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INHALT



1. Im Kinderknast 

2. Schulweg der Erinnerung 

3. Die Entdeckung der Homosexualität beim Friseur 

4. Tantalus am Gymnasium 

5. Schlagender Beweis für Friedfertigkeit 

6. Sturmangriff: Die Achtundsechziger kommen 

7. Die Musterung oder Coming out 1969 

8. Meine Brieftasche und ich 

9. Da kommt Fassbinder 

10. Heimlich mithören 

11. F wie Freitod 

12. Soldatenliebe 

13. Fünf Fakten und eine Fälschung 

14. Über "Alle Männer sind Brüder" 

15. Ich bin nicht stolz! 

 

16. Berlin damals 

 

17. Eros in der Religionsstunde 

 

18. Ich war ein Berliner

 

19. Nicht identisch

 

20. Die große Resignation

 

21. Büroleben damals - Eine Diashow

 

22. Neue Nachtgedanken (1987)

 

23. Mein stärkster Eindruck in Paris

 



1. IM KINDERKNAST

Die Ärzte fanden Klein-Arno etwas schwächlich. Die AOK bewilligte eine Kur. Am Reisetag brachten ihn seine Eltern mit dem Auto in die nahe Großstadt. Auf dem Busparkplatz waren viele fremde Kinder. Arno war etwas bänglich zumute, es war seine erste Reise überhaupt.
      Das Sanatorium lag im Hochschwarzwald. Die Fahrt dauerte viele Stunden. Die Kinder langweilten sich. Einigen wurde vom Busfahren schlecht. Hinter Freiburg ging es ins Gebirge. - "Da, schaut einmal, der Hirschsprung!" sagte die Betreuerin. Alle reckten den Hals, um das Denkmal des Hirschs zu bewundern. Die unter Übelkeit Leidenden vertrugen die ruckartige Bewegung nicht: Jetzt kotzten sie wie auf Kommando.
      Das Heim lag in einem engen Waldtal. Der Weiler bestand nur aus vier Häusern. Im Nachbarort (sieben Häuser) gab es einen Laden, in dem man Süßwaren kaufen konnte; falls man Geld hatte. Das Essen im Heim war weder besonders schmackhaft noch geradezu üppig. Eine Hauptrolle spielte der Haferbrei, der jeden Morgen anders gefärbt auf den Tisch kam: rosa oder gelb oder grün. Die Kinder ließen sich nicht täuschen: Der Brei schmeckte immer eklig.
      Eine Nahrungsergänzung waren die Bucheckern, die sie im Wald auflasen. Das brachte etwas Abwechslung in die langweiligen Spaziergänge. Die ältere Tante, die die Kinder herumführte, sang immerzu mit brüchiger Stimme: "Wenn alle Brünnlein fließen, ja flie - hie - ßen ..." Klein-Arno erzählte den anderen, er wolle später Filmstar werden und nur in Kriegs- und Liebesfilmen mitspielen.
      Ab und zu durften die Kinder Briefe nach Hause schreiben. Die fertigen mussten zur Kontrolle vorgelegt werden. Sie wurden zensiert, d.h. jede Kritik wurde unterbunden. Da war schon einmal eine ganze Seite neu zu schreiben. Ein Kind berichtete: "Gestern aß ich keinen Pudding." Es musste geändert werden: "Gestern aß ich einen Teller Pudding."
      Um die erwünschte Gewichtszunahme zu erreichen, ließ man die Kinder den halben Nachmittag in Liegestühlen Ruhe halten. Die Stühle standen in einem langweiligen Wintergarten. Auch hier wurde gesungen: "Wenn alle Brünnlein flie - hie - ßen ..." Oder, noch aufregender: "C - A - F - F - E - E ... schwächt die Nerven, macht dich blaaass uuund krank ..." Und dabei gab es im Heim nie Kaffee zu trinken.
      Es herrschte immer Mangel an Liegestühlen. Stets mussten sich einige zu zweit in einen Liegestuhl quetschen. Sie quengelten und ruckelten, bis wieder eine Stoffbahn riss und auch dieser Stuhl ausrangiert werden musste. Ersatzstühle gab es nicht.
      Allmählich bahnte sich etwas an - eine Kinderrevolte. Sollte man einfach weglaufen? Einige schrieben Briefe nach Hause, über die wahren Zustände im Heim, und baten: Holt uns hier raus! Die Leitung bekam Wind davon, bevor die Briefe im Kasten lagen. Es folgten eine Durchsuchung der Zimmer und Stubenarrest am nächsten Tag.
      Endlich waren die sechs Wochen um. Als letztes Frühstück gab es noch einmal diesen Brei. Höchste Zeit, dass sie wieder etwas Festes zu beißen bekamen, alles rutschte bei ihnen nur noch durch.
      "Da, schaut noch einmal, der Hirschsprung!" Klein-Arno verdrehte den Hals und jetzt kotzte auch er.
      Seine Eltern nahmen ihn auf dem Parkplatz in Empfang. "Na, gut erholt?" Die Zweifel waren berechtigt. Er hatte eine Gelbsucht mitgebracht und konnte noch wochenlang nicht zur Schule gehen.



2. SCHULWEG DER ERINNERUNG

Dienstags war anstelle der ersten Stunde Schulgottesdienst, nach Konfessionen getrennt. Ich hatte mich schon vom Religionsunterricht abgemeldet und nahm dann einen Zug später. Mit mir strömten viele andere Gymnasiasten aus dem Bahnhof. Da war auch Sigi, einer meiner besten Freunde. Heute hatten wir mehr Zeit und nahmen nicht den direkten Weg durch den Park, sondern einen Umweg durch die Altstadt.
      An der ersten Ecke war M. zu Hause. Seine Leute hatten eine Maschinenbaufirma. M. war groß, schwarzlockig, dunkeläugig, lachlustig. Unter seiner Munterkeit sah man einen ernsthaften, guten Charakter durchschimmern, etwas wie natürliche Güte. Sein Bemühen, wahrhaftig zu sein und dem anderen gerecht zu werden, war so stark, dass er sich beim hastigen Sprechen leicht verhaspelte und vor Eifer errötete. Von ihm ist ein selten reiner Eindruck in mir zurückgeblieben. Warum habe ich nie versucht, ihm näher zu kommen?
      Hundert Meter weiter stand in einem kleinen Park, eingezwängt zwischen Fluss und Bundesstraße, das in meinen Augen wichtigste Gebäude der Stadt. Nein, nicht die Schule - in dem kleinen Barockpalais war die Kreis-
bücherei untergebracht. Mit fünfzehn betrat ich sie zum ersten Mal. Nach zwei Jahren war die Jugendsparte ausgelesen und der Bibliothekar ließ mich in die Lesewelt der Erwachsenen. Bald bat ich ihn um "Der Mann ohne Eigenschaften". Er holte das Buch aus dem Archiv, staubte es andächtig ab und sagte mit beinahe religiösem Ernst: "Eines der besten Bücher, die wir haben." Ob er mir auch "Fluss ohne Ufer" ausgehändigt hätte? Da ich die Ausleihfrist von vier Wochen einhalten wollte, hatte ich pro Abend etwa fünfzig Seiten von Musil zu bewältigen. Es lief auf kursorische Lektüre hinaus. Erst später habe ich ihn gründlich gelesen.
      Wir überquerten die Bundesstraße und standen vor einer Geschäftsauslage. Wann immer wir, Sigi und ich, dort vorbeikamen, stritten wir uns, wer die schwarze und wer die ockergelbe Lederjacke kaufen dürfe. Wir taten immer so, als würden wir bald das Geld dafür besitzen. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Jahrelang stachen uns Material und Schnitt in die Augen.
      Dann kam ein langes, hohes Gebäude, das Schlosstheater. Ein Schloss stand hier schon lange nicht mehr, das Theater war aus unserem Jahrhundert. Die Landesbühne gab in ihm für die oberen Schulklassen Vorstellungen, denen nicht leicht zu folgen war. Das lag weniger an den Stücken als an den vielen Lkws, die draußen vorbeidonnerten und die Dialoge in Fragmente zerhackten. Einmal gab es "Die schmutzigen Hände" von Sartre. Ein anderes Mal sang hier bei einer Schulfeier Frau Dr. S., Lehrerin für Latein und Deutsch, Kunstlieder, ich glaube, auch etwas von Schubert. Der Busen wölbte sich, zierlich presste sie die Fingerspitzen gegeneinander. Wie es scheint, waren wir noch nicht reif für ihren vollen, wohl klingenden Mezzosopran. Einige gackerten boshaft: "Der Spatz von O.!" Nachher wurde lange und frenetisch geklatscht und getrampelt. Die Künstlerin ließ sich nicht täuschen und gebot mit ärgerlicher Handbewegung Ruhe.
      An der Marktplatzecke lag die Buchhandlung, die einen Winter lang von meinen Kameraden beklaut wurde. Es waren gerade die am wenigsten an Büchern Interessierten, die es als Mutprobe und Sport betrieben. Als die Inventur den Umfang des Schadens offenbarte, trat der Buchhändler bekümmert den Gang zum Schuldirektor an. Die Klassenlehrer redeten Tacheles in den Stunden. Die Täter machten sich öffentlich. Sie ersetzten den Schaden. Polizei wurde nicht eingeschaltet. Dann war es ausgestanden und wurde allmählich vergessen. Unter den Bücherdieben war einer, der jahrelang mein Denken und Fühlen beherrschte. Schon lange ist er mir gleichgültig.
      Noch eine enge Altstadtgasse, dann eine breitere Geschäftsstraße mit Giebelfronten, alle im Zopfstil des 18. Jahrhunderts. Und nun der sehr steile Anstieg den Berg hinauf, auf dem unsere Schule thronte - das Institut, die Anstalt. Unterwegs konnte man in einer kleinen Grünanlage verschnaufen und über die roten Dächer der alten Häuser blicken. Die Schule oben, ursprünglich ein Lehrerseminar aus dem 19. Jahrhundert, hatte zu Nachbarn das finstere Amtsgericht und die kleine Brauerei, deren malzige Abluft oft den ganzen Hügel einhüllte.
      Viele standen jetzt mit uns vor dem Haupttor. In der Aula mussten die Evangelischen bald fertig sein. Die Katholiken kamen gerade auch den Berg herauf, sie hielten Schulmesse unten in der Kirche. Einer von uns sagte: "Also ab in den Bau!" Wir ließen uns wieder für einen Vormittag einschließen, sozusagen.


3. DIE ENTDECKUNG DER HOMOSEXUALITÄT BEIM FRISEUR

Die meisten Friseure, deren Stammkunde ich nacheinander war, waren verheiratet und hatten Kinder. Unter den vielen Homosexuellen, die ich kennen lernte, waren nur wenige Friseure. Eine Tätigkeit, die im Stehen ausgeübt und nicht besonders gut bezahlt wird, ist nicht sehr attraktiv. Die Frage, ob viele Friseure schwul sind, interessiert mich kaum. Ich wollte auf etwas anderes hinaus ...
      Yukio Mishima beschreibt in seinem autobiographischen Roman "Geständnis einer Maske", wie der sich entwickelnde Homosexuelle schon als Kind, als Jugendlicher eindeutige und heftige Zuneigungen verspürt - und dies dabei für vollkommen normal hält. Die Welt der Durchschnittsmenschen wird auch ihm offen stehen, glaubt er noch eine Zeitlang. Gerade so erging es mir mit dreizehn, vierzehn Jahren. Ich verliebte mich wiederholt in andere Jungen und ging zugleich mit großer Naivität davon aus, auch ich würde eine Frau heiraten, Kinder haben, ein Haus bauen, eine Familienkutsche von Opel fahren usw. usf.
      Und dann kam ein Friseur ins Spiel. Nein, es war keine "Verführung". Alles spielte sich nur im Kopf ab. Von diesem Friseur ließ ich mir schon seit Jahren die Haare schneiden. Er war noch jung, um die dreißig, Inhaber des Salons, in dem auch seine Frau arbeitete, eine auf knabenhafte Weise hübsche Person. Die Ehe war kinderlos. Dieser Friseur fragte mich eines Tages nach einem Mitschüler aus, der es mir schon länger angetan hatte. Er wollte seinen Namen wissen, wo er wohne und was es sonst mit ihm auf sich habe. Er war ihm unter anderem dadurch aufgefallen, dass er als Einziger weit und breit eine schwarze Lederhose trug. Ich wusste gleich, wen er meinte, nennen wir ihn Ralf. Ich gab die erwünschten Auskünfte. Wir sprachen also einige Zeit über Ralf, und der Friseur sah mir beim Reden nicht in die Augen, sondern auf meinen Hinterkopf. Wenn ich vor mich in den Spiegel blickte, konnte ich nur mir selbst in die Augen sehen.
      In der Folgezeit gingen mir seine Fragen oft im Kopf herum. Sie konnten vollkommen harmloser Natur gewesen sein, doch für mich waren sie es damals nicht. Im Spiegel des Erwachsenen erkannte ich das eigene Begehren wieder und begann erstmals eine Grundverschiedenheit in der Veranlagung ins Auge zu fassen. Ich versetzte mich mit meinen Wünschen in diesen erwachsenen Mann mit Kamm und Schere hinter mir und betrachtete mich so aus einer allgemeineren, objektiveren Perspektive. Hinter seinem Interesse für Ralf, hinter seiner eigenen Kinderlosigkeit und der knabenhaft hübschen Frau begann ich einen Roman zu vermuten. Dieser Friseur wurde so für mich der erste in einer langen Reihe von Männern mit bisexueller Biographie. Hätte ein beliebiger Mitschüler interessiert nach Ralf gefragt - ich würde nichts daran gefunden haben. Der Anblick des erwachsenen, verheirateten Mannes, der das gleiche tat, schockierte und ernüchterte mich zugleich und zerstörte meine Theorie von der allumfassenden Normalität aller Menschen, mich eingeschlossen.
      Damit hatte ich eine für mich neue Erfahrung gemacht, die Entdeckung der Homosexualität. Von da an begann ich mich selbst zu erforschen. Das Ergebnis nach längerer Zeit war: Nein, ich würde keine Frau heiraten, keine Kinder haben, kein Haus und keinen Opel ... Und eine Existenz, wie ich sie - vielleicht zu Unrecht - dem Friseur zuschrieb, fand ich auch nicht verlockend.


