er den Preis der von mir ausgesuchten Karte nannte. Später saß ich auf dem Platz hinter der Kirche, mitten unter vielen anderen. Kurz vor vier verließ der junge Mann die Kasse und bezog in der Tür mit Blick nach draußen Posten. Er wachte darüber, dass sich die Kirche allmählich leerte und niemand mehr hineinging. Gleichzeitig behielt er mich im Auge, auch als ich zwischendurch einmal den Platz wechselte. Pünktlich schloss er ab und verschwand im Innern der Kirche. Ich war gespannt, was nun geschehen würde – gar nichts. Nur meine Ruhe war dahin.

 

Am Tag darauf gab es ein häufiges Auf und Ab. Von Schwäbisch Gmünd nahm ich erst den Bus bis Waldstetten und ging hinauf aufs Kalte Feld, am Segelflugplatz vorbei. Es war der höchste Punkt, den ich auf der Alb erreichte. Ich blieb nicht lange oben, stieg hinab nach Degenfeld und kam weiter talwärts bis Weißenstein, wo ich zu Mittag aß. Dann ins Roggental hinübergewechselt und diesem gefolgt bis Eybach. Bei großer Hitze das steile Felsental hinaufgeklettert und über die Hochfläche zum Ödenturm gelangt, wo ich auf Geislingen hinabschauen konnte. Unten war es mühsam, eine Unterkunft für zwei Nächte zu finden. Den Tag dazwischen nutzte ich vormittags zu einem Gang hoch über dem Filstal bis nach Deggingen. Ich kam vom Wald herunter, inspizierte die Wallfahrtskirche Ave Maria und aß im Dorf zu Mittag. Ein Bus brachte mich zurück nach Geislingen, für das ich mir den Nachmittag reserviert hatte. Zwangsläufig wurde ich enttäuscht, eine schwäbische Industriestadt an einem Sonntag eben und  die hübsche, kleine Altstadt auch kaum belebt.

     Anderntags verließ ich das Gebirge und fuhr mit der Bahn ins offenere Oberschwaben. Das Umsteigen in Ulm nutzte ich, um mir wieder einmal das Münster anzusehen. Dann Saulgau, ein angenehmes Städtchen, voll Freundlichkeit, Bedächtigkeit und reeller Genüsse. In guter Erinnerung ist mir der Gang durch die Wiesen zum Kloster Sießen, dessen farbige Kirche ich auch innen beschaute. Ich übernachtete in Saulgau in einem alten Gasthof im Zentrum. Vom Zimmer ging der Blick auf eine Baustelle mit regem Betrieb. Tiefbauarbeiter gossen das Betonfundament für die Rekonstruktion eines Fachwerkhauses. Der Anblick so vieler halbnackter Männer war ernüchternd. Er passte nicht zu verbreiteten Vorstellungen von athletischen Naturburschen auf dem Bau. Ein Dunkelhaariger von Mitte bis Ende zwanzig war der Hübscheste. Sein stattlicher Bauchansatz fiel mir erst unangenehm auf, doch stellte ich bald fest, wie viel Harmonie der Arbeiter im Ganzen ausstrahlte. Er war sehr fleißig, dabei den fülligen Körper mit Umsicht bewegend, auf schmalen Graten balancierend. Er schien etwas Besonderes, etwas Feineres unter ihnen zu sein. Der Polier rief seinen Namen, es war eine Koseform, stets in sonderbar dunkel lockendem Ton, so wie man einen Kater aus dem Garten ins Haus ruft. Die Kollegen bezeigten ihm einen förmlichen Respekt, wie sonst unter Bauarbeitern nicht üblich. Er war hübsch und ernst, selbst sein seltenes Lachen hatte etwas Sonores. Er gefiel mir viel besser, als ein beliebiger Bodybuilder mit leerem Gesicht es je tun könnte.

 

Von Saulgau ging ich ins zentrale Oberschwaben hinein. Schussenried enttäuschte mich ein wenig. Dem Ortsbild fehlt es an Geschlossenheit, die einzelnen Funktionen (Kurort, Ziel für Kunstreisende, psychiatrische Anstalt) schienen mir unverbunden nebeneinander zu bestehen, obwohl doch die Psychiatrie im alten Kloster untergebracht ist. Die barocke Klosterbibliothek kam mir weniger großartig vor als jene von Wiblingen oder St. Gallen. Nach dem Besuch von Kirche und Bibliothek saß ich auf einer der Bänke im Park daneben, um Zeitung zu lesen. Aber ich kam nicht dazu. Nacheinander setzten sich zwei Insassinnen der Klinik zu mir. Sie suchten das Gespräch, denn sie hielten mich für einen Neuzugang der Anstalt. (Sollte mir das zu denken geben?) Besonders von der Jüngeren erfuhr ich viel über das Leben dort. Sie selbst ist manisch-depressiv und hat gelegentlich Jesus- und Marienerscheinungen. Sie erzählte eine Dreiviertelstunde lang.

     Inzwischen war es sehr heiß geworden. Ich fuhr am Tag darauf von Schussenried mit dem Bus bis Biberach und ging erst von dort zu Fuß weiter nach Ochsenhausen, einem der Höhepunkte meiner Reise. Die herrliche und gut erhaltene Stiftsanlage, die Kirche mit ihrer organischen Verbindung von Gotik und Barock, die weite, luftige Hochfläche, auf der der alte Klostermarkt liegt – alles sagte mir sehr zu. Ich quartierte mich zwei Nächte in einem behaglichen Gasthof ein. Zeitweise saß ich unterhalb vom Kloster in den Wiesen am Rande eines kleinen Bachs und las Proust. Die Kirche erschien mir innen wie ein in allen Farben erblühender Frühlingswald. Ochsenhausen war wieder ein Ort, wo unaufhörlich Motorräder durchbrausten, vor allem von weither; es liegt an der Hauptachse vom Allgäu zur Alb. Das Personal im altertümlichen, weitläufigen Gasthof war ungewöhnlich herzlich. Morgens entdeckte ich eine Reisegruppe Kunstinteressierter beim Frühstück. Ihr Reiseleiter, ein junger Mann mit sehr kurzen Haaren, warf mir einen möglicherweise eindeutigen Blick zu. Leider war für mich in einem anderen Raum gedeckt, in einem Gelass mit Butzenscheiben. Von Ochsenhausen ging ich ohne Rucksack in einem halben Tag bis Gutenzell, um wieder ein Kloster zu besehen, und noch ein wenig rotabwärts.

     Tags darauf bei fast ständigem Regen nach Rot an der Rot. Auch der Klassizismus dieser Klosterkirche gefiel mir, besonders die Prospekte der Chororgeln. Und wie hoch die Kanzel lag. Ich wäre gern von Rot weitergefahren, weil es mir zu sehr regnete, doch es ging kein Bus. Ich musste bis Tannheim gehen, dort gab es einen Bahnhof und einen Zug, der nach Memmingen verkehrte. Die alte Stadt hätte mich zum Herumschlendern verleiten können. Aber es war feuchtkühl draußen und in den Gasthöfen kein Zimmer frei. Telefonisch konnte ich mir eine einfache Unterkunft in Ottobeuren sichern, wohin mich ein Bus brachte. So konnte ich auch noch die riesige Kirche dort sehen. Ihre Kuppeln sind wie eine Abfolge von Himmeln. Eine Stunde war ich danach im Klostermuseum. Am stärksten beeindruckte mich die Statue Rudolfs des Zweiten im Kaisersaal. Wie ist er so finster, so fatalistisch. Die Landschaft des unteren Allgäus erschien mir langweilig: eintönige Wiesen und eintönige Fichtenwälder.

 

Am anderen Morgen brachte mich der Bus zurück nach Memmingen. Das Wetter war noch schlechter geworden, Dauerregen und sehr kühl. Ich versuchte, eine der alten Kirchen zu besichtigen - sie war nur nachmittags offen. Dann wollte ich ein Zimmer in Bad Wurzach bestellen. Es misslang mir, eins telefonisch reservieren zu lassen. In diesen Tagen waren Tausende in Oberschwaben unterwegs und auf Quartiersuche. Ich sah ein, dass es wie bisher nicht weitergehen konnte. In Ochsenhausen hatte ich schon mittags um eins gerade noch das letzte Zimmer bekommen. Also hieß es, den im Verlauf der Tour wohl schon aufgeweichten Begriff Fußreise noch etwas weiter zu fassen und früher als vorgesehen an den Bodensee zu fahren. Ich rief im mir schon bekannten Hotel in Nußdorf an, nahe Überlingen, und ließ mir gleich für sechs Nächte ein Zimmer reservieren.

     Ich fuhr über Lindau, das ich bei einem Bummel im Regen kennenlernte, nach Überlingen. Dort hatte das Wetter sich schon gebessert und blieb erträglich bis zu meiner Abreise. Ich ging zu Fuß die mir schon im Vorjahr liebgewordene Uferpromenade entlang, vom Bahnhof West bis nach Nussdorf hinaus. Im Hotel fühlte ich mich wieder wohl und willkommen. Am folgenden Tag, einem Sonntag, ging ich nach Salem und nahm teil an einer Führung durch das frühere Kloster, jetzt Internat. Schade, dass man diese Schätze nur im Vorbeigehen betrachten konnte, dass keine Muße möglich war. Nachher wanderte ich Richtung Bodensee, leider ohne Karte, und verirrte mich mehrfach. Statt in Meersburg kam ich in dem weniger attraktiven Uhldingen heraus. Ich nahm den Bus nach Meersburg, aber diese alte Stadt ist kaum mehr als eine Karikatur ihrer selbst. Die durchziehenden Massen verderben alles. Nur vom See aus ist die Stadt noch als schön zu erleben, wie ich Tage später herausfand.

     Montags fuhr ich bis nach Weingarten, um die Basilika dort zu sehen, von der mir jedoch allein das Chorgitter wirklich gefiel. Die Kirche ist vor allem groß und bei ihren Dimensionen kommt der milde Glanz des süddeutschen Rokoko nicht recht zur Geltung. Auf dem Rückweg promenierte ich am Friedrichshafener Seeufer und blickte voller Verlangen auf die Ostschweizer Berge, Robert Walsers spätes Land mit der Seele suchend …

     War ich dann dienstags nicht auf der Reichenau? Ich ging über den Damm hinüber und durchquerte die ganze Gemüseinsel, sah die drei alten Kirchen, von denen mich die in Oberzell tiefer beeindruckte. Auf dem Rückweg war ich kurz in Konstanz und fuhr am Mittwoch gleich dorthin. Jetzt widmete ich mich dem Rosgartenmuseum und auch dem Münster. Dann am Seeufer promeniert und mich spontan für den Heimweg zu einer Seereise entschlossen, auf der am Horizont auch wieder Meersburg erschien als herrliche Kulisse.

     Am Donnerstag schließlich ging ich von Nussdorf bis Ludwigshafen und erreichte dabei die Marke von dreihundert Kilometern: So viel war ich auf dieser Reise jetzt insgesamt gewandert und wollte es damit bewenden lassen. Unterwegs hatte ich schöne Tiefblicke und leider auch Einblicke in die Waldschäden oberhalb von Sipplingen. Hier war kein älterer Nadelbaum mehr gesund.  

