INHALT
1. Vorwort
2. Hamam - Das Türkische Bad
3. Red Dirt
4. Zero Patience
5. You I Love
6. Head On
7. Le Clan
8. Time Off
9. Wer war Sal Mineo?
10. Gefängnisfilme
11. FAQs
12. Latin Boys Go To Hell
1. VORWORT
Solange schon Filme gedreht werden, war auch Homosexualität immer ein Thema - allerdings lange Zeit ein tabuisiertes. Es war ein Thema für die Zensur, eines für Anspielungen oder für Entstellungen - und ein wichtiges in manchen Künstlerbiographien. Erst seit einem knappen Vierteljahrhundert ist es in den meisten Filmländern von Rang möglich, offen und realistisch schwule Stoffe als Vorlage für Spielfilme zu nutzen. Schon bald, seit etwa Anfang der neunziger Jahre, setzte eine rege Produktion ernstzunehmender und oft auch künstlerisch beachtlicher Filme ein. Die besten von ihnen sind häufig die, die ihr Hauptthema mit anderen gesellschaftlich oder künstlerisch relevanten Motiven verknüpfen. Um solche Werke geht es in der folgenden kleinen Sammlung vor allem. Das Dauerthema Coming out wird in ihr nur am Rand gestreift. Es sind Filme aus den USA, aus Kanada, Frankreich, Italien bzw. der Türkei, aus Israel, Russland, Australien - und einer ist sogar aus Deutschland.
Als Reminiszenz an die alte, schwierige Zeit erinnere ich in einem Aufsatz an Sal Mineo. Denn sie wissen nicht, was sie tun ist eines jener Werke, die gegen das Licht gehalten einen speziellen Subtext erkennen lassen. Sal Mineo spielt in ihm eine der drei Hauptrollen - und kommt im US-Trailer von damals überhaupt nicht vor. So waren eben die Zeiten, als Gore Vidal für Ben Hur sein listenreiches Drehbuch schrieb. Ein Teil der Handlung war derart verschlüsselt, dass nicht einmal Charlton Heston wusste, was er da auch noch darstellte. Trauern wie dieser Vergangenheit nicht nach, die Gegenwart ist kunstfreundlicher, wie die folgenden Beispiele zeigen.
2. HAMAM - DAS TÜRKISCHE BAD
Man kann diesen Film ansehen und sich einfach von der Handlung fesseln lassen. Francesco, ein junger römischer Innenarchitekt (Alessandro Gassman), erbt von seiner Tante ein altes Haus in Istanbul. Um es rasch zu verkaufen, reist er für wenige Tage in die Türkei - und kommt nie mehr zurück. Er verfällt dem Zauber der Stadt, freundet sich mit den bisherigen Hausgenossen seiner Tante an und beginnt, das alte, stillgelegte Türkische Bad im Haus zu restaurieren; er will es wieder in Betrieb nehmen und weigert sich, das Haus an Bauspekulanten zu verkaufen. Nach einigen Monaten besucht ihn Martha, seine Frau (Francesca d'Aloja) in Istanbul. Sie unterhält schon seit Jahren insgeheim ein Verhältnis zu seinem Geschäftspartner und will sich jetzt scheiden lassen. Dem scheint entgegenzukommen, dass Francesco inzwischen eine Beziehung zu Mehmet, dem Sohn des Hauses (Mehmet Günsur) eingegangen ist. Martha siedelt nach heftigem Streit ins Hotel über. Noch vor ihrem Rückflug wird Francesco von einem Abgesandten der türkischen Mafia erdolcht. Martha bleibt nun ihrerseits in Istanbul und tritt an die Stelle des Ermordeten.
Man kann den Film anschließend daraufhin untersuchen, auf welchen Bedeutungsebenen er noch spielt. Ein erster Schlüssel ist die Einblendung des Todestages der Tante in der Anfangsszene: 21.4.1995. Der 21.4. ist in der legendären Überlieferung der Tag der Gründung Roms. Die Tante stirbt also am Geburtstag Roms in Istanbul, das bekanntlich als Konstantinopel das zweite Rom war. Hier werden bereits Gegenwart und Antike, Orient und Okzident verklammert. Man kann die Reise nach Istanbul und den Film überhaupt als eine Art Fahrstuhl in die antike Welt auffassen. Francesco verwandelt sich in erstaunlich kurzer Zeit von einem modernen, gehetzten Westeuropäer in einen Mann einer zeitlosen, am Mittelmeer von jeher beheimateten Humanität.
Zu einem vertieften Verständnis kommt man, wenn man die Namen der Personen entschlüsselt. Francesco ist der kleine Franco, und Franken sind wir Westeuropäer seit Byzanz für den Orient. Francesco ist so gesehen ein kleiner privater Kreuzritter, der seinen materiellen Vorteil in Konstantinopel sucht, um in Istanbul hängen zu bleiben und die letzten Monate vor seinem Tod sehr glücklich zu werden. Sein neuer Vater dort heißt Osman, wie der große Sultan, der Gründer des Reiches, dessen Kultur auch, aber nicht ausschließlich gemeint ist, wenn Mehmet sagt, seine Liebe zur Tradition sei ihm von Francescos Tante, einer Italienerin, eingepflanzt worden. Mehmet ist aus dem Eroberer Konstantinopels zu einem von Herzen geworden, und das ist auch viel besser so.