4. TANTALUS AM GYMNASIUM

Erst mit dreizehn wechselte ich auf eine Oberschule, und zwar in die Eingangsklasse des Aufbaugymnasiums in ***. Schon falsch: Es war eine von sechs Parallelklassen, so stark war damals der Andrang. A. war der Einzige aus meinem Heimatort, also setzten wir uns zusammen. Wir versuchten zweimal, nachmittags gemeinsam Haus-
aufgaben zu machen, und ließen es dann sein. Er war ein offener Charakter, ein anständiger, guter Kerl und fürs Gymnasium vollkommen ungeeignet. So resignierte er schon in den ersten Wochen, und ich ließ ihn links liegen. Ich freundete mich rasch mit B. an, einem Flüchtlingssohn aus dem Osten, gescheit, witzig und auch anständig. Nur mit ihm konnte ich damals Hochdeutsch reden, woran mir schon viel lag.
      Mitten im Schuljahr kam ein Neuzugang, noch ein Norddeutscher. Dieser C. hatte seinem Vater von Bremen in den Südwesten folgen müssen und war hier schon an einer anderen Schule gescheitert. Infolgedessen betrug er sich wie ein Beatnik, enttäuscht und abweisend. Seine Art, neben den Dingen zu stehen, hielt ich für männliche Überlegenheit. Außerdem reizte mich sein knapper, kehliger Akzent. Ich setze es schnell durch, dass wir Banknachbarn wurden, und spürte bald meinerseits Enttäuschung. Wir hatten uns nichts zu sagen, er war auf eine dumpfe Art in sich gekehrt.
      Nach einem Jahr wurde unsere Klasse infolge der zahlreichen Abgänge - A. und C. gehörten auch dazu - aufgelöst und wir Verbliebenen auf die fünf übrigen aufgeteilt. Als die Namen in der Aula verlesen und die anderen schon abmarschiert waren, blieb ich allein zurück: Die Sekretärin hatte vergessen, mich einer Klasse zuzuordnen. Nun durfte ich mir eine aussuchen und sprang rasch B. hinterher. Doch der hatte schon einen neuen Banknachbarn. Für mich blieb nur der Platz neben D. übrig, der einzig noch freie. D. war ein Waisenknabe, die Eltern vermögende Kaufleute gewesen. Er wurde von seiner Tante erzogen und war für die Oberschule so wenig geeignet wie A. oder C.. Er war ein wohlhabender, unbegabter Waisenjunge und blieb unter uns isoliert. Seine Interessen - Fernsehen und Beatmusik - waren nicht meine. Später war er der Erste, der mit dem Moped zur Schule kam. Dabei wohnte er ganz in der Nähe. Manchmal sah ich ihn während des Unterrichts von der Seite an und verspürte dabei ein mir noch unbekanntes Gefühl. D. wirkte verloren auf mich, schutzbedürftig, außerdem war er hübscher als die meisten anderen. Er blieb nach einem Jahr sitzen und kam mir aus den Augen.
      Ich glaube, ich saß dann zwei Jahre neben B.. Unser Verhältnis blieb gleich bleibend gut und produktiv. Wir dominierten zusammen in den meisten Fächern. Wir besuchten uns gegenseitig zu Hause. Wir redeten und lachten gern miteinander. Und doch vermisste ich etwas an ihm, etwas noch Undefiniertes, das ich im Verhältnis zu C. und D. schon gespürt hatte. Ich begann mich für E. zu interessieren, Sohn eines kleinen Beamten. E. war ordentlich, fleißig, adrett, in dieser Reihenfolge. Ich stellte mir inzwischen die Frage: Bin ich homosexuell? E. wandte der eigenen Person, dem eigenen Körper mehr Aufmerksamkeit zu als sonst unter uns üblich. Dabei war er sportlich und keineswegs verzärtelt. Doch wollte er als Einziger nicht auf bloßem Holzstuhl sitzen und brachte ein Kissen für sich von zu Hause mit.
      Das vorletzte Schuljahr kam. Wir bezogen einen neuen Raum. Ich wollte endlich neben E. sitzen. Es gab einen Konkurrenten, denkbar verschieden von mir. F., Sohn eines CDU-Stadtrats, war intelligent, schweigsam, fußballbegeistert und hatte einen schönen Römerkopf. E. lachte etwas boshaft, als er die Situation erfasste: "Ihr müsst euch schlagen!" Es gelang mir, F. auf andere Weise auszutricksen.
      Es schmeichelte E., neben mir zu sitzen. Er erkannte an, worin ich ihm überlegen war, und er versuchte davon zu profitieren. Deutschaufsätze misslangen ihm regelmäßig. Als einmal die Themen gestellt waren, schob ich ihm bald einen Zettel mit rasch entworfenem Konzept und Details für die Ausarbeitung hinüber. Er bekam trotzdem wieder ein Mangelhaft. Ohne vom Betrug zu wissen, rügte der Lehrer das hilflose Herumrudern in den Ideen.
      Auch E. besuchte mich einige Male daheim. Zufälig ergab es sich einmal, dass wir im gleichen Bett schlafen mussten. Ich blieb kühl bis ans Herz hinan und begriff nicht, was mich vereist hatte - sein wirkliches Wesen. Ich hielt mich dann einige Wochen lang für normal. Später übernachteten wir eine ganze Woche lang in einem kleinen Zelt. Ich sah jetzt wieder klarer und kam auf die närrische Idee, mich platonischer Liebe zu weihen.
      Dann der Mai '68. Wir standen vor dem Abitur und hatten die Nachrichten aus Paris, Berlin und Heidelberg im Kopf. Auch ich wurde mutiger. Ich wollte jetzt zweierlei erreichen: E. womöglich doch noch verführen und ihn von seiner geplanten Berufswahl - Bundeswehroffizier - abbringen. Lächelnd ließ er sich meine kleinen Ver-
traulichkeiten gefallen, verlegen hörte er sich die immer gleiche pazifistische Suada an. Am 1. Juli rückte er ein, und ich hatte ihn nicht verführt.
      Während der Tschechoslowakeikrise fuhr ich für eine Woche dahin, wo er in Garnison lag. Den Tag nach meiner Ankunft verbrachten wir damit, in der Stadt und der Umgebung herumzugehen. Wir führten dieselben Gespräche wie bisher. Alles schien unverändert. Tatsächlich habe ich ihn danach nie wiedergesehen. Am Tag darauf, einem Sonntag, wartete ich vergeblich auf ihn. Es war viel Unruhe in der Stadt und im Land. Es wurden Einheiten verlegt, es gab hier und da Ausgangssperren. Doch in Z. bummelten die Soldaten durch das Zentrum. Nur E. ließ sich nicht blicken. Wir haben im Winter darauf noch zwei Briefe gewechselt, ohne die Tage im August zu berühren. Es war vorbei.
      Ich sehe uns noch heute auseinander gehen. Ich hatte ihn bei Sonnenuntergang zum Kasernentor gebracht. Dann gingen wir kurze Zeit parallel in die gleiche Richtung, nur er innerhalb der hohen Umzäunung, und ich für immer draußen. 

 


5. SCHLAGENDER BEWEIS FÜR FRIEDFERTIGKEIT

 

Mit knapp neunzehn schrieb ich mich an der Universität M. ein. Ich wusste noch nicht, dass es nur ein kurzes Gastspiel sein würde.
      T. war einer der ersten Studenten, die ich in M. näher kennen lernte. Er wohnte in der weiteren Umgebung der Stadt und besuchte mich schon bald auf meinem Zimmer. Er war lebhaft, lachlustig und kontaktfreudig. Wir besprachen den begonnenen Studiengang. Und wir erörterten eine heikle Frage. Bei Thomas Mann nennt Felix Krull es sein "militärisches Verhältnis". Wir sollten uns beide bald mustern lassen und waren uns einig, auf keinen Fall zum Bund zu gehen. T. war Pazifist, er war ein sozusagen glühender Pazifist. Wie gerne ich das feststellte ... Und ich, war ich damals auch Pazifist? Da bin ich mir nicht sicher.
      Die Studienanfänger wurden zu Semesterbeginn von den einzelnen Vereinigungen emsig umworben. T. schlug mir vor, ihn an mehreren Abenden zu begleiten, auch zu Verbindungen. Ich runzelte die Stirn. Er sagte: "Es verpflichtet zu nichts. Es gibt Freibier ... und noch mehr. Wird bestimmt lustig. Man muss sich doch mal ein Bild von den Brüdern machen."
      Die Brüder ließen sich nicht lumpen. Offenbar standen beträchtliche Mittel zur Verfügung. Wir saßen an langen Tischen und beobachteten, hörten zu. Das gravitätische Zeremoniell kam mir sehr exotisch vor. Ihre Farben, ihre Kappen, ihre Trinksitten, die gestanzte Redeweise, die Existenz von Füchsen, der Straftrunk - all das war eine Welt, für die ich mich nicht erwärmen konnte. T. schien es auch so zu gehen. Wir besuchten auch schlagende Verbindungen, er wollte es so. Vom Fechten hörte er gern reden, das merkte ich.
      Wir gingen außerdem zu Abenden des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer. Sie legten uns dort die Prozeduren dar, die Musterung, das Anerkennungsverfahren, die Rechtsmittel. Und sie bereiteten uns auf jene Kommission zur Erforschung unseres Gewissens vor. T. war eifrig bei der Sache, eifriger als ich. Bei ihm kam die Maschinerie früher in Gang: Musterungstermin, Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer, demnächst Termin vor der Kommission.
      Da kam er mir eines Tages mit einer Neuigkeit - er war gerade ener schlagenden Verbindung beigetreten. Ich sah ihn entgeistert an: "Du - der Pazifist - bei denen?! Da lachen ja die Hühner!" Er rechtfertigte sich: "Das hat nichts miteinander zu tun. Kriegsdienst und Mensurschlagen, das sind ganz verschiedene Sachen. Du musst das auseinander halten."
      Er lernte also fechten und bereitete sich zur gleichen Zeit auf seine erste Mensur und den Auftritt vor dem Ausschuss vor. Letzterer hoffentlich ohne Schmisse! Ich traf ihn immer seltener und sah ihn dann nur noch von fern: im Kreis seiner neuen Freunde. Wenn so einer Pazifist war, dann war ich es nicht. Ich bin einen anderen Weg gegangen.