 

     Am Freitag brachte mich ein Zug den Hochrhein entlang nach Basel, wo mich auf dem Badischen Bahnhof ein Freund abholte. Wir aßen in seiner Wohnung. Nachmittags spazierten wir durch die Stadt, dann musste er zu einer Sitzung und abends waren wir einige Zeit in einem Szenelokal - nicht weiter beschreibenswert. Mein Freund war samstags erst durch ein Straßenfest in Anspruch genommen. Ich wollte nicht dabei sein und studierte stattdessen daheim die Rede, die er dafür vorbereitet hatte. Später gab es irgendwo am Stadtrand eine große Freiluftfete. Ambitioniertes Anderssein wirkte da wieder nur formlos, die Besucher eine amorphe Masse ohne Reiz für mich. Doch mein Freund sagte: Aber es ist doch unser Fest … Am Sonntag fuhr er zu einer Sitzung nach Zürich. Ich wollte nicht mitkommen und ging lieber ins Historische Museum. Abends mit ihm essen gewesen. Sprachen wir über seine Rede vom Vortag? Ich erinnere mich nicht genau. Was ich ihm damals gewiss verschwieg, war etwas von mir in seinem Vortrag Entdecktes, war ein Widerspruch zwischen öffentlich erhobenem Postulat und privater Lebensführung. Ein erster Riss zeigte sich. Aber das ist schon eine andere Geschichte …

     Am Tag darauf fuhr ich zurück in den Norden. Außer Basel habe ich, wie ich nun, sechsunddreißig Jahre später, leider feststellen muss, keinen dieser Orte je wieder gesehen:

 

DONAUWÖRTH + KAISHEIM + LEITHEIM + HARBURG + MÖNCHSDEGGINGEN + NÖRDLINGEN + MAIHINGEN + OETTINGEN + NERESHEIM + KÖNIGSBRONN + SCHWÄBISCH GMÜND + GEISLINGEN + DEGGINGEN + ULM + SAULGAU + SIESSEN + BAD SCHUSSENRIED + OCHSENHAUSEN + GUTENZELL + ROT AN DER ROT + MEMMINGEN + OTTOBEUREN + LINDAU + ÜBERLINGEN + SALEM + UHLDINGEN + MEERSBURG + WEINGARTEN + FRIEDRICHSHAFEN + REICHENAU + KONSTANZ + LUDWIGSHAFEN AM BODENSEE + BASEL

 

 

21. Stadt und Land 

 

Müde, denkt Augustin, ich bin großstadtmüde … Er sitzt seit sieben Stunden im Intercity. Endlich ist das Gewimmel der Hügel und Gebirglein vorüber und der Zug nähert sich der alten Reichsstadt, die sein erstes Ziel ist. Oberdeutsch, denkt er, schönes, altertümliches Wort … Ob sich etwas davon erhalten hat? Er ahnt schon, dass er kaum einen Überrest finden wird. Aber was gibt es sonst auf dieser Hochebene zu entdecken? Vorausgesetzt, es gelingt ihm, überhaupt etwas Eigentümliches aufzuspüren.

Am Bahnhof stehen fürchterliche Häuser, das könnte auch in Wandsbek sein. Er will das triste Viertel rasch hinter sich bringen. Nur nicht Notiz nehmen von dieser Öde, man reist doch, um angenehme Eindrücke zu gewinnen. Die Fußgängerunterführung – so schaurig, dass er noch schneller geht – mündet in eine Fußgängerzone, die den Bahnhof mit dem Münster verbindet. Baut Fußgängerzonen für Ameisen! Wo hat er diesen Spruch gelesen – irgendwo hingesprüht auf eine Wand aus Beton oder den mürben Kalkstein einer alten Kirche, eine jener stillen Inseln für Beter, wie’s in den Prospekten heißt. Für jedes Bedürfnis ist ja heutzutage vorgesorgt.

Der Reisende findet dieselben Filialgeschäfte und Kaufhäuser wie zu Hause. In jeder fremden Stadt schafft ihre Anordnung entlang den breiten und belebten Gassen neue Muster aus schon Bekanntem. Einmal die Luxusarmbanduhren neben den Umstandsmoden, dann das landesweit führende Parfümeriegeschäft, gefolgt vom billigen Seifenladen und dem Kaffee aus Hamburg und dem Warenhaus, dessen Zentrale in Essen ist. Oder die Seife neben den Umstandsmoden und dann das Warenhaus mit der Zentrale in Köln. Und wiederum die Uhren neben der Seife im Schatten des Essener Kaufhauskonzerns. Oder gar die Seife zwischen noch zwei konkurrierenden Großkaufhäusern. (Die Zentrale ist immer woanders.) Und die Form folgt brav der Funktion. Also noch einmal die unübertroffene Fassade von Eiermann, noch einmal das Regenbogenmotiv ums Textilkaufhaus – Wagner ist doch vorteilhafter – und alle Brillengeschäfte jetzt durchsichtig wie Kontaktlinsen und mit viel Plastikpupillenweiß …

Wo steckt das Besondere in diesem Potpourri, die lokale Zutat zum nationalen Brei? Sind es vielleicht die Bäckereien, die hier süßes Backwerk in großer Vielfalt feilbieten und jede Sorte in riesigen Mengen? In dieser Stadt, so scheint es, haben Bäcker den stärksten Zulauf. Überall, wo Seitenstraßen einmünden, sieht Augustin kuchenverzehrende Einkäufer stehen. Zwischen ihnen fällt sein Blick (nicht jener der Esser) auf Plakate, hastig und schief geklebte Flugblätter. Da ist von Raketen und Bomben die Rede, auch das kennt er schon …

Im Strom der Passanten fallen ihm vereinzelt Schwarze auf. Kräftige Burschen sind das, manche hünenhaft, manche eher fett. Sie tragen ihre Baumwollsachen salopper als die Einheimischen. Ihre Jeans und Shirts bedecken die Körper bloß, betonen die Figuren nicht. Augustin weiß, dass es Militärpersonen sind, doch sträubt er sich, zwischen ihnen und den Flugblättern eine Gedankenverbindung herzustellen. Freilich, die Raketen in der Nähe … Vor diesem Gedanken will er die schwarzen Männer in Schutz nehmen. Vielleicht kommen sie aus den Slums von Chicago, sind froh, überhaupt einen Job gefunden zu haben? Und dann fallen sie aufgrund ihrer Hautfarbe schneller auf als ihre weißen Kameraden, ihre weißen Vorgesetzten … Nein, sie sind ihm nicht unsympathisch. Aber wahr ist doch auch, er hat noch nie mit einem Schwarzen geschlafen. Ist er insgeheim ein Rassist? Er beruhigt sich damit, dass er sich sagt, erotisches Faible sei keine Frage der Sympathie, sondern von früher Prägung.

Ein Zufall – und die fixen Ideen von Militarismus, Rassismus und leider auch von Narzissmus sind wie weggeblasen. Einer teilt jetzt energisch die sich mischenden und gegeneinander flutenden Menschenströme. Er kommt vom Hamburgerladen und will hinüber zum Kino-Center, wo die Nachmittagsvorstellungen schon laufen. Es ist ein junger Schwarzer, ganz in Schwarz, Anfang oder Mitte zwanzig. Fetischismus oder Oberflächenreiz, das ist jetzt die Frage. Die schwarze Haut unterscheidet sich vom schwarzen Leder nicht mehr als dessen einzelne Partien infolge der Lichtreflexe untereinander. Perfekte Uniformierung bei vollständiger Wahrung des individuellen Ausdrucks, beides durchdringt sich. Kein Weißer erreicht diesen Grad, nicht mal mit der schwarzen Gesichtsmaske, läppische Versuche sind das …

Er sieht nicht wie ein GI aus. Seine Ledersachen sind eng geschnitten, was bei ihm von Vorteil. Augustin kommt ab von seiner bisherigen Richtung, aufs Münster zu. Wo der Schaukasten des Kino-Centers zum Ausweichen zwingt, begegnen sie einander. Der andere fängt den Blick auf und dreht sich im Weitergehen um. Augustin blickt ihm durch die gläserne Vitrine nach. Der andere steht im Eingang und lässt die Augen über die Filmfotos wandern. Jetzt dreht er sich um, bleibt breitbeinig mit dem Rücken zur Kinokasse stehen, verlockend. Wäre man doch ein Mann rascher Entschlüsse … Dem anderen dauern die Präliminarien schon zu lange. Er deutet ein Lächeln an. Und während er langsam zur Kasse schlendert, weist er, smarter Psychagog, mit leichter Kopfbewegung ins Innere des Filmpalastes: ein Weg ins Verheißungsvoll-Ungeheure? Nein, nicht deshalb ist er hierhergefahren.

Augustin geht mechanisch weiter, nimmt erst am Münster die Außenwelt wieder wahr. Der Münsterplatz ist groß wie ein Baseballstadion. Der berühmte Turm: zum Erschrecken hoch. Die Häuser der Stadt, viel zu niedrig am Rand des Platzes, scheinen sich furchtsam vor ihm zurückgezogen zu haben. Vor dem Turm muss heute Markt gewesen sein. Ein Straßenfeger beseitigt die Überreste: geköpfte Astern, Kohlstrünke, verwehte Fetzen von Einwickelpapier. Das Kirchenschiff ist großenteils eingerüstet. Unablässig passieren Besucher das Portal, mit Gesichtern wie vor oder nach einer Kinovorstellung. Augustin will erst morgen hinein. Er bekommt ein Zimmer im Hotel Münsterblick. Der Name verspricht nicht zu viel, aber … Gewiss, auch ein Hotel Meerblick lässt einen niemals die ganze See überschauen, immer nur einen Ausschnitt. Doch blickt man gewöhnlich auf die Wasserfläche hinaus. Der Turm dagegen erfüllt erdrückend das kleine Zimmer, vom Fenster sind nur seine unteren Geschosse zu betrachten. Mit Baugerät ist der Platzausschnitt großenteils vollgestellt. Augustin legt sich aufs Bett und versucht, die wirren Eindrücke zu ordnen.

Nach dem Abendessen liegt er wieder auf dem Bett und entwirft ein Programm für morgen. Die Geräusche der Stadt, durchs offene Fenster hereindringend, scheinen mit schwindendem Tageslicht zuzunehmen. Er geht ans Fenster, stützt sich auf das Bord auf. Die Gehwegpassanten lassen sich von oben nur schwer betrachten. Autos stauen sich auf der schmalen Fahrbahn. Ein kleines Stück Münsterplatz gegenüber ist leer bis auf eine Gruppe junger Streuner. Sie lagern an einem Brunnen, dessen klassizistische Schale kein Wasser mehr füllt, und scheinen die Nacht unter freiem Himmel verbringen zu wollen. Einer hat schon den Kopf auf das Bündel mit seiner Habe gebettet. Augustin sieht noch mehr Plastiktüten, eine Rotweinflasche kreist, der Ruhende trinkt im Liegen. Es sind vier junge Männer und eine junge Frau. Ein schwarzer Schäferhund springt um sie herum und leckt sie der Reihe nach ab. Einer der Männer hat lange braune Locken und einen Vollbart. Er sieht wie die Heiligen bei den Nazarenern aus, vom Herrn Jesus gibt es ähnliche Porträts. Nur trägt er eine weinrote Samtjacke und eine enge weiße Hose, eine wenig jesuhafte Aufmachung; wie überhaupt die pralle untere Körperpartie nicht gerade nazarenisch fromm wirkt. Da hat er was von barocken Putti … Die weiße Hose kommt mit zunehmender Dunkelheit immer mehr zur Geltung. Hat was Obszönes, will mich nicht darauf konzentrieren, denkt Augustin, kehrt zum Bett zurück.

Es hält ihn nicht lange dort. Er löscht das Zimmerlicht und ist erneut am Fenster. Als seine Augen die Dunkelheit gewöhnt sind, sieht er sie drüben wieder. Sie lagern scheinbar in derselben Art wie vorhin. Doch im tiefen Schatten des Riesenturmes hat sich etwas verändert. Die junge Frau kniet vor dem Nazarener – so nennt ihn Augustin jetzt – und umfasst ihn rückwärtig, da wo die Samtjacke aufliegt. Unerhört, sie treiben’s oral-genital! Die Übrigen bedienen sich aus der Weinflasche, der Hund springt immer noch herum. Plötzlich erkennt Augustin unter den Trinkern die junge Frau wieder. Wer kniet dann aber vor dem Nazarener? Nach zwei, drei Minuten lösen sich die zwei aus ihrer engen, wenngleich nur punktuellen Verbindung. Das Wesen, das sich erhebt und gleich zur Flasche greift, hat männliche Züge. Augustin lässt die Jalousie herunter.

