INHALT
1. Amok in der Fußgängerzone
2. Ferner Ursprung
3. AIDS - Der Tod kam früh
4. Schmidt und Hartmann
5. Verlorene Söhne
6. Wie man's zu was bringt
7. Eines Fremden Würde
8. Rot und Schwarz
9. Fischverkäufer wird Geheimagent
10. Paradies der Alten
11. Frau mit Blüte
12. Die Kammer in der Kammer
13. Das Ende der Welt
14. Falsch verbunden
15. Gestank im Zimmer
1. AMOK IN DER FUSSGÄNGERZONE
Der turnusmäßige Besuch beim Vater stand an. Die Mutter brachte die zwei Scheidungswaisen bis an die Haustür des Exmannes. Der Summer ertönte, der Sechsjährige drückte die Tür auf, verschwand im Hausflur, gefolgt von seiner vierjährigen Schwester wie von einem Schatten.
Die Kinder fanden den Papa diesmal etwas komisch - oder noch komischer als sonst. Merkwürdig, er wollte heute nicht mit ihnen zu Hause bleiben: "Wir fahren spazieren." Im Auto lagen hinten zwei Gasflaschen, wie der Junge vom Beifahrersitz aus staunend feststellte. Seine kleine Schwester drückte sich auf dem Rücksitz ängstlich in eine Ecke.
Es ging ins Stadtzentrum. "Papa, was machst du, wohin fahren wir?" Er war gerade von der Fahrbahn abgebogen und lenkte schon in die Fußgängerzone hinein. An ihrem Anfang liegt der Hauptplatz der Stadt, wo die Straßenbahnen und Busse abfahren und immer viele Menschen warten. Ihr Papa fuhr wieder und wieder auf Menschengruppen zu. Die Leute sprangen panisch zur Seite und schrieen, und es schrieen auch die Kinder im Auto. Sie pressten sich gegen die Scheiben und sahen die Menschen draußen flüchten.
Dann flogen Gegenstände durch die Luft: Fahrräder, die Stühle eines Straßencafés. Sie schlugen von drei Seiten auf der Karrosserie auf und blieben auf den Steinplatten liegen. Ihr Papa fuhr jetzt Slalom um diese Hindernisse. Kurz darauf kam das Auto plötzlich vor einem Baum zum Stehen. Es war sofort von Passanten eingekreist. Einige zertrümmerten schon mit den Stühlen die Scheiben. Der Papa schrie außer sich: "Alles umfahren - alles umbringen!" Ein Mann griff jetzt durch das Loch in der Heckscheibe und schraubte hastig die offenen Ventile der Gasflaschen zu.
Die Polizei war schon im Einsatz. Sie räumte gerade den Platz. Bald war alles vorbei. Der Papa auf dem Weg in die Psychiatrie. Die Kinder noch unter Schock und bald wieder bei der Mutter. Einer Passantin war das Auto über den Fuß gerollt.
2. FERNER URSPRUNG
Es war der Morgen der Abreise. Ich packte die letzten Sachen ein. Dabei fiel mein Blick aus dem Fenster. Im Nachbargarten stand ein kleiner Junge, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Seine Gesichtszüge fremdartig, die Haut etwas dunkler als bei den meisten hierzulande. Er kann vom Mittelmeer kommen, dachte ich.
Das Kind sah in den wolkenverhangenen Himmel und hob beide Hände. Es streckte sie den waldbedeckten Hügeln entgegen. "Es wird Winter", rief der Junge, freudig bewegt, wie es schien. Tatsächlich war es Mitte Mai. Seine Gebärde, die Art, wie er den vermeintlichen Winter begrüßte, das kam mir gleichfalls fremdartig vor.
Nachher fuhr meine Wirtin mich zum Bahnhof. Unterwegs überholten wir zwei Fußgänger, einen noch jungen Mann und einen kleinen Jungen - es war das Kind von vorhin.
"Das ist mein Sohn", sagte meine Wirtin, "mit seinem Adoptivkind." Ich ließ mir das Nähere erzählen. Der Kleine war aus Nepal. Jemand hatte ihn bald nach seiner Geburt in Katmandu vor einem Waisenhaus abgelegt.
"Er ist jetzt vier ... Er war eineinhalb, als er zu uns kam ... Bisher ist alles gut gegangen. Er nennt seine neuen Eltern Papa Horst und Mama Gerlinde. Und er weiß, dass es da irgendwo noch eine Mama gibt. In seinem Zimmer hat er an der Wand eine Karte von Nepal hängen. Später wird er sich wohl mit den anderen vergleichen und Erklärungen haben wollen ... Nein (sagte sie auf meine Nachfrage), keine Geschwister hier. Mein Sohn und die Schwiegertochter haben sich zuerst in Russland nach einem Kind umgesehen. Doch dann haben sie erfahren, dass russische Waisen oft die Kinder von Alkoholikern sind ... Für einen Nepalesen hat er eine auffallend helle Haut. In Katmandu hat man ihn daher für ein Kind aus dem Hochland gehalten."
Erst jetzt passte für mich alles zusammen: sein Blick wie zu fernen, immer schneebedeckten Riesenbergen, die Sehnsucht nach dem Winter, die verzückte Gebärde und die Heimat Himalaya. Er war so früh verpflanzt worden und doch zum Teil Asiate geblieben. Tragen wir Bilder im Kopf, in unserer Seele, die wir nicht eigener Anschauung verdanken, Bilder, die älter sind als wir selbst?
3. AIDS - DER TOD KAM FRÜH
Im Mai lernt Svoboda die neue Frau seines geschiedenen Vaters kennen. Sie ist wegen einer Familienfeier nach Wien gekommen und mustert ihn kritisch. Denkt sie etwa schon ans Erben, als sie ihn fragt: "Und Sie, denken Sie gar nicht ans Heiraten? Sie sind doch schon vierzig ..." - "Nein, überhaupt nicht. Ich bin ja schwul." - "Mein Gott, Sie sind homosexuell? Was für ein Unglück!" - "Für mich nicht, für mich ein Glück. Damit Sie es wissen, Frau Svoboda!" Nun ist er doch laut geworden.
Im Sommer ist er so oft wie möglich im Prater oder in der Lobau, allein oder mit dem Amerikaner, der schon den zweiten Sommer hier verbringt. Sie reden auch über die neue Krankheit. Svoboda sagt, er verwende schon lange Pariser, wegen der Hepatitis. Und jetzt beschränke er sich ohnehin auf Stammkundschaft. Im Herbst sagt er: "Schön war der Sommer, aber auch schnell vorbei ..."
Im September ruft ihn einer dieser Stammkunden wieder mal an. Er ist Eisenbahner und hat da unten in Kärnten Frau und zwei Kinder. Der Dienstplan verlangt es ab und zu, dass er in Wien übernachtet. Er meldet sich nur in großen Abständen. Tief befriedigt sagt er nachher immer dasselbe: "Und es ist doch gegen die Natur." Das rundet für ihn die Sache erst ab. Svoboda lacht dann und sagt: "Alles ist Natur, wir alle sind Natur. Wir sind von Erde genommen ..."
Im März ist der Eisenbahner wieder einmal in Wien. Seit dem Herbst hat er Svoboda nicht mehr gesehen. Svoboda meldet sich nicht am Telefon. Um diese Zeit hat er ihn sonst immer erreicht. Svoboda ist auch nicht im Esterhazy-Park. Der Eisenbahner nimmt sich vor, beim nächsten Mal früher anzurufen.
Es ist Mai. Unter Svobodas Nummer ist niemand mehr zu erreichen. Der Eisenbahner nimmt die Trambahn und findet heraus, was er schon vermutet hat: Das Klingelschild mit Svobodas Namen ist durch ein neues mit einem anderen Namen ersetzt. Da geht das Haustor auf. Ist das nicht seine Nachbarin? Sie sagt: "Svoboda? Der ist im März gestorben. Diese neue Seuche, Sie wissen schon ... Und man hat es ihm nicht angesehen. Ich glaube, er hat es selbst nicht gewusst ... Waren Sie mit ihm befreundet?" - Der Eisenbahner sagt: "Ich hab ihn flüchtig gekannt."
Als sein Zug am anderen Morgen in den Semmering-Tunnel einfährt, denkt er: In Wien ist es jetzt auch dunkel geworden - und es wird nie mehr hell.
4. SCHMIDT UND HARTMANN
An diesem Tag stiegen sie nicht hoch hinauf. Schmidt und Hartmann blieben in der Waldzone und folgten einem meist eben dahinführenden Weg. Der Talgrund zu ihrer Rechten war nur zu ahnen, so dicht war der Wald. Nach zwei Stunden sahen sie auf dieser Seite, doch noch beträchtlich über der Talsohle, eine Lichtung durchscheinen. Sie verließen den Weg und traten zwischen die Bäume am Waldrand. Da fingen weite Wiesenflächen an, und in ihrer Mitte entdeckten sie eine hier nicht vermutete Ansammlung von Gebäuden.
"Wir waren doch vorige Woche schon einmal hier in der Nähe. Warum ist uns der Komplex damals nicht aufgefallen?" fragte Schmidt.
"Vielleicht waren wir abgelenkt."
"Und alles einheitlich in Schönbrunner Gelb. Was mag es sein?" Dann bemerkten sie die niedrige Umfassungsmauer und den großen, stark belegten Parkplatz davor.
"Das müssen wir uns näher ansehen", sagte Hartmann und ging schon über die Wiese los. Der gute Hartmann, dachte Schmidt, was er sich in den Kopf gesetzt hat, muss sogleich ausgeführt werden, so ist er nun mal. Schmidt folgte ihm in mäßigem Tempo. Hartmann strebte den Gebäuden immer rascher entgegen. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich.
Schmidt sah Hartmann gerade noch im Mauerdurchlass verschwinden, halb verdeckt von einer Gruppe von Touristen. Er ging nun auch schneller und vergaß dabei, auf die Tafel neben dem Eingang zu blicken. Dahinter fand er sich auf stark frequentierten Fußwegen wieder, die kreuz und quer durch einen halb französischen, halb englischen Garten um die vielen meist einstöckigen Gebäude herumführten. Hartmann musste schon weiter vorgedrungen sein, er sah ihn jetzt nicht mehr.
Wie sehr er sich in der folgenden halben Stunde auch bemühte, Hartmann wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Der Park war gleich bleibend belebt, ständig gingen Menschen in die Gebäude hinein oder kamen aus ihnen heraus. Es erschien Schmidt nicht zweckmäßig, auch eines zu betreten. Er vermutete, Hartmann selbst würde in jedem nur kurz verweilen. Unter freiem Himmel hatte man die bessere Übersicht.
Schließlich sah er ein, dass er Hilfe in Anspruch nehmen musste. Gab es hier vielleicht ein Informationsbüro? Er suchte gezielt danach und fand stattdessen einen Gendarmerieposten. Nun, das war in dieser Lage ebenso gut. Drinnen traf er wiederum viele Menschen an, die miteinander redend und dabei gestikulierend im Raum vor der Schranke herumgingen. Mit Mühe entdeckte er das Ende der Schlange der Petenten oder was sie sonst sein mochten. Schmidt brachte noch immer Geduld auf, stand endlich vor dem Tresen und sagte:
"Hartmann ist verschwunden, das wollte ich melden."
"Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben? Dann beschreiben Sie doch bitte den Herrn einmal näher."