6. STURMANGRIFF: DIE ACHTUNDSECHZIGER KOMMEN

Damals, in jenen stürmischen Zeiten, waren wir achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Gleich nach der Schule zogen wir in eine richtige Großstadt. Wir hatten bis dahin noch nichts von der Welt gesehen, nur unseren Provinzwinkel. Jahrelang am Gymnasium dem Abitur entgegengeschlafen - und jetzt probierten wir Rollen aus. K. warf sich aufs dramatische Fach. Sein Lieblingsbild war: Die Freiheit führt das Volk von Delacroix, sein liebstes Zitat: Ist erst der Vatermord geschehen, dann tanzen sie um die Leiche. Ich neigte eher zum Elegischen, und zwar mit strafendem Unterton. Man sollte merken, dass ich Karl Kraus kannte.
      K. dachte sich Pseudonyme auf Vorrat aus und schloss seine Briefe mit Venceremos. Ich antwortete ihm einmal: Die Dummheit wird siegen. Wenn wir uns drei Tage nicht sehen konnten, schickten wir uns Briefe, deren Hauptthema die von uns geplante Zeitschrift war. Wir dachten sie uns so ähnlich wie die Schülerzeitung, nur auf eine uns noch unklare Weise bedeutender. Noch stritten wir über den Titel: Human, wie von ihm vorgeschlagen, oder nach meiner Idee Die APOkalypse?
      Um dies und ähnlich Wichtiges mit mir zu besprechen, bestellte er mich in den Hof der Universität. Ich war zehn Tage fortgewesen und staunte, als ich ihn sah. Er hatte endlich die Marotten seiner Schulzeit aufgegeben: dunkler Anzug, Krawatte, Stockschirm und Melone. Jetzt trug er lauter buntes, schlabberiges Wollzeug. Die fahlen Rot- und Grüntöne standen ihm zwar nicht, doch wenn die Freiheit das Volk zur Revolution führt, darf man nicht wie ein englischer Börsenmakler aussehen.
      K. sagte, wir müssten die Erörterung des Namens unserer Zeitschrift verschieben. "Es gibt Wichtigeres, eine Veranstaltung im Audimax. Maihofer spricht, das heißt, er will sprechen, man wird ihn daran hindern. Jetzt geht es los, es geht los!" Dabei hüpfte er auf einem Bein, als läge die Leiche des Vaters schon auf dem Hofpflaster.
      Im Audimax tagte seit Stunden die Vollversammlung. Maihofer sollte sein Referat nicht dort, sondern in einem Hörsaal halten. Die rasch wechselnden Redner im Audimax ereiferten sich wegen der gestrigen Vorfälle von Heidelberg. Wir verstanden nicht genau, was vorgefallen war. Walter Krause spielte offenbar wieder eine unrühmliche Rolle, Walter Krause, der Sozialdemokrat. Er war Minister in Stuttgart. Prophezeit hatte er es schon den Studenten: "Ihr werdet die Fäuste der Arbeiter zu spüren bekommen!" Nun waren keine Arbeiter, sondern Polizisten handgreiflich geworden. Dagegen musste man sich verwahren, man musste sich solidarisieren, Resolutionen fassen.
      Die Versammlung endete in einem Tumult. Ein Wirbel in den Gängen und er führte wie eine Polonäse zu jenem Hörsaal, in dem Maihofer erwartet wurde. Studenten betraten das Podium, diskutierten öffentlich. Darüber traf der verspätete Professor ein. Er stand damals am Anfang seiner ruhmreichen politischen Affäre und war bereits nicht mehr Rektor in Saarbrücken. Er wollte über Die gesellschaftliche Funktion des Rechts sprechen.
      Professor F., ein wenig übereifrig, stieß den studentischen Redner vom Podium, um es unverzüglich dem Gast übergeben zu können. Vor dem Podium protestierte man lautstark. Maihofer zog seine gewöhnliche Flappe und wollte beginnen. Da trat Student B. vor und forderte, er solle nur einige Thesen skizzieren, anschließend könne man dann über die Vorfälle von Heidelberg diskutieren. Maihofer, seine Flappe beibehaltend, war nicht erbaut. Er schlug vor, die Diskussion dem ungekürzten Vortrag anzuhängen. Der Dekan trat ans Mikrophon und schlug vor, im Saal abzustimmen. Die Mehrheit wollte Maihofer nur kurze Redezeit gewähren. Daraufhin verließen alle Ordinarien den Saal.
      Die radikale Mehrheit drängte ihnen nach, wir beide mittendrin. Schon verließ die Menge das Gebäude mit unbekanntem Ziel. Maihofer (mit unveränderter Flappe, weitere mimische Ausdrucksmöglichkeiten standen ihm nicht zu Gebot) führte die Prozession an. Die Professorenschaft bildete den Schweif des Kometen. In der verfolgenden Hundertschaft hieß es: "Wir stellen sie im juristischen Seminar!" Es befand sich außerhalb vom Campus, einige Straßen weiter. Maihofer wandte eine List an, mit der keiner gerechnet hatte. Er verschwand mit den Kollegen in einer Weinstube. Dahin wollten ihm die Studenten nicht folgen. War je ein Weinlokal besetzt worden?
      Man hielt am Seminar als Ziel der Aktion fest. Wenn es nicht möglich war, mit dem scheißliberalen Professor zu diskutieren, so besetzte man eben das kampflos überlassene Terrain. Freilich hatte da eine Verschiebung des Begriffs Ziel stattgefunden, von der Ebene der Handlung ins Räumliche hinüber. Doch auf solche Finessen konnte die sich entfaltende und jetzt einfach abrollende Spontaneität keine Rücksicht nehmen.
      Von kampfloser Einnahme konnte keine Rede sein. Die im Seminar anwesenden Studenten und Assistenten waren gewarnt. Schon am Eingang kam es zu hässlichen Szenen. Die Verteidiger waren in der Minderheit und gaben bald die Treppe zur Bibliothek frei. Professor F., ewig lächelnd, auch jetzt noch, versuchte mit einem Scherzwort die Lage zu wenden. Doch von Späßen, die in Weinstuben oder an anderen unseriösen Orten enden konnten, hatte man genug - man warf den Professor einfach in die Luft. Binnen kurzem war die Front begradigt. Alle Reaktionäre waren nun hinter der Glaswand, die die Bibliothek vom Treppenhaus trennte. Vor ihr stauten sich die Eingedrungenen.
      Zufall oder nicht - K. und ich, wir befanden uns in vorderster Linie, genau vor der Glastür, die gerade einer vom SDS mit dem Dietrich öffnete. Hinter uns drückte die Menge nach. Eile tat Not, die Polizei war sicher unterwegs. Alles kam darauf an, dass wir beide uns in den winzigen Türspalt drängten. Wir sahen uns an, zögerten - und die Sache war entschieden. Die Verteidiger zogen im selben Augenblick die Tür zu sich heran und schlossen sie erneut ab. Zwar ging noch eine Glasscheibe zu Bruch, doch die Besetzer fluteten bereits zurück. Zehn Minuten später waren wir alle wieder im Audimax und bereiteten neue Aktionen vor.
      K. und ich, wir vermieden es, über die fehlgeschlagene Besetzung zu reden. Am Ende des Semesters verließ ich die Universität und die Stadt. Ich sah K. nur noch selten, dann gar nicht mehr. Wir wechselten noch Briefe. Eines Tages schrieb er mir, er sei aus dem SDS ausgetreten und jetzt Redakteur einer trotzkistischen Zeitschrift. Er schloss: "Ich habe erreicht, was wir wollten, das heißt, was ich wollte."


7. DIE MUSTERUNG ODER COMING-OUT 1969

In O. sollten damals Kasernen gebaut werden und der Staat kaufte dafür Land. Die Erdarbeiten begannen, wir konnten es von unserem Hof aus sehen. Mein Vater glaubte, ich könnte meinen Wehrdienst später dort ableisten und abends nach Hause kommen. Er war nicht auf der Höhe der Zeit, das wusste ich schon. Rekruten dienten doch gewöhnlich fern der Heimat.
      Ich sagte zu ihm: "Mich kriegen sie sowieso nicht." Er lächelte überlegen: "Das hängt nicht von deinem Willen ab." Ein Sohn sagt in diesem Fall: "Du wirst schon sehen ..." Sein Lächeln wurde breiter.
      Als die Musterung nahte, wohnte ich schon in M.. Mit mir war K. dorthin gezogen, um Psychologie zu studieren. Wir waren Klassenkameraden gewesen, der superkluge K. und ich. Sein Banknachbar hatte ihn oft vor uns anderen "Homo" tituliert und ihn dabei gerne gepiesackt. K. empfahl mir ein Buch über das Thema. Sonst berührten wir es nie. K. war neuerdings Sozialist.
      An einem kalten Wintertag bummelten wir durch Heidelberg. Wir gingen ins Postamt, um uns aufzuwärmen. Da fragte ich ihn, ob er meinen Plan gutheiße. Ich sei ja homosexuell und hätte vor, es bei der Musterung anzugeben. Es kam mir leicht über die Lippen und war doch das erste Mal. K. schien mir peinlich berührt. Er sagte: "Ich würde das nicht tun ... Wenn es später bekannt wird, kann man in der Politik keine Rolle mehr spielen." Ich dachte: Na danke, wenn das dein Sozialismus ist ...
      Auf dem Kreiswehrersatzamt ... Im Warteraum saßen noch mehr junge Männer. Einer las in James Baldwins "Giovannis Zimmer". Dann mein Coming-out, Teil II. Ich gab es ihnen schriftlich auf dem Fragebogen, der vor der Untersuchung ausgefüllt werden musste. Der Arzt empfing mich sehr kühl, wenn auch mit Schärfe im Ton. Er halte meine Angabe für eine Schutzbehauptung, man werde mir schon das Gegenteil nachweisen. War das ein Kompliment? Er ließ in der Praxis eines Psychiaters anrufen: "Wir haben da wieder einen ..."
      Beim Irrenarzt ... Es verlief denkbar harmlos. Dieser Arzt gab sich väterlich, begütigend. Er wollte wissen, ob ich Verkehr mit wechselnden oder immer denselben Personen hätte. Die Frage war mir unangenehm - ich war noch so jungfräulich wie möglich. Das verheimlichte ich ihm lieber und log ihm was vor: "Immer mit denselben." Zum Schluss sagte er: "Ich werde mein Gutachten erstatten. Seien Sie unbesorgt, der Paragraph fällt ja demnächst."Dann sollte ich noch eine Urinprobe abgeben. Ihr Sinn blieb mir unklar. Heute frage ich mich: War sie vielleicht für die Hormonforschung bestimmt?
      Monate später kam der Bescheid: Dauernd untauglich ... wird ausgemustert ... unterliegt nicht der Wehrüberwachung ... Mein Leiden: Leistungsfunktionsstörung. Hurra! Mein Vater fragte nie, wie ich es erreicht hätte, um den Wehrdienst herumzukommen. Er wollte es wirklich nicht wissen. Die Kasernen in O. wurden übrigens nie gebaut. Sie fielen einem Sparprogramm zum Opfer.
      Und K.? Er gab mir später einmal in Berlin zu verstehen, er habe neulich bei einer Demo auf dem Kudamm ein eindeutiges Angebot erhalten. (Nur Gebrauch hatte er davon nicht gemacht.) Auch er lächelte jetzt überlegen.



8. MEINE BRIEFTASCHE UND ICH

Sie ist rindsledern, genoppt und hat die Maße 17 x 11 cm. Die Gebrauchsspuren sind unübersehbar: das Leder fleckig, ihr Inneres - durchsichtiges Plastik und Pappe zur Verstärkung - hier und da eingerissen. Seit Jahren schon will ich sie ersetzen. Leider finde ich in den Kaufhäusern keine neue in ihrem Format und an ein anderes will ich mich nicht gewöhnen.
      Könnte ich sie überhaupt beiseitelegen? Seit Jahrzehnten begleitet sie mich durch mein Leben. Sie war immer zur Hand und auch geduldig, wenn ich sie unsachgemäß behandelte. Sie war Zeuge vieler Ereignisse. Nur einmal war sie fern von mir und geriet in Gefahr, durch meine Nachlässigkeit.
      Ich bekam sie als Konfirmationsgeschenk - ich weiß nicht mehr von wem - und wusste zunächst nichts mit ihr anzufangen. Einige Jahre später flog ich zum ersten Mal nach Berlin und nahm sie mit auf die Reise. Es war ihre Jungfernfahrt und in gewissem Sinn auch meine. Sie hatte ihren Platz in der Innentasche meiner neuen braunen Lederjacke. In Berlin ging ich natürlich abends aus. Ich tanzte in einer Disco, dann ging ich zum Tresen und trank etwas. Die Jacke lag unterdessen auf einer weiter entfernten Sitzbank. Es gab keine Sperrstunde. Gegen Morgen war die Jacke noch da, aber die Brieftasche fort, mitsamt Geld und Ausweisen.
      An den folgenden Tagen lernte ich noch mehr von Berlin kennen. Ich sprach auf der Flughafenwache vor. Ich erstattete Anzeige auf der Kriminalinspektion in Schöneberg. Wie nett dieser Polizeibeamte damals zu mir war ... Ich musste für meinen Abflug neue Passbilder machen lassen und tat es ausgerechnet bei einem Aktfotografen in Charlottenburg. Ich war etwas enttäuscht, sein Studio hatte ich mir verruchter vorgestellt.
      Nach der Reise ließ ich mir daheim einen neuen Personalausweis ausstellen. An dem Tag, an dem ich ihn morgens auf dem Amt abholte, kam mittags mit der Post ein dicker Umschlag ohne Absender. Darin: meine Brieftasche, ohne Geld, mit Ausweis. Für ihn hatte ich keine Verwendung mehr, ich gab ihn auf dem Amt ab.
      Die Brieftasche teilte von da an mein Schicksal. Sie war dabei, wenn ich eine Stellung suchte. Sie zog immer wieder mit mir um, vom Südwesten in den Nordosten, dann nach Nordwesten und schließlich etwas mehr in die Mitte. Sie reiste viel mit mir. Sie war dabei, als ich für mich wichtige Menschen kennen lernte.
     Könnte ich sie jemals wegwerfen? Ausgeschlossen. Wenn ich sie anfasse, berühre ich meine Vergangenheit. Da gibt es noch einen stofflichen Zusammenhang mit dem längst Entschwundenen. Ich frage mich, was aus dem Dieb geworden ist. Lebt er noch? Geht es ihm gut? Der nette ältere Kripobeamte ist vermutlich schon tot. Und der Aktfotograf dürfte sein Studio inzwischen geschlossen haben. Nur meine Brieftasche und ich, wir treiben uns noch herum.