Am anderen Morgen regnet es - ein wahrer Landregen, unter dem die Stadt verschwindet. Und wo ist die Kommune vom gestrigen Abend? Geflüchtet, aufgelöst, weggeschwemmt. Wie es aussieht, wird es den ganzen Tag weiterregnen. Augustin will sich das Münster erklären lassen. Um neun beginnt die erste Führung am Hauptportal. Der Markt ist trotz Regen schon in vollem Gang. Er zwängt sich unter den schützenden Planen zur Kirche durch. Fünf vor neun: noch niemand da, seltsam. Bald nach ihm stellt sich eine junge Frau an. Sie mustern sich kurz und blicken dann weg. Er denkt über sie: schüchtern und kunstbeflissen. Neun Uhr vier: Jetzt könnte der Führer endlich kommen … Neun Uhr sieben: Sie schaut wieder zu ihm herüber:

„Warten Sie vielleicht doch auf die Führung?“ – „ Klar. Und wo bleibt der Führer?“ – „Das bin ich ja. Ich hab geglaubt, sie hätten sich hier nur untergestellt.“ Sie lachen beide. Die Busse, sagt sie, kämen erst später und gibt ihm ein Privatissimum. Sie macht es gut, sie hat die Welt der Parler und der Syrlin im Kopf. Ihr Vortrag geht zeitweise in ein Gespräch mit ihm über. Lange verweilen sie im Chor. Er kann sich kaum von den Figuren am Chorgestühl trennen: so viel Psychologie in Eiche! - „Welche der beiden spricht sie mehr an, die libysche oder die delphische Sybille?“ – Er findet ihre Frage eine Spur zu persönlich und antwortet nicht. – „Die beiden Figuren sind, wie die anderen Paare am Gestühl, antagonistisch. Hier die weiche libysche, da die viel herbere delphische Sybille. Den Gegensatz finden sie in allem: Haartracht, Kopfbedeckung, Haltung der Hände. Es sagt einiges über den Betrachter, zu wem er sich stärker hingezogen fühlt …“

Er lächelt nur und verrät nicht, dass sein Fall die delphische Sybille ist. Sie führt ihn weiter und er hört, dass das moderne Glasfenster ein Geschenk der Army ist, eine Art Wiedergutmachung. Auch das Münster sei ja von Bomben getroffen worden. Aber was sei das schon gegen den Steinfraß, er habe wohl die Gerüste gesehen. Es sei ein Wettlauf zwischen den Restaurateuren und dem Zerfall und fraglich, ob er auf Dauer zu gewinnen sei. Nach einer knappen Stunde ist die Führung vorbei. Sie wünscht eine angenehme Weiterreise. „Nehmen Sie sich Zeit für Zwiefalten.“

Dann bummelt er eine Weile im Regen. Es müsste hier mehr Arkaden geben. Um nicht zu sehr durchnässt zu werden, geht er ab und zu in die Kaufhäuser. Vom Nazarener und seiner Bande nirgendwo eine Spur. Hat er vielleicht gestern Abend halluziniert? Kann sich dergleichen ereignen an einem Ort, an dem anscheinend nur die Sonderangebote die Menschen bewegen? Wie ernsthaft sie bei der Sache sind: Preise vergleichen, ein Los kaufen, Speisekarten studieren. Keiner blickt den anderen an, keiner will sich von seiner Sache ablenken lassen. Jeder dem anderen nur ein Hindernis, von dem er nicht aufgehalten werden mag. Sie sind nicht unhöflich, aber ihre Höflichkeit ist unpersönlich, eine Art Wagenschmiere, die die Räder schneller rollen lässt. Grobheit, Verletzendes würde Verzögerung, Ablenkung von der zu verfolgenden Sache bedeuten. Die Stadt ist um diese Zeit geschäftig und öde zugleich. Die Kinos laufen noch nicht. Er nimmt Kuchen mit auf sein Zimmer.

Probeweise will er am Nachmittag schon einmal aufs Land und fährt mit dem Bus zu dem aufgelassenen Kloster, wenige Kilometer außerhalb. Die Scheiben sind während der Fahrt ständig beschlagen, er sieht nichts vom Weichbild der Stadt und steht dann unvermittelt im Klosterhof. Die Schaufassade von Kirche und Kloster erschlägt ihn beinahe, selbst in diesem diffusen Grau. Sie ist zugleich urtümlich und überaus raffiniert. Diese Wehrmauern scheinen schon immer dagestanden zu haben und wirken doch so elegant und filigran, als hätte man bis zuletzt an ihnen poliert und ziseliert. Tatsächlich ist das Bild seit zweihundert Jahren unverändert und ist wiederum nur Momentaufnahme. So viele Jahrhunderte hat das Kloster bestanden, doch alles, was Augustin sieht, ist Produkt seiner letzten Jahre. Ein radikales Rokoko hat hinweggefegt, was Jahrhunderten genug war, und durch ein pompöses Bühnenbild ersetzt. Diese konservierte Fassade eines leeren Gehäuses bewahrt für alle Zeit den Geist nur einer einzigen Generation – oder vielmehr drückt sich in der wuchtig abweisenden Schaufront allein die Opposition gegen den Geist vernünftiger Klarheit aus. Gürtet sich so, was sterben muss? Das Martialische ist auf die Spitze getrieben, das scheinbar Uneinnehmbare entpuppt sich als Kulisse und Attrappe. Die kantig verschobenen massigen Türme mit Fenstern wie Schießscharten sind Stümpfe geblieben, als hätten Revolutionstruppen die Baugerüste abgebrochen.

In der Kirche kommt er nicht weit, sie feiern eine Hochzeit. Er bleibt hinter der Glaswand stehen, die einen Windfang vom Schiff abteilt. Er kann die Ausstattung nicht betrachten, nur die auftrumpfenden Kolossalpilaster aus der Ferne. Dann die Bibliothek – elegante Schnitzfiguren bevölkern sie. Sind es die neun Musen, wird gefragt. Nein, erklärt die rüstige Alte, sie verkörpern die Wissenschaften und die Tugenden. Die Führerin schwäbelt stark und macht den Amerikanern in schwäbelndem Englisch klar: Solche barocken Innenräume hat es auch in der Stadt gegeben, vor dem Krieg und vor den Bomben. Man hört ihr mit höflich unbeteiligter Miene zu.

Er betritt erneut die Kirche. Noch immer erfleht der Priester den Segen des Himmels. Augustin, mit den Riten nicht vertraut, will schon endgültig verzichten, da werden sie vorne unruhig, erheben sich, raffen zusammen. Ihren Auszug lässt er sich nicht entgehen. Er bleibt im Windfang, tritt zwei Schritte zur Seite. Da kommen sie schon, da ist das Brautpaar. Wie sieht der Bräutigam denn aus? Mehr als passabel. Schräg hält er seinen hübschen Kopf, damit er gut zur Geltung komme. Geht wie durch ein unsichtbares Spalier und setzt die stattlichen Füße etwas geziert. Wahrscheinlich wird draußen gleich fotografiert und gefilmt, er ist vorbereitet. Halblanges dunkles Haar umrahmt ein rundes, gefälliges Gesicht. Oder sollte man es selbstgefällig nennen? Es ist ein sanftes und kühnes Gesicht, im Ausdruck zugleich mild und arrogant. Der Schnurrbart senkt sich üppig auf den weichen Mund, um sich an den Enden gleich wieder aufzuschwingen – er will einmal Backenbart werden. Der Bräutigam schreitet, dabei lässt er den Blick langsam kreisen, einen materiell interessierten Blick, der alles umfängt: Kirchenschiff, Verwandtschaft, Braut, das bis jetzt nur durch Augustin vertretene Spalier. Denkt er schon an das festliche Mahl? Man stelle ihn sich beim Essen vor: isst und trinkt langsam und viel und schweigt dazu bedeutsam. Nur ruhig bleiben und das stattliche Äußere wirken lassen …

Die Braut? Nun, es heißt ja, Gegensätze zögen sich an, und vielleicht sind kleine, magere, sommersprossige Wesen tatsächlich sein Geschmack. Denkbar ist, dass noch andere Kräfte hier am Werk waren. Irgendein Magnetismus muss seine Wirkung getan haben. Übrigens ist der Bräutigam der Einzige, der befriedigt in die Runde schaut. Die restliche Gesellschaft kennt nur zwei Seelenzustände. Der männliche Teil wirkt bedrückt, der weibliche gerührt, wenn nicht aufgewühlt. Die Brautmutter schluchzt sogar. Warum weint man denn? Vielleicht kommt’s von der Orgelmusik.

Er geht zu Fuß zurück in die Stadt. Durch Auenwälder führt ein Weg den Fluss entlang, der aus den Alpen kommt und in der Nähe in den Hauptstrom mündet. Es treiben die vom Dauerregen angeschwollenen Wassermassen dahin, als hätten sie es eilig, an ein Ende zu gelangen. Auf der Oberfläche des dahinschießenden Wassers schaffen die vielen aufprallenden Tropfen aufgischtend einen Perlenvorhang. Er verbirgt alles, was vielleicht im Fluss mitschwimmt. Die verfilzten Umrisse der Baumriesen am Ufer verschwimmen in der vom Regen übersättigten Luft. Augustin zieht die Kapuze des Regenmantels enger zusammen. Von allen Geräuschen der Außenwelt bleibt nur das Hämmern der Tropfen übrig, einlullendes Stakkato, dem sein eigener kräftig arbeitender Puls einen Singsang unterlegt. Dann reißt der Waldgürtel rechts auf. Weite, vor Feuchtigkeit dampfende Wiesen geben den Blick frei. Doch von der Stadt ist nichts zusehen, nur der Turm des Münsters, scheinbar bloß, wie infolge noch größerer Konsistenz des Wasserdampfs, eine schwärzliche Wolke am grauen Himmel.

Einige Tage später erreicht er Zwiefalten. Von der hohen Kirchenfassade herunter umfasst der heilige Aurelianus mit einer Gebärde voll unendlicher Empfindung das ganze Kloster, das jetzt Irrenanstalt ist. Das Kircheninnere ist sehr farbig. Es ist, als löse sich der Baukörper in dem heftigen Spiel der Farben und Formen auf, wie eine Ästhetik der Verwesung. Der Prophet Ezechiel weist dazu verzückt auf die Kanzel an der gegenüberliegenden Kirchenwand. Der Kanzelfuß stellt ein Gräberfeld am Jüngsten Tag dar, einen vor Fruchtbarkeit überquellenden Gottesacker.

Am neunten Tag seiner Reise sucht er schon mittags ein Zimmer für die Nacht, wieder im Schatten einer barocken Klosterburg. Wie in Zwiefalten hat es auch hier mit dem Fortgang der Mönche Platz gegeben für die Gemütskranken des gewerbfleißigen Landes. Seelisch Gesunde kommen auch und wollen sich erholen, von was auch immer. Wem nichts fehlt, wirft nur einen Blick in die Kirche und einen in die Bibliothek und reist spätestens am nächsten Morgen weiter. Die Kirche ist ein wenig düster, schöner die Bibliothek und berühmt ihr Deckengemälde. Seinetwegen kommen viele Touristen und verrenken sich die Hälse. Die Mitte des Saales ist von weiß lackierten Stühlen blockiert. Auf ihnen sitzen die Patienten, wenn Messe gefeiert wird. Übrigens sind die Bücher alle fort. Hinter den bemalten Schranktüren ist nichts.

Der Park ist für jeden zugänglich. Die Anstaltsgebäude sind zwanglos in ihm verteilt, viele Besucher im Park. Augustin hat eine Bank für sich allein und will Zeitung lesen. Er kommt nicht dazu. Eine ältere Frau zieht es in seine Nähe, sie lässt sich mit muffigem Gruß links von ihm nieder. Er rückt ein wenig zur Seite, gerade so viel, dass sie es nicht als Zurückweisung auffassen muss. Er betrachtet sie unauffällig: graues Hauskleid, Knoten im Nacken, derbe Schuhe. Überraschend nun doch beginnt sie ein Gespräch: „Wohnen Sie auch hier?“ - Wie soll er das verstehen? „Ja, aber nur für eine Nacht, im Gasthof. Und Sie?“ – Es stellt sich heraus, dass sie gewöhnlich in einem Tübinger Altersheim lebt. Man habe sie hierher verschickt, zur Erholung. Nach vier Wochen dürfe sie heim nach Tübingen, ganz bestimmt. „Sind Sie ein Lehrer?“ fragt sie dann. Er muss verneinen. Sie wiederholt trotzdem: „Ein Lehrer … Sie müssen ein guter Mensch sein.“ Er macht eine abwehrende Geste und kommt sich unsauber vor, in ihm ein Bedürfnis nach Seife und Händewaschen.

Auf einmal nimmt auf seiner anderen Seite noch eine Dame Platz, eine Vierzigerin, adrett gekleidet und noch ziemlich rosig. Sie jedenfalls ist ohne Zweifel Touristin. Die beiden Sybillen beginnen sich zu mustern, die linke tut es feindselig, die rechte zurückhaltend. Da steht die Ältere wortlos auf und geht zu einer anderen Bank. Von dort aus beobachtet sie den Fortgang der Ereignisse.