Mehmet bedeutet auch Mohammed, doch nicht im Sinne des Propheten, sagt mein Lexikon. Die große Distanz des Filmes zu heutigen Religionen ist auffallend, bei einer Heimkehr in die Antike allerdings nur konsequent. Der Islam kommt faktisch nicht vor.Man sieht nur eine einzige Moschee, ganz am Schluss des Films, wenn die Menschen alle aus dem Bild verschwunden sind und die Kamera abschließend über Stadt und Bucht schwenkt. Francesco geht zu Beginn seines Aufenthaltes in Istanbul einmal ziemlich unbeteiligt durch eine kleine, von ihm zufällig entdeckte christliche Kirche. Danach tritt wie ein Psychagoge ein hinfälliger alter Mann auf ihn zu und lässt sich von ihm in ein Hamam führen. Francesco lernt jetzt erstmals ein Badehaus und damit die aus der Antike stammende Badekultur kennen. Das erinnert von fern an "Der Tod in Venedig". Der Film könnte auch "Tod in Istanbul" heißen, denn wie Aschenbach in Venedig wird Francesco gegen seine vordergründige Absicht durch äußere Einflüsse an der rechtzeitigen Abreise gehindert, was seinen inneren Wünschen sehr entgegenkommt.
Martha bedeutet aramäisch "Herrin", ein Hinweis auf Formen des Matriarchats in der frühen Welt. Und - schnoddrig ausgedrückt - sie übernimmt am Ende ja auch den Laden. Ihr zeitweiliger Geliebter in Rom ist Paolo, der seinen Namen ebenfalls nicht zufällig trägt, sondern nach dem Apostel, der im Römerbrief die Laxheit der Römer gegenüber der Homosexualität anprangert. Paolos Aussehen entspricht dazu passend weitgehend der Aposteldarstellung in der älteren Malerei: hager und schwarzbärtig, nur das Haupthaar ist noch kaum gelichtet.
Setzt man alle entschlüsselten Daten und Namen - es sind noch bedeutend mehr - in Beziehung, so kann man als Botschaft des Filmes herausdestillieren: Der Okzident findet seine Identität im Kontakt mit dem traditionellen Orient, und beide sind tödlich bedroht von monströsen globalen Entwicklungen. Ironischerweise stirbt Francesco auf eine Weise, die ihm auch in Neapel hätte widerfahren können. Er hatte in Istanbul die soziale und ökonomische Gegenwart aus den Augen verloren, er war, trotz deutlicher Warnungen, zu sehr mit dem eigenen Glück beschäftigt.
Der Regisseur Ferzan Özpetek ist ein seit Jahrzehnten in Italien lebender und arbeitender Türke aus jener Schicht von Istanbuler Intellektuellen, für die Orhan Pamuk ein weiteres Beispiel ist. Spiegelbildlich lautet die Botschaft des Filmes auch: Lasst uns Laizisten in der Türkei nicht allein. Wir gehören zu euch - wie ihr zu uns. Dieser wundervolle Film wirbt dafür geschickt und eindringlich.
3. RED DIRT
Ich muss aufpassen, dass ich mir diesen Film von Tag Purvis nicht zu oft ansehe. Kennen Sie das: Fühlen, wie man selbst in einer Filmhandlung verschwindet? Ich weiß, man nennt das Identifikation. Suchen Sie sich aus, mit wem Sie hier eins werden wollen. Zur Auswahl stehen vier Figuren wie von Tennessee Williams, nur klüger und lebenskräftiger als ihre Vorbilder. Tag Purvis ist ein vom Kopf auf die Füße gestellter Tennessee Williams.
Also, wer möchte Tante Summer sein? Karen Black spielt diese hochgradige Neurotikerin mehr als lebensecht. Eine sympathische Neurotikerin, gewiss ... Man erfährt, sie war früher schon einmal in der Psychiatrie untergebracht und sie soll vielleicht bald wieder dorthin. Dabei ist sie nicht wirklich krank. Bezeichnend, dass ihre Neurosen allmählich verschwinden, als die Handlung sich immer mehr zuspitzt. Schließlich outet sie sich als ... Nein, nicht alles verraten!
Oder vielleicht Griffith, ihr junger Neffe (Dan Montgomery jr.)? Er will nur eins: Fort aus diesem roten Dreck von Mississippi, raus aus diesem Kaff Pine Apple, fort zu neuen Ufern, die er sich im Einzelnen noch nicht vorstellen kann. Vorerst schläft er weiter mit seiner Kusine Emiliy (Aleksa Palladino). Die will in Pine Apple bleiben und das Gartenhaus von Tante Summer für sich und Griffith schön herrichten.
Stattdessen vermietet Griffith das Gartenhaus an Lee, einen ziellos herumfahrenden jungen Mann aus Louisiana (Walton Goggins). Rasch entwickelt sich eine dieser verlogen unschuldigen Freundschaften zwischen zwei jungen Männern, sie wissen schon, wo nichts passiert und alles verdächtig ist. Emily will mit allen Mitteln verhindern, dass Griffith mit Lee fortgeht ...
Dann reisen tatsächlich zwei aus Pine Apple ab, doch jeder in eine andere Richtung. Nur einer der drei jungen Menschen bleibt bei der Tante. Und einer von den anderen kommt zurück und geht wieder fort. Am Ende ist zwischen diesen vier Personen alles gesagt, wie für die Ewigkeit. Und Sie als Zuschauer fragen sich: Und wie leben sie nun weiter? Der Sog der Handlung wirkt fort. Zu große Gefühle? Kann es das überhaupt geben: zu große Gefühle? Da wo ich aufgewachsen bin, ist die Erde auch rot.
4. ZERO PATIENCE
Dieser Film ist Satire, Melodram und Lehrstück zugleich. Tanz- und Gesangsszenen bilden sein Rückgrat. Und diese heterogenen Elemente verbinden sich zu einem mitreißenden Ganzen. Ich halte den Kanadier John Greyson für einen der fähigsten Filmemacher unserer Zeit.