9. DA KOMMT FASSBINDER

Wenn ich mich nicht irre, ist er zur Berlinale in die Stadt gekommen. Ich habe ihn zum ersten Mal in der S-Bahn-
Quelle
gesehen, noch zu den Zeiten von Heinz, genannt Henny. Ein gescheiter, ein feiner Kerl, dieser Wirt. Leider hat er sich später umgebracht.
      Die Quelle war damals dreigeteilt, wie Gallien bei Cäsar. Da gab es die linken Studenten, die den hinteren Raum für sich beanspruchten. Im vorderen Teil trafen sich Lederfetischisten. Und in beiden Räumen, vor allem im breiten Durchgang zwischen ihnen sah man, was der Savignyplatz so ausgespuckt hatte. Ja, Elend gab es damals auch schon. Natürlich entstanden, wie stets im richtigen Leben, unterschiedliche Mischtypen, der linksintellektuelle Ledertyp, der heruntergekommene Bettelstudent, der alkoholkranke Fetischist. Nur dem verelendeten linksssozialistischen Ledermann, einem solchen Wolpertinger bin ich nicht begegnet.
      Die Mehrheit des Publikums war dennoch recht bürgerlich. Einer sammelte alte Bibeln. Übrigens war die Quelle von damals das schmutzigste der Stammlokale, die ich nacheinander haben sollte. Ein Besuch dort musste abgebrochen werden, da mein Gast aus Düsseldorf sich einen Floh gefangen hatte. Unvorsichtig von ihm, sich auf einen Tisch zu setzen. Gewöhnlich stand man dort den Abend oder die Nacht hindurch. Oder man ging auf und ab.
      Manchmal bin ich mit einem jungen Theaterregisseur dort gewesen. Sein Name war noch wenig bekannt. Anders verhielt es sich mit der lokalen Filmgröße, die ihren schnellen Ruhm sichtlich genoss. Einer aus ihrem Gefolge - fast hätte ich Hofstaat gesagt - fragte den jungen Meister: "Und woran arbeitest du jetzt? Was wird dein nächstes Werk?" - Die Filmgröße: "Ganz was Blutiges. Ein Hämorrhoidendrama." - "Ogottogott!" - Mein Freund, der Theatermann: "Das sind auch die einzig wirklichen Tragödien im Leben."
      "Da kommt Fassbinder!" - "Wirklich, er, Rainer Werner?"
      Dann schnatterten sie nur noch von Rainer Werner, bloß die lokale Filmgröße nicht. Die beiden kannten sich, schätzten sich aber möglicherweise eher weniger. Die anderen, diese Adabeis, die Fassbinder nur von fern kannten, führten ständig seinen Vornamen im Mund: Rainerwerner, Rainerwerner ... Ich ging einige Schritte zur Seite und lugte hinüber. Viele sahen hinüber, es war leiser geworden.
      Er wirkte ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er ließ sich eine Flasche Bier geben, stand dann allein in einer Ecke, beobachtete und versuchte, nicht aufzufallen. Er sprach mit niemandem. Sein Ruhm schien ihm jetzt lästig. Ich fand ihn introvertiert und gezeichnet. Er sah aus wie einer, der lebenslang mit seinem Gehirn allein ist, das jedoch nicht hinnehmen kann und es durch gesteigerte Apperzeption ausgleichen will. Einer wie er braucht Menschen als Material, um seine innere Welt Gestalt werden zu lassen. Schüchtern und zugleich unheimlich, war er wie das Kalb mit den zwei Köpfen, das auf einer Landwirtschaftsausstellung gezeigt wird und entsetztes Staunen hervorruft. Er litt sichtlich darunter, machte sich so klein wie möglich und wollte sich gleichzeitig nichts entgehen lassen. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.
      Ich war schwach kurzsichtig, trug dort aber aus Eitelkeit keine Brille. Vielleicht hatte ich ihn daher schärfer ins Auge gefasst. Erklärt das das Folgende? Das Bier wirkte bei mir, ich ging pissen. Das sehr enge Pissoir hatte nur zwei Becken. Ich stand kaum an dem einen, als ich Fassbinder hereinkommen und sich neben mich hinstellen sah. Er drehte den Kopf zu mir und sagte: "Grüß dich." Ich senkte sofort den Blick und antwortete mit meiner tonlosesten Stimme: "Hallo." Ich machte, dass ich schnell hinauskam. Prominenz hatte mich immer schon abgeschreckt. Und ich fand ihn weder als Mann noch allgemein als Menschen besonders anziehend. Nur sein Fall an sich, das Typische, interessierte mich. Man konnte es auch aus der Ferne studieren. Ich hatte schon genug gesehen. Ich war kein Armin Meier, auch wenn ich äußerlich vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm aufzuweisen schien.
      Vielleicht ist Fassbinder damals nur zufällig zu mir hereingekommen. Armin Meier bin ich erst später begegnet. Erheben wir uns von unseren Plätzen und gedenken wir ... Danke.


10. HEIMLICH MITHÖREN

Damals in Amsterdam ... Es war eines der alten Häuser an der Warmoesstraat; ich kann mir nicht vorstellen, dass es heute noch steht. Schon damals blühte schwärzlich der Schimmel in den Ecken des alten Gemäuers. Ich glaube, mein Zimmer lag nur knapp über dem Wasserspiegel des Damrak, auf den die Rückfront der Absteige ging. Der Wirt erzählte gern, was die Altstadtbewohner alles aus ihren Häusern ins Wasser warfen, sogar ausgediente Waschmaschinen waren darunter. Und am gegenüberliegenden Ufer bestiegen arglose Touristen die Boote der Grachtenrundfahrten. Davon sah ich nichts, denn mein Zimmer lag an einem dunklen Kellergang und war selbst fensterlos. Wer einmal Hans-Henny Jahnns Die Nacht aus Blei gelesen hat, kann sich die Atmosphäre dort unten vorstellen. Es gab da Insekten, die ganz ohne Tageslicht auskamen.
      Die Belüftung des Zimmers erfolgte über einen kleinen Luftschacht, dessen Schieber per Hand verstellbar war. War er offen, hörte ich viele Geräusche aus den Räumen über mir: Türenschlagen, Wasserrauschen, Gemurmel, Flüche, Stöhnen. Auf die Dauer wirkte es monoton, einschläfernd.
      Einmal wurde dort oben, in der Beletage, über mich gesprochen, und diesmal verstand ich jedes Wort. Ich hatte die beiden Hamburger beim Frühstück und an der Rezeption gesehen, doch bisher kein Wort mit ihnen gewechselt. Sie waren mir bieder und unscheinbar vorgekommen.
      "Hast du bemerkt, dieser Berliner (das war ich) - dieser Berliner hat immer ein Buch dabei." Das stimmte nur zum Teil, oft war es stattdessen auch eine Zeitung. Doch wollte ich gerade jetzt nichts richtigstellen.
      "Ja, ist mir auch schon aufgefallen", sagte der andere, "du, ich glaube, der will ---"
      Es spielt keine Rolle, um welches Detail der Psychopathia sexualis es sich handelte. Jedenfalls wusste ich mich frei von solchen Wünschen. Wie kam er zu dieser Vermutung? Hatte er vielleicht seine eigenen Wünsche auf mich projiziert? Mit angehaltenem Atem horchte ich weiter, doch sie wechselten leider schon das Thema.
      Selten habe ich so krass empfunden, wie wenig unser eigenes Bild von uns sich mit dem der anderen deckt. Wir werden permanent verkannt und falsch eingeschätzt. Andererseits: Wer kennt sich selbst und seine geheimsten Wünsche tatsächlich? War vielleicht doch etwas dran? Lassen wir es offen.



11. F WIE FREITOD

Heute habe ich wieder an F gedacht, F wie Freitod. Ich muss noch oft an ihn denken, dabei ist er schon dreißig Jahre tot.
      Er war einer der bestaussehenden Männer, an die ich mich erinnere. Groß, kräftig, breitschultrig und hübsch. Von leichter Melancholie umflort. Ich sah ihn jahrelang in den Straßen, in den Bars von West-Berlin, ohne mit ihm in Berührung zu kommen.
      Dann begegneten wir uns zufällig an einem Sommersonntagnachmittag im Grunewald. Es war auf einem breiten Waldweg, nicht weit vom Stadtrand. Wir blieben beide stehen und sahen uns an. Er stellte eine Frage, ich nenne sie mal die F-Frage. Ich sagte nein. Da lächelte er schwermütig und sagte: "Ich brauch das halt." Dann wandte er sich ab und ging in eine andere Richtung. Ich habe danach nie mehr mit ihm gesprochen.
      Er verschwand für ein, zwei Jahre aus meinem Gesichtskreis. Dann war er wieder da und ich hörte, er sei in Westdeutschland gewesen. Es hatte weder privat noch beruflich geklappt. Nun versuchte er es erneut in Berlin. Er ließ sich auf riskante Praktiken ein, ich nenne sie hier mal die FF-Praktiken. Dabei gab es einen Zwischenfall, er wäre beinahe verblutet. Er kam durch, wurde lange behandelt und sorgte überall durch sein bloßes Erscheinen für Gesprächsstoff. Es war ihm sichtlich unangenehm. Er bekam oft Taktloses zu hören.
      Ich zog fort aus der Stadt. Im selben Jahr las ich, dass er sich umgebracht hatte. Sonntagsspaziergänger hatten ihn gefunden. Er hatte sich gerade am Ort unserer früheren Begegnung an einem Baum aufgeknüpft. Ich las es in einem Nachruf. Der Verfasser stellte dort Vermutungen über ihn an. Er sei wohl unter seiner gefassten männlich-kameradschaftlichen Oberfläche ein anderer gewesen: verletzlich, einsam und enttäuscht.
      Seitdem ist kaum ein Monat vergangen, in dem ich nicht an ihn gedacht hätte. Die meisten Selbstmörder ziehen sich zum Sterben zurück. Sie wenden sich von uns ab, endgültig. Er dagegen hatte es öffentlich vollzogen, ein Schrecken für harmlose Spaziergänger, ein Vorwurf an die, die ihn gekannt hatten. Sein Tod ein Skandal. Oder wollte er insgeheim, dass man ihn rechtzeitig fände und zum Leben wiedererweckte? In diesem Fall wäre ihm auch das misslungen.


12. SOLDATENLIEBE

(Vorbemerkung für mitlesende Schlapphüte: Das Folgende hat sich vor ungefähr dreißig Jahren zugetragen.)

Als es den Kalten Krieg noch gab, waren Hunderttausende amerikanischer Soldaten in der alten BRD stationiert. Wie die Natur so spielt, befanden sich stets auch Tausende von Homosexuellen unter ihnen. Diese waren unerwünscht. Man suchte sie herauszufiltern und aus der Truppe zu entfernen. Für das Ausspionieren war der eigene militärische Geheimdienst zuständig.
      In Frankfurt verkehrten diese GI's sehr zahlreich in verschiedenen Bars im Stadzentrum. Ich erinnere mich an eine nahe der Konstablerwache, in der sie zeitweise fast die halbe Kundschaft ausmachten. Die Atmosphäre war locker und verriet nichts von Existenzängsten. Deutsche und amerikanische Gäste redeten, lachten und tranken miteinander.
      Larry (Name geändert) war einer der ersten Amerikaner, die ich in Berlin näher kennen lernte. Er war neunzehn, neu bei der Army und neu in Berlin. Er kam aus einem kleinen Nest in Ohio, wirkte gutartig und noch etwas kindlich. Er hasste alle großen Städte, ihren Schmutz, die Verwahrlosung, das Verbrechen. Er war nur einmal bei mir, dann redete ich ab und zu mit ihm, wenn wir uns zufällig trafen.
     Um diese Zeit nahm die Zahl der GI's in meinem Stammlokal stark zu. Die meisten von ihnen haben keine Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich erinnere mich an einen kleinen Texaner. Er sah putzig aus, ungefähr so wie die gemalten Knaben auf der Titelseite der Hörzu. Ganze Nächte verbrachte er in der Bar, friedlich in einer Ecke sitzend, schauend, dösend. Manchmal schlief er gegen Morgen ein, wie auf einem Schulausflug, der zu lange dauert.
      Roy (Name geändert) gehörte nicht zu dieser Gruppe, er war auch bedeutend älter. Er bewegte sich privat fast nur unter Deutschen, sprach perfekt Deutsch, wenn auch mit leichtem Akzent, und ließ sich sogar mit einem deutschen Vornamen anreden. Bei einem seiner seltenen Barbesuche hatte ich ihn kennen gelernt. Eine mehrmonatige Beziehung schloss sich an. Roy sagte: "Larry und die anderen, die sind sehr unvorsichtig. Der Dienst beobachtet sie und wenn er genügend auf der Liste hat, werden sie zurückgeschickt."
      War Roy Soldat? Er trug nie Uniform, doch benutzte er den amerikanischen Militärsonderzug, wenn er von Berlin nach Frankfurt fuhr. Dort war er seit langem zu Hause und erst neuerdings beruflich meistens in Berlin. Hier war er bei einem Freund untergekommen. Ich fragte nie, was er genau mache. Vielleicht war es ein dem Militär zugeordneter Dienst.
      Roy übernachtete ab und zu bei mir. Er benutzte einmal morgens meinen Nassrasierer und brachte sich, darin ungeübt, üble Schnittwunden bei. Er fluchte: "Im Büro denken sie natürlich, ich wär in eine Schlägerei geraten. Die halten mich da für ziemlich rough." Und er konnte doch so zartfühlend sein ... Wir sprachen auch über Musik. Im Gegensatz zu mir liebte er Verdi und Puccini. Diese Musik habe ihm früher über schwere Enttäuschungen hinweggeholfen.
      Bald darauf wurden auf einen Schlag etwa zwanzig Berliner GI's wegen Homosexualität aus der Army ausgestoßen. Einigen ersparte man die unehrenhafte Entlassung, sie durften selbst um ihr Ausscheiden bitten. Unter diesen war Larry.
      An einem Samstagmorgen verließen wir meine Wohnung in der Keithstraße. Roy wollte uns am Wedding eines seiner deftigen mittelwestlichen Frühstücke zubereiten. Bei Fontane wohnt Effi Briest in der Keithstraße, von den alten Häusern haben nur wenige den Krieg überstanden. Ich lebte in einem der nicht allzu bemerkenswerten neuen Appartementhäuser. Wir traten vor die Haustür. In diesem Augenblick wurden wir samt Hausfassade fotografiert. Der gut gekleidete Mann mittleren Alters auf der anderen Straßenseite stieg unmittelbar danach in seinen Wagen und fuhr weg.
      Am Vorabend war Roy auf einer Party in der amerikanischen Kolonie gewesen. Als wir jetzt die Siegessäule in seinem Wagen umrundeten, sagte er: "Sie können es gar nicht herausgefunden haben ... Ich bin von der Party so verschlungene Wege zu dir gefahren. Eigentlich unmöglich."
      Dann musste er einige Wochen in einem militärischen Trainingslager verbringen. Ich hörte lange nichts von ihm, sehr lange nicht. Er rief einmal aus Frankfurt an und schlug kein Treffen vor. Ich bemühte mich, ihn zu vergessen.
      Jahre später habe ich ihn noch einmal gesehen, in einer großen Disco. Das damalige Discofieber ließ mich kalt, ich beobachtete vom Rand der Tanzfläche aus die Derwische. Er entdeckte mich und lachte mir von weitem zu. Er schien etwas ausdrücken zu wollen - nur was? Dann hörte er auf zu tanzen und ging mit anderen fort. Als sie an mir vorbeikamen, sah er noch einmal herüber und lächelte jetzt verlegen. Er sah aus, als wolle er mir sagen: Was willst du machen, das Leben ist ein Spiel. - Ja, Roy - nur kein sehr amüsantes.