Nun geriet Schmidt allerdings in eine peinliche Verlegenheit. Es wollte ihm durchaus nicht gelingen, eine Personenbeschreibung von Hartmann abzugeben, die den Beamten befriedigt hätte. War Hartmann groß oder klein? Die Antwort darauf konnte nur relativ ausfallen. Schmidt sah sich um und wollte den abwesenden Hartmann mit den anwesenden Petenten vergleichen und kam in keinem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis. Er sagte also: "Eher klein, aber nicht allzu sehr." Ähnlich seine Antwort auf die Frage, ob Hartmann beleibt sei oder mager: "Ein wenig korpulent, doch noch in Grenzen." Und die Augenfarbe? Schmidt wollte schon passen - hatte er Hartmann je in die Augen gesehen? Da fiel ihm doch noch etwas ein, das ihm charakteristisch zu sein schien: "Irgendwie schillernd." Da brach der Beamte in Gelächter aus und schlug den Aktendeckel zu. Er sagte, er habe jetzt ohnehin Ablösung.
Eine weibliche Amtsperson nahm seinen Platz umständlich ein, brachte eine ganze Anzahl von Stempeln in die gehörige Ordnung und setzte dann die Einvernahme fort. Ihr Ergebnis war indessen für Schmidt unbefriedigend: "Es ist alles in bester Ordnung. In ein paar Tagen wird sich Ihr Hartmann wieder einfinden. So oder so."
Schmidt verließ die Gendarmerie, fürs Erste, wie er bei sich formulierte - und strebte aus dem ummauerten Bezirk hinaus ins Freie. Da drinnen konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dann stand er auf dem Parkplatz, der sich allmählich zu leeren schien. Erst jetzt bemerkte er die Haltestelle mit einem wartenden Bus nach Rosenberg. In seinem Inneren wurden Hinterköpfe sichtbar - wenn einer der von Hartmann war? Schmidt sprang durch die Mitteltür hinein und fing an, den Fahrgästen ins Gesicht zu sehen, zunehmend enttäuscht. Zwar wies dieser oder jener gewisse physiognomische Ähnlichkeiten mit dem Verschwundenen auf , doch gingen sie nie so weit, dass Schmidt zweifelsfrei hätte sagen können: Das ist Hartmann. Und schon schlossen sich die Türen, der verwünschte Bus fuhr talwärts ab.
Er betätigte sofort den Knopf für den Aussteigewunsch. Jedoch kam die Haltestelle erst nach zwei Kilometern, und als er hinauswollte, sprach ihn der Busfahrer über Mikrophon unverblümt an: "Ich glaube, Sie haben noch gar keinen Fahrschein!" Die Mitteltür, die sich schon einen Spalt geöffnet hatte, klappte wieder zu. Schmidt musste nach vorn zum Fahrer gehen und sich auf eine komplizierte Erörterung des für ihn ungünstigsten Fahrpreises einlassen. Heraus kam ein saftiger, ein eigentlich unverschämter Tarif für eine so kurze Strecke.
Niemals aufgeben! Schmidt hastete die Asphaltstraße zurück, wobei er fortwährend entgegenkommenden Fahrzeugen ausweichen musste. Wieder oben angekommen, fand er den Parkplatz vollkommen verwaist. Er ging noch einmal zur Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Das Ergebnis war sowohl ernüchternd als auch verwirrend: Ein einziger Bus ging an diesem Tag noch, allerdings nur bis Siebenhirten. Wo aber lag dieses Siebenhirten? Schmidt wusste es nicht.
Zögernd näherte er sich dem Parkeingang. Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Erst fiel sein Blick auf ein Fahndungsplakat an der Mauer. Ein Raubmörder war also vor Tagen in der Nähe entwichen, und nach dem wirklich abstoßenden Foto von ihm sah er Hartmann unbestreitbar nicht wenig ähnlich. Schmidt wurde jetzt durch ein gepanzertes Fahrzeug abgelenkt, das in den Park hineinfuhr, und zwar in raschem Tempo bis zur Rückfront des Gendarmeriepostens. Er hörte, wie eine schwere Tür geöffnet wurde, er sah einen Mann in Handschellen zum Wagen geführt und in sein Inneres gestoßen werden. HARTMANN, HARTMANN ...! Schon vorbei, er hatte nicht einmal einen Blick ins Innere werfen können. Und im gleichen Augenblick sah Schmidt den letzten Bus nach Siebenhirten durchfahren.
Der ganze Bezirk in Schönbrunner Gelb war jetzt menschenleer. Zwar gab es noch einiges zu entdecken, doch nichts davon brachte Schmidt noch einmal voran: ein Café, für heute schon geschlossen, ein Hotel, es hatte ohnehin Betriebsferien. Und die Dienststunden des Gendarmeriepostens waren vorüber. Kein Mensch, nirgendwo. Schmidt fröstelte allmählich, auch wegen der sich jetzt empfindlich bemerkbar machenden Abendkühle. Er strich noch einige Zeit durch den verlassenen Park. Zugesperrt alle Gebäude, bis auf eines: Beim Abtransport des Gefangenen war die Tür der Arrestzelle nicht wieder verschlossen worden.
Schmidt ging in die Zelle hinein, um dort den Morgen abzuwarten. Er saß auf der Pritsche, auf der Hartmann vor kurzem noch gelegen haben musste. Wenn es denn Hartmann gewesen war, eben daran begann er zu zweifeln. Er versuchte, sich das Gesicht von Hartmann in Erinnerung zu rufen. Doch es wollte ihm durchaus nicht mehr gelingen. Wer war eigentlich dieser Hartmann, wo war er hergekommen, wie gut hatte er ihn kennen gelernt? Schmidts Verunsicherung nahm immer mehr zu. Sie wurde umfassend, so vollkommen, dass er sich selbst nicht mehr kannte.
5. VERLORENE SÖHNE
Ben ging noch zur Grundschule, als es zum zweiten Mal passierte. Die anderen Jungen aus seiner Klasse wussten es schon: Der Ausreißer aus der Großstadt war wieder da gewesen.
Tobias sagte: "Ben, er hat sich wieder bei euch versteckt. Die Polizei hat ihn da gestern gesucht."
Michael sagte: "Sie haben ihn auch diesmal schnell gefunden. Geschnappt und weggebracht. Ich hab's vom Garten aus beobachtet." Tatsächlich hatte er nur das Polizeiauto wegfahren sehen.
Sie trafen sich am Nachmittag und gingen zur großen Wiese hinauf. Die Polizei hatte ihn dieses Mal in einem großen Strohhaufen aufgespürt, so viel war schon bekannt. Da lagen etwa fünfzig vom Mähdrescher zusammengepresste Strohballen ordentlich aufeinander geschichtet. Es sah aus wie ein kleines Haus ganz aus Stroh. Sie fanden den Eingang zu der Höhle, die er sich angelegt hatte, und krochen nacheinander hinein. Drinnen war es eng, finster und stickig. Tobias und Michael bewunderten den Ausreißer. Toll, so was müsste man auch mal ... Aber sich dann nicht fangen lassen ... Die beiden hatten keinen Grund, von daheim wegzulaufen. So sah es Ben. Er selbst dagegen -
Ben stellte sich vor, wie er da auf die Polizei gewartet hatte, das Ende der Geschichte schon vor Augen. Aber vorher musste es schön gewesen sein. So ganz allein auf der Welt zu sein. Und alles war so still. Vermutlich hatte er auch im Strohhaus geschlafen.
"Aber wie ist er an sein Essen gekommen?" - "Natürlich geklaut. Du nimmst es dir im Supermarkt und schmuggelst es an der Kasse vorbei." - "Nein, er ist nachts in Häuser eingebrochen. Hat sich mal die Kühlschränke näher angesehen." - So schwadronierten die beiden. Das war Räuberromantik. Aufschneider waren das, sie würden nie fortgehen. Ben sagte: "Gehen wir mal zu der Hecke da drüben. Da war er voriges Mal auch schon."
Das Gelände fiel am Rand steil zum Tal hin ab. Dort war nur noch verbuschtes Ödland. Ben führte sie zu der vordersten Schlehenhecke. Sie drückten vorsichtig die Zweige auseinander und drangen durch das Dickicht vor. Dann standen sie am Rand der Hochfläche und alles lag vor ihnen, lag unter ihnen: Bens Elternhaus, das Tal mit den Flusswindungen, ein großer Teil des Dorfes. Tobias sagte: "Das war seine Burg. Uneinnehmbar." - Michael sagte: "Tagsüber ist er sicher meistens hier gewesen."
Ben sah etwas im Gras blinken. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine einfache und etwas schäbige alte Besteckgabel. Und wo war das Messer? - "Das hat er immer am Körper getragen. Auch um sich zu verteidigen." - Mehr gab es nicht zu entdecken. Bald wurde es ihnen langweilig. Sie gingen für heute auseinander.
Ben kombinierte. Er wusste, die Tante des Ausreißers wohnte in der Nähe in einem allein stehenden Haus. Von seinen Besuchen bei ihr kannte der Junge aus der Stadt die Gegend schon lange. Sollte die Gabel vielleicht aus der Küche der Tante stammen?
Er ging hin und wurde nicht gelobt. - "Ja, die ist auch aus meinem Bestand ... Gib nur her. Und vielen Dank für deine Mühe." Sie nahm ihm mit verdrossener Miene die Gabel aus der Hand und schloss schnell die Tür vor ihm. Klar, sie will nichts mehr von der Sache hören, nicht darüber reden. Ben ging heim. Unterwegs dachte er: Vielleicht hat er auch sein Essen bei ihr gemopst. Aus der Stadt weglaufen, um auf dem Land in der Nähe der Tante zu hausen - so einer imponiert ihm nicht. Nein, wenn er weggehen wird, wird er es anders machen. Ganz anders.
6. WIE MAN'S ZU WAS BRINGT
Sigis Leute kamen aus dem Osten. Seine Eltern wurden als Halbwüchsige aus Pommern vertrieben und heirateten später in der Sowjetzone. Als der Großgrundbesitz aufgeteilt wurde, kamen sie zu einer kleinen Landwirtschaft. Die Kollektivierung zehn Jahre später schmeckte Sigis Vater nicht. Er brachte die ganze Familie - Frau, drei Kinder und die Oma - in zwei Trupps mit der S-Bahn nach West-Berlin. Sie landeten am anderen Ende Deutschlands und fingen wieder von vorn an. Sigis Eltern arbeiteten beide, es waren die Wirtschaftswunderjahre. Die Oma versorgte die Kinder, später kam noch ein viertes dazu.
Sie zogen oft um, von einer kleinen in eine größere Wohnung, aus dem Hochhaus in ein Eigenheim, dann in ein anderes mit noch mehr Land. Bei jedem Umzug fiel mehr Krempel an, den sie loswerden mussten. Einmal fuhr Sigis Vater ihn in den Wald und kippte ihn da auf den Boden. Nur dumm, dass ein Briefumschlag mit seiner Adresse dabei war. Die Forstverwaltung schickte eine Rechnung für den Müllabtransport.
Goethe: Nutze deine jungen Tage, lerne beizeiten, klüger zu sein. - Die beiden Ältesten gingen schon aufs Gymnasium. Gisela manipulierte gern den Fahrausweis für Bus und Straßenbahn. Um den Geltungsbereich ihrer Wochenkarte zu erweitern, besaß sie zwei Stammkarten, doch immer nur eine Wertmarke. Sie trug die Nummer einer Karte auf der Marke ein und radierte sie bei Bedarf aus, um sie durch die andere zu ersetzen, mehrmals in der Woche. Manchmal schöpfte ein Schaffner Verdacht, dann gab es Gezänk.
Sigi bastelte neben der Schule Kreuzworträtsel und bot sie erfolglos Verlagen an. Um die Portokosten niedrig zu halten, löste er Marken von den Umschlägen zugestellter Briefe und radierte die Stempelspuren sorgfältig weg. Dennoch kamen ihm die Spürhunde der Post auf die Schliche. Er zog sich aus der Schlinge, indem er alles auf Gisela schob - sie war noch nicht strafmündig.