Worum geht es hier? Um Aids, Wissenschaft und Pharmaindustrie. Der eine Protagonist heißt Richard Francis Burton, ein englischer Naturwissenschaftler, Tierpräparator, Übersetzer und Sexologe zzt. der Königin Victoria. Ihn hat es wirklich gegeben, er ist im Film infolge eines dummen Zufalls unsterblich geworden und arbeitet um 1990 am Naturhistorischen Museum in Toronto. Das Museum plant eine neue Abteilung über Seuchen, die Halle der Ansteckung. Da die Düsseldorfer Seuchenratte nicht zu bekommen ist, lässt Burton sich etwas anderes einfallen: Da gab es doch diesen vor Jahren an Aids verstorbenen Steward ... Zero, der Nullpatient, soll als Monster präsentiert werden, das Aids nach Nordamerika brachte und durch sein zügelloses Sexualleben für rasche Ausbreitung sorgte.
Burton stellt Nachforschungen an. Er ist der Prototyp des neugierigen und nur am Erfolg orientierten Wissenschaftlers. Weniger wertfrei eingestellt sind Zeros Mutter, eine Aids-Selbsthilfegruppe und die Besucher einer Männer-Sauna. Es häufen sich die komischen Zusammenstöße. Burton gibt nicht auf - und trifft auf Zero selbst oder vielmehr auf dessen Geist. Als solcher ist er nur für den untoten Burton sichtbar. Zero ist zurückgekommen, um seinen schlechten Ruf loszuwerden, und er will wieder lebendig sein.
Burton und Zero kommen sich näher. Sie forschen gemeinsam, machen Entdeckungen. Aus dem Massenmörder Zero wird eines von vielen Opfern. Zero kehrt für kurze Zeit ins reale irdische Leben zurück. Burton verändert sein Konzept der Ausstellung. Doch kann er sich gegen die Museumsleitung und den Sponsor, eine Pharmafirma, nicht durchsetzen. Die Ausstellung wird wie geplant eröffnet, mit Zero als Monster.
Zero, nun wieder nur Geist, reagiert enttäuscht und verzichtet auf jede weitere irdische Existenz. Sein Abschied von Burton und vom Diesseits gerät zu einem fulminanten, buddhistisch inspirierten Freudentaumel. Lustvoller hat sich nie einer entmaterialisiert und ins Nirwana begeben. Was für ein Film!
5. YOU I LOVE
In diesen Film habe ich mich sofort verliebt, von der ersten Szene an. An einem Mittwoch habe ich ihn als DVD mit der Post bekommen, an den Folgetagen habe ich ihn wiederholt angesehen und dann rasch den folgenden Text geschrieben. Den Enthusiasmus möge man mir nachsehen ...
Er wurde 2003 gedreht. Regisseure: Olga Stolpovskaya und Dmitry Troitsky. Die Handlung: Zwei erfolgreiche junge Menschen im Moskau von heute - Vera Kirillova ist Nachrichtensprecherin im Fernsehen, Timofej macht Werbespots im gleichen Gebäude. Sie lernen sich in der Kantine kennen, beginnen eine Beziehung. Dieser Teil ist auch eine Satire auf Mütterchen Russland im Würgegriff von Westkonsum und telekommunikativem Terror. Die Politik wird nicht ausgespart: Wir begegnen später zwei Duma-Abgeordneten auf einer schrillen Sodom & Gomorrha-Party in einer Luxus-Datscha. Vorher lernen wir einen jungen Kalmücken kennen. (Kalmücken sind Westmongolen, die an der unteren Wolga siedeln und dem tibetischen Buddhismus anhängen.) Der Kalmücke ist illegal in Moskau, arbeitet schwarz im Zoo und will einmal Zirkusartist werden. Eines Abends fällt er bei seinem Training Timofej auf die Kühlerhaube und bringt von da an Veras und Timofejs Leben gründlich durcheinander. Der Kalmücke ist homosexuell, für ihn überhaupt kein Problem, für seine Mitwelt umso mehr. Bald stellt sich heraus, dass Timofej bisexuell reagiert. Vera greift zu entschiedenen Maßnahmen ... Und dann kommt noch die kalmückische Verwandtschaft ins Spiel. Der Ausgang wird nicht verraten.
Es ist der erste russische Spielfilm über Homosexualität und es ist ein Film für die ganze Familie. Wie machen die das? Jedenfalls auf wunderbare Weise. Es ist ein heiterer, leichter Film mit sehr viel Tiefgang. Ich habe seit langem bei keinem Film mehr so viel gelacht, mich so gefreut und so viele begeisterte Zwischenrufe von mir gegeben.
Was ist der Nusskern der Geschichte? Für mich die kindliche Naivität des jungen Kalmücken, der unbeirrbar wie ein moderner Mongolensturm liebevolle Verwüstung anrichtet. Er ist eine Art Naturkind und zugleich tief von buddhistischen Traditionen geprägt. Er versteht sich auf die Zubereitung von gesalzenem Tee mit Butter und rührt ihn zur Abwehr böser Geister zweiundzwanzigmal um, während an der Wohnungstür Sturm geläutet wird. Er erobert Timofej mit einer grotesk artistischen Nummer, bei der die Wohnzimmereinrichtung zum Teufel geht. Und er denkt sich gar nichts dabei. Seine Tischmanieren sind von einer entzückenden Ursprünglichkeit, bei der allerdigns Vera der Appetit vergeht. Er führt ein Rentier aus dem Zoo über die Hauptverkehrsstraßen von Moskau spazieren.