13. FÜNF FAKTEN UND EINE FÄLSCHUNG

1. Kann ich irgendwen mit meiner Abstammung beeindrucken? Nicht dass sie besonders vornehm wäre, nur in Teilen nicht urdeutsch. Meine Großmutter väterlicherseits stammt aus einer alten Hugenottenfamilie - diesen Leuten sagt man einen ausgeprägten Eigensinn nach. Daneben habe ich zwar keine jüdische Großmutter, dafür einen Urgroßvater mit dem schönen Namen Wolff aufzuweisen.

2. Sesshaftigkeit gehört nicht zu meinen ausgeprägtesten Eigenschaften. Meine jetzige Wohnadresse ist, glaube ich, die dreizehnte überhaupt. Im Durchschnitt habe ich etwa vier Jahre in einer Wohnung gelebt.

3. Dass ich viel zu Fuß unterwegs bin, ist ja schon durchgesickert. Wie mein großes Vorbild Seume war auch ich einmal in Sizilien. Dort habe ich es mir nicht nehmen lassen, den erloschenen Vulkan Monte Garibaldi zu besteigen. Er bietet die seltene Möglichkeit, gleichzeitig Unteritalien, Sardinien und Tunesien aus der Ferne zu betrachten. Nur bei gutem Wetter!

4. Meine musikalischen Vorlieben sind vermutlich nur von geringem Interesse. Dennoch lasse ich es mir nicht nehmen, publik zu machen, dass ich am liebsten Werke von Schubert und Schumann höre. Und von den Zeitgenossen John Adams.

5. Innerhalb der zeitgenössischen Bildenden Kunst sagen mir vor allem die Werke der Leipziger bzw. Neuen Leipziger Schule zu. Ich finde es bezeichnend, dass die größere Wertschätzung dafür heute nicht bei uns, sondern im westlichen Ausland vorhanden ist.


14. ÜBER "ALLE MÄNNER SIND BRÜDER"

Der Ich-Erzähler ist ein junger Wiener Polizist, der vom Land stammt, aus konservativen, kleinbäuerlichen Verhältnissen. Er lebt allein und beziehungslos in der Stadt. Wenn er freie Tage daheim auf dem Land verbringt, verhält er sich wie andere junge Männer, geht in Discos, lernt Frauen kennen. Ganz anders, wenn er von Wien aufs Land fährt: Dann sucht er auf den Bahnhöfen, in den Zügen anonyme Männerbekanntschaften, meist erfolglos. Er ist entschlossen, später einmal zu heiraten. Seine fixe Idee ist es, seine Gene weitergeben zu wollen.
      Dann lernt er die Tochter eines vermögenden Geschäftsmannes kennen. Doris hat triftige Gründe, bald zu heiraten, und in ihm glaubt sie den passenden Partner gefunden zu haben. Man verlobt sich, heiratet. Ein Kind kommt. Danach befreit sich Doris auf überraschende Weise von ihrem Mann.
      Der Polizist erlebt diesen Ablauf wie einer, der in ein Räderwerk geraten ist, dem er aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Er lässt fast alles über sich ergehen. Um sein inneres Gleichgewicht zu retten, dringt er nun tiefer in jene andere Welt ein und beginnt ein Doppelleben zu führen. Damit treibt er das Geschehen seinem abschließenden Höhepunkt entgegen.
      Die Handlung des Romans ist frei erfunden, doch liegen ihr zahlreiche Gespräche des Autors mit Bisexuellen zugrunde. Ihre Biographien kamen ihm oft problematischer als zunächst erwartet vor. Haben seit Kinsey nicht viele ihren Platz irgendwo auf der berühmten Skala zwischen rein heterosexuell und nur homosexuell? Und ist also der Bisexuelle nicht der Mensch in der Mitte, offen für alle Glücksmöglichkeiten? Die Realität sieht in vielen Fällen eher wie in dem Film "Brokeback Mountain" aus: Ehen, die auf Verstellung und Lüge beruhen, Beziehungen, die sich allmählich von innen heraus zersetzen ...
      Den Autor hat bei Konzeption und Abfassung vor allem eine Frage interessiert: Wie können intelligente, moralisch empfindende Menschen sich und anderen Derartiges antun? Erwarten Sie keinen tieftraurigen Text, eher eine melancholische Burleske.


(Der Roman ist im Juni 2007 bei BoD Norderstedt erschienen, auch als eBook.)


15. ICH BIN NICHT STOLZ!

Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein. Ich bin nicht stolz, ein Europäer zu sein. Ich bin nicht stolz, ein Weißer zu sein. Ich bin nicht stolz, ein Mensch zu sein. Ich bin nicht stolz, ein Säugetier zu sein. Und ich bin auch nicht stolz, homosexuell zu sein.
      Wie ich sehe, gibt es für mich viel mehr Arten, nicht stolz als stolz zu sein. Welche Fülle, welcher Reichtum!
Positiv ausgedrückt: Ich bin. Ich bin einfach. Darin liegen meine Daseinsberechtigung und meine Daseinsfreude. Ich verschwende keine Lebenszeit mit Überlegungen, worauf ich stolz sein könnte. Ich bin tätig. Oder ich bin kontemplativ. Manchmal, wenn mir etwas mit Eifer und Anstrengung geglückt ist, verspüre ich etwas, das ich mit Stolz verwechseln könnte. Aber ich halte mich damit nicht auf.
      Die virulente Stolz-Debatte erkläre ich mir mit weit verbreiteter Existenz- und Zukunftsangst. Nur der Unsichere braucht Stolz. Der Lebenstüchtige untersucht seine Ängste möglichst emotionsfrei, ein Arzt seiner selbst.
      Und wo bleiben die Gemeinschaft und der Stolz des Einzelnen auf sie? Über das emotionale Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft hat Gustav Heinemann seinerzeit gesagt: Ich liebe meine Frau, nicht das Gaswerk. Besser kann man es nicht ausdrücken.
      Einer unserer stolzesten Herrscher war Kaiser Wilhelm II.. Richtig, das war der mit dem aufgezwirbelten Bart. In Wahrheit war er nur ein Theaterkaiser, ein Kaiserdarsteller. Im Ersten Weltkrieg wurde er depressiv, musste der Front fern bleiben und die Macht Hindenburg und Ludendorff überlassen.
      Noch ein schönes Zitat, diesmal von Mark Twain. Er verglich einmal die Weltgeschichte mit einem Treppenhaus, das erfüllt sei vom Lärm der abwärts gehenden Stiefel. Und auf ihrem Marsch hinunter begegnen ihnen die anderen, die mit den leisen Turnschuhsohlen - immer aufwärts. Stolz ist eine Sache der Stiefelträger. Diesen Schuh zieh ich mir nicht an.

 

 

16. BERLIN DAMALS

 

Am liebsten war mir der Kudamm am Sonntagmorgen, kurz nach der Dämmerung. Dann war er menschenleer und ich hatte ihn endlich einmal für mich allein. Wenn ich um diese Zeit nach Hause ging, war es so still, dass ich an der Ecke Fasanenstraße die Tauben gurren hörte, die um das Astor-Kino flogen. „Flesh“ von Andy Warhol stand wochenlang auf dem Programm, und Joe Dallessandro erklärte darin einer Gruppe junger Streuner, es spiele gar keine Rolle, es komme darauf überhaupt nicht an: „Du tust, was du tun musst.“ In der Fasanenstraße, gegenüber von Kempinski, brannte an einem dieser Sonntage im Morgengrauen ein Nachtlokal aus, das als Treffpunkt von Haschischkonsumenten bekannt war. Damals lief am Lehniner Platz das Musical „Hair“. Die Darsteller priesen die Liebe und die Drogen, den Frieden und den Wassermann, womit nicht der gleichnamige Test gemeint war, sondern das Sternzeichen. Ich war in diesem Zeichen geboren, und mich zog es normalerweise in eine andere Richtung: zu den Bars an der Kleiststraße. Da mein Zimmer an der Uhlandstraße lag, ging ich also zwei- oder dreimal in der Woche abends den Kudamm entlang, Richtung Tauentzien. Die Gedächtniskirche erstrahlte in einem mystischen Blau, das sehr nach meinem Geschmack war. Manchmal blieb ich stehen und tauchte für Minuten in diese intensive Strahlung ein, die bei aller Feierlichkeit seltsam anästhesierend wirkte. Konnte die Großstadt noch stärkere Reize bieten? Ich war gerade zwanzig und noch kein Jahr in Berlin.

     Am Wittenbergplatz warf ich gewöhnlich einen Blick auf die Gedenktafel für die Opfer von Treblinka, Maidanek und Auschwitz: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürften, stand auf  ihr geschrieben. Fräulein S., unsere Wirtin, sei Jüdin und lebend aus einem Lager herausgekommen, vertraute mir in der Uhlandstraße eine Mitbewohnerin an. Die alte Dame, früher Sekretärin bei Wertheim, war nahe an die achtzig und herzleidend und hatte den größten Teil ihrer Riesenwohnung untervermietet. Rechts von mir lebte ein älteres Ehepaar; er war halbseitig gelähmt, ich hörte ihn einige Male am Tag an meiner Zimmertür vorüberstampfen, wenn er ins Bad geführt wurde. Selten begegnete ich ihm einmal auf dem Flur, dann grüßte er mich heftig grimassierend; er hatte die Sprache vollständig eingebüßt. Auf der anderen Seite logierte ein junger Mann, der nur wenig älter war als ich selbst. Unsere Zimmer waren durch eine Art Tapetentür getrennt, und ohne eigentlich zu lauschen, wenn er Herrenbesuch hatte, fand ich doch bald heraus, dass er homosexuell war. Fräulein S. bewohnte den Raum, der gegenüber von meinem Zimmer lag. Das sehr große und düstere Berliner Zimmer, in dem das Telefon stand und das wir auf dem Weg zur Küche passieren mussten, benutzten alle gemeinsam. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hinterhauses mitten in jenem Block, der von Kudamm, Uhland-, Lietzenburger und Fasanenstraße umschlossen wird. Durch eine Gebäudelücke sah ich auf ein Nachtlokal im Parterre eines Hauses an der Fasanenstraße. Wenig aufdringlich und sozusagen eine trauliche Atmosphäre verbreitend, strahlte die rote Außenbeleuchtung der Bar schon in die trüben Berliner Winternachmittage hinein. Auch mein Zimmer war geräumig und sehr hoch und wies zum Teil schöne alte Möbel auf. Zwischen den beiden Fenstern hing ein hoher Spiegel, eingerahmt von bemaltem Schnitzwerk. Vergoldete Vögel pickten nach goldenen Früchten.

     Inzwischen war der Homosexuelle übrigens ausgezogen. Sein Nachfolger, ein junger Vikar, zog mich an einem Samstagmorgen ins Gespräch. Auf irgendeine Weise kamen wir aufs Essen, und ich sagte ihm, dass ich samstags immer zu Aschinger ginge. Da lachte er und gab den unvermeidlichen Kommentar ab: „Brötchen grapschen!“ Jeder, der nicht bei Aschinger verkehrte, stellte sich das so vor; die Firma Aschinger und die Gratisbrötchen, deren man sich gierig bemächtigte, waren eine unauflösliche Ideenverbindung eingegangen. Mich verdross diese Art von Pawlowschem Reflex. Schon damals hasste ich es, wenn Gespräche nur aus den üblichen Plattheiten bestanden. (Übrigens trat ich um diese Zeit aus der Kirche aus.) Was nun Aschinger anging, so aß ich gar nicht in der Schwemme – und nur dort langte man nach den wohlfeilen Schrippen -, sondern stets nebenan im Restaurant. Beides befand sich damals noch in jener niedrigen Baracke an der Joachimstaler Straße, die einige Jahre später abgerissen wurde. Ich bestellte Schweinenierchen oder den köstlichen Milchreis mit Früchten, die in einem dunkelbraunen Buttersee schwammen. Einmal beobachtete ich während des Essens, wie einer vom Nebentisch aufstand und wegging, ohne bezahlt zu haben. Der Kellner hatte den Schaden und schien sich mein Gesicht bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu haben – als ich das nächste Mal dort aß, kassierte er bei mir sofort, was sonst nicht üblich war. Ein anderer Kellner wollte nach der Abrechnung rasch in der Küche verschwinden, der Gast rannte ihm hinterher und erwischte ihn am Kücheneingang, sein Wechselgeld fordernd. Eine Serviererin drohte dem Kollegen mit dem Finger: „Du Spitzbube!“

     An Arbeitstagen trabte ich morgens um sieben zur Kreuzung Kudamm und Joachimstaler Straße, um einen Autobus nach Steglitz zu besteigen. Unterwegs fiel mein Blick häufig auf eine weitere Gedenktafel. Sie erinnerte neben dem Astor-Kino, da wo die Disconto-Bank ihre Filiale hatte, daran, dass Robert Musil Anfang der Dreißiger hier einige Zeit gewohnt hatte. Vom „Mann ohne Eigenschaften“ waren hier große Teile geschrieben worden. Einige Häuser weiter stand ein Gebäude, das besser in eine von Kafkas Parabeln gepasst hätte: die chinesische Botschaft. Jedermann unzugänglich, von einem Berliner Hausmeisterpaar wie von einem Lindwurm der Sage gehütet, Gegenstand raunender Zeitungsberichte, dämmerte sie durch die Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte, bis die Republik China eines fernen Tages ihr Festland zurückerlangt haben würde …