„Verzeihen Sie, dass ich gerade hier Platz genommen habe“ - er rückt fast unmerklich ein wenig nach links -, „aber ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Wohnen Sie jetzt auch hier?“ Missverständnisse scheinen hier in der Luft zu liegen. Sie stellen beide alles richtig. Sie sagt ihm, sie mache nie ein Geheimnis daraus, wenn sie zum Beispiel draußen im Gasthof oder auf einer Veranstaltung einen Fremden kennenlerne. Man erfahre es ja doch … Seit vierzehn Jahren lebe sie schon hier unter den mehr als tausend Patienten, vor vierzehn Jahren sei sie aus Göppingen hierhergebracht worden. In Göppingen lebe noch immer ihre Schwester, die sich gar nicht für sie interessiere. Vor drei Jahren sei sie zuletzt auf Besuch gekommen und sie sei so kalt gewesen … „Es geht mir nicht schlecht, nur eine richtige Arbeit fehlt mir. Ich würde so gern arbeiten … Manchmal habe ich ja diese Anfälle, zuerst ist es ein leichter Schwindel, dann ein richtiger Rausch. Und später erscheint mir die Jungfrau Maria … Die Schwester Oberin sorgt dann dafür, dass ich allein in einem besonderen Raum bleibe, und die Schwester Oberin hat auch ein Mittel, eine Spritze, dann bin ich bald wieder ganz normal, wie jetzt … Nur selten dauert es länger an, dabei ist mir auch unser Herr Jesus schon erschienen. Ich habe mich vor ihn hingekniet, er hat mir die Hand mit dem Ring gereicht, ich habe den Ring geküsst …“

Sie ist lebhaft geworden und kommt ihm allmählich näher. Er seinerseits rückt langsam nach links und hat schon fast das Ende der Bank erreicht, da winkt sie einem Herrn in ihrem Alter auf einer weiter entfernten Bank zu. „Es ist mein Bekannter. Er hat schon ein paar Mal zu uns herübergesehen. Aber er ist zu schüchtern, um zu uns zu kommen. Ich will jetzt lieber zu ihm gehen und verabschiede mich daher von ihnen. Vielen Dank, dass Sie Zeit hatten für unser Gespräch. Leben Sie wohl …“

 

 

22. Chaos

 

Es ist Anfang Mai und schon fast wie im Hochsommer. Das Abteilfenster, eine Handbreit heruntergelassen, ist schlecht verankert und klappert in der Druckluft des Fahrtwindes. Zügig ratternd geht es voran. Nicht zu entziffern sind die Namen der kleinen Waldbahnhöfe, an denen der Schnellzug nicht hält. Die Siedlungen liegen abseits der Strecke, verborgen im Wald. Überall ist Schatten, Schlieren vom dunklen Grün der Fichten ziehen sich durch das noch sehr helle der Buchen. Auf einmal reißt der Himmel auf – eine Lichtung, die der Zug auf einem hohen Damm durcheilt. Dem lichten Fleck oben entspricht ein dunkler in der Tiefe. An einem Teich sonnenbaden sieben oder acht nackte junge Männer. Und als sie den Zug oben auf dem Bahndamm bemerken, springen sie auf, johlen und gestikulieren. Wie sie es genießen, nackt zu provozieren, namenlos. Nur zwei oder drei Augenblicke, dann hat der Wald die schamlosen Gebärden verschluckt.

In der Ebene vor dem Wald liegt die kleine Stadt und weit außerhalb von ihr der Bahnhof. Dennoch hat man das Kriegerdenkmal nicht in der Stadt, sondern vor dem Bahnhof errichtet. Ursprünglich war es nur den Toten von 1870/71 gewidmet, die Jahreszahlen späterer Kriege hat man dann auf dem Sockel einfach hinzugefügt. Das Denkmal ist ungewöhnlich theatralisch. Ein gut aussehender junger Mann, die Figur aus weißem Sandstein und frisch gereinigt, liegt am Boden und hält sterbend die Fahne noch hoch. Wie seelenvoll sein Blick dabei ist, wie gepflegt die Frisur. Er könnte im Zivilleben Darsteller von Liebhaberrollen sein, und den süßlichen Schwung des allzeit erfolgreichen Charmeurs hat er auch in dieser Rolle nicht abgelegt. Er fehlt nur, dass er aufsteht, sich verbeugt und man applaudiert.

Der Fußweg in die kleine Stadt führt eine viel befahrene Straße entlang. Auf ihr fahren jetzt fünf junge Motorradfahrer in die Stadt hinein. Sie halten an einer Ecke und fangen, ohne abzusteigen, untereinander zu streiten an, vielleicht über ihr Ziel oder den Weg dorthin. Alle tragen schwarze Lederjacken, drei von ihnen blaue Jeans, zwei schwarze Lederhosen. Einer von denen mit blauer Hose macht einem anderen mit schwarzer Vorhaltungen. Er gestikuliert heftig, gerät immer mehr in Zorn und versucht sogar, den anderen zu schlagen. Der Abstand zwischen ihren Maschinen verhindert, dass er ihn treffen kann. So fuchteln sie beide nur mit den schwarzledernen Armen drohend in der Luft herum. Sie haben die Helme noch auf und die Handschuhe noch an. Auf ihren Maschinen sitzend erinnern sie an gepanzerte Rittersleut zu Pferd. Beherrscht von der Lust auf Aggression, wagen sie aus Sorge um die Ausstattung nicht zuzuschlagen. Dabei ist es gerade die Ausstaffierung, die die Sinne reizt und anschaulich macht, wie sie zueinander stehen. Die Sporen jedoch sind bloß zur Verzierung da, und so zeigen sich beide nur den Vogel – woraufhin der zweite Schwarzbehoste das Signal zur Weiterfahrt gibt. Ihm folgt nur der von den Streithähnen, der in der Aufmachung mit ihm identisch ist. Die Gruppe der Blauhosen fährt stattdessen geschlossen in entgegengesetzter Richtung davon.

Das Hotel heißt Elysée garni und ist das zweitbeste am Platz. Es liegt außerhalb der ummauerten Altstadt, man biegt vor dem Neustädter Tor in eine Kastanienallee ein. Es ist schon Feierabend, die Büros in den alten Villen sind verwaist und die Parkplätze unter den blühenden Bäumen meistens frei. Die Firmenschilder glänzen in der Abendsonne und sind nicht immer gleich verständlich. Was ist ein Automationsbüro? Ein Dentallabor hat die Scheibe eines Spitzbogenfensters mit Milchglas ersetzt. Der Immobilienmakler daneben versichert auf seiner Messingtafel: Wir sind für Sie da seit 1910! – Hier stimmt sprachlich etwas nicht, denkt der Spätergeborene, das ist vor unvordenklichen Zeiten gewesen, für mich hat er damals noch nicht gemakelt … Unvorsichtigerweise beginnt er nachzurechnen, und wenn er um 1950 geboren ist, wird er bestürzt feststellen, dass zwischen dem Gründungsjahr der Firma und seinem Geburtsjahr etwa vierzig Jahre liegen. Nur vierzig Jahre, wiederholt er, denn vierzig wird er in Kürze selbst. Und heißt das nicht, dass mit jedem Tag in der Zukunft der Abstand zwischen der eigenen Existenz und dem nebelhaft fernen Jahr 1910 relativ an Bedeutung verliert?

Herr Wechsler, der Direktor des Elysée garni, scheint seine Gäste jeweils schon erwartet zu haben; zumindest behauptet er es, wenn er ihnen, noch sehr elastisch für sein Alter, im Foyer entgegeneilt. Dabei hat man sich am Vorabend bloß telefonisch und ohne Zeitangabe angemeldet. Womöglich ist Herr Wechsler nicht nur Direktor des Hotels, sondern auch dessen einziger fester Angestellter. Nur ihn sehen die Gäste beim Empfang wie beim Frühstück. Wahrscheinlich hat er für die Zimmer eine Hilfe – sie könnte übrigens gründlicher sein. Herr Wechsler selbst ist eine durchaus gepflegte Erscheinung, nur seine Munterkeit ist verdächtig. Er redet zu viel, geht auf Fragen nicht immer ein, stellt seinerseits Gegenfragen und nimmt die Antworten dann häufig nicht zur Kenntnis. Sollte er trinken? Das würde auch den Tremor erklären. Es kann vorkommen, dass er einen falschen Zimmerschlüssel aushändigt. Man geht in diesem Fall noch einmal hinunter und erhält den richtigen, wobei der Mund des übereifrigen Direktors einem so nahe kommt, dass man nun auch den typischen Geruch wahrnimmt. Davon abgesehen ist das Elysée garni ein adrettes Haus, wirklich zu empfehlen.

Zum Essen rät einem Herr Wechsler in das Grillhaus am Buttermarkt zu gehen. Kommt man vom Neustädter Tor dahin, zwingt einen an der Ecke des Platzes eine Crêpes-Bude, auf die Fahrbahn auszuweichen. „Lecker!“ preist der Crêpes-Bäcker sein Produkt an, lang gezogen und gellend tut er es. Drinnen im Grill, hinter den modernen Butzenscheiben, hört man ihn auch. Ziemlich exakt alle fünfzig Sekunden dringt sein „Lecker!“ durch das gekippte Fenster, das Zigarettenqualm und Essensgerüche ins Freie entlässt. Wie ein höhnischer Kommentar ertönt sein Ruf, begleitet Vorsuppe, Hauptgericht und Nachspeise, verfolgt einen noch auf dem Rückweg ins Elysée, und halb im Schlaf schon hört man noch dieses „Lecker!“ als Echo im eigenen Kopf.

Das Frühstück ist im Elysée garni ungewöhnlich reichhaltig. Nicht nur, dass Herr Wechsler Brötchen, Kaffee, frische Wurst und frischen Käse samt Butter und einem Ei herbeibringt – Konfitüre und Honig stehen schon auf dem Tisch bereit -, er ermuntert einen noch, sich nach Belieben am Büffet zu bedienen. Dort warten Säfte, Flocken, diverse Brotsorten, wohl frisch angemachte Salate, Frikadellen, sogar Rollmöpse und eingelegte Eier. Es ist schwer, sich einen Überblick zu verschaffen. Man schenkt sich ein Glas Saft ein, gießt Milch über das Müsli, meidet instinktiv den leckeren Fleischsalat und nimmt noch eine abgepackte Ecke Weichkäse mit. Dann verkürzt einem Herr Wechsler die Mahlzeit, indem er autobiographische Details preisgibt. Überall sei er schon gewesen, auf Sylt, in Bad Pyrmont, in Reichenhall, überall schicke man ihn hin, wo Betriebe zu sanieren und rote Zahlen zu beseitigen seien. Er ist sichtlich mit sich zufrieden und bläst den Rauch seiner Zigarette in Richtung des Gastes, der in seiner Polsterecke wie gefangen sitzt und nicht ausweichen kann. Herr Wechsler hat es sich schräg gegenüber bequem gemacht. Plötzlich ekelt sich der Gast. Der Weichkäse, den er für lange haltbar angesehen hat, ist stark verschimmelt …

Auf dem Weg zum Bahnhof bietet sich erneut ein martialischer Anblick. Ein Motorradfahrer ist dicht an eine Hausfassade herangefahren. Breitbeinig hält er die Maschine im Gleichgewicht, die Stiefelabsätze berühren nur mit ihren Außenrändern den Boden. Die Maschine steht quer zum Gehweg, ein wenig schräg zur Fassade. Man könnte im Näherkommen sein Profil betrachten, wenn er den Helm abnehmen würde. Er klemmt erst die schwarzen Handschuhe unter den linken Arm seiner rotweißen Jacke – auch die Hose ist aus rotem Leder -, dann zieht er einen kleinen Gegenstand aus der Innentasche seiner Jacke und macht sich damit in sehr gespannter, ganz abwehr- und abfahrbereiter Haltung an der Fassade zu schaffen. Indessen trügt auch hier die brutale Ästhetik, die zuerst an Überfall und Bombenlegen denken lässt – der junge Mann geht bürgerlichen Geschäften nach: Er bedient den Geldautomaten einer Sparkassenfiliale.