Er war mein erster Freund am Gymnasium. Der flachsblonde Sigi imponierte mir vor allem dadurch, dass er so reines Hochdeutsch sprach. Auch ich fing jetzt an, etwas wegzuradieren, die restlichen Spuren meines heimatlichen Dialektes. Wir redeten jahrelang viel miteinander, wir sprachen dabei die gleiche Sprache. Dennoch verlief unser beider späteres Leben so verschieden wie nur möglich. Er ist Studienrat geworden und mir schon längst aus den Augen gekommen. Neulich muss er sechzig geworden sein.
Sigi, ich grüße dich, hier in den Weiten des Internets. Sag, hat es sich gelohnt, all unser Strampeln und Ausradieren?
7. EINES FREMDEN WÜRDE
A... ist ein Wintersportort in den Alpen, recht elegant, traditionsbewusst und - nicht ganz billig. Im Sommer sind die Unterkünfte preiswerter und die Berge gratis. Nur essen gehen ist genauso teuer wie in der winterlichen Hochsaison. Abendschön, der etwas knickrig ist, sucht lange nach einem Esslokal, das er sich leisten will. Endlich findet er im alten Dorfkern eine Wirtschaft aus früheren Zeiten mit landestypischen Gerichten, Er geht hinein.
Drinnen ist bis auf die Speisekarte und das einfache Mobiliar alles orientalisch. Der Wirt ist ein Araber, der Koch ist arabisch, die Bedienung ist arabisch. Die Speisekarte fasst sich kurz. Sie machen Kaasnockerln, doch mit dem Salat hapert es. Dann noch ein, zwei Fleischgerichte, Gulasch oder Schnitzel Wiener Art. Alles ist essbar, für A... ist es billig. Sie haben nicht viel anzubieten, doch vielleicht kommt es von Herzen?
Meistens bedient ein junger Araber, ein großer, schlanker Mann Ende zwanzig. Er sieht aus wie ein Mittelschichtsohn, der zum Studium nach Europa gegangen ist - sagen wir Maschinenbau -, und dann hat es an der Universität nicht geklappt. Er ist freundlich und vor allem würdevoll. Er bedient rasch und zuverlässig und zugleich mit sehr gemessenen Bewegungen. Er hat eine Doppelnatur und führt sie eindrucksvoll vor: Er ist ein durchschnittlicher Kellner, an dem es weder etwas zu tadeln noch viel zu loben gibt - und er ist jenseits der Arbeit ein Mensch mit Intelligenz und Seele.
Abendschön schaut durch das Fenster auf die Berge, von denen er einige bestiegen hat. Sie sind auf eine erhabene Weise schön. Dann sieht er zu dem arabischen Kellner hinüber. Es ist unwichtig, ob er auch ihn schön finden könnte. Angenehm ist dieser freundliche, offene und dabei seiner Würde sehr bewusste Charakter, der ihm aus den Augen schaut. Er wirkt denkbar uneuropäisch. Da ist wieder dieser Eindruck einer größeren Nähe zu Transzendenz, wie ihn nur Orientalen oder Inder vermitteln können ...
Gast und Kellner sind sich sympathisch. Der Gast kommt fast jeden Abend, und der Araber freut sich sichtlich über sein Erscheinen. Sie reden jeweils einige Worte miteinander. Das Wetter ist selbst für A..., wo es oft regnet, sehr schlecht geworden. Dennoch reist der Gast noch nicht ab, erst in drei Tagen, sagt er.
Dann geht er zum letzten Mal ins Gasthaus. Er bestellt sein Essen, sein Bier. Da wird er gefragt, ob er heute, am letzten Abend, einen Extra-Schnaps auf Kosten des Hauses trinken wolle. Und jetzt macht der Gast einen Fehler - er überlegt. Er sagt sich, er müsse noch packen und alle Unterlagen für die Reise ordnen. Er will einen klaren Kopf behalten. Also lehnt er den Schnaps ab. Sogleich erkennt er staunend Größe und Tragweite seines Fehlers. Der Kellner hat sich verfärbt, er wirkt tief verunsichert, er ist mehr als gekränkt, durchaus beleidigt. Stumm notiert er die Bestellung und entfernt sich rasch.
Er kommt nicht mehr zum Tisch zurück. Das Essen bringt der Koch aus der Küche und stellt es dem Gast hin. Der Kellner macht sich weiter entfernt zu schaffen, traurig, verdüstert. Die meiste Zeit meidet er den Gastraum. Als der Gast seine Mahlzeit beendet hat, räumt der Wirt schnell ab und stellt erstmals selbst die Rechnung aus.
Nur einen Schnaps abgelehnt: Es ist nicht mehr gutzumachen.
8. ROT UND SCHWARZ
Drei Stunden saß der Reisende im Zug, der ihn von der Hauptstadt auf das Hochland hinaufbrachte. Er döste in der Hitze und freute sich auf die Stille und den Frieden, denen er entgegenfuhr. Dort würde er die Ruhe finden, um sich in Die Lehre des Erhabenen zu versenken. Er hatte das Buch am Anfang seiner Reise auf einem Trödelmarkt gekauft, doch in der lärmerfüllten Stadt war es beim bloßen Schmökern hier und da geblieben. So habe ich gehört: Einstmals weilte der Erhabene in ... So begann dort jeder Text.
Umsteigen in A... ! War das der Zug nach B...? Ein halber Waggon für die wenigen Fahrgäste, ein halber fürs Personal, davor die Diesellokomotive, dahinter ein Güterwaggon. Man stieg hinten über eine offene Plattform ein. Der Wagen schien noch aus Kaisers Zeiten zu stammen. Es war heiß und stickig in ihm. Die Fenster ließen sich auch mit großer Kraftanstrengung nicht öffnen. Man bat den Schaffner um Hilfe. Er versuchte es, kraftlos, von Beginn an resigniert. Die Fenster blieben natürlich geschlossen. Abfahrt!
Dem Reisenden - es war ein Mann Anfang dreißig - kam es wie eine Fahrt mit der Zeitmaschine ins alte Österreich vor. Es holperte, ratterte und schlingerte und erinnerte an hohen Wellengang. Langsam, Meter für Meter, schob sich diese Eisenbahn, die hier wirklich noch ein Gefährt aus viel Eisen war, durchs stille, grüne Land. Schon nach einer Station verlangsamte sich die Fahrt noch mehr. Dann blieb der Zug stehen, fuhr zum Bahnhof zurück, nahm einen neuen Anlauf, kam wieder an derselben Stelle zum Halten, fuhr noch einmal zurück und schaffte es endlich beim dritten Versuch.
Der Reisende dachte an eine Stelle bei Musil. Schade, dass er jetzt nicht nachschlagen konnte. Musil beschrieb darin die alles mitreißende und alles verschlingende Unrast in Metropolis und als Reaktion darauf die Sehnsucht nach einem meerschneckenhaft tiefen und langsamen Glück. Und dann war dort, wenn er sich recht erinnerte, vom Aussteigen und Abspringen die Rede, vom Nicht-sich-Entwickeln und Steckenbleiben ... Ja, darauf hatte er Lust, und dazu brauchte man hier nicht einmal den Zug zu verlassen.
Allmählich nahm er die Landschaft wahr. Der Maler Kirchner war, soweit ihm bekannt, in dieser Gegend nie gewesen. Der Reisende malte sich aus, wie Kirchner diese Landschaft gesehen hätte: den Vordergrund hellgrün mit großen dotterfarbenen Flecken darin - die Wiesen mit den Feldern von Löwenzahn; den Mittelgrund schwarzgrün - die kompakte Masse der Fichten; und darüber einen Himmel, dessen Blau teils tief, klar und durchsichtig war, teils weißlich verschleiert wie Milchglas. Es war Mitte Mai. Worin bestand der Reiz dieser Landschaft? Es war gerade kein Reiz, nur tiefer Friede; er besänftigte umfassend und anhaltend. Im Übrigen fehlte den dunklen Wäldern jede Schwermut. Der Reisende suchte ein Wort dafür und fand es: entrückt.
Sein Seelenfrieden wurde schon nach der zweiten oder dritten Station empfindlich gestört. Dabei hatte er - ein Mann, der die Männer liebte - den sehr jungen schräg gegenüber doch nur flüchtig und sozusagen rein gewohnheitsmäßig gemustert. Der aber - ein neugieriger Landbewohner oder tatsächlich an Männern interessiert - sah seitdem in kurzen Abständen herüber. Was den Reisenden dabei sogleich beunruhigte, war der Ernst, den er auf den Zügen des jungen Mannes entdeckte. Es war ein Gesicht, in dem eher Fragen als Antworten geschrieben standen, und die Antworten darauf mussten für ihn von großer Bedeutung sein. Der Reisende, noch erschöpft vom Aufenthalt in der großen Stadt, wollte anfangs durchaus nichts auf diesem Gesicht entziffern, um nicht zugeben zu müssen, er wisse die Lösungen auch nicht. Doch Neugier überwand allmählich seine ängstliche Trägheit. Wider Willen spürte er Anteilnahme an diesem hartnäckigen Ernst in sich aufsteigen, und wider seine Vorsätze begann er, die Landschaft dieses Gesichtes zu studieren. Er beobachtete ihn so verstohlen, wie die Vorsicht ihm ratsam erscheinen ließ, und so offen, dass der andere wahrnehmen musste, diskret betrachtet zu werden. Allmählich gingen sie dazu über, sich manchmal für kurze Zeit offen anzuschauen. Schließlich musterten sie sich unaufhörlich.
Er hatte braune, fast schwarze Augen, dichte schwarze Haare wie eine kleine Pelzkappe und einen kleinen schwarzen Schnurrbart. Er war groß und in den Schultern breit. Sein Gesicht war noch sehr jung und glatt. Es drückte im Ganzen Harmonie und Kraft aus. Der Reisende erriet eine Dynamik, die mögliche Spannungen überbrückte. Er geriet ins Spekulieren: Geschicklichkeit und Lebensmut konnte man von einem erwarten, der einen so ansah. Kein Zweifel, Schönheit war etwas, das auch von innen kam. Es musste etwas hinzukommen zur stofflichen Verfassung, und zwar etwas Belebendes.
Der Mitreisende erriet vielleicht diese Gedankengänge. Er belebte sich noch mehr, stand auf, löste dabei langsam den Blick vom Reisenden und ging hinaus auf die Plattform. Die Reisetasche ließ er zurück und die blaue Cordjacke auch. Es waren noch fünfzehn Minuten bis B... .
Es vergingen fünf Minuten, dann zehn - der junge Mann kam noch immer nicht zurück. Er schien ziemlich lange auf der Zugtoilette zu verweilen. Wo sollte er sonst sein? Er konnte sich auch auf der Plattform aufhalten. Das war während der Fahrt gewiss untersagt, aber man kann ein jedes Verbot übertreten. Vielleicht hatte er die Toilette nur kurz aufgesucht und blieb noch einige Zeit auf der Plattform, da er die Luft im Abteil unerträglich fand. Harmlose Erklärungen bieten sich ja fast immer an.
Ein letztes Mal verlangsamte der Zug seine Fahrt. Links und rechts die ersten Häuser von B..., der Bahnhof war Endstation. Der junge Mann kam rasch ins Abteil zurück, warf die Jacke über, nahm seine Tasche und reihte sich, ohne den Reisenden noch einmal anzusehen, in die kleine Schlange ein, die sich über die Plattform auf den Bahnsteig hinunterwand. Der Reisende nahm sich Zeit und verließ den Zug als Letzter. Draußen fand er den jungen Mann wieder, versunken in den Anblick der Bahnhofsrückseite, als wäre sie neu für ihn. Er musste an dem Trödelnden vorbeigehen, und als er es eben tat, löste der Jüngere den Blick vom Gebäude, um ihn hinüberzuschwenken auf zwei Mädchen, die wenige Schritte vor dem Reisenden zum Ausgang strebten. Dann erneuter Schwenk, wie der Ältere aus den Augenwinkeln noch wahrnahm, während er weiterging, und die Blicke aus den braunen Augen waren wieder auf die palladianische Fassade gerichtet. Um die Hausecke ging es zur Bahnhofstoilette. Leichte Drehbewegungen des Halses zeigten an, hier bemühte sich einer, einen möglichst umfassenden Horizont unter Kontrolle zu behalten.