     Im Winter neunundsechzig auf siebzig lag morgens oft Neuschnee. Wenn ich zum Autobus ging, war noch nicht gefegt. Ich sank mit jedem Schritt ins Weiche, Pulverige, und die Luft roch ungewöhnlich sauber. Der Schneefall hatte oft am Morgen aufgehört, nur noch vereinzelte letzte Flocken trieben im kalten Ostwind, der allmählich einsetzte. Frierend sah ich die Joachimstaler hinauf und ließ, wenn noch kein Bus kam, den Blick eine Weile auf der strengen und dekorativen Fassade des Hotels „Frühling am Zoo“ ruhen, das trotz seines Namens das ganze Jahr geöffnet hatte. Dann kam ein Pulk schmutzig gelber Doppeldecker über die Kreuzung zu mir herüber: hintereinander ein Zweier, ein Fünfundzwanziger, ein Einundachtziger und noch ein Fünfundzwanziger mit einem zusätzlichen E hinter der Liniennummer. Sie alle hatten eben am Bahnhof Zoo ihre schier unendliche Reise durch die monotonen Weiten des Berliner Südens angetreten. Irgendwann am Vormittag würden sie in Lichterfelde, Marienfelde oder Britz ankommen. Ich sprang rasch auf. Die meisten Wagen hatten damals hinten noch keine Türen. Vielleicht hatte die Außenfarbe doch etwas mit dem Nikotin zu tun, das auf dem Oberdeck im Übermaß konsumiert wurde. Einige Fensterklappen standen immer offen, es war gewöhnlich kalt, zugig und dennoch verräuchert. Nur stark gebückt konnte man oben eine der langen Viererbänke erreichen. Die Schaffner taten mir leid. Sie mussten jedem Fahrgast hinterherkriechen und dann die schmale, steile Hühnerleiter wieder hinunter. Nach ein paar Jahren sah man jedem von ihnen die zweiundvierzig Stunden an, die er pro Woche Dienst hatte – am Buckel sah man sie wieder. Unten war es mir meist zu voll, deshalb saß ich dort nur selten. Einmal ließ eine junge Berlinerin eine Flasche zu Boden fallen, die dabei zerbrach. Eine gelbe Flüssigkeit rann auf die Fahrerkabine zu. Der Schaffner näherte sich mit unmutiger, Unheil kündender Miene. „Es ist nur Apfelsaft“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Schon verbreitete sich im ganzen Unterdeck der liebliche Duft.

     Wir rollten an dem Haus vorüber, in dem Friedrich Ebert gestorben war; auch darüber belehrte eine Tafel den historisch Interessierten. Zweimal in der Woche stieg ich schon am Bundesplatz aus, um bei Doktor X oder Assessor Y Unterricht zu genießen. Er fand in einem neobarocken Büropalast statt. Wir fröstelten einen Vormittag lang in einem Saal, dessen Wände mit verblassten rotseidenen Tapeten bespannt waren. „Wir wollen uns warm arbeiten“, sagte Doktor X, „also zurück zum Paragraphen 1300 …“ Oder zu einem anderen.

     In Steglitz ausgestiegen, hatte ich es nicht mehr weit ins Büro, nur einige Ecken zu Fuß. Ob mir wieder die Akte Messerschmidt vorgelegt würde? Das war ein Fall nicht wie, sondern tatsächlich aus dem Leben gegriffen. Dieser Messerschmidt suchte das Büro aus Gründen, die mir entfallen sind, gern persönlich auf, und eine junge Kollegin, Frau O., schrieb dann vielsagende Aktenvermerke: „Herr M. sprach gemeinsam mit seinem ‚Bruder’ hier vor …“ So oder so ähnlich begannen die offiziösen Notizen der Frau O., denn ihr war etwas aufgefallen, das vielleicht nicht gerade zur Sache gehörte und dennoch nach ihrem Gefühl unbedingt festgehalten werden sollte. „Vorsicht“, schrieb sie oder: „Achtung, § 175!“ Diesmal war keines der sonst von uns anzuwendenden Gesetze gemeint, sondern das Strafgesetzbuch, aus dem die einschlägige Vorschrift eben erst in der Hauptsache entfernt worden war. Somit war die löbliche Sachbearbeiterin in mehrfacher Hinsicht unzuständig: amtlich, historisch (da hinter ihrer Zeit herhinkend) und ihrem Geschlecht nach.

     Für mich war damals in West-Berlin das Reich der Freiheit auch geographisch streng geschieden vom Reich der Notwendigkeit. Alle meine Lust- und Erholungsorte lagen auf einer Achse, die west-östlich vom Lehniner Platz über die Uhlandstraße zum Kleist-Casino verlief. Schauen, Träumen, Lieben, Schlafen … Dagegen erfolgten Nahrungsaufnahme sowie Lernen und Arbeiten nord-südlich. Die U-Bahn nach Steglitz war noch in Bau. Trotzdem begab ich mich manchmal in den Untergrund, fuhr etwa mit der furchtbar rumpelnden S-Bahn vom Anhalter Bahnhof zum Gesundbrunnen. Ich brach dann mit dem beschriebenen funktionalen Koordinatensystem, ich bewegte mich nord-südlich, ohne Verpflichtung, nur zum Spaß. Nicht dass ich im Wedding irgendetwas verloren gehabt hätte. Es reizte mich nur, im Schritttempo durch den breiten unterirdischen Bahnhof Potsdamer Platz gefahren zu werden. Sämtliche Bahnsteige lagen öde und menschenleer da. Das Gewimmel, das hier einmal geherrscht haben musste, war im Verlauf des Geschichtsprozesses in sein Gegenteil umgeschlagen: die modrige Leere einer schwach beleuchteten Grabkammer, und die selten zu erblickenden Grenzpolizisten, die gemessenen Schrittes auf den Perrons patrouillierten, kamen mir wie Grabwächter vor, wie Bewacher eines bereits geplünderten und entleerten Pharaonengrabes. Noch mehr Melancholie verbreiteten, als es Frühling wurde, die von Birkenhainen überwucherten Gleisanlagen der Ringbahn am Gesundbrunnen. Frühling am Gesundbrunnen …

     Im Sommer überraschte mich Fräulein S. mit der Kündigung. Sie löste ihre Wohnung auf und zog ins Süddeutsche, um dort auf ihren Tod zu warten. Ich fand ein winziges Appartement in der Keithstraße. Das Institut nannte sich Boardinghaus. Effi Briest hatte in dieser Straße gewiss großzügiger gewohnt. Von meinem Vogelbauer sah ich auf das Hochhaus einer Werbeagentur und eine große Straßenkreuzung. Wenn eine Veranstaltung in der Urania zu Ende war, kamen Massen älterer Berliner aus dem Gebäude und strebten zu den Bahnen und Bussen. Zu denken, dass so gut wie alle von ihnen tot sein dürften … Ich hatte es nun nicht mehr weit zum Kleist-Casino. Man sagte nur: KC. An der Garderobe erlebte ich einmal den Streit zwischen dem Garderobier und einem älteren, untypisch wirkenden Gast. Dieser bestand darauf, seine Aktentasche mit ins Innere der Bar zu nehmen. Er sei Schriftsteller, in der Mappe seien wertvolle Manuskripte, die er nicht aus der Hand geben könne. Er setzte sich durch. Sicher ist er längst tot. Ich folgte ihm und ging auch hinein. Was dann kam, ist eine andere Geschichte.

 

 

17. EROS IN DER RELIGIONSSTUNDE

 

- Von zwei Sitzenbleibern, einem Pfarrer samt Tante, deren Gatten sowie von Goebbels -

 

Nicht ohne Grund gelten zeitnahe Zeugenaussagen als die beweiskräftigsten. Die Erinnerung leistet im Lauf der Zeit ganze Arbeit, durch Weglassen, Hinzufügen, Umgruppieren. Woran wir uns später mit Gewissheit zu erinnern glauben, es ist mit Skepsis zu betrachten: War es damals wirklich so?

Einmal schrieb ich einen Text über Banknachbarn am Gymnasium. Ich machte mir darin klar, wie erotisches Begehren allmählich erwacht. Aus dem Gedächtnis rekonstruierte ich eine Reihe von fünf Schulkameraden. Der dritte von ihnen war ein hübscher, allerdings unbegabter Waisenjunge gewesen. Ich fand damals keinen Zugang zu ihm, er saß still und passiv neben mir. Oft betrachtete ich ihn von der Seite, mit Gefühlen, die auf mir noch unklare Weise zusammenhingen. Zunächst verdiente Sascha Mitleid, da er die Eltern früh verloren hatte. Er war auch beneidenswert – er lebte im Wohlstand bei einer Tante, die ihm viel Freiheit ließ. Und ihn umgab, ohne dass er irgendetwas dafür tat, die Gloriole des Outsiders, der Verweigerers – er war am Unterricht desinteressiert und beteiligte sich so gut wie nie an ihm. Außerdem war er hübsch anzusehen. Mir schien, es müsste köstlich sein, ihn zum Freund zu haben, einen Arm um ihn zu legen, ihn zu trösten und sich über seine Art von Vollkommenheit zu freuen … Dazu kam es nie - Sascha blieb sitzen und wurde später von der Schule genommen.

Erst als der Text geschrieben und schon im Internet zu lesen war, stöberte ich in alten Tagebüchern. Vielleicht würde ich noch mehr Details über Sascha erfahren? Ich fand nichts über ihn – dafür stieß ich auf Otto, der mir vollkommen aus dem Gedächtnis entschwunden war. Wir drei hatten nur ein Jahr lang dieselbe Klasse besucht, und dieses ganze Jahr war Otto mein Banknachbar gewesen. Ich sah Sascha nun weiter entfernt von mir sitzen und mich, wie ich ihn aus größerer Entfernung betrachtete und mich nach ihm sehnte … Und Otto? War ein schüchterner Junge vom Land gewesen, ein grundehrlicher Charakter – und ziemlich hässlich. Am Ende des Schuljahrs blieb auch er sitzen, wiederholte die Klasse und ging mit Mittlerer Reife ab. Meine Erinnerung hatte Otto durch Sascha ersetzt. War es wirklich so?

Die beiden kamen mir wieder in den Sinn, als ich David Bergers Buch „Der heilige Schein“ las. Berger ist auch katholischer Religionslehrer, und das brachte mich auf eine neue Spur. Bei uns hatte es damals evangelische Schüler gegeben, wie Sascha und mich, und katholische, zu denen Otto gehörte. Aus den Parallelklassen wurden für die Religionsstunde neue Einheiten gebildet, und dann kam Sascha zu mir und nahm Ottos Platz ein. So dürfte es gewesen sein – vielleicht. Jedenfalls sehe ich in der Erinnerung den Waisenknaben nun wieder dicht neben mir, seine Haarfarbe: milchkaffeebraun, einen Anflug von Bartwuchs und sogar Poren seiner Haut. Ich höre ihn, wenn der Lehrer schweigt, leise atmen.

Pfarrer O. hatte nur ein Thema: Existenztheologie und Entmythologisierung. Mit Rudolf Bultmann langweilte er uns viele Monate lang. Auch um mich davon abzulenken, sah ich zu Sascha hinüber. Einmal kam der liberale Pfarrer auf etwas zu sprechen, das mich doch aufhorchen ließ. Seine Tante, sagte der Pfarrer, sei mit einem Homosexuellen verheiratet gewesen und habe sich an Joseph Goebbels gewandt, und Goebbels habe dafür gesorgt, dass ihr Gatte an der Ostfront einem Himmelfahrtskommando zugeteilt wurde. „Die Tante ist ihm noch heute dankbar! Aber das geht doch zu weit – oder was meint ihr? Natürlich, ihr dürft es euch nicht zu leicht vorstellen, mit einem Homosexuellen verheiratet zu sein. Das ist kein Vergnügen … Aber ihn deshalb in den Tod schicken lassen?! Nein, nein, es ist schließlich kein Verbrechen, es ist ja Krankheit, ungefähr so wie Krebs …“  So der liberal gesinnte Pfarrer. (Die Hölle durch die Vordertür entmythologisieren und durch die Hintertür wieder hereinlassen …) Die Klasse blieb stumm. Es war noch kein Thema.

 

 

18. ICH WAR EIN BERLINER

  

Das Bürgeramt hatte ich mir aufgrund von Horrorberichten ganz anders vorgestellt: lange Flure unter Neonlicht, gereizte Menschenmassen, endloses Warten, Scherereien … Ich betrat das Hochhaus und war schon mitten im Wartesaal, er war rundum verglast: so viel Transparenz, und da saßen sie nun oder standen oder tigerten herum. Ihre Blicke gingen zu zwei großen Tafeln, auf denen in rascher Folge Nummern aufleuchteten, und dann verschwanden die Bürger, die anderswo jetzt Kunden heißen, in den zwei Sälen dahinter, kamen wieder heraus, Papiere in den Händen – eine gut geölte bürokratische Fabrik.

Ich hatte mir via Internet einen Termin für neun Uhr dreißig besorgt. Um neun Uhr vierunddreißig wurde meine Nummer angezeigt - ich eilte mit meinen Dokumenten zu dem bezeichneten Platz. Eine reizende, muntere, um mich besorgt scheinende junge Angestellte empfing mich, hinter ihrem Schreibtisch aufgeräumt lächelnd und wusste schon Bescheid über mein Begehren: Sie wollen sich also in Berlin anmelden?

Anfangs ging es rasch voran. Aber dann schien es ein Problem zu geben: Sagen Sie, haben Sie hier noch eine Wohnung? Vielleicht in der Kantstraße? – Durchaus nicht … - Nun, Zufälle gibt’s: Da ist ein Abendschön, ein Arno, mit dem gleichen Geburtstag wie Sie …

Es stellte sich heraus, mein Doppelgänger war auch noch wie ich in N. geboren. Solche Zufälle gibt es aber nicht! Es war übrigens nicht die Kantstraße, es war die K….straße, ich hatte mich verhört. Jetzt war die Sache klar: Da hatte ich tatsächlich mal gewohnt, vier Jahre lang, mit Nebenwohnsitz gemeldet, um den bundesdeutschen Pass behalten zu können. Jahrzehnte war das her. - Sie sind noch immer da angemeldet. Gut, dass Sie mal vorbeischauen, sagte die junge Frau lächelnd.