Aus dem auf der DVD beigegebenen Material erfährt man, dass der Filmstoff im Hinblick auf Frau Stolpovskaya autobiographisch, wenn auch für das große Publikum bearbeitet ist. Ursprünglich suchte man einen Jakuten, fand aber keinen geeigneten Schauspieler. Der Darsteller des Kalmücken ist auch kein Kalmücke, sondern ein russisch-chinesischer Mischling. Auf jeden Fall ist er ebenso wie die beiden anderen Hauptdarsteller ein hervorragender Schauspieler. Und die Regisseure verstehen ihr Handwerk. Der Film ist ein einziges Feuerwerk origineller Einfälle, die höchst souverän abgebrannt werden.
Der Film bezeugt, wie stark Russlands kulturelle Ausstrahlung noch immer oder schon wieder ist. Soll man als Westeuropäer, als Deutscher neidisch werden? Ach, seien wir dankbar. Russland ist wieder da, das wirkliche Reich der Mitte.
6. HEAD ON
Ari (Alex Dimitriades) ist neunzehn und eine hübsche, sympathische Katastrophe. Er ist arbeitslos, nimmt an Drogen, was er kriegen kann, dealt auch damit und ist hemmungslos promisk. Frauen scheinen ihm eher zu liegen als Männer, nur beim Sex ist es andersherum. Wie gesagt: eine Katastrophe. Ari ist Sohn von griechischen Einwanderern in Australien. In Melbourne gibt es viele von ihnen, die meisten sind arbeitsam und materiell erfolgreich, dennoch der emotional wärmeren Heimat nachtrauernd. Dieses Melbourne ist im Film eine britisch steife, wenig schöne Stadt. Die Griechen bleiben am liebsten unter sich, gehen tagsüber in ihr Café und abends ins Steki. Aris Vater erzählt im Café, dass Marx den laufenden Balkankrieg vorausgesagt hat. Ari weiß noch, wie sein Papa ihn früher zu Demonstrationen mitgenommen hat. Heute ist der Alte ein spießbürgerlicher Möchtegernpatriarch mit Anwandlungen von Gefühl und Zärtlichkeit.
Ari ist der Prototyp eines Einwanderers der zweiten Generation, zu eigenwillig für den Weg der braven Anpassung und zu klug, um sich mit Erfolg betäuben zu können. Wir begleiten ihn sechsunddreißig Stunden lang durch die Stadt. Am Anfang verlässt er vorzeitig eine griechische Hochzeit, und am Ende hat er eine sich für ihn abzeichnende Beziehung voller Hoffnung selbst zerstört. Ari begreift sich nun und akzeptiert sich als das, was er ist: orientierungslos, hoffnungslos. Und findet in diesem Bewusstsein sogar etwas wie Halt. Hans-Henny Jahnn formulierte das in Fluss ohne Ufer so: "Es ist, wie es ist. Und es ist fürchterlich." Und hier ist es auch noch schön - schön dargestellt.
Der Film hat als Vorlage den Roman Loaded von Christos Tsiolkas, deutsch unter dem Titel Unter Strom, leider vergriffen, doch hier und da unter Restauflage oder gebraucht zu bekommen. Für Ari ist alles, dem er ausgesetzt ist, Strom: Sex, Drogen, Rassismus. Er ist gleichermaßen Sender wie Empfänger. Seine Leistung bleibt Transformation. Aber eine Katastrophe bleibt es doch.
Ari leidet unter der Missachtung der angelsächsischen Frauen. "Sie glauben, wir haben alle Haare auf dem Rücken." Doch gibt es ja neben den vielen Griechen zum Glück auch viele Araber, Italiener, Juden, Vietnamesen und Schwarze. Die kluge Studentin Ariadne drückt es so aus: "Hier hasst jeder jeden." In einer bedrückend komischen Szene brüllt Ari abends seine parodistische Version der Rassenvorurteile aus dem fahrenden Auto heraus den Arabern, Schwarzen usw. in die Ohren. Ari als grelller Verstärker, das ist nun absurd schön. Der Film hat Szenen, wie von Dostojewski erfunden: enorme Vitalität plus extremer Mangel an Sinn. Sie sagen, Gott sei tot, sinniert Ari zu Beginn des Films, und trotzdem sollen wir all das tun: arbeiten, ein Haus bauen, Kinder zeugen?
Die Kamera bleibt meist sehr dicht an den Gesichtern und dem Leiden, das sich auf ihnen abzeichnet. Die Sexszenen sind unverblümt und drastisch - die Kamera bleibt an den Gesichtern und zeigt die Qual. Eine besonders schöne Szene: Ari hat sich mit Betty, der Schwester eines Freundes, in einer Toilette eingeschlossen. Sie nehmen Speed, kauern sich aneinander wie Schiffbrüchige auf einer dahintreibenden Planke, und Ari sagt zu Betty, was er sonst nie sagt: Ich liebe dich. Dabei wissen sie schon, es kann nur wie Geschwisterliebe sein. Dann trommelt Bettys Bruder gegen die Tür.
Für mich der Höhepunkt: die Szene auf dem Polizeirevier. Ari ist vorher mit Johnny, einem griechischen Transvestiten, in einem Taxi unterwegs. Der Fahrer ist Türke. Die drei verbrüdern sich bei einem Joint. Dann Stopp durch die Polizei. Bekifft provozieren Ari und Johnny die beiden Beamten und landen auf der Wache. Was sich dort entwickelt, ist ein raffiniertes Parallelogramm aus Sadismus, Hass, Widerstand und Scham. Der ältere angelsächsische Polizist bringt den jüngeren griechischstämmigen Kollegen mit sexuell-rassistischen Andeutungen dazu, die beiden jungen Männer zu demütigen. Ari und Johnny müssen sich ausziehen. Der jüngere Polizist reißt Johnny die Wäsche vom Leib. Johnny wehrt sich, schimpft - und wird dafür geschlagen und getreten. Der ältere Polizist schaut genüsslich zu. Ari steht nackt und stumm daneben und leidet fürchterlich.