 

Noch eine Kleinstadt. In dieser hier zeigen sie von Mai bis Oktober eine Gartenschau. Heute hat sie Besuch von der Kriminalpolizei, gleich eine ganze Abteilung drängt sich am Kassenhäuschen vorbei. Sie sind lässig, wirken verschlafen, sie sind heute auf einem Betriebsausflug. Gleich hinter dem Eingang bewundern sie die ersten Rabatten, wo vanillepuddinggelbe Tulpen mit solchen von tiefem Blauschwarz abwechseln. Die Polizisten lesen die Namensschilder, die dunklen Tulpen heißen Queen of the Night. Ein ahnungsloser Züchter hat da die Begriffe verwirrt. Eine schwarze Tulpe wird in dunkler Nacht alles andere als königlich wirken. Im Übrigen hat der Name bereits seine spezielle Bedeutung von leicht anzüglichem Charakter. Man hätte es dem Züchter sagen sollen: Als Königinnen der Nacht werden auch gewisse nächtlich-erotische Gestalten bezeichnet, deren Regiment samt ihren Reizen mit dem Erlöschen dezenter Beleuchtung und zunehmender Tageshelligkeit endet. Wenn die leeren Flaschen abgeräumt sind, wird noch das grelle Kunstlicht angedreht und eine Tunte kreischt: „So seht ihr also wirklich aus!“ – woraufhin sich alle schnell davonmachen und draußen, im Frühlicht eines vielversprechenden Sommertages, mit den bloßen Händen ihre vom Zigarettenqualm entzündeten Augen bedecken: schuldbewusst. Wissen das die Kriminalbeamten?

Auf ihrem weiteren Rundgang bemerken die Beamten immer wieder Kollegen aus den übrigen Polizeisparten. Die bayerischen Polizisten lieben die Gartenschau, und sie tragen zu ihrem Gelingen bei, wozu immer sie imstande sind. Die bayerische Bevölkerung ihrerseits liebt ihre Polizei und umlagert die Einrichtungen, die diese im weitläufigen Park aufgestellt hat. Mannschaftswagen stehen auf den breiten Wegen herum, ein Boot der Wasserschutzpolizei sitzt auf dem Trockenen, ein junger Mann in schwarz schimmerndem Taucheranzug – Modell Königin der Nacht – steht neben dem von Schlinggewächsen überwucherten Teich und spielt verlegen mit Schnorchel und Taucherbrille in seinen Händen. Die Polizei hat also auch eine Tauchergruppe – die bayerischen Wasserleichen wollen geborgen sein. Ob er sich wirklich ins Biotop stürzen wird? In der Ferne hört man zu allem entschlossenes Hundegebell; das Publikum freut sich auf die Vorführung der Schäferhundestaffel. Nicht ausgeschlossen, dass man sich auch den Blutalkohol testen lassen kann. Für den einen oder anderen Test kann das Gesundheitsamt zuständig sein, vielleicht würde die Polizei Amtshilfe leisten.

Weiter geht es zu den Nutzgärten, zu Rainen und Spalieren, zu Wildkräutern, die früher Unkräuter geheißen haben, und zu Nützlingen. Diese fressen Schädlinge, die immer noch so heißen. Zu Zwecken der Demonstration ist ein Hochbeet angelegt worden, es sieht aus wie ein mit Gurken und Tomaten bepflanztes Hügelgrab.

Ein Salatkopf, dessen gekräuselte grüne Blätter ins Rötliche spielen, erregt das Interesse einer grauhaarigen Fünfzigerin. Sie fragt den jungen Gärtner nach dem Namen des appetitlichen Gemüses.

„Lollo rosso.“ Er schaut kaum auf und arbeitet im Beet daneben weiter.

Sie hat es nicht verstanden und fragt noch einmal.

„Lollo rosso – ‚s steht eh draaf.“ Unmutig weist er nach dem Täfelchen, dessen Schrift sie mit ihrer Fernbrille vielleicht nicht lesen kann.

Sie gibt sich zufrieden – man weiß nicht, ob sie es wirklich ist – und geht langsam weiter. Indessen verwandelt sich die Szene rasch. Es treten zwei junge Damen auf, beide sind gewiss noch keine zwanzig. Es sind grazile Wesen in sehr engen röhrenförmigen Shorts von knallig gelbgrüner Farbe. Sie stellen keine Fragen, zeigen sich nur selbst, indem sie ein wenig zwischen den Gemüsebeeten auf- und abgehen. Und der Gärtner hat sie kaum bemerkt, da unterbricht er seine Arbeit und erhebt sich aus der Hocke. Er begrüßt sie freundlich und zeigt ihnen als Erstes den Lollo rosso. Ja, das sei doch ein Prachtexemplar, der gefalle jedem, nicht wahr? Sie sind nicht sehr beeindruckt. Darum legt er um eine jede von ihnen einen seiner erdfarbenen Arme, sie lassen den Lollo rosso und gehen Eis essen.

 

Die Bezirkshauptstadt ist eine kleine Großstadt mit Dom, Universität und Autofabrik. Vor dem Hauptbahnhof erwarten zwei müde Punks die Angekommenen. Einer spricht beinahe jeden an: „Hast du mal `ne Mark für mich.“ Er sagt es tonlos, ohne die Stimme am Schluss zu heben, und niemand gibt ihm etwas.

Eine lange verkehrsreiche Geschäftsstraße führt vom Bahnhof ins Zentrum. An jeder Ecke regeln Ampeln den Verkehr. Fußgänger wechseln vom Stillstehen zum hastigen Gehen. Ein Herr und ein Dame, beide um die dreißig, die blicklos aneinander vorbeigehen wollen, fühlen sich plötzlich am weiteren Vorwärtskommen gehindert. Mit suchendem und auch schon strafendem Blick erforschen sie die Umgebung: Wo ist der (die) Unverschämte? Jetzt stehen sie beide allein auf der Fußgängerfurt, die Wogen haben sich geteilt und verlaufen. Fest verbunden sind sie miteinander, die runde Krücke seines unternehmend abgespreizten Stockschirmes hat den mobilen Lederriemen ihrer Schultertasche in seiner raumfordernden Bewegung aufgefangen. Jetzt haben sie es begriffen, sie nestelt den Riemen von der Krücke los, und dann gehen sie sofort weiter, ohne auch nur einmal zu lächeln.

Vor dem Warenhaus in der Pfauengasse hockt eine orientalische Bettlerin auf dem Boden, die traditionellen Röcke faltenreich um sich her drapiert, das Kleinkind in der Beuge des linken Armes geborgen. Die rechte Hand streckt sie jedem Passanten entgegen, wobei der Handteller eine tiefe Höhlung bildet. „Bitte, bitte … reicher Mann … bitte, bitte … danke … bitte …“ Es ist ein unaufhörlicher monotoner Singsang, eine Art Generalbass unter dem dissonanten Stakkato der Käuferströme. Sie bedankt sich auch, wenn nichts gegeben wird, was meistens der Fall ist.

Abends in einem Restaurant in der Altstadt. Die Küche ist italienisch. Durch große Glasscheiben fällt der Blick auf das Pflaster eines Straßenplatzes. An seinem Ende steht der Stumpf eines Geschlechterturmes. Die Hausfassaden sind gotisch. Irgendwo in der Nähe muss eine Disco sein. Junge Burschen vom Land halten mit ihren Mopeds an. Sie haben ihre Stiefel mit Plastiktüten vom Supermarkt umwickelt, um sie vor Dreck- und Regenspritzern zu bewahren. Sie wickeln die Stiefeletten aus ihren Hüllen, stopfen die Tüten in ihre kleinen Rucksäcke und steigen wieder auf. Dann erst fahren sie vor. In einer der Seitengassen wird die Disco sein.

Das Kristallweizen enthält viel Kohlensäure. In sehr rascher Folge steigen die Bläschen auf; erstaunlich, dass sich der Vorrat so schnell nicht erschöpft. Ab und zu wird die Mahlzeit unterbrochen. Ein Buckliger will rote Rosen verkaufen. Seine Erscheinung erinnert die gut Gewachsenen an ihr Glück. Sie genießen es und halten trotzdem den Kauf einer Rose für eine Regung ihres Mitleides.

Schließlich kommt noch ein ambulanter Dichter. Dieses Buch hier habe er selbst verfasst. Ob man nicht ein Exemplar kaufen wolle?

 

 

23. Das war mal mein Zimmer!

 

Der Erwerbstrieb ist eines der starken Motive im Leben. Motiv heißt auf Deutsch Beweggrund. Und sehr rasch bewegten sie sich auch damals, als einer von ihnen hervorstieß: Ein Bus – ein Bus kommt! Ich saß im Speisesaal eines Restaurants in den steirischen Alpen, einer von nur wenigen Gästen. Am langen Nebentisch hielt das Personal während der Flaute selbst Mittag und unterbrach die Mahlzeit sogleich, als der Bus auf dem Parkplatz ausrollte. Alle ließen sie Messer und Gabel buchstäblich fallen und eilten an ihren jeweiligen Einsatzort: Küche, Tresen, Gänge zwischen den dekorierten Tischen - ein lebendes Bild geschäftstüchtiger Arbeitsamkeit.

Wenn das Geschäft sich unerwartet belebt, bekommen auch Gäste das manchmal zu spüren – oder die im Haus lebenden Kinder der Wirtsleute. Mein Freund Sascha wurde mal im Spessart aus von ihm bewohntem Zimmer hinauskomplimentiert und umquartiert ins Privatlogis des Sohnes. Die Pension war jetzt wirklich belegt bis unters Dach. Ein Doppelzimmer vorbestellt als Einzelzimmer - und auch schon seit Tagen belegt -, das galt nicht mehr mit der Ankunft weiterer Gäste. Zusammenrücken war nun die Devise. Sascha machte es sich also ganz oben im Jugendzimmer des Schülers gemütlich, der vielleicht in den Keller übergesiedelt war.

Dreist auch das Begehren unserer Vermieterin einmal in Tirol. Als wir die erste Nacht in der Ferienwohnung hinter uns hatten, kam sie mit dem Ansinnen, ihren halbwüchsigen Sprössling auch noch bei uns unterzubringen. Wir benötigten das dritte Zimmer wohl nicht? Wir könnten doch nicht wollen, dass der Junge außer Haus übernachten müsste? Doch wir zeigten uns hartherzig, sprachen von abgeschlossener Wohnung und bestanden auf Vertragserfüllung. Der Sohn kam später mürrisch zu uns herein, um die Schulbücher routiniert einzusammeln.

Krasser noch, was wir in einer kleinen bayerischen Stadt erlebten. Wir hatten ein Doppelzimmer in einer Pension gefunden, nur für eine Nacht, und lagen im Bett, halb schon im Schlummer. Da pochte es an der Zimmertür, ein uns Fremder wollte hereingelassen werden. Du machst die Tür nicht auf, zischte Sascha. Er verkennt mich manchmal, gern blieb ich unter der Decke und ließ ihn mit dem Fremden reden. Der hörte sich an wie einer aus der Mark, aus Eberswalde, Fürstenwalde, Luckenwalde oder Liebenwalde … Er kam wohl von der Arbeit und sagte: Das war mal mein Zimmer! Es klang klagend, rührend. Doch Sascha ließ sich nicht rühren, legte durch die geschlossene Tür dar, wie dieses Zimmer uns vor Stunden angeboten und von uns genommen worden sei. Es ging noch eine Zeitlang hin und her mit Das war mal mein Zimmer! und Aber wir haben es gemietet! Dann kam die Wirtin und führte den Gast mit den älteren Rechten dahin, wo sie seine Sachen bei unserem Eintreffen eilig hinbefördert haben musste. Wer zahlt, schafft an, und wer mehr zahlt, hat mehr Rechte – Lehrstunde in Marktwirtschaft, frühe neunziger Jahre.