Seit wann ich da nicht mehr lebte? – Seit März achtundsiebzig. – Ach Gott, da war ich noch nicht mal auf der Welt. – Wir sahen uns an, sie die sympathische Junge, ich der … na ja, man sieht mir nicht so genau an, wie alt ich wirklich bin. Da hatte ich mich vierunddreißig Jahre lang ordnungsgemäß abgemeldet geglaubt, war es aber infolge irgendeiner Nachlässigkeit, eines Amtes oder meiner Person, nicht gewesen. Keinen Koffer mehr in der Stadt, dafür einen Eintrag im Melderegister - unsichtbare, mir unbewusste Fäden verbanden mich weiterhin. Und jetzt war ich wieder da und erhielt in derselben Minute Abmeldung damals und Wiederanmeldung heute schriftlich bestätigt. So wie es in schlechten Romanen am Schluss heißt: In der gleichen Stunde, als Graf Robert im Kampf fiel, gebar ihm Berta einen kräftigen Knaben …

Ich war mal Westberliner, jetzt bin ich Nordberliner, wenn auch vorerst wieder nur Nebenbeiberliner.

 

(Geschrieben 2015)

 

 

19. NICHT IDENTISCH

 

Eben ist mir etwas Seltsames passiert: Ich habe mich im Spiegel betrachtet und bemerkt, dass ich kein Verhältnis zu mir selbst habe, weder zu meinem Körper noch zu meinem Geist. Beide sind mir im Grunde fremd. Ich weiß wohl, wie mein Körper und mein Geist beschaffen sind, aber ich fühle keinen wirklichen Zusammenhang zwischen diesem rätselhaften „Ich“, das in den Spiegel, und dem leicht verstörten Siebzehnjährigen, der jetzt aus dem Spiegel sah. Das „Ich“ betrachtet gewöhnlich Körper und Geist nur als Mittel zum Zweck des Existierens, weiß aber, dass jeder andere Körper und jeder andere Geist dieselbe Funktion erfüllen könnten. Am meisten bewegt mich nun die Frage, wer oder was dieses „Ich“ denn eigentlich sei.

Vielleicht sauge ich mir da Unfug aus den Fingern. Tatsache ist, dass ich über das Befremden, mit dem ich mich betrachtet habe, erschrocken bin. Ich sage gewissermaßen „Sie“ zu mir selbst. „Du“ sage ich hingegen zu dem, was ich sein möchte und vielleicht einmal sogar sein werde. „Du“ sage ich auch zu ***, so würde ich gern sein, nennt man das Liebe?

Dieser Siebzehnjährige ist für mich eine mysteriöse Persönlichkeit, vor der ich etwas Angst habe. Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt?

 

 

20. DIE GROSSE RESIGNATION

 

Auch N… sollte seinen Mai 68 bekommen - wir mussten uns beeilen, es war schon beinahe Juni. Am Gymnasium von O… war das schriftliche Abitur gerade vorbei, da verdrängten die Nachrichten aus Paris den Gedanken an die mündliche Prüfung. Anstatt noch zu lernen, gingen wir auf die Straße. O… war bald zu klein für den großen Protest. Daher hieß es für die ganze Schule: Morgen Demo in N…! Wir fuhren schwarz und lösten nicht einmal Bahnsteigkarten. Als der Zug ankam, war überall Bahnpolizei, alle mussten nachlösen.

Sonst war es beinahe wie im Fernsehen. Eine wirklich große Demo, massenhaft. Wir marschierten zum Schulzentrum. Die Direktorin des Mädchengymnasiums ließ ängstlich die Tore verrammeln. Das Knabengymnasium blieb offen, doch die meisten Knaben waren sich zu fein, mit denen aus O… in die Innenstadt zu ziehen. Damals fuhr zum Glück in N… die Straßenbahn noch, wir konnten also die Gleise blockieren, wie in Heidelberg. Am Rathaus wurden Reden gehalten, Parolen gegen die Fassade skandiert. Wie das hallte: NATO-Notstandsdiktatur! Der Bürgermeister ließ sich nicht blicken.

Der letzte Redner, ein hübscher Primaner, schloss seine Rede so: „ … und wo immer ihr könnt: Untergrabt die Autorität!“ Der Polizist neben ihm trat zwei Schritte zur Seite. Dann zogen wir in die Unterstadt. Infolge des starken Gefälles sah die Demonstration wie eine bunt angemalte Riesenrolltreppe abwärts aus. Unsere Köpfe verschwanden hinter den Transparenten. SPD und CDU, lasst das Grundgesetz in Ruh …! Die Parolen der Sprechchöre kamen von Studenten einer Uni, vermittelt von Schülern mit Kontakten dorthin. Sie wieselten jetzt mit Trillerpfeifen, händeklatschend, um uns herum und ließen den Passanten zurufen: „Bürger, lasst das Glotzen sein, reiht euch ein, reiht euch ein!“

Die Bürger von N… bezeigten uns eine versteinerte Neugierde. Keiner schloss sich an, weder die Hüttenarbeiter nach der Frühschicht noch die Hausfrauen noch die Rentner. Dennoch gab es auch Zustimmung. Als wir am Finanzamt vorbeikamen, hingen die Beamten in den Fenstern, jubelten uns zu. Am Hauptbahnhof löste sich der Zug auf. Es war der letzte Schultag vor den Pfingstferien. Ich war sehr optimistisch.

Fünf Wochen später war alles vorbei. Die Notstandsgesetze waren durch. Das Abitur hatten in unserer Klasse alle bestanden. Die älteren Kameraden, schon gemustert und für tauglich befunden, rückten ausnahmslos am 1. Juli ein. Ich staunte - sie waren doch alle mitgegangen, hatten Lungen und Stimmbänder strapaziert, gegen NATO, für Sozialismus. Und jetzt verschwanden sie einfach in den Kasernen? In ihren Briefen an mich lamentierten sie über den Drill und den Stumpfsinn des Dienstes und zählten schon die Tage bis zur Entlassung.

 

 

Sebastian war keiner von denen. Er war mir schon früh in Berlin aufgefallen, doch dauerte es Jahre, bis ich ihn endlich kennenlernte. Er wirkte noch jünger, als er ohnehin war, mit fein gezeichnetem Gesicht, kleinem Schnurrbart, dunklen Ringellöckchen. Oft bildete sich in den Bars ein Kreis um ihn, gerade Ältere hörten ihm gern zu. Er sprach gut, meistens über Politik. So ernsthaft er auftrat, er wirkte auch rührend. Er belehrte Männer, die doppelt so alt waren. Sie ließen es sich gefallen. Ab und zu zeigte sich ein leichtes ironisches Lächeln auf seinem Gesicht.

Anfangs trafen wir uns mal zum Essen bei einem Griechen, der damals bei linken Lehrern beliebt war. Undeutlich erinnere ich mich an die Wände voller Plakate. Bei Moussaka und Retsina – so etwas hatte es in O… nicht gegeben - erzählte Sebastian von sich. Er war Sohn eines kleinen Landwirts, irgendwo im Süddeutschen aufgewachsen, wo es besonders gut, d.h. streng katholisch ist. Der Vater: bigott und jähzornig, als ob eines davon nicht gereicht hätte. Er hatte einen ordentlichen Brotberuf lernen müssen, es dann aber im Hotelgewerbe nur ein Jahr ausgehalten. Nach der Abendschule studierte er jetzt Philologie, wollte Lehrer werden, was sonst.

Wir wechselten nach dem Essen den Tisch, zu Bekannten von ihm, Lehrer und Lehrerin. Die Stimmung der beiden war gedrückt. Sie sprachen von Berufsverboten und dämpften sogar hier ihre Stimmen. Die Meinhof war seit ein paar Tagen tot, sie sagten: umgebracht worden. Von ihrer Beerdigung war die Rede, die Lehrerin war am Grab gewesen und sorgte sich jetzt, dort vom Staatsschutz identifiziert worden zu sein.

Sebastian ging nachher mit mir spazieren, den Kudamm auf und ab. Er sagte, am liebsten würde er es wie die RAF machen, am liebsten würde er eine Bombe auf Franz Josef Strauß schmeißen. Aber er habe nun mal nicht das Zeug dazu. Aber wenn er es hätte, würde er es tun, ganz sicher. Ich erschrak ein bisschen, für so radikal hatte ich ihn nicht gehalten. Im Ganzen jedoch fand ich mich ihm ähnlich oder wollte ihm ähnlich werden, ich weiß nicht mehr. Unser Kontakt lockerte sich. Ich zog bald weg und sah ihn lange nicht wieder.

 

 

Damals hatte ich es schon aufgegeben, bei Demonstrationen mitzugehen. Eine Zeitlang hatte es Spaß gemacht, an der Ecke Joachimsthaler Katz und Maus mit der Polizei zu spielen. Aber eines Tages konnte ich mir nichts mehr vormachen. Diese Aufzüge und Umzüge veränderten nichts, nicht einmal mehr uns selbst. Die Fabrikanten von Druckerschwärze verdienten an uns, die Presse und die Glasereien waren gut beschäftigt. Die Versicherungsprämien stiegen, der Vietnamkrieg ging weiter und am Amerika-Haus wurde jede Woche dieselbe Schlacht geschlagen. Ab und zu mischte ich mich unter die Zuschauer, sah, wie beide Seiten immer brutaler vorgingen. Sie suchten die Entscheidung auf der Straße, eine Partei musste doch endlich die Oberhand gewinnen. Blut sollte fließen und es floss auch. Das Rote Kreuz schickte vorsorglich Ambulanzen, die APO hatte ihren eigenen Rettungsdienst organisiert.

Als die Amerikaner in Kambodscha einmarschierten, stand ich wieder unter der Brücke am Bahnhof Zoo und sah in die Hardenbergstraße hinein. Die Haufen gingen wütend aufeinander los, verbissen sich ineinander.* Auf einmal wird mein Blick abgelenkt. Einer macht sich an die Glasvitrinen vor dem Augustiner heran. Scheu blickt er sich um, die Haltung drückt Schuldbewusstsein aus. Im Nu hat er die erste Vitrine geöffnet, langt schon nach dem nächsten Luxusfeuerzeug … Ich herrsche ihn an: Geplündert wird hier nicht! Da weicht das Schuldbewusste leichter Verärgerung. Ich muss erfahren, er ist der Inhaber des Tabakladens an der Ecke, will seine Waren in Sicherheit bringen …

Ich stand ziemlich dumm da. Meine Wut über den Krieg im Dschungel, meine Sympathie für die Demonstranten: geschenkt. Als Pflastersteine flogen und Martinshörner gellten, lag mir der Schutz des Eigentums am Herzen - beschämend. Und ich hatte nicht mal den Kaufmann vom Dieb unterscheiden können. Lächerlich, mein Eingreifen. Ich taugte weder zum Akteur noch zum Beobachter, allenfalls zum Passanten.

 

 

Und was ist aus den anderen geworden? Sebastian habe ich später noch einmal getroffen und beinahe nicht wiedererkannt. Er grüßte mich im „Chaps“ von weitem. Aber ohne Löckchen, mit nun sehr kurzem Haar, war er nicht mehr der Alte. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Sausalito“. Es dauerte, bis mir der Gedanke kam, er könnte Sebastian sein. Als ich mir sicher war, wich er meinem Blick aus – ich hatte ihn zu lange bloß angestarrt. Ich wollte zu ihm gehen, zu spät, er ließ sich eben von einem Touristen in ein Gespräch ziehen. Dieser Amerikaner hatte einen vollendet schönen Körper und ein vollkommen leeres Gesicht. Im Vorbeigehen hörte ich das Übliche. Sie redeten über die immergleichen Bars zwischen München und San Francisco, und der Amerikaner stellte jeweils fest, wo es „cheaper“ oder „more expensive“ sei. Sebastian sah ihn unverwandt an, Bewunderung in den klugen Augen. Dann glitt sein früher oft so spöttischer Blick hinab zu den Stiefeln des anderen, deren linker mit Sporen verziert war. Sebastians Augen blieben am Stachelkranz hängen. Nach dieser Dornenkrone gelüstet es dich jetzt? Sie gingen dann zusammen fort.

Nachts schlief ich vor Ärger kaum. War es wirklich Sebastian? In jener Nacht schien mir Opportunismus das gemeinsame Merkmal all derer zu sein, in die ich mich jemals verliebt hatte.

Am Abend darauf sah ich ihn erneut und ging gleich zu ihm hinüber. Er lachte mich an. Wie froh er war, dass ich mich noch an ihn erinnerte. Nein, Lehrer sei er doch nicht geworden, er arbeite jetzt als Übersetzer. Bald fing er wieder mit Politik an. Tage vorher war Gauweilers Kaltstellung** bekannt geworden, und er meinte: „Da werden in Bayern sicher Ströme von Sekt geflossen sein.“ Er sah dabei wieder aus wie früher.

Ich ging darauf ein: „Ja, Peterchens Mondfahrten sind zu Ende, seit Strauß tot ist … Auf den braucht keiner mehr eine Bombe zu werfen. Weißt du noch: eine Bombe schmeißen, wie die RAF?“ Er erinnerte sich gut. „Ja, es hat sich erledigt. Alles erledigt sich, früher oder später. Auch wir erledigen uns, irgendwann mal.“ Er hatte auch noch den gleichen Ton wie in Berlin drauf, damals vor zwölf und mehr Jahren.