Das Spiel begann den Reisenden zu unterhalten. Vor dem Bahnhof bot ihm die Schautafel mit dem Stadtplan einen unverfänglichen Halt. Er war doch zum ersten Mal hier! Und während er vorgab, die Spinne der Handvoll dargestellter Straßen zu betrachten, überholte ihn der Jüngere bereits. Dabei warfen sie einander kurze, wache Blicke zu. Als der Reisende bald darauf weiterging und in die Bahnhofstraße einbog, sah er den anderen nicht mehr und erschrak: Wie konnte er so rasch verschwunden sein?
Er war nicht unter denen, die mit ihnen angekommen und gerade noch am anderen Ende der Straße zu sehen waren; sie entfernten sich eilig zur Stadtmitte hin. Sollte er in eines der niedrigen Häuser getreten sein, die die linke Straßenseite säumten? Rechts standen keine Gebäude, der Waldhang zog sich fast bis zur Straße herab, und er war mit Maschendraht abgezäunt. Der Blick des Reisenden fiel auf eine Plakatwand vor der Böschung, auf der eine Brauerei für ihr Bier werben ließ: Erst trink ich's aus, mein Stolzenhaus ... Der das sagte war ein biederer Bürger dieses braven Landes, und in ihm vermochten sich alle Braven und Biederen wieder zu erkennen. Es war am Sonntag im Wirtshaus, eine Männergesellschaft, vielleicht nach dem Fußball. Man war schon im Aufbruch, sie standen alle noch herum. Die Gruppe im Hintergrund war unscharf, sie blickten gespannt nach dem Braven, der sie nicht im Blick hatte. Vielmehr nahm er einen kräftigen Schluck aus dem noch gut gefüllten Glas, die Augen über den weiß perlenden Schaum auf einen Sportskameraden gerichtet, der etwas abseits stand und überhaupt von ihnen abstach. Schon das rotkarierte Hemd hatte etwas Aufreizendes, und da er so hübsch war, hätte er sich durchaus etwas weniger herausfordernd geben können - der Reisende würde ihn auch dann noch anziehend gefunden haben. Hierin war er sich vielleicht mit dem Biertrinker einig: Erst trink ich's aus, mein Stolzenhaus ... Ja, und dann?
Der Reisende war vor dem Plakat stehen geblieben. Er besann sich und wollte eben weitergehen, als sein Blick auf die Spitzen der schwarzen, ziemlich eleganten Halbschuhe fiel, die unter der Reklametafel sichtbar waren. Da also stand er! Langsam weitergehend, vergewisserte er sich, indem er aus den Augenwinkeln schräg hinter die Palisade blickte. Die Haltung des anderen dort rief Erinnerungen an ganz andere Stätten wach, die man gewöhnlich in Eile aufsucht, indem man gesenkten Blickes Pendeltüren mit Milchglasfüllung aufstößt und von anderen nur insoweit Notiz nimmt, als man jegliche Berührung oder gar einen Zusammenstoß zu vermeiden sucht. Und oft gibt es inmitten der peinvollen Gehetztheit einzelne Gestalten, die über sehr viel Zeit verfügen. Ihnen scheint die Zeit zuzufallen, die alle anderen sich durch rasches Eilen absparen, oder sie saugen mit ihren umherschweifenden Blicken die freien Zeitpartikel auf, und sie geben sich müßigen Beschäftigungen hin ... Wäre er doch ein Mann schneller Entschlüsse! Hinter die Plakatwand zu treten, hätte der Situation sofort jede Zweideutigkeit genommen. Aber er wagte es nicht.
Er ging weiter und kam nicht weit, da hörte er schon die eiligen, festen Tritte hinter sich. Der andere überholte ihn und wandte ihm dabei die Front des Oberkörpers zu. Er lächelte, breit und eindeutig. Er bleckte die Zähne, es trieb ihm die Augenschlitze auseinander. Für vier, fünf Sekunden wich sein Ernst einer Fröhlichkeit voll Sinnlichkeit, Witz und Klugheit. Auch der Reisende lächelte. Dann ging der junge Mann rasch weiter. Der Reisende folgte ihm langsam. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich.
Am Ende der Bahnhofstraße bog der Jüngere links um eine Ecke. Der Reisende tat es ihm nach und hatte den Hauptplatz des Städtchens vor sich und unter sich: ein rapide abfallendes Dreieck. Von oben konnte man meinen, die niedrigen Häuser rutschten den Abhang hinunter. Der Jüngling ging jetzt viel langsamer, er war in einen unentschiedenen Zockeltrab gefallen. Der Reisende achtete darauf, dass er ihn auf den hier belebteren Gehsteigen nicht aus den Augen verlor, und ließ sich weiter von ihm führen. Wenn er sich nicht täuschte, behielt ihn der Jüngere seinerseits auch unter Kontrolle.
Auf der anderen Seite fiel ihm der Gasthof Roter Adler ins Auge, weniger aufgrund seines ziemlich bescheidenen Äußeren als seines Namens wegen. Adler waren doch gewöhnlich schwarz. Rot und Schwarz, diese Kombination hätte ihn jetzt allein befriedigt. Rot wie das Hemd auf dem Brauereiplakat, schwarz wie die glänzenden Schuhe unter der Stellwand. Er hatte sein Buch, das tief im Rucksack verstaut war, schon vergessen ...
Der Gasthof war gewiss nicht sozialistisch. Hier, in dieser Gegend, bekam die Volkspartei bei jeder Wahl siebzig Prozent, mindestens. Übrigens wählte man gewöhnlich in schönen Gegenden schwarz, das schien ein Naturgesetz zu sein, wie auch die Beispiele Oberschwaben, Mainfranken und Appenzell-Innerrhoden bewiesen. Unterwegs waren ihm schon wiederholt Plakate aufgefallen, die man nach der letzten Wahl einfach vergessen hatte: Gewinnt die Volkspartei, bleibt das Sparbuch steuerfrei! Er repetierte den Spruch jetzt mehrmals mit Vergnügen still für sich: Gewinnt die Volkspartei, bleibt das Sparbuch steuerfrei ... Das war balladeske Lyrik, am Wechsel der Vokale konnte man sich berauschen. Gewinnt die Volkspartei - er brach ab, da der schöne Jüngling eben erneut um eine Ecke bog. Schon wieder ging es linksherum.
Noch einmal folgte er ihm. Doch dann sah er, dass die steile Straße oben am Bahnhof endete. Er verlor auf einmal die Lust an diesem Spiel, falls es eines war. Mochte der andere zum Bahnhof zurückkehren und mit einem anderen Zug wegfahren! Er selbst machte kehrt und stand schon wieder auf dem Hauptplatz. Nun aber zum Roten Adler ! Und im Rhythmus von Volkspartei und steuerfrei - denn so klang's immer noch in seinem Kopf - betrat er die Gaststube. Sie hatten ein Zimmer frei für die Nacht, und als er die kurze, steile Treppe zum Oberstock hinaufging, dachte er, dass Adler, ob rot oder schwarz, ihre Sparbücher schon zu verteidigen wüssten.
Es war ihm lieb, dass das Zimmer auf den Platz hinausging. Auf Reisen störte er sich nicht an Lärm und Unruhe. Das Buch im Rucksack war tatsächlich vergessen ... Er sah sich im Zimmer um. Es war sehr einfach ein-
gerichtet. Dann trat er ans Fenster, und es wunderte ihn keineswegs, dass der schöne, ernste Jüngling eben unten am Gasthof vorüberging. Er kam jetzt wieder vom oberen Ende des Platzes herunter. Als hätte er seine Rolle gut einstudiert, ließ der Reisende jedes Ding im Zimmer liegen, wie es lag, schloss die Tür sofort ab und eilte die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus.
Der junge Mann ging zwanzig Schritte vor ihm. Er schleppte noch immer seine braune Reisetasche mit sich und trug jetzt schwer an ihr. Der Reisende konnte ihm nicht lange mit den Augen folgen, denn der andere bog hinter der Post rechts um die Ecke. Diese Straße führte hinab ins Tal und war wenig begangen. Der Reisende zögerte. Sollte er ihm sofort in geringem Abstand folgen? Auch dies hätte unzweideutig wirken können, und das wollte er nach wie vor vermeiden. Er verbrachte einige Minuten damit, die Fahrpläne der Postbusse zu studieren.
Unten floss der Bach, der nach der Stadt benannt war. In den Anlagen fand der Reisende keine Spur von dem, den er nicht hatte verlieren wollen. Er verwünschte seine Neigung zum Zaudern und suchte alle Straßen zwischen dem Bach und dem Bahnhof nach dem Verschwundenen ab. Es war schon halb sechs vorbei, mehr als eine Stunde seit ihrer Ankunft hier, da sah er ihn noch einmal. Er kam ihm auf dem Dreifaltigkeitsplatz entgegen, es war gegenüber der Pestsäule. Er sah jetzt müde aus, er sah schräg am Reisenden vorbei. Sie gingen ein letztes Mal auseinander. Er hätte ihn auf ein Bier einladen sollen.
Nachher beim Abendessen sagte sich der Reisende, es müsse sich um einen Soldaten gehandelt haben, der zum Wochenende heimfuhr - es war ja Freitag. Sicher war er jetzt schon zu Hause angekommen.
Am anderen Morgen hat sich der Reisende beruhigt. Der junge Mann ist nur mehr eine Erinnerung unter vielen anderen. Beim Frühstück studiert er die Karte und beschließt, den Fußweg zu nehmen, der von B... talaufwärts führt. Er wird mittags am Schloss von C... sein und dort vielleicht essen können.
Der Weg beginnt in den Anlagen, die er schon kennt und führt lange Zeit an dem Bach entlang, der seinen Namen von der kleinen Stadt hat. Nach einer Stunde erreicht er die Ruinen einer Mühle. Die Mauern aus Feldsteinen sind zum größten Teil eingestürzt und von Weidengebüsch überwachsen. Nach einer weiteren Stunde kommt er zu der Brücke, an der sich sein Weg vom Bach trennt. Es geht von da an aufwärts. Vorher will er ausruhen und lässt sich für zwanzig Minuten auf einer Bank nieder, die am diesseitigen Ufer steht.
Sein Blick fällt auf den Wiesenhang jenseits des Baches. Es ist ein Anblick, in den er sich versenken kann: von dunklen Fichten eingerahmt die steile Wiese da drüben, hellgrün, voller Frühlingsblumen und genau in der Mitte als einzige zwei Apfelbäume. Sie stehen dicht zusammen und sind annähernd gleich in ihrer äußeren Form: zwei kurze Stämme, die unverhältnismäßig breit ausladende Kronen tragen. Die Kronen berühren sich und sind ineinander verwachsen. Die Bäume stehen gerade in ihrer schönsten Blüte. Wie viele Tausende cremefarbener, ein wenig rosig überhauchter Blüten mag dieses Doppelwesen hervorgebracht haben? Und sein besonderer Reiz besteht darin, dass es Identität darstellt, die sich harmonisch vom Übrigen abgrenzt, dass es sich als Einziges und Vereinzeltes in doppelter Gestalt versteht ... Ein wunderbares Bild! (Es ist dem Reisenden möglicherweise unbekannt, dass die Bauern, um den Ertrag zu steigern, je einen männlichen und einen weiblichen Apfelbaum benachbart pflanzen.)