 

  

24. Wir kamen bis Syrakus 

 

Frühling 1979. Aus triftigem Grund verzichten zwei junge Männer aus Hamburg im letzten Moment auf eine gebuchte USA-Reise. Was anfangen mit einem ganzen freien Monat? Sie wollen nun in den Süden, fahren am ersten Urlaubstag bis Stuttgart, beginnen dort erst, die Reise zu planen: Oberitalien bis zur Linie Genua – Bologna oder doch viel weiter? Sizilien wird dann das Ziel von Improvisationen … Hier das redigierte Reisetagebuch:

 

 

18. April (Mittwoch)

 

Gestern früh verließen wir Stuttgart und erreichten Mailand am Spätnachmittag. Es war eine der schönsten Eisenbahnfahrten, die man in Europa jetzt unternehmen kann. Zuerst die Stuttgarter Raum, ergrünend, blütenreich, danach die noch recht kahlen Szenerien am oberen Neckar und zur Grenze hin, nun die wieder recht grüne Schweiz, wo besonders an den Seen vieles in Blüte stand, weiter die Fahrt durch die verschneiten Zentralalpen, schließlich das noch steingraue obere Tessin, erst ab Bellinzona wurde es wieder frühlingshaft – und endlich die Lombardei, wo die Vegetation schon weit fortgeschritten ist. Fast alles ist hier grün und an jeder Ecke blüht es.

Die Stadt ist riesengroß, laut, hektisch. Wir bekamen trotz der Messe schnell ein relativ billiges Zimmer, drei Metrostationen vom Hauptbahnhof. Leider ist auch die Unterkunft lauter als die, die wir letztes Jahr in der Toskana oder in Rom hatten. Wir fuhren am Abend mit der Metro zum Domplatz, fanden rasch ein passendes Restaurant und gingen zu Fuß zurück. Der Schlaf war nicht besonders gut. Heute Morgen im Hauptbahnhof viel Zeit vertrödelt beim Versuch, für morgen Abend Plätze im Liegewagen nach Neapel zu bekommen - unüberwindbar die Sprachbarriere. Wir haben beschlossen, schon morgen früh nach Rom zu fahren, ohne zu wissen, wann es nach Neapel weitergeht.

Vom Bahnhof Rundgang durch die Stadt, gemischte Eindrücke. Das Hochhausviertel um die Piazza della Repubblica kam uns mittelmäßig vor. Der Dom dagegen ist als Bauwerk wahrlich imposant, die innere Ausstattung entspricht dem vielleicht nicht ganz. Ein einmaliges Erlebnis war, auf einem Kirchendach in einem Wald von Marmorfiguren herumzugehen, die Statuen isoliert wie lauter Eremiten im Sinai und tief unter ihnen die betriebsame Millionenstadt. Wir aßen in einem großen Self-Service-Restaurant in der Galleria, erkundeten dann die Gegend um Dom und Scala. Zum Schluss besichtigten wir das große, düster wirkende Sforza-Kastell und fuhren mit der Metro zurück zum Hotel. An der Station Piola verfehlten wir den richtigen Ausgang und gingen lange in die Irre. Eine riesige, labyrinthische Stadt!

 

 

21. April (Samstag)

 

Endlich im tiefen Süden, nach Überwindung vieler Hindernisse. Es fing damit an, dass wir am Donnerstagmorgen mit der Metro zum Mailänder Hauptbahnhof fahren wollten, mit unseren Koffern aber eine halbe Stunde lang nicht in die überfüllten Bahnen hineinkamen. Wir erreichten zwar noch den Zug nach Rom, fanden aber keine freien Sitzplätze, so dass wir lieber ausstiegen. Sollten wir überhaupt noch weiter nach Süden fahren? Wir beschlossen, unsere Sizilienpläne nicht aufzugeben. Da der nächste Zug nach Rom erst um ein Uhr mittags fuhr, hatten wir noch Zeit für eine zweite Besichtigung des Doms und ein Mittagessen in der Galleria.

Dann die Fahrt durch die üppig grüne Lombardei, vorbei an den alten Städten der Emilia-Romagna, durch den Apennin, über Florenz und durch die Toskana und Umbrien. Um acht Uhr abends kamen wir in Rom an. Das Verkehrsamt war geschlossen, so dass wir uns selbst ein Hotel suchen mussten, auch glücklich etwas Billiges in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs fanden. Es war sogar recht ruhig. Den Freitagvormittag benutzten wir, um ausgiebig zu frühstücken und die Liegewagenplätze für die Heimreise zu bestellen.

Um die Mittagszeit bestiegen wir den Zug nach Neapel und fuhren drei Stunden durch die grünen und blühenden Landschaften der Campagna und Kampaniens. Hier in Neapel erhielten wir ein Zimmer in einem Hotel direkt am Meer, an der Via Partenope. Es liegt im fünften Stock und ist nicht mehr allzu laut. Der Blick aus dem Fenster geht aufs Meer, reicht vom Castel dell’Ovo bis zu den Vorbergen, die die Bucht im Norden begrenzen. Den Vesuv haben wir bisher nur undeutlich gesehen, da es immer etwas diesig war. Gestern war es bei der Ankunft bewölkt, heute scheint die Sonne und es ist warm.

Wir unternahmen gestern am späten Nachmittag einen ersten planlosen Rundgang durch die Altstadt. Sie ist unvergleichlich: dicht bebaut, überwiegend ärmlich und dabei doch so lebendig. Wir gingen immer aufwärts, kamen durch die Galleria, stiegen die wimmelnde Via Roma hinauf und bogen dann in eine der steilen Wohngassen ein, die in halber Höhenlage auf eine große Durchgangsstraße stieß, der wir länger folgten: Corso Vittorio Emanuele. Als es dämmerte, stiegen wir wieder hinunter. Die Straßen waren noch belebter geworden. Wir kamen in der Via Roma kaum voran. Endlich hatten wir das Restaurant an der Piazza dei Martiri erreicht, das wir uns schon vorgemerkt hatten. Es wurde eine große Enttäuschung: die Suppe dünn, der „gemischte“ Salat aus nur zwei Arten bestehend, die Fleischportionen klein, ebenso der Käse.

Heute gingen wir systematischer vor. Wir spazierten zunächst am Meerufer entlang zum Castel dell’Ovo, dann hinauf zum Palazzo Reale, um das Castello Nuovo herum und besorgten die Tickets für die Nachtfähre am Montagabend nach Palermo. Dann gingen wir über den langen Corso Umberto I zum Hauptbahnhof, um Geld zu wechseln. Wir aßen Lasagne, auf hiesige Art zubereitet, und setzten den Rundgang fort. Wir kamen an der Porta Capuana vorbei und besichtigten den Dom, auch von innen. Dann schlenderten wir lange Zeit quer durch die Altstadt. Unmöglich, die vielen sich jagenden Eindrücke zu schildern. Ich fühlte mich bald überfordert - ein solches Gewirr von Geräuschen, Gerüchen und visuellen Eindrücken prasselte auf einen ein. Der starke chaotische Verkehr forderte dazu höchste Aufmerksamkeit. In einer Stadt dieser Dichte bin ich nie gewesen. Das unterscheidet sich stark von Nord- und Mittelitalien. Und immer wieder wird man angebettelt.

Wir erreichten erneut den Corso Vittorio Emanuele und folgten ihm wieder sehr lange. Wir wollten zu Fuß hinauf zum Castel Sant’Elmo, nachher zur Floridiana. Aber wir fanden keine Straße, die hinaufführt – oder vielmehr erst, als wir schon zu müde waren. Vielleicht können wir ein anderes Mal mit der Funicolare hinauffahren. So begnügten wir uns wieder mit dem Blick aus halber Höhe und stiegen hinab, um durch den Park Villa Comunale am Meer entlang zum Hotel zurückzugehen.

 

 

24. April (Dienstag)

 

Endlich auf Sizilien! Doch zunächst ein kurzer Bericht über den zweiten und dritten Tag in Neapel. Am Sonntagmorgen nahmen wir den Bus nach Ercolano, um das ausgegrabene Herculaneum zu besichtigen. Die Strecke führt durch die Elendsviertel am Hafen, die weit schlimmer sind als die übervölkerten Hänge der inneren Stadt. Das sind nur noch Slums und sie sind nicht einmal malerisch. In Ercolano hatten wir große Mühe, die alte Römerstadt zu finden. Die Hinweisschilder waren mangelhaft. So kam es, dass wir fast um den ganzen ausgegrabenen Sektor herumliefen, bis wir zum Eingang kamen – und das immer durch tristeste, aber sehr belebte Vorstadtviertel, häufig mit Blick aufs Meer oder auf den nahen Vesuv. Herculaneum ist mit Ostia kaum zu vergleichen, es ist kleiner, jedenfalls der ausgegrabene Bezirk, aber viel reichhaltiger. Das ist leicht zu verstehen: Eine intakte kleine Stadt ist hier verschüttet worden, während dort eine größere Stadt allmählich, Jahrhunderte später, verfiel.

Wir nahmen den Trolleybus zurück nach Neapel, aßen dann eine bescheidene Pizza in der Nähe der Piazza Garibaldi und versuchten noch vergeblich, in die Kirche Santa Chiara zu kommen. Dann waren wir müde vom vielen Laufen und ruhten uns einige Stunden im Hotel aus. Abends waren wir wieder in einem Restaurant in einer der steilen Gassen, die von der Via Roma abzweigen. Ein Junge von etwa zehn Jahren bediente dort. Mit dem Essen waren wir diesmal zufrieden.

Am Montagmorgen gab es zwei unangenehme Überraschungen. Die Hotelrechnung fiel höher aus, als wir vermutet hatten. Wir hatten es – sträflicher Leichtsinn – versäumt, den Preis des Zimmers nachzufragen und uns auf die Angaben im Verkehrsamt verlassen. Nun, dafür hatten wir auch das schönste Zimmer des Hauses. Aber die schöne Aussicht auf den Golf konnte doch nicht darüber hinwegtrösten, dass das Warmwasser im Badezimmer ständig abgedreht war und man sich notdürftig im Zimmer waschen musste. Neapolitanische Erfahrungen! – Zweite Panne: Die Straßenbahnen zum Hauptbahnhof waren so überfüllt, dass wir nicht mitkamen. So mussten wir wieder mit dem schweren Gepäck durch mehrere Hauptverkehrsströme – bis zu vier Spuren Auto an Auto, Ampeln ausgefallen - hindurchschwimmen, um uns in einen schon gut besetzten Autobus hineinzuzwängen, und standen eingekeilt mit den Koffern genau vor dem Billetautomat. Und immer mehr Leute stiegen zu. Eine Schreckensfahrt.

Wir deponierten das Gepäck im Hauptbahnhof und fuhren mit Neapels Metro nach Pozzuoli. Hier suchten wir zunächst die Solfatara auf, einen halb erloschenen Vulkan. In einer Landschaft, wie geschaffen für Westernfilme, quollen an vielen Stellen schweflige Dämpfe aus dem Boden, blubberte heißes Wasser und blühten subtropische Pflanzen. Es roch in dem heißen Kessel penetrant und viele Steine wiesen den typischen gelben Niederschlag des Schwefels auf. Die Solfatara hat uns sehr beeindruckt.

In der kleinen Stadt unten war der Verkehr wie in allen italienischen Städten nervenaufreibend. Diese ewigen Schlangen von Kleinwagen, die sich nur langsam unter ständigem Hupen fortbewegen und die Luft verpesten! Das Straßennetz hat in keiner Weise mit der Motorisierung Schritt gehalten. Das ist gut im Hinblick auf die Landschaft, doch schlecht für den Aufenthalt in den Städten. Wir warfen einen Blick auf das Serapeum, die Ruinen einer antiken Markthalle, und wollten noch das Amphitheater besichtigen. Leider kamen wir dort erst an, als sie für diesen Tag gerade schlossen. Wir fuhren also mit dem Bus zurück nach Neapel, wieder eine zermürbende Fahrt.

Nachmittags fuhren wir mit der Drahtseilbahn hinauf auf den Vomero, saßen längere Zeit in der schattigen Floridiana und blickten vom Vorplatz des Klosters San Martino, unterhalb des Kastells Sant’Elmo, auf die Stadt hinab. Schließlich aßen wir ein letztes Mal zu Abend und begaben uns mit dem Gepäck zur Stazione Marittima. Es wurde meine erste Seereise dieser Art. Ich fand die Kabinen viel bequemer als die Liegewagenabteile in der Eisenbahn und schlief den größten Teil der Nacht hindurch. Unser Schiff verließ Neapel am Abend um halb zehn.