In diesem Film geschieht, was täglich auch in Paris, Berlin oder Kopenhagen geschehen kann. Es ist westlicher Alltag unter Strom, hier festgehalten in einem wirklich großen Film aus der Kategorie absolutes Meisterwerk. Anerkennung und Bewunderung für die Künstler, Mitleid für die Schicksale hinter dem Film.
7. LE CLAN
Ist das Frankreichs Gegenwart und Zukunft? Der Vater ist ein eingeborener Franzose, die Mutter arabisch, aus Algerien. Sie haben drei Söhne und leben in Annecy, Savoyen. Die Alpenkulisse täuscht ein wenig - diese Menschen könnten auch in der Nähe von Paris wohnen. Die Mutter stirbt früh, der Vater ist überfordert, alle trauern anhaltend. Die Söhne sind jetzt zwischen siebzehn und etwa zwanzig.
Die Familienkonstellation erinnert an Brüder in Romanen von Dostojewski. Jeder von ihnen steht für ein anderes Modell, wie man erwachsen wird. Der älteste Bruder geht den Weg der Arbeit und der Anpassung an die Gesellschaft. Der mittlere wählt den Weg der Gewalt und zerstört sich beinahe selbst. Der jüngste schwankt zwischen Selbstverwirklichung außerhalb der Familie und Hingabe an den problematischen Bruder.
Zu beginn sitzt Christophe (Stéphane Rideau) im Gefängnis. Marc, der mittlere Bruder (Nicolas Cazalé), streitet viel mit seinem Vater und arbeitet nicht. Er nimmt Drogen. Sein Verhältnis zu Olivier, dem jüngsten Sohn (Thomas Dumerchez), ist brüderlich innig. Man wartet auf Christophes Rückkehr. Marc bekommt wegen Drogen Ärger mit einer Motorradgang. Zwei Männer bestrafen ihn und traumatisieren ihn dabei noch mehr seelisch als körperlich.
Christophe kommt heim. Er hat sich verändert und will ein anständiges Leben führen. Er wird Arbeiter in einer Fleischfabrik. Durch seinen Fleiß erreicht er bald die Stelle eines Vorarbeiters. Christophe will Marc nicht gegen seine Feinde beistehen. Er hat die Familie und ihre Probleme satt. Marc realisiert seine Rache allein und rast dabei mit dem Auto gegen einen Baum.
Olivier experimentiert mit seiner Homosexualität. Er hat ein Verhältnis zu Hicham (Salim Kechiouche), einem jungen Araber. Obwohl sie gut harmonieren, löst sich Olivier von ihm, aus Rücksicht auf die Brüder. Hicham verlässt Annecy enttäuscht und geht nach Paris. Christophe hat nun eine Freundin und wird mit ihr bald eine eigene Wohnung beziehen. Olivier kümmert sich um den durch seine Verletzungen schwer behinderten Marc. Am Ende des Films hat Olivier eine Beziehung zu einem anderen jungen Mann. Dieser verlässt nun seinerseits ihn, da er den engen Zusammenhalt der Brüder untereinander nicht erträgt.
Dr Film ist wie ein einziger langer Schnitt mit dem Seziermesser. Das freigelegte Gewebe, das ist die französische Familie und Gesellschaft von heute, die französische Jugend von heute, ihre Wünsche und Ängste. Manchmal ist der Film fast zu schön, manchmal derart brutal, dass Hinsehen zur Qual wird. Er erscheint mir immer wahrhaftig. Wir erleben ausführlich, wie es in einer Fleischfabrik zugeht: modern, pieksauber und effizient, auf Kosten der Arbeiter. Wir müssen uns ansehen, wie ein Kampfhund von seinem Halter gnadenhalber getötet wird. Die Sexszenen sind ... nun ja, authentisch. Es wird viel auf der Straße oder am Seeufer getanzt. Es ist Capoeira, ein brasilianischer Sklaven- und Kampftanz. Wir fliegen mit, wenn Olivier zum ersten Mal mit dem Gleitschirm in die Tiefe stürzt.
Le clan von Gael Morel (deutscher Titel: Brüderliebe) ist einer der Filme, die man wiederholt ansehen muss, um ihnen auch nur annähernd auf den Grund zu kommen. Allmählich wird man gewahr, wie tief es da hinabgeht. Der Film ist eine bereichernde Zumutung.
8. TIME OFF
Eytan Fox, Filmregisseur aus Israel, ist längst international bekannt. Time off war sein erster Kurzfilm. Er dauert fünfundvierzig Minuten und ist ein kleines, frühes Meisterwerk. Zum besten israelischen Film des Jahres 1990 gewählt, erregte er auch im Ausland rasch Aufsehen. Verschiedene Fernsehsender kauften die Ausstrahlungsrechte. Möglich, dass der Film auch in Deutschland gesendet wurde, ich weiß es nicht. Time off bekommt man heute als Zugabe zur DVD Yossi & Jagger, einem späteren Film von Eytan Fox. Genug der Vorrede.