Seine Gedanken lösen sich allmählich vom gegenwärtigen Bild und gleiten über reale vergangene Eindrücke zu bloß erträumten Konstellationen und lösen sich dann auch von den Bildern. Er ist wieder bei dem Thema, das ihn seit einiger Zeit vor allem interessiert: Homosexualität ist Sexualität unter Gleichen. Dies zu Ende gedacht und auf die Spitze getrieben, führt dazu, dass man die innigsten Beziehungen nur noch mit denen aufnehmen will, die einem im Innersten völlig entsprechen. Ein Psychologe hat ihm vor kurzem erklärt, man nenne das die narzisstische Partnerwahl. O, er kennt sie gut, auch wenn ihm der Begriff neu gewesen ist. Vertraut sind ihm jene Beziehungen, bei denen man zunächst nur Übereinstimmung in den äußeren angenehmen und gefälligen Zügen feststellt, ganz ohne Anflug von Neid, vielmehr mit Sympathie; woraus sich Verhältnisse entwickeln, in denen man sich ohne Anstrengung sozusagen gemütlich einrichtet - man fühlt sich wie zu Hause, man ist bei sich. Diese Bindungen kann man als eine Art Expansion der eigenen Individualität begreifen, wodurch deren Identität sowohl bekräftigt als auch aufgehoben wird, indem sie sich mit einer so gut wie identischen vermischt. Wie wohl einem das tut, diese Entgrenzung und Verdoppelung, bei der im Übrigen alles beim Alten bleibt. Und alles ist so einfach wie das Ineinanderfließen zweier Tintenkleckse auf Löschpapier.
Meistens geht es nicht gut. Es geht nur gut, wenn beide zumindest ahnen, worauf diese Art von Faszination beruht und dass vollständige Harmonie unmöglich ist. Anderenfalls treten, wenn die Gefühle und Einstellungen geringfügig differieren, panische Reaktionen auf - das fremde Gewebe wird erst jetzt als solches erkannt und eilig abgestoßen; worauf man wiederum bei sich ist, wenn auch um die Hälfte der Masse vermindert. Im Übrigen bedarf es nicht einmal dieser Anlässe. Allein schon das Glücksgefühl, sich näher und immer näher zu kommen, kann in unerklärliche Angst und Fluchbewegung umschlagen: So zieht sich derjenige, der sein Spiegelbild betrachtet und dabei der Oberfläche des Spiegels zu nahe gekommen ist, ruckartig von der glatten, kalten Spiegelglasscheibe zurück.
Ja, er kennt diese Krisen, diese Nachmittage und Abende, an denen man vergeblich auf den erwünschten und versprochenen Anruf wartet. Stattdessen meldet sich, wenn es doch einmal klingelt, eine unbekannte Frauenstimme: falsch verbunden. Und dann die schlaflosen Nächte, in denen die Sebstgespräche Dialogform annehmen. Doch wozu sich erinnern ... Er wirft noch einen letzten Blick auf die Apfelbäume da drüben am Steilhang. Eine rosaweiße Wolke vor einem unwahrscheinlich tiefblauen Himmel, sie kommt ihm wie eine hermetische Hecke vor.
Das Dorf C... bestand aus höchstens dreißig Häusern. Zum Schloss ging es, wie er der Karte entnahm, hinter dem Dorf einen Feldweg hinauf. Er hatte die Steigung schon zur Hälfte hinter sich, als er von der bebuschten Kuppe einen Läufer auf sich zukommen sah. Zwischen den steinigen Äckern und den mageren Wiesen hier, fern von jeder Großstadt, kam ihm dieses neuzeitliche Training ein wenig seltsam vor. Und wenn er es wäre?
Der Läufer kam sehr rasch zu ihm herunter und hielt abrupt an. Es war der Mitreisende vom Vortag. Er sagte: "Grüß dich", und sein Atem normalisierte sich bereits.
"Grüß dich auch. Wohnst du hier im Dorf?"
"Ja - und du warst gestern im Zug."
Sie waren beide überrascht und froh und nahmen mit Selbstverständlichkeit die Unterhaltung auf, die sie gestern noch nicht oder auf eine andere Art geführt hatten. Der andere trug eine kurze Sporthose - schwarz mit dunkelroten Längsstreifen - und ein einfaches weißes Leibchen.
Ob er Soldat sei, wollte der Reisende wissen.
Nein, Polizeischüler. Er habe eigentlich Verkäufer gelernt, aber nach der Zeit beim Militär hier keine Arbeit gefunden. So sei er in der Hauptstadt in den Polizeidienst getreten. Gewöhnlich fahre er jedes zweite Wochenende heim.
Der Reisende wunderte sich, wie bereitwillig der andere Auskunft gab. Polizist war er oder wollte er werden? Das hätte ihn sonst sehr gestört. Aufgrund gewisser Erfahrungen mied er die Hüter der guten Ordnung, ja, er hatte eine Art Phobie gegen sie entwickelt, wie gegen streunende Hunde, Propagandisten im Supermarkt oder lose Dachziegel bei stürmischem Wetter. Er machte einen Bogen um sie und wunderte sich jetzt erneut: Der Berufswechsel war ihm sympathisch. In diesem plötzlichen Hinüberspringen von einer Lebensbahn in eine ganz andere erkannte er sich selbst wieder - war das der Grund?
Er hörte ihm zu und sah ihn dabei genau an. Der Polizeischüler sprach mit lauter und fester Stimme. Die schwarze Kappe war etwas in Unordnung geraten. Die Züge des Gesichts waren regelmäßig, verrieten im Ausdruck Neugier und Bereitwilligkeit und erschienen gleichzeitig auf schwer ergründbare Art diszipliniert - ein hoch gewachsener Waldbauernbub, noch neu in der Stadt.
Er wohne gar nicht gern in der Stadt, sagte der Polizeischüler. Dauernd dort unten zu leben, im Lärm und in der schlechten Luft, das sei für ihn eine bedrückende Vorstellung. Und wie er gestern hier wieder aufgelebt sei, gleich bei der Ankunft, als er auf dem Bahnhof die frische,klare Luft geatmet habe ...
Der Reisende bestätigte ihm, dass die Luft hier oben auch ihm gut tue; sie sei so rein und trocken. Der Polizeischüler lächelte und behielt das Lächeln dann bei. Oft lachte er ihn an. Er zeigte gern die Zähne. Und nicht einmal die Grübchen fehlten. Der Reisende freute sich über diese Zeichen, die in starkem Kontrast zu der ruhigen und festen Stimme standen. Die Augen führten andere Reden als der Mund.
Der andere sprach von der Natur, wie sehr er sie liebe. Und er zog die Turnschuhe aus und stand barfuß im Gras, das noch feucht war von der Nacht. Der Reisende entledigte sich seines Rucksackes. Während sie beide fortfuhren, sachliche Themen zu berühren, ließ er seine Augen über die kräftigen Schultern des anderen wandern und über den Brustkorb - die zwei Fixsterne waren nur zu ahnen. Als hätte er zu lange in die Sonne geblickt, schloss er erst die Augen und sah nachher zum Waldrand hinüber.
Noch seien hier die Bäume gesund, sagte der Polizeischüler, der seinem Blick gefolgt war. Und, nicht wahr, eine gesunde Natur sei doch das Wichtigste?
Ganz recht, bekräftigte der Reisende, sie sei aber nicht mehr selbstverständlich heutzutage.
Der Jüngere begann über Bäume zu reden. Er sprach von Fichten und Tannen, von Eichen und Buchen, von Birken, Weiden und Pappeln. Alle diese Bäume gab es hier. Der Reisende hörte von Hochwald, Mittelwald und Niederwald, vom Ausstocken, von Sommer- und Wintergrün. Und als die Bäume abgehandelt waren, ging er zu den Vögeln über, sprach allerdings nur über Raubvögel. Nein, Adler kämen hier nicht vor, jedoch der Bussard und der sei beinahe so etwas wie ein Adler. Dem Bussard gehörte seine besondere Liebe. Er rühmte den scharfen Blick seiner großen Augen, die Spannweite seiner Flügel - mehr als ein ganzer Meter - und sah immer wieder in die Luft, ob sich vielleicht einer zeige. Sie sahen aber nie einen.
Dafür ertönte jetzt aus der Richtung des Dorfes ein Hahnenschrei. Das sei ihrer, sagte der Polizeischüler, der Hof liege hinter der Linde da drüben. Er wies auf eine Bodenwelle, hinter der sich die Gebäude verbargen. Als der Reisende ihm zur Seite trat, um besser sehen zu können, bemerkte er, wie die Schulter des anderen ihm allmählich sehr nahe kam. Bis jetzt hatte es der junge Mann vermieden, Eltern, Geschwister und Freunde auch nur zu erwähnen. Er sprach überhaupt nicht von Menschen, die er kannte. Es schien, als hätte er sich bisher ausschließlich mit Bäumen und Raubvögeln beschäftigt und nur ihnen seine Gefühle gewidmet.
Die Unterhaltung stockte. Der Reisende, fast ganz vom Zuhören und Beobachten in Anspruch genommen, trug wenig zu ihr bei. Dabei verspürte er das Verlangen, den anderen in die Arme zu nehmen, ihn zu streicheln, ihn recht zart zu behandeln ... Aber das war hier, in der Nähe seines Dorfes, unmöglich! Wenn ihm doch ein Ausweg, wenigstens ein Vorschlag für die Zukunft einfallen würde ... Je mehr er sich in Gedanken abmühte, desto aussichtsloser erschien ihm dieses Wiedersehen, das er bloß einem erstaunlichen Zufall verdankte. Dass er gerade bachaufwärts gegangen war, dass er so lange auf der Bank an der Brücke gesessen hatte, in den Anblick der Apfelbäume versunken! Und nun ließ sich gar nichts damit anfangen.
Der junge Mann war geschickter. Er fand ein anderes unverfängliches Thema: die Heimat des Reisenden. Wie weit seine Stadt vom Meer entfernt sei, wollte er wissen. Wie sich die Stadtregierung zusammensetze? Welcher politischen Richtung seine Sympathien gehörten? - Der Reisende gestand ihm, er habe zuletzt die neue kleine Partei gewählt. - Der Polizeischüler lächelte, jedoch ohne Wärme. Und dann halte man bei ihm zu Hause den bisherigen Kanzler (ihren eigenen, der sich nach Verlusten bei der Sparbuchwahl schmollend und grollend zurückziehen wollte) vielleicht für einen großen Mann? - Der Reisende bestätigte es ihm, mit Wärme. - Nein, der Bruno sei gar nicht ihr Fall hier oben, erwiderte der andere. Allenfalls die Volkspartei, vielleicht gerade noch ... Und dann kam er auf die frühere Größe seines jetzt so kleinen Landes zu sprechen - was hatte nicht alles dazugehört!
So politisierten sie also, ohne sich zu ereifern. Der Reisende beobachtete ihn dabei weiter und freute sich, verfolgen zu können, wie der andere mit dem Spielbein spielte und es häufig wechselte. Ein schon abgeblühter Löwenzahn, von seinem Fuß leicht angestoßen, entließ die wolligen Fäden quer über die Wiese. Während ihres ganzen langen Gespräches geschah es immer wieder, dass eine Welle kindlicher, freudiger impulsiver Erregung über sein Gesicht hinging, besonders, wenn er sich beobachtet fühlte.
Er sei leider noch niemals im Ausland gewesen, sagte der Polizeischüler. Besonders reize ihn die Vorstellung, Südamerika näher kennen zu lernen. Der Reisende rätselte, warum dem anderen gerade diese Weltgegend sympathisch war. Während der junge Mann von den Steppen Argentiniens schwärmte - und es waren hoffentlich nur die Steppen, die ihn an Argentinien beeindruckten! -, ließ sich von weitem knatternd ein Moped hören. Es war ein anderer junger Dorfbewohner, der den Feldweg befuhr und sehr höflich grüßte. Wie der Reisende bemerkte, verschwand in diesem Augenblick der Ausdruck von freundlicher Aufgeschlossenheit aus dem Gesicht des jungen Mannes - eine glatte, kalte Maske legte sich darüber. Indem sich das Moped entfernte, hellte sich seine Miene sogleich wieder auf.