Gegen sieben Uhr morgens kamen wir in Palermo an. Das Erste, das wir sahen, war die Silhouette des Monte Pellegrino, der Palermo ein scheinbar definitives Ende im Westen setzt. Aber nun wohnen wir jenseits des Berges, der nur ein Vorberg ist und hinter dem sich Vororte und Fruchtgärten in der Ebene hinziehen bis zur nächsten Bucht, der Bucht von Mondello. In diesem Seebad, angeblich das größte Siziliens und ziemlich elegant, haben wir uns einquartiert. Sascha wollte nicht in der lauten und heißen Stadt wohnen. Und mir gefällt es hier draußen auch besser. Unser Hotel liegt am Fuß des Monte Gallo. Wir überblicken den Ort, die Bucht und sehen auf die massive Rückseite des Monte Pellegrino. Endlich wieder einmal ein gutes Hotel in Italien! Wir haben eine eigene Dusche, einen schönen Balkon – und es ist ziemlich ruhig, da im Ort Durchgangsverkehr fehlt und das „Esplanade“ eines der letzten Häuser ist. Trotzdem sind wir in einer halben Stunde mit dem Bus am Hauptbahnhof von Palermo. Der Bus geht etwa alle zwanzig Minuten. Wir haben schon einen ersten Rundgang durch den Ort und am Strand entlang unternommen. Während es heute Vormittag in Palermo sehr heiß war, hat es nachmittags hier stark aufgefrischt.

 

 

25. April (Mittwoch)

 

Inzwischen müssen wir wieder mit Unannehmlichkeiten fertig werden. Die Erkältung, die ich von Neapel mitbrachte, hat sich verschlimmert. Außerdem habe ich den gestern Abend genossenen Tischwein nicht vertragen. In der Nacht habe ich erbrochen und heute machen mir Kopf- und Gliederschmerzen zu schaffen. Besonders verdrießlich ist, dass die schöne Nachtruhe in diesem abgelegenen Winkel durch die Hunde der Villenbesitzer ringsum empfindlich gestört wird. Heute Nacht gaben sie ein wahres Konzert, und wir konnten lange nicht schlafen.

Heute Morgen war das Wetter ganz anders als vierundzwanzig Stunden vorher bei unserer Ankunft. Es regnete zeitweise und war fast immer bewölkt. Inzwischen ist es auch kühler geworden. Wir konnten nicht am Strand liegen. Stattdessen wollten wir den Monte Pellegrino besteigen. Aber wir fanden den Aufstieg nicht und waren schließlich zu müde, noch hinaufzugehen, falls wir ihn noch gefunden hätten. Wir waren bis zum Rand von Palermo gekommen. Der Rückweg hatte uns durch die Fruchtgärten um das Schloss Favorita geführt. Auch hier sammelten wir gemischte Eindrücke: üppig wuchernde Vegetation, daneben scheußliche Abfallhaufen und immer wieder bösartige Kettenhunde, die einem Angst machten. Aber auch wenn sie scheinbar frei herumliefen, waren doch nur ihre Ketten an langen Gleitschienen befestigt. Außerdem gab es streunende Hunde, die aber harmlos wirkten.

Den Nachmittag verbringen wir auf unserem Zimmer, zumeist mit Lesen. Leider ist die Ruhe am heutigen Feiertag wieder nicht vollkommen. Sie ist sogar empfindlich gestört. Alle Palermitaner, die ein Auto besitzen, sind offenbar nach, in oder von Mondello zurück unterwegs. Natürlich findet nur ein sehr kleiner Teil der Wagen Parkplätze in dem winzigen Vorort. Der Haupttross wälzt sich durch die engen Straßen am Ende von Mondello, wo wir wohnen, und fährt zurück nach Palermo. Wären sie doch gleich dort geblieben! Nun ade, gute Luft und Ruhe.

 

 

26. April (Donnerstag)

 

Der turbulente Feiertag ist vorbei, das Wetter hat sich gebessert, wenn es auch noch nicht heiß genug ist, um am Strand zu liegen. Aber die Sonne scheint doch meistens und die Farben und Formen kommen in dem klaren südlichen Licht schön zur Geltung. In der Nacht konnte ich viel besser schlafen. Sascha allerdings litt unter heftigem Durchfall.

Am späten Vormittag fuhren wir mit dem Bus nach Palermo und besichtigten zunächst historische Sehenswürdigkeiten. Der Dom war freilich nur von außen für uns interessant. Innen ist er eine von den vielen Barockkirchen, die wir inzwischen gesehen haben. Ein wirkliches Erlebnis war dagegen die Capella Palatina im Normannenschloss. Dieser Reichtum an Farben und Formen, diese glückliche Verbindung der unterschiedlichsten Stile ... Sehr einprägsam auch die Kirchenruine San Giovanni degli Eremiti aus der gleichen Zeit – diese auffallenden roten Kuppeln auf dem schlichten, schmucklosen Mauerwerk und daneben die von üppiger subtropischer Vegetation überwucherten Reste des Kreuzgangs und der Moschee.

Später verbrachten wir einige Zeit im Park Villa Giulia sowie in dem sehr reichhaltigen Botanischen Garten; es ist der schönste, den ich bisher gesehen habe. Zum Abschluss des Tages in Palermo spazierten wir ein wenig durch die Gassen zwischen den beiden hässlichen, lauten, stinkenden Hauptstraßen Via Roma und Via Malplaqueda. Dazwischen liegt ein Stück Altstadt, das ganz anders ist, noch verkommener, aber auch ruhiger und mit zahlreichen entdeckenswerten Details, etwa die Gasse der Eisenwarenhändler, die ihre Auslagen überall in den Straßenraum verlängert haben. Das hat etwas von einem Basar an sich. Ich glaube, es gibt noch andere Gassen, die wiederum anderen Gewerbezweigen gewidmet sind.

 

 

28. April (Samstag)

 

Gestern Vormittag spazierten wir entlang der Bucht von Mondello nach dem neuen Villenvorort, den man von unserem Hotel aus erblickt. Er liegt unterhalb des Monte Pellegrino, den wir immer noch nicht bestiegen haben. Wir gingen bis zu dem äußersten Landvorsprung. Dahinter beginnt der Hafen von Palermo. Die Gegend ist noch nicht vollständig bebaut. Auf vielen Wegrändern und unbebauten Grundstücken kann man die ursprüngliche, sehr reiche Flora dieser Landschaft betrachten. Die Wiesen und Raine sind ein einziges Blütenmeer aus gelben, roten, blauen und violetten Blumen, dazu die vielen üppigen grünen Kräuter. An der Landspitze kehrten wir um und hielten in Mondello Mittag.

Wir ruhten am Nachmittag wie üblich auf dem Hotelzimmer und fuhren um fünf Uhr in die Stadt. Kreuz und quer liefen wir durch die Altstadtgassen. Die Altstadt von Palermo ist der grässlichste Slum, den ich bisher gesehen habe. Viele Ruinen sind von Betonmauern umgeben worden, damit niemand durch sie zu Schaden kommt. Offenbar fehlt das Geld, sie abzureißen. Ursprünglich waren es oft schöne Stadthäuser. Aber auch die bewohnten Häuser sind oft kaum mehr als Ruinen. Dazwischen wieder die üblichen Müllhaufen. Erfreulich an diesen trostlosen Vierteln sind nur die Straßenmärkte, die sehr groß, bunt und reichhaltig sind. Die Altstadt wird von drei Hauptverkehrsstraßen durchzogen, zwei in Ost-West-, eine in Nord-Süd-Richtung. Diese Straßen sind schnurgerade, aber ziemlich schmal und in den Hauptverkehrszeiten völlig verstopft. Zwischen sechs und sieben Uhr abends ist die Luft in diesen Schluchten unerhört giftig. Uns wurde übel und schwindlig. Eine solch hohe Konzentration von Kohlenmonoxid habe ich noch nie irgendwo eingeatmet. Auch in den weniger verkehrsreichen Altstadtgassen ist die Luft stark verpestet. – Wir waren nach Palermo gefahren, um günstiger essen zu können. Und wir fanden auch eine bescheidene, annehmbare Osteria. Wir waren die einzigen Gäste an diesem Abend und verstanden nun, warum es hier so oft vorkommt, dass der Wirt auf die Straße stürzt, wenn wir an einem Speiselokal die Karte studieren. Auch in der Gastronomie herrscht Dürftigkeit, wenn nicht Armut. Die zwei Touristen, die an einem gewöhnlichen Werktag vor der Tür stehen und ein Lokal suchen, sind vielleicht die Einzigen, die an diesem Abend Umsatz bringen – und seien es auch nur 10.000 Lire.

In Palermo macht vieles einen noch ärmeren, elenderen Eindruck als in Neapel. Die Armen können sich hier offenbar keine zahnprothetische Versorgung leisten. Wie viele zahnlose Münder haben wir schon gesehen oder solche mit ein, zwei Stummeln. Im Unterschied zu Neapel wird hier jedoch nicht gebettelt.

Heute lagen wir vormittags am Strand und sonnten uns. Die Sonne verschwand aber nach einer halben Stunde vorübergehend hinter Wolken. So entschlossen wir uns zu einem Spaziergang nach Partanna, dem benachbarten, keineswegs mehr mondänen Vorort. Wir gingen bis zum Rand der Berge, die hier überall ganz verkarstet sind. Früher, d.h. in der Antike, mögen sie wohl bewaldet gewesen sein oder mit Fruchtbäumen bestanden wie in der Toskana.

 

 

1. Mai (Dienstag)

 

Die letzten Tage in Mondello … Am Sonntagmorgen unternahmen wir einen weiteren Versuch, auf den Monte Pellegrino zu gelangen. Wir suchten vergeblich in der Stadt einen Bus, der hinauffährt. Dafür entdeckte ich am Teatro Massimo einen nach Monreale. Und die Normannenkathedrale war natürlich wichtiger, so fuhren wir dorthin. Vom Belvedere neben dem Dom hatten wir eine recht gute Sicht über einen Teil der Ebene am Meer und von Palermo. Die Kirche selbst war überfüllt von Touristen wie das ganze Städtchen. Nun, sie ist in ihrem reichen Schmuck und mit ihrer so fremdartigen wie harmonischen Wirkung auch eine der schönsten Kirchen Italiens.

Die Rückfahrt durch die Stadt nach Mondello war umständlich wie fast alles in Palermo. Der Busverkehr funktioniert denkbar schlecht. Wirklich schlimm wurde es abends, als wir zum Essen erneut nach Palermo fuhren. Für die zehn Kilometer lange Strecke benötigte der Bus eine Stunde; so dicht war der Sonntagabendverkehr. Dann fanden wir in Palermo kein zusagendes Restaurant und mussten in einem schmutzigen Lokal in der Nähe des Bahnhofs essen. Schlimmeres hat man uns in Italien nie vorgesetzt. Höhepunkt war dann die Rückfahrt. Der Ticketverkauf vor dem Bahnhof war schon eingestellt, die Busse sind aber fast alle ohne Schaffner, mit Entwertern, die meist nicht funktionieren.

Ich war nachher so erbost und erschöpft, dass ich vorschlug, auf die für Montag vorgesehene Fahrt nach Cefalù zu verzichten. Zum Glück war gestern dann auch schönes Strandwetter. Wir lagen zwei Stunden im Sand, lasen dabei. Den Nachmittag verbrachten wir großenteils auf unserem friedlichen Hotelzimmer. Später mussten wir aber noch einmal nach Palermo fahren, um Geld zu wechseln. Zu diesem Zweck war es nötig, zu Fuß nach Partanna zu gehen, um dort den Bus mit Schaffner zu nehmen. Wir hatten ja noch immer keine Fahrscheine.

Den heutigen Tag verbrachten wir ebenso am Strand und im Hotel. Bloß brauchen wir heute nicht mehr nach Palermo zu fahren, wie schön. Morgen soll es nach Catania gehen.

 

 

3. Mai (Donnerstag)

 

Jetzt sind wir in Catania. Bei der Fahrt gestern Morgen quer über die Insel stellten wir fest, dass Sizilien doch ganz anders ist, als wir anhand der Palermitaner Eindrücke glaubten. Die Insel ist grün und leer, während uns der Raum Palermo überfüllt und steinern vorkam. Außerdem blühte es überall an unserer Strecke. Der Zug fuhr über Caltanisetta und Enna und kam schließlich in die weite Ebene von Catania, in der Apfelsinenplantagen vorherrschen. In den höher gelegenen Gebieten waren überall deutliche Anzeichen starker Bodenerosion zu sehen, offenbar eines der großen Probleme der Insel. An einigen Stellen war aufgeforstet worden.