Der Teufel ritt mich. Ich wollte ihn treffen. „Aber manchmal, Sebastian“, fing ich an, „manchmal sind Kritik und Protest doch bloß die Vorspiele für einen Akt masochistischer Unterwerfung. Oder?“ Aber er nahm es nicht mal krumm, er lächelte nur. 

 

* Laut Klaus Magiera, damals Chef des Polizeieinsatzkommandos Charlottenburg, waren am Amerika-Haus 5000 Polizisten und 7000 Demonstranten (Berliner Zeitung vom 02.09.1996). 

 

** vgl. SPIEGEL Nr. 43/1988

 

 

21. BÜROLEBEN DAMALS - EINE DIASHOW

 

West-Berlin 1969. Selten war so viel Aufbruch - und zugleich so viel Muff. Der junge Ben hat gerade in einem Büro mittlerer Größe zu lernen angefangen. Wer sind denn nun seine neuen Kollegen?

Da ist Frau M., Mitte sechzig, vorgealtert, schwerhörig, manchmal auch schwer von Begriff. Sie ist Schreibdame, fast schon verwachsen mit ihrem alten Bürostuhl. Wenn Ben einen Brief diktiert und darin die von ihm verwendeten Zitate kenntlich macht, kann es vorkommen, dass sie ihn anruft: „Auf Ihrem Band verstehe ich immer: Quellen. Quellen? Höre ich da richtig?“ - Ben erfährt, Frau M. war früher die Geliebte von Dr. L. Wer war Dr. L.? Geboren 1901, hat er vor und nach dem Krieg Karriere gemacht. Längst schon ist er als Verbandsgeschäftsführer in Pension gegangen und für die Nachwelt so gut wie tot. Sein Name ist jetzt nur noch ein Synonym für den dicken Kommentar, den er mitverfasst hat. Frau M. wirkt auf Ben wie stark verwitterter Fels.

Frau W. bekommt wie alle anderen Schreibdamen nur BAT VIII. Sie ist der Typ Lustige Kriegerwitwe. Ihre Heiterkeit ist teils Ausdruck vitalen Temperaments, teils aufgesetzte Trotzreaktion. Sie erzählt immer wieder von der Olympiade 1936. Mit dem Bund Deutscher Mädel (BDM) hat sie damals die Kulisse gebildet, auf den Hauptachsen der Stadt oder im Stadion. Die Olympiade 1936 war das glanzvollste Ereignis ihres Lebens. Sie war erst kurz verheiratet, als ihr Mann fiel. Seitdem ist sie Tippse. Wenn sie aus einem Urlaub zurückkommt, sagt Bens Ausbilder: „Achtung, Frau W. schreibt wieder!“ Frau W. ist klein und trägt den Kopf hoch. Etwas an ihr findet Ben rührend: Im Gespräch zieht sie die Schultern hoch, wie zur Verteidigung.

Herr S. ist der Vize im Bereich und befehdet sich ständig mit Herrn K., dem Bereichsleiter. Beide sind um die sechzig und politisch vorbelastet. Herr S. musste nach dem Krieg einige Jahre im Steinbruch arbeiten. Da hat er sich eine Steinstaublunge geholt. Er ist witzig, geistreich und verbittert. Er keucht, wenn er Ben verwickelte Rechtsfragen vorlegt und sie blitzschnell selber löst. Ein farbiger Druck an der Wand bei ihm zeigt einen Hasen mit einer Flinte, der dem Jäger eins auf den Pelz brennt. Einmal zettelt Herr S. eine Revolte gegen Herrn K. an, indem er sich mit allerlei Indiskretionen an den Vorstand wendet. Die Sache wird niedergeschlagen, Herr S. geht dann bald in den Ruhestand.

Bens Ausbilder erzählt von Herrn K.: „Der ist in der Nazizeit in Parteiuniform ins Büro gekommen – und sogar in Stiefeln!“ Herr K. war in den Fünfzigern am Wiederaufbau des Betriebes beteiligt und hat noch eine kleine Karriere hinbekommen. Jetzt steht er im Abwehrkampf gegen die jüngere Generation. Diese nutzt die beginnende elektronische Datenverarbeitung für ihren eigenen Aufstieg. Herr K. hat Übergewicht und hohen Blutdruck. Er tritt forsch auf. Weist man ihm einen Fehler nach, bekommt er einen roten Kopf und verlässt rasch das Zimmer, wenn auch in guter Haltung. Einmal erleidet er einen Schwächeanfall. Bens Ausbilder, einer von den jungen Bürohengsten, sagt süffisant vor den anderen: „Hoffentlich begreift er’s als Wink des Himmels.“ Herr K. geht bald auch in Pension.

Die Sachbearbeiterin Frau Z. ist Mitte zwanzig, hübsch, sympathisch. Sie ist schon einige Jahre verheiratet, bisher kinderlos. Sie ist übergewissenhaft und schafft daher ihr Arbeitspensum nur schwer. Frau Z. wohnt in einem neuen Hochhaus am Stadtrand und fühlt bei Sturm das Haus im vierzehnten Stock schwanken. Wenn sie Zeit hat, stellt sie sich gern die Unendlichkeit vor, am liebsten in Dunkelblau.

Mit Ben hat Klaus hier angefangen. Nach der Mode der Zeit trägt er sein Haar schulterlang, es ist kunstseidenweich. Er muss das Musical „Hair“ sehen und den neuesten Film von Stanley Kubrick. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, Marke Rothhändle. Jeden Tag nimmt er sein Frühstück von zu Hause mit. Seine Mutter schmiert und belegt ihm Brötchen, pardon: Schrippen. Klaus hat noch nie eine der Schrippen gegessen. Doch wirft er sie auch nicht fort, er versteckt sie in einer großen Schublade seines Schreibtischs. Eines Tages entdeckt die Putzfrau den Berg großenteils verschimmelter Schrippen und schlägt Krach: Was ist nur mit dieser Jugend los?

 

 

22. Neue Nachtgedanken (1987)

 

Ich hatte einen Traum, wachte auf und hatte den Traum schon vergessen. Ich weiß nicht, warum ich dann die Toten zu zählen begann - keine beliebigen Toten, sondern meine Toten, Menschen, die ich gekannt hatte und die inzwischen gestorben waren. Es waren viel mehr als ich vermutet hätte: siebenunddreißig zählte ich – und da hörte ich erst einmal auf: Für jedes Jahr einen Toten, ich bin ja jetzt siebenunddreißig. Ich machte mir klar, dass ihre Gesamtzahl immer größer werden muss, solange ich noch lebe. Wenn ich lange genug existiere, dürfte sie eines Tages diejenige meiner noch lebenden Freunde, Feinde, Bekannten übersteigen. Nach dieser Einsicht verging mir die Lust auf weiteres Rechnen. Es kam mir so vor, als hielten jene Toten am nächtlichen Himmel draußen eine Versammlung ab, als ob sie sich zusammengetan hätten, um dort auf mich zu warten. Ich spürte einen Sog, der von ihnen ausging. Waren sie am Ende sogar gestorben, um mich vereinnahmen zu können? Lebte ich nur noch, um eines Tages unter ihnen zu sein? Das Warten auf mich verband sie, verwischte alle Unterschiede zwischen ihnen, die ich zu ihren Lebzeiten gemacht hatte. Diese Toten waren meine Feinde. Ich riss mich von den Gedanken an sie los, um weiterschlafen zu können. Übrigens habe ich noch nie einen Toten gesehen.

Oft sind mir die Toten auch bei Tag lästig. Wer von ihnen mir nahe stand, scheint mit seinen Alltagsgesten und -empfindungen in meinem Kopf überlebt zu haben. Die Nachricht von seinem Tod ist vielleicht einer Infektion vergleichbar, die Kavernen im Hirn zurücklässt. Wenn nach Jahren mein Schmerz verschwunden ist und ich die Toten selbst nicht mehr vermisse, breiten sich in diesen Hohlräumen Erinnerungen an banale Äußerlichkeiten aus, an äußere Formen, Gesten, Zufallsbemerkungen. So höre ich etwa Peter, der vor drei Jahren an Aids gestorben ist, in mir mit seinem Wiener Akzent reden. Er kommentiert heutige alltägliche Ereignisse, indem er bloß damals Gesagtes wiederholt. Ich kaufe Pfirsiche, die statt saftig nur wässerig schmecken – dazu Peter: „Recht gschmackig san’s ned.“ Bei welcher Gelegenheit hat er es ursprünglich bemerkt? Ich weiß es nicht mehr.

Oder ich unterhalte mich im Büro mit dem Kollegen am Schreibtisch gegenüber. Er nimmt jetzt den Platz von Frau *** ein. Fünf Jahre saß sie dort, wurde manisch-depressiv und brachte sich nach zwei Jahren in der Psychiatrie um. Heute stelle ich im Gespräch mit ihrem Nachfolger an mir den gleichen abgeklärten und - ich finde keinen besseren Ausdruck - begütigenden Tonfall fest, den sie selbst vor Ausbruch der Krankheit immer mehr perfektionierte. Es geht jetzt um ganz andere Themen und doch höre ich mich dabei reden wie sie damals.

Apropos Depressionen: Bis vor kurzem habe ich mich selbst davor gefürchtet. Natürlich fürchte ich mich auch vor Aids. Seit ich jedoch im Radio gehört habe, dass das Virus die Nervenzellen befallen und lang anhaltende Depression ein frühes Symptom der Erkrankung sein kann, hat meine Stimmung sich schon sehr gebessert. Ich will und kann mir dadurch beweisen, dass ich noch gesund bin ...

Proust sagt irgendwo – und ich finde die Stelle jetzt wie üblich nicht -, dass die Toten nur in den Köpfen der Überlebenden weiterexistierten. Allerdings stellt er in einem anderen Zusammenhang davon abweichende Vermutungen an, wenn ich mich recht erinnere. Wohin gehen wir also, wer kann es wissen? Dazu hörte ich neulich in einer Buchbesprechung Bedenkenswertes. Aus einem Werk, betitelt „Physik und Transzendenz“, zog der Rezensent den Schluss, dass es Wirklichkeiten ohne raumzeitliche Dimension geben könnte. In diesem Fall erübrigten sich sogleich die Fragen nach dem Woher vorher und dem Wohin nachher. Diese Begriffe existierten dann nicht mehr. Das leuchtete mir ein.

Meine Toten werden auch nicht älter, sie haben keine Entwicklung. Über sie zu schreiben, hat keinen Anfang und kein Ende. Die Toten sind in uns, aber sie altern nicht mit uns. Sie sind vielleicht doch nicht nur in uns und das könnte die Furcht vor ihnen erklären, die ich unmittelbar nach jenem Traum empfand.

 

 

23. Mein stärkster Eindruck in Paris

  

Balzac lese ich jetzt nach Jahrzehnten erstmals wieder, angeregt neulich vom Blogger Gerhard Mersmann. Er bezog sich in seinem Text ausdrücklich auf „Verlorene Illusionen“. Inzwischen begleite ich Lucien de Rubempré zum dritten Mal durch Paris und wenn die Namen von Straßen oder Plätzen auftauchen, frage ich mich: Sagen sie dir etwas? Woran erinnerst du dich überhaupt?

Zwar liegt mein Aufenthalt in Paris schon Jahrzehnte zurück, dennoch enttäuscht es mich, wie wenig an Erinnerungen im Gedächtnis vorhanden ist. Ich überfliege die knappen Notizen von damals und stelle resigniert fest: Es werden keine Bilder in dir lebendig. Wir sind fünf Tage lang viel in der Stadt herumgegangen und jetzt lese ich, auf dem Père-Lachaise sind wir zufällig auf Balzacs Grab gestoßen. Ich glaube mich undeutlich zu erinnern, wie wir von dort auf die tiefer gelegene Stadt geschaut haben. Mein Verdacht: Ich erinnere mich eher an Fotos von Grab und Friedhof, Reproduktionen in Büchern, die ich später gelesen habe.

Und kein Wort in jenen Notizen über die kleine Zufallsbegegnung, die die einzige und Jahrzehnte überdauernde Erinnerung bewirkt hat! Wie oft hat mir seitdem die an sich triviale Szene vor Augen gestanden …

Wir waren wieder einmal stundenlang durch die Straßen gelaufen. Vielleicht war es der Tag, an dem wir die berühmten Kaufhäuser besichtigten. Das Wort „Printemps“ klingt leise in mir nach. Wahrscheinlich waren wir auch in den Galeries Lafayette. Als wir dann in der Nähe der großen Bahnhöfe im Norden waren, musste ich pissen. Es lag nahe, das WC im Bahnhof aufzusuchen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob es die Gare de l’Est oder die Gare du Nord war, aber ich spüre noch immer, wie verdutzt ich war, beim raschen Durchqueren des Pissoirs ein mir aus Berlin vertrautes Gesicht zu entdecken.

Wir verkehrten einige Jahre in derselben Disco und ich hätte nie gewagt, mich ihm zu nähern. Er war auf eine Abstand gebietende Weise schön. Cesare Pavese, den ich viel später lesen sollte, hat seinen Typ hier und da beschrieben: blond, löwenmähnig, löwenköpfig. Er war also attraktiv und war stets distinguiert aufgetreten und ich nun einfach baff. Offensichtlich interpretierte er das Wort Bedürfnisanstalt anders, als ich es immer tat. Ja, er war dort auf der Jagd. Er, der mich in Berlin stets ignoriert hatte, nahm mich in Paris sehr deutlich wahr. Ich sah zu, dasss ich fortkam, um eine „verlorene Illusion“ reicher.

Mache ich mich, indem ich das so beschreibe, vielleicht harmloser, naiver, als ich damals tatsächlich gewesen bin? Zu meiner Entlastung: Rasch niedergeschrieben ist es an einem Silvesterabend. Immerhin hat es mich den monotonen Dauerlärm ein, zwei Stunden leichter ertragen lassen.

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.01.2009

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