Sobald er mit der Schule fertig sei, wolle er Spanisch lernen, Spanisch als erste Fremdsprache, damit er in Südamerika besser zurechtkomme. Und plötzlich wollte er vom Reisenden wissen:
"Versteht man eigentlich mein Deutsch gut?"
Aber er rede ja fast reines Hochdeutsch, mit nur wenig Akzent. Wie sollte da das Verständnis erschwert sein? Gestern Abend im Gasthaus habe er dagegen etwas Mühe gehabt ... Der andere unterbrach ihn und meinte, er rede doch wie alle hier in der Gegend. Der Reisende wusste es schon besser, doch beharrte er nicht darauf. Das Gasthaus war ein Stichwort für den Polizeischüler: Mit Diskotheken sei es hier oben gar nicht so schlecht bestellt, vielleicht werde er eine am Abend besuchen. Er sah ihn jetzt eindringlich an, als wäre da eine noch zwischen ihnen zu klärende Sache. Der Reisende ging nicht darauf ein.
Es war schon beinahe Mittag. Sie standen seit mehr als einer Stunde auf freiem Feld beisammen. Bald würden sie auseinander gehen. Der Reisende sagte sich, er müsse zumindest noch versuchen, der zufälligen Begegnung einen Sinn zu geben. Er wollte doch noch herausfinden, was sie verband und was sie trennte.
Sein Gegenüber sah träumerisch in die Luft. "Ich hätte jetzt gern einen Fotoapparat. Ja, ich sollte mir einen Fotoapparat kaufen. Vielleicht sehe ich dann einen Bussard ..." Ja, etwas festhalten können.
Dann wollte der junge Mann seinen Namen wissen. Am Namen hat man etwas, woran man sich halten kann. Den Namen des anderen im Zustand großer innerer Bewegung auszusprechen, das ist Anrufung, Bekräftigung, Beschwörung. Und ist der andere für uns nicht mehr erreichbar, so bleibt uns sein Name als Symbol dessen, was gewesen oder nicht gewesen ist, jedoch hätte geschehen können.
Der Reisende nannte ihm gewohnheitsmäßig nur seinen Vornamen. Er fühlte sogleich, dass der andere den ganzen Namen oder eher noch den Familiennamen allein hatte hören wollen. Der junge Mann nannte ihm nun auch nur seinen Vornamen: Heinrich.
Das sei ja ein altdeutscher Name, sagte der Reisende und ließ seine Enttäuschung hören, sein eigener Großvater habe ihn getragen. Wie konnte einer wie er Heinrich heißen!
"In der Schule sagten sie zu mir: Heinrich der Vogeler." Er sagte es ernsthaft, errötete dann jedoch, vielleicht da er sich gewisser möglicher Anklänge und Anspielungen bewusst wurde, die vorgenommen sein konnten.
Man wisse nicht, wie dieser Heinrich, dieser Sachsenkönig ausgesehen habe, sagte der Reisende, zunächst nur, um nicht zu schweigen und um dem anderen über eine peinliche Erinnerung hinweg zu helfen. Vielleicht gebe es in irgendeiner romanischen Kirche des Nordens eine Statue, die zeige, wie man sich ihn Jahrhunderte später vorgestellt habe, sicher kräftig, mutig und schön.
Heinrich errötete stärker, doch jetzt wieder vor Freude, wie deutlich zu sehen war. Dem Reisenden schien es, Heinrich genieße vielleicht zum ersten Mal das Gefühl, von einem anderen Mann begehrt zu werden, und zwar ohne Aussicht auf Erfüllung dieses Begehrens. Er verstand ihn gut: Der andere sah sich erstmals auf diese Weise wie in einem Spiegel, der ihm ein sehr angenehmes Bild seiner selbst präsentierte.
Dann sprachen sie über Kunst. Heinrich verriet eine gewisse Vorliebe für Kolossalfiguren. Er hatte eine Abbildung des Bismarck-Denkmals am Hamburger Hafen gesehen. Der Reisende sprach abschätzig vom Marzipanriesen. Wenn schon dieses Genre, fuhr er fort, dann eher noch die Münchener Bavaria auf der Theresienwiese. Nachher begriff er selbst nicht, was er damit hatte ausdrücken wollen. Heinrich fragte zurück: "Vielleicht so ähnlich wie die Venus von Milo, kennst du sie?" Und klang es nicht listig?
Der Reisende überlegte, ob er ihn zum Essen einladen solle. Sie könnten noch vieles miteinander bereden. Aber nein, sie erwarteten ihn sicher zu Hause. Er wollte sein Ansehen im Dorf durchaus nicht ruinieren. Da es sein musste, beschloss er, rasch ein Ende zu machen. Er sagte, nun werde er sich wieder auf den Weg machen.
Sie verabschiedeten sich ohne weitere Umstände. Als der Reisende die Höhe erreicht hatte, wandte er sich noch einmal um und sah Heinrich zwischen den ersten Häusern des Dorfes verschwinden. Ob auch er sich einmal nach ihm umgedreht hatte? Nicht einmal das konnte er erfahren.
Auch der Reisende ist der Sohn eines Bauern, wie Heinrich ist er sehr jung in eine weit entfernte Großstadt gezogen. Er kennt all das aus eigener Erfahrung: hineingeboren sein in eine Welt, für die man nicht taugt, und später in einer anderen Welt leben, in der man auf Dauer fremd bleibt. Was für Heinrich jetzt die Steppen Argentiniens sind, das sind für den Reisenden früher die Gebirgstäler Norwegens gewesen. In diesem Alter sucht die Sehnsucht sich geographisch weit entfernte Ziele. Und wie früh wir uns zu verstellen gelernt haben, denkt er jetzt, bis wir uns in einem Zug einem Wildfremden zu erkennen geben, einem Fremden, in dem wir uns sogleich erkannt haben. Er hätte jetzt nicht einfach weggehen dürfen. Heinrich erschien ihm wie ein Seiltänzer und zugleich wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen ist. Denn das war er wohl: aus dem Nest gefallen.
An den folgenden Tagen durchstreift er das Hochland nach verschiedenen Richtungen. Die Landschaft bleibt sich immer gleich, gelassen in sich ruhend und scheinbar unendlich. Doch ist ihm jetzt, als sei sie nur eine Folie, unter der sich das für ihn Wesentliche verbirgt. Er kehrt vorzeitig in die Hauptstadt zurück.
Der Gedanke an eine nochmalige Begegnung mit dem Polizeischüler verbietet sich von selbst. Nun, daran zu denken, ist wohl erlaubt, nur der Versuch, sie herbeizuführen, ist sinnlos. Der Stadtplan gibt Auskunft, wo sich die Polizeikaserne befindet. Er kann sich immerhin eine Vorstellung davon machen, in welcher Umgebung Heinrich hier lebt. Die Kaserne liegt nicht weit vom Zentrum, jedoch in einem Bezirk, den er noch nie betreten hat.
Unterwegs wirft er einen Blick auf das Wohn- und Sterbehaus des großen Satirikers, dessen Schriften er sehr liebt. Das Haus des Empfindlichen, der am Tag geschlafen und nachts gearbeitet hat, liegt, sich selbst entfremdet, in einem engen Geflecht breiter, lärmerfüllter Verkehrsadern. Der Reisende liest die Aufschrift auf der Gedenktafel und fühlt sich getäuscht. Hier ist nichts sich gleich geblieben, seit der große Zornige vor bald fünfzig Jahren gestorben ist. Etikettenschwindel, denkt er, und setzt den Weg zur Marokkanergasse fort.
Er nähert sich dem Komplex, der wie eine Kreuzung aus Festung und Mietskaserne aussieht, durch eine Seitenstraße. Es ist zwei Uhr nachmittags. Durch ein Tor kann er bereits in einen der Höfe hineinsehen. Eine Gruppe junger Uniformierter steht herum, nachlässig angetreten zum Ende der Pause. Noch fehlt der Ausbilder, wenn er eintrifft, werden sie eine andere Haltung einnehmen. Der Reisende will sich den Anblick ersparen. Er geht rasch weiter und um die Ecke der Gasse herum. Die Kaserne nimmt hier die ganze lange Straßenfront ein, vielfach gegliedert durch Fenster und Gesimse. Über allem liegt der graubraune Staub, der seit hundert Jahren auf die inneren Bezirke herabrieselt und die kostümierten Fassaden mit einer Maske starrer und schmuddeliger Gleichgültigkeit überzieht. Wort eines anderen Schriftstellers kommen ihm in den Sinn. Das erhabene und milde steinerne Angesicht der Stadt, es ist welk geworden. Wie hässlich auch schöne Städte sein können, wenn sie gealtert sind.
Ja, welk, doch nicht müde. Vielmehr verrät die fensterreiche Fassade bei näherem Hinsehen erstaunlich viel Leben. Es sind die Fenster der Unterkünfte. Junge Polizisten hängen in ihnen. Sie räkeln sich auf den breiten Gesimsen und verfolgen mit ihren neugierigen Blicken die wenigen Passanten unten auf dem Gehsteig. Sechzig, siebzig oder sogar hundert Augenpaare sehen ihn jetzt an - und eines kann Heinrich gehören. Er vermeidet es, in irgendein Gesicht zu blicken, und ist froh, als er die Gasse hinter sich hat.
Der Rückweg führt ihn über einen monströsen Platz, von dem sich strahlenförmig Fahrbahnen und Trambahngeleise in alle Richtungen ergießen, ebenso wie es die Wassermassen aus dem Hochbrunnen tun, der auf ihm errichtet ist. Die Behörden haben hier nicht einmal versucht, die Ströme der Fahrzeuge und Passanten durch Signalzeichen zu ordnen. Er fühlt sich unsicher, gefährdet. Eine plötzliche Windbö drückt einen der mächtigen Strahlen der Wasserspiele über den Beckenrand hinaus. Durchnässt und verstört erreicht er die Einmündung einer Straße, die Rennweg heißt.
9. FISCHVERKÄUFER WIRD GEHEIMAGENT
Das Geheimnis des Erfolgs liegt darin: Mehr scheinen als sein. Und über kleine Peinlichkeiten lächelnd hinweggehen.
A. war eine Zeitlang mein Untermieter. Er sprach sich gern bei mir aus. Ich glaube, ich erfuhr so mehr über ihn als er von mir. Ich hörte aufmerksam zu, ich prägte mir möglichst viel ein, hielt manches schriftlich fest, als wäre ich ein Agent und hätte Berichte über ihn abzufassen. So war es aber nicht.
Manches kam mir auch hintenherum zu Ohren, wie zum Beispiel das Folgende. A. machte einmal privat eine Bekanntschaft. Sie wechselten nur wenige Sätze. A. sagte zu dem Fremden, er sei Bankangestellter. Bald darauf ging jeder seiner Wege. Was A. nicht wusste: Der Fremde war aus beruflichen Gründen nach Berlin gekommen, er war Generalvertreter einer bayrischen Molkerei. In dieser Eigenschaft besuchte er am Tag darauf das KadeWE und kontrollierte, ob ihr Joghurt angemessen präsentiert wurde. Auf einmal entdeckte er hinter dem Fischverkaufsstand den angeblichen Bankangestellten A.. Sie grüßten sich von weitem. A. lächelte sogar ungezwungen, worin er, wie ich wusste, viel Übung besaß. Als sie später wieder einmal aufeinander trafen, lachten sie über den kleinen Vorfall. Der Molkereimann hat mir dann alles berichtet.
A. setzte alles daran, vom Fisch wegzukommen. Wie er den Geruch an sich hasste ... Er blieb in der Lebensmittelabteilung und hatte nun vor allem mit Honig und Konfitüren zu tun. Zu diesen Produkten passte seine Art zu lächeln auch viel besser.