1982. Menachem Begin ist noch Ministerpräsident und führt Krieg im Libanon. Rekruten werden im Innern Israels ausgebildet, die meisten haben Angst vor dem Einsatz im Krieg. Wir erleben, wie sie nachts von Ausbildern getriezt werden. Unter den jungen Männern ist Yonatan Miller (Hanoch Re'im). Er ist niedlich, fast noch knabenhaft, spielt Gitarre und singt dazu. Im Übrigen scheint er ein junger Mann ohne Eigenschaften zu sein. Er wird nie aktiv, reagiert nur. Er glaubt, Leutnant Erez (Gil Frank), der schneidige Ausbilder, hasse ihn. Tatsächlich führt der Leutnant seltsame Manöver durch, die vielleicht darauf abzielen, Miller zu isolieren. Dann ist da noch Mali, die einzige Frau in der Einheit. Hat sie ein Verhältnis zu Erez? Es scheint so.
Am anderen Morgen werden die Rekruten in einem Bus nach Norden verfrachtet. Unterwegs brechen unter ihnen Debatten über den Krieg aus - sie werden abgewürgt. Dann singt Miller etwas Schönes, Poetisches zur Gitarre. In Jerusalem haben die Soldaten noch einen halben Tag Ausgang. Einer muss den Bus bewachen. Erez sorgt dafür, dass das Los Millers Kumpel trifft. Miller geht mit drei anderen in die Stadt. Dort erleben sie erregte politische Diskussionen in der Bevölkerung. In einem Café lernen die vier ein Quartett junger amerikanischer Jüdinnen kennen. Alle wollen zum Hotel der Touristinnen fahren. Miller, der noch vergeblich versucht, seine Mutter anzurufen, erreicht das Gemeinschaftstaxi als Letzter. Der Fahrer nimmt nur sieben mit. Miller will zu Fuß gehen.
Unterwegs trifft er Mali und erfährt, Erez sei allein in der Stadt unterwegs. Miller fragt: Trägt er nicht einen Ohrring? Miller setzt den Weg zum Hotel fort und bleibt dann im Unabhängigkeitspark auf einer Bank sitzen. Wir sehen Spaziergänger, spielende Kinder und - Homosexuelle, die Kontakt suchen. Miller scheint zu wissen, was hier los ist. Er lässt sich beäugen und bleibt distanziert. Dann kommt Erez in Uniform und mit Gewehr in den Park. Miller verbirgt sich im Gebüsch und beobachtet. Der Leutnant steuert bald auf das kleine Teehaus zu, jetzt nicht mehr allein. Miller kommt ihnen zuvor und belauscht die beiden aus einer Nachbarkabine. Auf seinem Gesicht spiegeln sich nacheinander Neugier, Teilnahme und Identifikation mit dem Geschehen wider. Beim Hinausgehen steckt ihm ein anderer den Ausweis von Erez zu, den der Leutnant gerade verloren hat.
Miller kommt leicht verspätet und sichtlich verstört bei der Einheit an. Erez berichtet gerade dem Unterleutnant denVerlust des Ausweises. Dann lässt er Miller vortreten und beginnt ihn zu schikanieren. Reagiert er seinen Ärger über den verlorenen Ausweis ab? Ist Erez ein Sadist? Oder soll Miller stellvertretend büßen, da der Leutnant sich vielleicht selbst hasst? Er geht zu weit: Miller soll vor seinen Kameraden ein Schuldbekenntnis ablegen. Jetzt wird Miller doch einmal aktiv: Stopp, sagt er und hat den Ausweis des anderen in der Hand. Die Übrigen müssen den Bus besteigen und nehmen diese spezielle Beziehung zwischen ihrem Leutnant und diesem Rekruten verständnislos wahr. Erez nimmt Miller draußen den Ausweis ab und ordnet an, dass Miller am Wochenende Dienst tun muss. Dann gehen beide als Letzte hinein.
Miller, nun von den anderen isoliert, nimmt vorn im Bus hinter dem Leutnant Platz. Sie fahren in die Nacht. Im Radio erklingt das Lied, das Miller am Morgen gesungen hat, jetzt von einer Frau vorgetragen. Erez sagt: Hörst du es, Yonatan? Noch nie hat er den Rekruten mit Vornamen angeredet. Miller antwortet nicht. Er legt das Kinn auf die Oberkante des Vordersitzes. Seine Miene drückt aus: Jetzt hat er mich da, wo er mich haben wollte. Ist schon recht.
Der Bus rollt in die Berge, in den Krieg hinein.
9. WER WAR SAL MINEO?
James Dean ist noch immer jedem ein Begriff - und Sal Mineo ist so gut wie vergessen. Dabei ist Mineos Leben ungleich aufregender verlaufen, und er hat uns viel mehr hinterlassen als jener andere fast schon vergöttlichte Frühverstorbene. Was die beiden verbindet ist der Film ... denn sie wissen nicht, was sie tun von 1955. James Dean war Jim Stark und Sal Mineo Plato. Erinnert man sich?
Plato ist für mich die wahre Hauptfigur des Films. Gewiss, Dean verkörpert auf geniale Weise diesen Jim, einen sowohl rebellischen als auch seltsam vernünftigen jungen Mann. Jim leidet mit Größe, vor allem an seiner Familie. Er handelt nur gezwungenermaßen, er reagiert auf eine aus dem Lot geratene Außenwelt. Plato ist viel übler dran, er hat keine Familie und lebt beziehungslos in einer leeren Wohlstandswelt. Er sucht Menschen, an die er sich binden kann. Am Anfang schießt er frustriert auf Hunde und am Ende verzweifelt auf Menschen. In der ersten Hälfte des Films wartet er seine Chance ab, ein flinker Beobachter, Begleiter, Antragsteller, ein verfrühter Mephisto auf der Suche nach seinem Faust. Als jedoch die erste Katastrophe sich ereignet hat, das Auto mit Buzz die Klippen hinuntergerast ist, bestimmt er den weiteren Gang der Dinge. Es ist seine verlassene Villa, in die die Handlung sich verlagert. Er realisiert für einige Minuten seinen viel zu schönen Traum von der Ersatzfamilie und fällt anschließend in ein umso tieferes Loch.