In Catania war es zeitraubend, eine Unterkunft zu bekommen. Die Zimmervermittlung im Bahnhof war geschlossen und wir fanden erst nach kilometerlangem Gang durch die Innenstadt ein einfaches Albergo. Wir haben ein schlicht möbliertes, sehr hohes Zimmer im zweiten Stock, ruhig nach hinten gelegen. Das Haus ist nicht mehr im besten Zustand, der Preis des Zimmers mit 8.200 Lire entsprechend niedrig. Der Blick fällt aus dem Fenster auf das flach ansteigende Schindeldach des unmittelbar angebauten Nachbargebäudes. Darüber werden die Spitzen der Domtürme und einer anderen Barockkirche sichtbar. Es ist ein beinahe romantischer Ausblick. Leider scheint sich in diesem Nachbargebäude ein Kino zu befinden, die Geräusche der Dialoge und der Filmmusik dringen vom Nachmittag bis zum späten Abend in unser Zimmer, wenn auch recht gedämpft. Die Ruhe ist also zeitweise keine vollkommene.

Vor dem Abendessen spazierten wir noch einmal zwei Stunden durch die Stadt, die mir viel besser gefällt als Palermo. Sie ist so, wie man sich gewöhnlich eine süditalienische Provinzstadt vorstellt. Palermo war eine unangenehme Mischung aus größter Armut und Luxus. In Catania ist alles viel ausgeglichener. Die Stadt macht als Ganzes einen weniger heruntergekommenen Eindruck. Vieles funktioniert hier besser, selbst mit dem Busfahren kommen wir eher zurecht. Wir fanden auch auf Anhieb ein gutes Restaurant, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt. Das Essen ist besser und billiger, als wir es in Palermo hatten.

Heute unternahmen wir einen weiteren Stadtbummel, besichtigten den Dom von außen und innen, das Stauferkastell nur von außen und gingen zu einer ersten Inspektion des Strandes an den Südrand der Stadt. Später saßen wir im Bellini-Park, der historistisch-barock und verspielt wirkt und den schönsten Blick von der Stadt auf den Ätna bietet. Wir sahen auch das antike Theater und die riesige Barockkirche San Nicolo. Dann informierten wir uns über Ausflugsmöglichkeiten in die Umgebung und zogen uns in der größten Mittagshitze auf unser Zimmer zurück, um zu lesen.

 

 

5. Mai (Samstag)

 

Gestern, an einem sehr heißen Tag, fuhren wir mit der Bahn nach Syrakus. Wir wandten uns zuerst der Neustadt zu und besichtigten dort das Griechische Theater und die Latomia del Paradiso mit dem Ohr des Dionysos und der Grotte der Seiler. Der Steinbruch beeindruckte mich weit mehr als das Theater, nur konnte ich mir kaum vorstellen, wie er vor dem Einsturz seiner Gewölbe und ohne die reichhaltige Vegetation ausgesehen hatte. Wir gingen dann hinunter zur Altstadt. Es dauerte recht lange, bis wir ein Café fanden, in dem man auch sitzen konnte. Auf der langen Suche liefen wir viel in der prallen Mittagssonne und das bekam uns nicht. Ich hatte abends einen leichten Sonnenstich. Vor und nach dem Cafébesuch sahen wir noch verschiedene der berühmten Orte von Syrakus: den Diana- oder Apollotempel, den Dom, das Stauferkastell etc. Aber Hunger, Hitze und Erschöpfung hinderten mich daran, nachhaltige Eindrücke zu gewinnen. Auch den vielen Gassen auf der Insel konnte ich nicht die rechte Beachtung schenken. Die Stunde Pans war die am wenigsten geeignete Zeit, diese südliche Stadt zu erkunden. Und Syrakus ist ohnehin an einem Tag nicht zu „schaffen“.

Heute wollten wir vormittags an den Strand von Catania. Aber das Wetter hatte sich geändert. Es ist zeitweise wolkig und nicht mehr so heiß. Wir unternahmen stattdessen einen Ausflug nach Acireale. Ein besonders schöner Punkt über der Steilküste ist das Belvedere di San Caterina. Dort saßen wir eine Stunde und lasen. Dann gingen wir durch den Ort, der jedoch – vom Hauptplatz abgesehen – wenig interessant ist. In Catania aßen wir, wieder einmal, Pasta, lasen im Bellini-Park die FAZ von gestern und waren um halb drei zurück im Hotel.

 

 

6. Mai (Sonntag)

 

Das Wetter erlaubte es heute noch weniger als gestern, am Strand zu liegen. Also mussten wir wieder einen Ausflug machen und fuhren nach Taormina. Vom Griechischen Theater aus überzeugten wir uns, dass die Lage der Stadt tatsächlich so reizvoll ist, wie es die zahllosen Abbildungen davon immer versprechen. Im Übrigen ist Taormina ein überlaufenes Touristenkaff, das mit Sizilien nicht viel zu tun hat. Überteuert ist es auch. Wir wandten uns mit Grausen.

Nachmittags dann im Hotel. Vor dem Essen ein Spaziergang zum nächstgelegenen Bahnhof der Ätnaringbahn, einer niedlichen einspurigen Lokalbahn. Man könnte mit ihr zu den kleinen Orten westlich des Berges fahren, die recht reizvoll sein sollen. Leider haben wir keine Ahnung, wo Fahrkarten erhältlich sind. Da die Züge selten fahren, hat man kaum Gelegenheit, vorab einmal das Verhalten anderer Fahrgäste zu beobachten. Warum ist hier vieles so schwierig? Das vergällt einem oft den Aufenthalt. Ich bin Italiens schon fast überdrüssig. Sascha will nächstes Jahr wieder in die USA - wieder, weil er es schon in diesem wollte.

Auf der schier endlosen Suche nach einem weiteren Restaurant kamen wir in die Gegend hinter dem Dom, an der Eisenbahn. Die Inhaber mehrerer Trattorien machten förmlich Jagd auf uns, so dass wir die Flucht ergriffen – und auf einen Marktplatz gerieten, wo die Ratten aufgeschreckt davonhoppelten.

Jetzt wäre eigentlich Schlafenszeit. Aber in dem Kino unter uns gibt es heute keine Filmvorführung, sondern ein Konzert volkstümlicher Weisen. Die Katzenmusik dauert nun schon über zwei Stunden.

Eben ist Ruhe eingekehrt. Sollte das Programm zu Ende sein? Schnell zu Bett.

 

 

8. Mai (Dienstag)

 

Der gestrige und der heutige Tag verliefen ohne größere Unternehmungen. Wir blieben gestern in Catania, lasen im Bellini-Park, fuhren einmal an den Stadtrand (Barriera) und spazierten abends vom Rand der Innenstadt zur Piazza Europa. Heute Vormittag fuhren wir zum Strand, weit hinaus vor die Stadt, wanderten längere Zeit am Strand zurück und sammelten Muscheln.

Wir haben schon gestern beschlossen, Catania und Sizilien am Mittwoch zu verlassen. Wir sind der Verhältnisse hier überdrüssig geworden. Wir beabsichtigen, nach Salerno zu fahren und dort bis Sonntag zu bleiben.

 

 

10. Mai (Donnerstag)

 

Die Rückfahrt von Sizilien verlief ohne Zwischenfälle. Wir verließen Catania gestern Morgen mit dem Expresszug um halb zehn. Die Strecke führt über Taormina nach Messina, wo eine Eisenbahnfähre nach Villa San Giovanni benutzt wird. Das Übersetzen dauerte recht lange. Dann folgte die schier endlose Fahrt an der kalabrischen Küste entlang. Immer Berge zur Rechten, meist das Meer zur Linken, viele Tunnels, kleine Orte. Um sechs Uhr abends erreichten wir Salerno. Wir fanden bald ein passendes Hotelzimmer, ziemlich billig, aber wesentlich besser als in Catania. Endlich können wir uns wieder duschen. Die Stadt wirkt sympathisch, eine große Kleinstadt, alles dicht beisammen, die man als beinahe wohlhabend empfindet, kommt man von Sizilien. Salerno macht übrigens auch einen wesentlich besseren Eindruck als Neapel.

Heute bummelten wir vormittags durch die Stadt. Im Wesentlichen besichtigten wir nur den Dom. Den stärksten Eindruck hatte ich vom Atrium mit den Säulen aus Paestum. Wir wollten noch zum Kastell hinaufsteigen. Aber der obere Teil des Fußweges war gesperrt, die Burg selbst scheint gerade restauriert zu werden.

Nachmittags mit dem Überlandbus nach Amalfi. Die Riviera von Amalfi ist diejenige italienische Landschaft, die mir bisher am besten gefallen hat. In Amalfi besichtigten wir den Dom und wanderten dann ins Mühlental hinauf, durch die Zitronenpflanzungen. Die Fahrt selbst auf kurvenreicher Straße hoch über der Küste war recht aufregend, besonders die Rückfahrt, als der Fahrer allem Möglichen seine Aufmerksamkeit zuwandte - Schwatzen mit dem Schaffner, Migräne einer jungen Frau im Bus, Unfall zweier Pkws in einer Kurve - und der gefährlichen Strecke nur ganz nebenbei. Es war nicht mitanzusehen, wie der sonst gesetzt wirkende Mann gestikulierte und sich immer wieder umwandte. Vor mir bekreuzigte sich ein Einheimischer. Wir sind jedoch in Salerno wieder heil angekommen.

 

 

12. Mai (Samstag)

 

Gestern Vormittag nahmen wir den Stadtbus Nr. 4, der bis Pompeji fährt. Nocera und die benachbarten Orte bilden eine einzige, ziemlich hässliche Bandwurmstadt, so dass man sagen kann, dass die geschlossene Bebauung von Neapel bis beinahe nach Salerno reicht. Aber die Landschaft um Nocera ist recht hübsch: hohe grüne Berge. Schließlich die ausgegrabene Stadt am Vesuv: sehr beeindruckend in der Anlage, in der Größe, dem geschlossenen Eindruck, aber letztlich auch ermüdend in den vielen toten Einzelheiten. Ich fühle mich an solchen Brennpunkten des Touristenstroms ohnehin nicht recht wohl. Anhand gut bebilderter Bücher über solche Orte kann sich die Phantasie zu Hause meist besser entfalten.

Heute gelang es uns nicht, den Tag ähnlich sinnvoll wie gestern und vorgestern zu gestalten. Wir wollten zunächst am Strand liegen. Aber der war – sofern davon überhaupt die Rede sein konnte – wie so oft in Italien parzelliert und nicht frei zugänglich. Dann versuchten wir am Stadtrand in die Berge hineinzuspazieren. Dies erwies sich ebenfalls als unmöglich, da alle Wege nur zu einzelnen Gebäuden führten und dort endeten; man kam jedenfalls nicht in die freie Natur – auch dies kein neues Erlebnis für uns in Italien. Danach wollten wir noch einen Busausflug in die Umgebung machen – egal wohin. Aber auch dies scheiterte. Entweder fuhren keine Busse mehr zu den interessanten Orten oder wir wären heute nicht mehr nach Salerno zurückgekommen oder der Bus war so voll, dass wir von einer längeren Fahrt abgeschreckt wurden. So saßen wir dann bloß einige Zeit in dem kleinen Stadtpark und gingen über die Meerespromenade zum Hotel zurück.

 

 

15. Mai (Dienstag)

 

Wieder in Hamburg. Auch die weitere Heimreise verlief problemlos. Wir fuhren am Sonntagmorgen nach Rom und mieteten uns wieder für eine Nacht in dem billigen Hotel am Bahnhof ein. Wie aßen noch einmal die gute Lasagne am Kolosseum und spazierten später vom Hotel in die Altstadt hinunter. Es war heiß, dabei angenehm trocken und etwas windig. In Salerno war es morgens sehr kühl gewesen und hatte nach Regen ausgesehen.

Den letzten Tag in Rom benutzten wir zur Vorbereitung der Rückfahrt und suchten danach noch einige Punkte auf, die wir schon kannten. So waren wir auf dem Kapitol und auf dem Petersdom. Um halb fünf fuhr der Zug nach Hamburg ab, das wir am Tag darauf um drei Uhr nachmittags erreichten. Hier ist jetzt ein Wetter wie in Rom: über 25 Grad und trocken.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 28.03.2009

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