Das Kaufhaus veranstaltete eine Ungarische Woche mit Honig zum Schleuderpreis. Die Aktion war fast zu Ende, als eine empörte ältere Kundin sich an A. wandte: Da habe sie doch gestern im Honig aus Ungarn eine tote Biene gefunden! - Tatsächlich? Sie war tot? fragte A., um Zeit zu gewinnen, und fuhr dann fort: Ach, Sie haben sie also gefunden .. Nein, so ein Pech! - Pech wolle sie das nicht gerade nennen, es sei nur einfach ekelhaft, tote Tiere im Honig. - Und dann band er ihr den Bären auf, es sei ein Preisausschreiben gewesen. Wer die Biene, die einzige in all den Gläsern, gefunden hätte, hätte den ersten Preis gewonnen: ein Jahr lang jede Woche ein Glas Honig. Nur leider sei die Meldefrist schon gestern abgelaufen. Aber es würden bald wieder neue Preisausschreiben veranstaltet. Schauen Sie doch wieder einmal vorbei ... - Die Kundin wurde auf sich selbst ärgerlich - sie hätte eher kommen müssen. Sie ahnte nicht einmal, dass ihr da alles andere als Honig ums Maul geschmiert wurde. A. lachte, als er mir davon erzählte.
Ich sah ihn jahrelang nicht wieder. Dann traf ich ihn zufällig in einer Bar. Nein, er sei schon lange nicht mehr beim KaDeWe, er arbeite jetzt für einen Geheimdienst. Es kam so heraus, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen. Welcher Geheimdienstler plaudert das sonst so offen aus? Und ich habe ihn dann - nein, ich habe ihn weder hinter einem Bankschalter noch als Kellner in einem Fischrestaurant entdeckt. Ich halte es für durchaus möglich, dass er tatsächlich ein Schlapphut geworden ist. Und in diesem Fall war die Versuchung, mir darzulegen, er sei mehr als er sonst scheine, wohl zu groß für ihn gewesen.
Man lügt nicht aus Spaß am Lügen, wenn man nicht gerade krank im Kopf ist. Man lügt auch, um sich Geltung zu verschaffen. Und zu diesem Zweck gibt man schon einmal die Wahrheit preis, selbst wenn es unter anderen Gesichtspunkten ein Fehler ist.
Diskretion war noch nie meine Stärke.
10. PARADIES DER ALTEN
Meine vorige Wohnung lag im Parterre eines gerade fertig gestellten Hauses. Über mir zog eine Witwe aus Berlin ein, die Krause hieß. Von sechs Wohnungen standen vier noch leer. Das Haus wollte sich lange nicht füllen.
Eines Tages sagte Frau Krause: "Hören Sie nur, es gibt eine Interessentin für die Wohnung neben mir. Eine alte Dame, ich habe sie im Handarbeitsladen kennen gelernt. Morgen hat sie einen Termin beim Eigentümer. Sie wohnt jetzt in einer Pension. Es wird hier nicht mehr so einsam sein ..."
Frau Steiner zog bald ein. Sie war fünfundachtzig, klein, schlank, unscheinbar. Sie sagte: "In der Pension haben wir nicht genug zu essen bekommen. Ich bin so froh, jetzt hier zu sein." Dankbar nahm sie es an, dass ich ihr gelegentlich die Einkaufstaschen nach oben trug.
Nach einigen Wochen kamen erste Beschwerden: Die Treppe war ihr zu steil. Und links fehlte ein Handlauf. Sie beklagte sich auch über die Nachbarin: "Diese Frau hat mich hierher gelockt. Ach, das ist eine ..." Ich selbst stand mich gut mit Frau Krause.
Es wurde Winter. Frau Krause flog für zwei Wochen auf die Kanaren. Frau Steiner nahm mich im Treppenhaus beiseite und vertraute mir Folgendes an: "Sie hat einen Zweitschlüssel für meine Wohnung. Wenn ich weg bin, bestiehlt sie mich. Mein Schmuck ist nicht mehr da." Ich wollte es nicht glauben. In den folgenden Nächten wurde es laut in unserem sonst so stillen Haus. Frau Steiner ließ ihrem Zorn freien Lauf, sie randalierte. Es hörte sich an, als nähme sie die Einbauküche auseinander. Wie, wenn sie tobsüchtig alles unter Wasser setzte oder Feuer legte? Ich schlief unruhig.
Frau Krause kam gut erholt zurück. Nun gab es mitten in der Nacht Tumult im Treppenhaus. Frau Steiner heulte und brüllte dort abwechselnd, nicht wie ein Mensch - wie ein waidwundes Tier. Ich trat in den Hausflur, um nachzusehen. Auf Zurufe von mir reagierte sie nicht. Frau Krause rief den Hausarzt der alten Dame an. Frau Steiner hatte sich inzwischen in ihre Wohnung zurückgezogen und verhielt sich jetzt ruhig. Nach wiederholtem Läuten ließ sie Doktor Schumann ein. Der Arzt sagte uns, sie wirke kaum anders als sonst. Gegen ihren Willen dürfe er ihr keine Spritze setzen.
Er war kaum fort, als das Toben im oberen Hausflur erneut begann. Wir riefen die Polizei. Frau Steiner flüchtete vor den Beamten in ihre Wohnung und ließ sie nicht zu sich. Die Hüter der Ordnung, machtlos, ratlos, zogen bald ab.
Beim dritten Tobsuchtsanfall ging ich selbst hinauf. Ich packte Frau Steiner an den Schultern und schob sie unter Ermahnungen in ihren Wohnungsflur hinein. Ich wusste, ich hatte kein Recht dazu - und sie wusste es auch: "Sie dürfen mich nicht anfassen!" Ich zog die Tür vor ihr zu. Dann war es still für den Rest der Nacht.
Wir meldeten es den Behörden. Das Kreisgesundheitsamt schickte einen Arzt. Er rief mich nach der Untersuchung an: "Sie ist ein Grenzfall. Sie war schon mal untergebracht. Sie haben sie wieder entlassen ... Es ist noch zu früh für eine Entmündigung. Sie bekommt einen Betreuer, der regelmäßig nach ihr sieht."
Frau Krause sagte mir bald darauf: "Jetzt geht sie jeden Nachmittag in die Geschäfte und verleumdet mich. Das macht sie auch im Handarbeitsladen so. Ihre Kleider, ihren Schmuck, sogar ihr Geld, alles reiße ich mir unter den Nagel ... Sie soll dabei ganz normal wirken ... Ich halte das nicht mehr aus. Damit Sie es wissen: Ich habe gekündigt, ich gehe zurück nach Berlin."
Auch Frau Steiner verließ unser Haus unerwartet rasch. Sie verschwand aus Stadt und Kreis und entzog sich damit fürs Erste weiterer amtlicher Beobachtung. Ein Makler soll ihr eine Wohnung in Hamburg vermittelt haben. Ich erfuhr noch, sie sei die Witwe eines höheren Beamten und gut situiert, dabei ganz auf sich allein gestellt.
Dann kamen neue Nachbarn, das Haus füllte sich doch noch. Und auch ich zog bald wieder um.
11. FRAU MIT BLÜTE
Fischbach ist eine S-Bahnstation am Rand von Nürnberg. Rundum große Wälder und ein Gewerbegebiet, parallel zur Bahn eine laute Schnellstraße. Die Wohnviertel liegen weiter entfernt. Die Gegend wirkt unwirtlich, hier hält man sich nur auf, solange man muss.
Die Züge stadtein- wie stadtauswärts halten am selben Bahnsteig. Ich will diesmal hinaus. Außer mir warten nur wenige Menschen, sie stehen weiter entfernt. Da nähert sich mir eine kräftige junge Frau. Sie ist blond, wirkt etwas unsicher und spricht mit russischem Akzent. Ich soll ihr erklären, wie sie einen Fahrschein ins Zentrum von Nürnberg lösen kann. Wo mag sie jetzt herkommen? Hier treten gewöhnlich keine Ortsfremden eine Fahrt an. Und wer aus einem der Wohnviertel kommt, hat den Bus hierher genommen und den Fahrschein schon in der Tasche.
Ich versuche ihr mein Wissen zu vermitteln. Während ich für sie die Tasten bediene, fällt mir auf, dass sie nicht vollkommen ahnungslos sein kann. Sie bemerkt gleich einen Fehler, den ich mache, und unterbricht meine Aktion. Dann wird der Fahrpreis angezeigt und es erweist sich, dass ihr Kleingeld dafür nicht ausreicht. Es fehlen etwa fünfzig Cent. Ich biete ihr gleich eine Münze an - doch das ist nicht in ihrem Sinn. Ihr Deutsch, vorher recht flüssig, versagt auf einmal. Sie sieht mich mit unbestimmtem Ausdruck an und hält jetzt eine Fünfzig-Euro-Note gefaltet zwischen den Fingern der rechten Hand. Der Ablauf erinnert ein wenig an einen Zaubertrick. Ich soll wechseln? Aber nimmt der Automat nicht auch einen so großen Schein? Ich biete ihr erneut fünfzig Cent an.
Sie wirkt frustriert und verlässt mich, ohne noch etwas zu sagen. Sie geht zu den anderen Fahrgästen und verhandelt mit ihnen. Es ist so weit, dass ich nichts verstehen kann. Sie hat noch immer keinen Fahrschein. Da kommt meine Bahn nach Altdorf. Und während sie langsam am Bahnsteig einläuft, sehe ich, wie die junge Russin die Station verlässt und rasch die Treppe zum Bahnhofsvorplatz hinuntergeht. Er ist wie eine Sackgasse angelegt. Einige Autos parken dort. Im Wegfahren kann ich noch erkennen, dass sie auf eines von ihnen zugeht.
12. DIE KAMMER IN DER KAMMER
Er fuhr mit der U-Bahn zum Gericht, seine Terminsvollmacht in der Aktentasche. Sie schickten ihn zum ersten Mal dorthin. Sie hatten ihn so instruiert: Und wenn die Vorsitzende sagt: Die Beklagte beantragt ... und Sie dabei anschaut, dann sagen Sie: ... die Klage abzuweisen. Sonst nichts. - Er war niemals vorher zu Gericht gegangen, auch nicht in eigener Sache.
Gott, was für ein hässliches Gebäude! Erbaut 1848, sagte eine Inschrift neben dem Eingang. Auch mit preußischer Schlichtheit kann man es übertreiben. Diese langen Flure, das hohe Treppenhaus: alles grau, karg, schmucklos. Könnte eine Kaserne gewesen sein; war es aber nicht. Er fand die Tür zum Sitzungssaal. Sein Termin war als letzter für heute angeschlagen: Josefine Streitbauer, Klägerin, gegen sie, die Beklagte. Er huschte durch die offene Tür hinein.
Drinnen war kein Mensch. War der Termin davor so schnell zu Ende gegangen? Es roch muffig und staubig nach alten Akten und blassen Büromenschen. War das überhaupt ein Gerichtssaal? Er zweifelte stark. Es sah eher wie die Gemeinschaftsküche in einer Notunterkunft aus und war auch nicht viel größer. Nein, ein Saal war das nicht. Vielleicht lag er hinter der offen stehenden Tür an der Stirnseite des Raumes? Er durchschritt sie ...
... und geriet in einen schmalen Durchgang. Da war am Ende noch eine offene Tür. Weibliche Stimmen drangen heraus. "Meine Liebe", hörte er sagen, "haben Sie Doktor Pfundshammer wieder einmal gesehen?" - "Aber ja, und dick ist er geworden, unglaublich!" Er ging hinein. Da saßen drei Damen an einem länglichen Tisch. Er sah gleich, dies musste die Spruchkammer sein, die Vorsitzende mit den zwei Beisitzerinnen. Also würde hier demnächst verhandelt werden. Aber klein war auch dieser Raum, noch kleiner als der erste. Er grüßte und tat unbefangen und setzte sich mangels weiterer Gelegenheit zu ihnen an den Tisch. Sie grüßten zerstreut zurück.