Salvatore Mineo jr. war der Sohn eines aus Sizilien eingewanderten Sargtischlers. Geboren 1939, in der Bronx aufwachsend, ist er schon mit acht Mitglied einer Straßengang, mit zehn in einen Raubüberfall verwickelt - und wird zur Bewährung auf eine Schauspielschule geschickt. Mit zwölf steht er zum ersten Mal auf der Bühne, in einem Stück von Tennessee Williams. ... denn sie wissen nicht, was sie tun ist sein dritter Film. Er ist jetzt sechzehn. Mit achtzehn macht er einen kurzen, erfolgreichen Ausflug ins Schlagergeschäft. Er dreht noch viele Filme und handelt sich den Spitznamen Klappmesserkid ein - immer ist er der traurige, zu Gewaltexzessen neigende Problemjugendliche. (Dagegen ist der Mensch hinter der Rolle ein lebenslustiger junger Mann, der gern alles mitnimmt.) Mit Otto Premingers Exodus gelingt ihm der Rollenwechsel nur scheinbar, für Hollywood bleibt er Plato. Als er dafür allmählich zu alt wird, macht er - aus damaliger Sicht - einen großen Fehler: Anlässlich der Trennung von Jil Haworth lässt er jeden wissen, er sei eigentlich gay. Von nun an bekommt er keine großen Rollen mehr angeboten. Es scheint ihm nicht viel auszumachen, beim Fernsehen verdient er genug zum Leben.
1976 hält sich Sal Mineo in Los Angeles auf. Auf dem Heimweg von einer Theaterprobe wird er Opfer eines Raubüberfalls und verblutet aufgrund eines Messerstichs, der das Herz getroffen hat. Die Polizei ermittelt erst in die falsche Richtung. Dann setzt John Lennon eine hohe Belohnung aus, und 1979 wird der Täter doch noch gefasst.
Im Januar 2009 wäre Sal Mineo siebzig geworden. Schon siebzig? Man fasst es nicht. Er wird immer Plato bleiben. Viele von uns fühlten sich damals in scheinbar intakten Elternhäusern wie Plato: unbehaust, sich nach einer anderen Familie sehnend. Nur dass wir nicht geschossen haben, weder auf Hunde noch auf Menschen.
10. GEFÄNGNISFILME
Früher hatte ich einen Freund, der auf dem Frankfurter Flughafen arbeitete. Er sagte mir: "Wenn die Normalen zum Bumsen in den Urlaub fliegen, dann meistens nach Bangkok." Darauf ich: "Wie heißt es im Fernen Osten: Neckelmann - no good man ... Und die Homos?" - "Andersherum. Gegenverkehr nach New York. Und weiter nach San Francisco." - "Gut für die Airlines. Das erhöht ja die Auslastung bei Flügen um den Globus."
Bei Sexfilmen haben wir eine ähnlich strikte Scheidung des Publikums. Der normale Porno hat von jeher zwei Lieblingsschauplätze: die Mädchenschule und das Nonnenkloster. Wohingegen die männliche Homosexualität sich am liebsten in Gefängnissen auszuleben scheint, glaubt man dem Film. Niemals wollte ich mir früher so etwas ansehen. Ich hielt es für weit unter meiner Würde.
Doch - ich tat Unrecht. In letzter Zeit habe ich drei Filme gesehen, die Männerliebe hinter Gittern zum Gegenstand hatten. Ich war erstaunt, so viel künstlerische Qualität hätte ich nicht vermutet. Allerdings - es waren auch keine Pornos, sondern echte Spielfilme.
John Greysons Lilies - Theater der Leidenschaft: Die Rahmenhandlung spielt 1952 in einem kanadischen Gefängnis. Ein Bischof soll einem älteren Häftling die Beichte abnehmen. Doch das ist eine Finte. Die Gefängniskapelle verwandelt sich in einen Theatersaal. Der Bischof kennt den Gefangenen, sie waren vierzig Jahre davor Schulkameraden. Nun sieht er mit ihm gemeinsam an, wie junge Sträflinge ihre Geschichte von damals nachspielen. Am Ende ist der Bischof als Mörder entlarvt.
Der Film ist jenseits seiner spektakulären Handlung vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten sehr lohnend anzusehen. Er verbindet die opulenten Bilder des großen italienischen Kinos mit Brechts Verfremdungstheorien. Wenn die Szene im Jahr 1912 spielt, wird der Schauplatz von damals ganz im Sinne Brechts mit den einfachsten Mitteln angedeutet. Und dann wechselt die Darstellung blitzschnell zu betörend schönen Bildern des wirklich großen Kinos. Kurz darauf befinden wir uns wieder in der Gefängniskapelle, wo junge Gefangene als Laiendarsteller die Rache eines alten Mannes vorantreiben. Eine Vertiefung in der Kapelle wird mit Schläuchen geflutet - das ist der See von damals. Wenig später sitzen Bischof und alter Gefangener am Ufer eines wirklichen Sees in der Weite Kanadas. Dieser permanente Wechsel der Perspektive verwirrt nicht, er ist ein einziges großes Vergnügen und hilft unserer Erkenntnis auf die Sprünge.