Die eine verriet gerade ein Kochrezept: "Koriander, unbedingt, vielleicht auch Nelken ..." - "Einen Moment, bitte", sagte die Vorsitzende. Sie wandte sich nun ihm zu und fragte: "Kommen Sie für die Beklagte? Hier können Sie nicht warten." Und sie führte ihn zurück in den "Saal". Trottel, zischte er sich selbst und für sie unhörbar zu. Das hat es noch nie gegeben: Der Vertreter der Beklagten zieht sich vor der Verhandlung mit den Richterinnen ins Beratungszimmer zurück - so serviert man Befangenheit auf dem Silbertablett. Zum Glück waren Frau Streitbauer und ihr Anwalt noch nicht da.
Alles Weitere verlief programmgemäß. Wortlos reichte er die Vollmacht hinüber Er hielt den Mund, bis die Vorsitzende mit dem Finger in seine Richtung schnippte: "Die Beklagte beantragt ..." - " ... die Klage abzuweisen", fiel er ihr geradezu ins Wort. Übereifrig, wie meistens.
13. DAS ENDE DER WELT
Damals war ich zwei oder drei Tage in Köln. Ich wohnte in einer Pension nicht weit vom Rhein. Einmal kam ich spät ins Bett und wachte zu früh auf. Es war zeitiger Vormittag, ich brauchte noch nicht aufzustehen. Vielleicht konnte ich noch einmal in den Halbschlaf zurückfinden.
Stattdessen fingen auf einmal draußen Sirenen an zu heulen. Es war ein Dauerton. Er drang umso mehr durch, als das Zimmer zu einem ruhigen Hof lag. In der Pension war und blieb es weiterhin still. Das Zimmer lag im obersten Stockwerk, Empfang und Frühstücksraum befanden sich weiter unten.
Ich wollte noch immer nicht aufstehen, jetzt noch weniger als vorher. Nur war da die Frage: Was hat es zu bedeuten? Es war nicht die für einen Probealarm übliche Zeit. Ein Wunsch gewann die Oberhand: Es soll aufhören, sofort. Dann könnte ich den Kopf unter die Decke stecken und das Geräusch schnell vergessen.
Der gellende Dauerton hielt bereits eine Minute an, vielleicht schon zwei. Er blieb auf immer gleicher Tonhöhe, schrill und kraftvoll. Am grauen Himmel zeigte sich nichts.
Nach einer Reihe von Minuten verstummten plötzlich alle Sirenen. Ich steckte den Kopf dann doch nicht unter die Bettdecke. Dafür hatte es zu lange gedauert. Ich sah vom Bett zum Fenster und durch das Fenster in den Himmel. Würde sich bald etwas zeigen? Waren Raketen im Anflug? Ich überlegte, von wem ich mich in diesem Fall gern noch verabschiedet hätte. Der Kreis war sehr klein.
Es geschah nichts, natürlich nicht. Die Stille verlor mit jeder halben Minute etwas mehr von ihrer Bedrohlichkeit, wurde am Ende zu einer fast ungetrübten harmlosen Vormittagsruhe. Ich stand auf und ging frühstücken. Der Wirt bediente selbst die wenigen Gäste. Keiner erwähnte den Alarm, auch ich nicht. Unsere Ruhe hatte etwas Gekünsteltes. Mir schien, wir alle fürchteten, an etwas zu rühren.
Später erfuhr ich, es war ein flächendeckender Fehlalarm gewesen. Millionen waren in der gleichen Lage wie ich gewesen: unwissend, geängstigt, ratlos. Und einige hatte sofort begonnen, ihre Badewannen voll laufen zu lassen, aus Furcht, es könnte wieder Gift im Rhein sein. Glücklich, wer seine Angst an etwas Konkretem festmachen und dann handeln kann.
14. FALSCH VERBUNDEN
Seinen Umzug nach Berlin hatte Albert gut überstanden. Er war so weit, dass er Danziger anrufen konnte, den guten alten Danziger. Sein Blick streifte den Kaktus, der zum vierten Mal mit umgezogen war: siebenunddreißig Jahre von ihm gepflegt – und Rupert Danziger kannte er noch etwas länger.
Danziger ging nicht ans Telefon. Er hatte eine neue Ansage auf dem Anrufbeantworter, die seltsam schelmisch klang: „Vielleicht bin ich ja nicht zu Hause …“ Es war seine Stimme, nur etwas verfremdet. Als hätte er nun ein Engagement an einem Kindertheater und spräche als Märchenonkel mit leicht verstellter Stimme zu den Kleinen.
„Lieber Rupert“, sagte Albert nach dem Signalton, „du hattest doch in diesen Tagen Geburtstag. Dazu noch meine guten Wünsche fürs leibliche und seelische Befinden. Was mich betrifft, ich bin gerade komplett übergesiedelt, ganz und gar. Willst du mich nicht mal in meiner neuen kleinen Behausung besuchen?“ Und so weiter.
Kein Rückruf von Danziger. Das war ungewöhnlich. Nach zwei Wochen wählte Albert erneut die bekannte Nummer. Und wieder nur seine vertraute Stimme auf der Sprachbox! Sollte da etwas passiert sein? Stunden später erreichte er ihn doch noch. Nur dass der andere bestritt, Rupert Danziger zu sein – er leugnete es! Dabei verriet ihn doch diese Stimme mit ihrem gepflegt nervösen Timbre. Albert sagte: „Dann entschuldigen Sie bitte“, legte auf und war so gut wie überzeugt, eben mit Danziger gesprochen zu haben. Ein übler Scherz von ihm, er verstellt sich gewiss, alte Leute werden manchmal wunderlich. Wodurch könnte er selbst ihn denn verärgert oder verletzt haben?
Und dann verglich er seine aktuelle Liste der Telefonnummern mit einer älteren noch vorhandenen. Sechs Richtige und doch kein Treffer – die siebente Ziffer falsch übertragen und einen Unbekannten belästigt, wie peinlich. Und überhaupt: Wie hatte er Danziger einen derart geschmacklosen Scherz zutrauen können? Wer wurde da etwa wunderlich? Oder war vielleicht immer schon krankhaft misstrauisch gewesen?
Kein Problem, Danziger kurz darauf sprechen zu können. Seine Stimme allerdings klang seltsam verändert - nicht schon wieder! Sie hörte sich ein wenig leidend an. Nein, nein, es gehe ihm gut, es sei nur das Treppensteigen gerade eben. „Aber wenigstens du“, sagte Danziger, „klingst am Telefon wie immer.“ – „Was für ein Kompliment jetzt, irgendwie auch ein bisschen erschreckend. Weißt du was: Besuch mich doch mal … und dann schauen wir, ob wir noch die Alten sind.“
Und so sollte es geschehen.
15. GESTANK IM ZIMMER
Wie bin ich eigentlich wieder ins Bett gekommen? Ich höre auf einmal gar nichts mehr. Der störende Dauerton scheint erst abgeebbt und nun nicht mehr wahrnehmbar zu sein. Oder nur von mir nicht festzustellen? Hat der neue, ebenso rätselhafte Gestank im Zimmer das Geräusch jetzt für mich überlagert? Wie kann ich mich in meinen früheren Zustand umfassender Wahrnehmungsfähigkeit zurückversetzen? Und was entgeht mir vielleicht sonst noch an für mich Bedeutsamem in meiner Umgebung? Das sind existenzielle Fragen und ich weiß nicht, wie sie lösen. Dabei sollte es leicht sein, ist doch meine ganze Welt jetzt bloß auf eine Schlafkammer reduziert.
Du musst mit ganz kleinen Aufgaben anfangen, sagt Ronald, der auf einmal im Zimmer ist. Ich wundere mich keineswegs über seine Anwesenheit. Am Fenster steht er, schwach erhellt von Lichtbahnen aus den Scheinwerfern vereinzelter Fahrzeuge draußen. Der Vorhang schließt nicht ausreichend ab, das kommt noch zu allem Übrigen hinzu. Ich müsste aufstehen, ihn ordentlich zuziehen. Mein Versuch, das Bett erneut zu verlassen, scheitert. Ich fühle mich sehr viel schwerer als sonst, scheine seit gestern Abend um ein Mehrfaches an Gewicht zugenommen zu haben. Ob auch das möglich ist: Gewichtszunahme durch die Einwirkung von Gestank? Nein, sagt Ronald, du musst dir zunächst die einfachen Fragen vorlegen und zu beantworten versuchen. Er hat noch immer seinen schwarzen Vollbart. Ich starre Ronald an und will herausfinden, ob er sich inzwischen verändert hat. Früher hatte er ausgeprägt starke Falten auf der Stirn, besonders wenn er lachte oder wenn er ärgerlich wurde. Ich versuche, seine Mimik zu ergründen, aber der Bart überdeckt mit seinem Schatten alles für mich.
Und du, frage ich ihn, ist es dir denn gelungen, die einfachen Aufgaben zu lösen? Teils, teils, sagt Ronald, und wenn ja, dann kamen hinterher für eine gelöste ein Dutzend neue Kalamitäten. Als ich noch Koch war, erzählt er nun, hatte ich einen großen Widerwillen. Lach nicht, es war der Geruch von Parmesankäse. Ich fand immer, er riecht wie Kotze. Vielleicht habe ich auch deshalb den Kochlöffel abgegeben … Diesen Löffel also auch abgegeben, unterbreche ich ihn, woraufhin er ärgerlich wird und ich nun doch die Falten auf seiner Stirn bemerke, tiefer eingegraben als je: Löffelgeschichten spielen jetzt keine Rolle, später …
Du bist dann ja zur Post gegangen, helfe ich ihm weiter. Und olfaktorisch ging’s dir da besser? Ja, am Anfang. Briefmarken riechen ein bisschen nach Leim, nicht schlimm. Aber die Hunde, die sie ins Amt mitbringen, schon übler. Besonders schwer zu ertragen dieser Geruch, wenn sie vorher draußen im Regen waren. Einmal habe ich einen in den Packraum hineinlaufen lassen und schnell die Tür hinter ihm zu gemacht. Wie das Frauchen ihn überall gesucht hat - lustig. Ronald fängt an, Geschichten zu erzählen, ganz wie früher. Er sprudelt sie noch immer heraus und das Geräusch, das er dabei macht, ist es nicht das Geräusch von vorhin? Steht Ronald schon die ganze Nacht am Fenster und erzählt seine Geschichten? Wie einer schlecht verpackte Manner-Schnitten nach Togo schicken musste – die haben da so was nicht -, wie der Zoll von Togo die Einfuhr ablehnte und der ganze Krümelkram nach Europa zurückkam und der frustrierte Schenker das hohe Rückporto berappen musste, für nichts! Zum Muttertag, erzählt Ronald, kommen im letzten Moment immer dieselben traurigen Gestalten, wickeln Blumenstöcke in Packpapier, schreiben Mamas Adresse außen drauf und glauben, das kommt rechtzeitig an und auch noch heil!
Die Blumenerde, frage ich, ist es die Blumenerde, die wir jetzt durch die Löcher im Packpapier riechen? Ronald lacht und fragt: Dein Geruch oder besser: der Gestank in deiner Nase? Was weiß ich! Ich bin’s jedenfalls nicht. Und das weißt du doch sowieso … Ja, sage ich, ich weiß, dass ich dich jetzt nur träume. Tote stinken nicht oder jedenfalls nicht so lange, wie du schon tot bist. Außerdem bist du ja eingeäschert worden.
Ronald ist plötzlich nicht mehr da. Es scheint draußen heller geworden zu sein. Ich quäle mich doch noch aus dem Bett, luge mit äußerster Anstrengung zwischen den Vorhangbahnen auf die leere Straße. Träume ich noch, träume jetzt Wachsein, wie ich vorhin Träumen geträumt habe? Jedenfalls stinkt es noch immer.
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2009
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