Proteus - Meine Liebe ist deine Freiheit hat John Greyson gemeinsam mit dem schwarzen Südafrikaner Jack Lewis gedreht. Es ist ein historischer Stoff, der vor allem auf der Gefangeneninsel Robben Island vor Kapstadt spielt. Richtig, das ist der Ort, an dem Nelson Mandela lange inhaftiert war. Die Handlung beruht auf einem Gerichtsprotokoll von 1735, das Lewis in einem Archiv entdeckt hat. Zwei Gefangene, ein Holländer und ein Khoi ("Hottentotte"), hatten im Gefängnis über lange Jahre ein Verhältnis. Dann schwappte die von calvinistischen Eiferern ausgelöste Welle der Verfolgung von Holland nach Südafrika, die beiden wurden vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt. Traurig, aber wahr. Und hier noch dazu schön dargestellt. Nebenbei erfahren wir allerlei über die botanische Forschung jener Zeit (Linnaeus) und die schon damals komplizierte ethnische Situation am Kap. Einige Szenen spielen im Amsterdam des frühen 18. Jahrhunderts.
Gefangen ist der erste Spielfilm von Jörg Andreas. Von ihm ist auch das kluge Drehbuch. Die Handlung ist nachvollziehbar und bleibt im Kopf. Als Drehort diente ein leer stehendes Gefängnis in Neustrelitz. Es verschafft dem Film viel Atmosphäre. Der Regisseur hat Gefühl für stimmige Bilder und die Choreographie von Schauspielern.Zwar agieren überwiegend Laiendarsteller - das Ergebnis kann sich trotzdem sehen lassen. Oder gerade deswegen?
Die Hauptfiguren sind die Gefangenen Dennis und Mike, gespielt von Marcel Schlutt und Mike Sale. (Marcel Schlutt war bis dahin nacheinander Pferdewirt in Westfalen, Fotomodell in London und Moderator bei Beate-Uhse-TV. Mike Sale ist ein in London geborener Schwarzer, der als Künstler vor allem mit Videoinstallationen hervorgetreten ist.) Als Dennis vorzeitig entlassen wird, hat Mike noch lange Jahre abzusitzen. Wegen Dennis will Mike ausbrechen. Dennis will es verhindern und stattdessen lieber selbst in den Knast zurück. Zu diesem Zweck bricht er die Auslage eines Juweliers auf, löst damit den Alarm aus und wartet seine Festnahme ab. Damit endet der Film. Die Scherben, vor denen Dennis steht, sind auch die seiner bürgerlichen Existenz. Und das Loch in der Scheibe versinnbildlicht noch etwas: Dennis ist aus dem Gefängnis seines Selbst ausgebrochen. Das Problematische an einer Gefängnisliebe und das Unvereinbare von Bürgerlichkeit und Glück, sie könnten nicht klarer und schöner dargestellt sein als hier.
Was ist das Gefängnis für diese drei Filme? Ein letzter noch möglicher Fluchtpunkt für die Kunst, die Wahrheit und das Glück.
11. FAQs
Wir erkennen Amerika kaum wieder in diesem Film von Everett Lewis von 2005: radikal politisiert, kompromisslos. Als Vorspann läuft ein krass homophober Auszug aus dem Programm der Republikanischen Partei für die Wahlen in Texas 2004. Der Film selbst vermittelt den Eindruck, Los Angeles sei in Zonen unterschiedlicher sexueller Präferenzen aufgeteilt, Zonen, so verfeindet wie die in Beirut oder Bagdad. Europa, du hast es zzt. besser ...
Der junge India (Joe Lia) hat Colorado vor drei Wochen verlassen, als sein Vater ihn umzubringen drohte. In L.A. lebt er auf der Straße, versucht sich als Pornodarsteller durchzubringen, wird hereingelegt. Auf dem Straßenstrich gerät er den Schwulenhassern Guy (Adam Larson) und Quentin (Joshua Paul) vor die Brechstangen, mit der sie ihn in einer Tiefgarage zu töten versuchen. Der schwarze Transvestit Destiny (Allan Louis) rettet ihn mit "Miss 45" und der Munition von WalMart. Destiny ist Pornoregisseur und nimmt junge Verzweifelte wie die Lesbierin Lester (Minerva Vier) bei sich auf. India zieht auch bei ihm ein.
Destiny, Lester und India bilden eine Ersatzfamilie. Sie debattieren über die feindliche Heterowelt, über Abgrenzung und Selbstbehauptung. Destiny geht eine Beziehung zu dem Polizisten Damone (Vince Parenti) ein. India lernt an einem Abfallcontainer Spencer (Lance Lee Davis) kennen, seine erste große Liebe. Spencer ist nur für ein paar Tage nach L.A. gekommen. Er will demnächst im Kongresszentrum seine Eltern töten. Die Bauteile für eine Bombe trägt er schon in seinem Rucksack herum. Spencer vergrößert die WG.
India trägt Guys Jacke, die sie ihm in der Tiefgarage abgenommen haben. So kommt er an Guys und Quentins Adresse. Er will nun Destinys These von der heimlichen Homosexualität vieler Homophober überprüfen. Er fährt mit Spencer ins Viertel der "Stiernacken" und gibt die Jacke vor dem Haus zurück. Guy lächelt mehrdeutig, will eine Unterredung um die Straßenecke - und bestätigt dort Destinys Theorie. Er war Quentin verfallen und hat nur deshalb bei den Überfällen mitgemacht. Jetzt löst er sich und sagt Quentin, er werde nach West Hollywood umziehen. Quentin begreift, bietet Stillschweigen an, falls Guy bleibt. Guy geht trotzdem, vergrößert die WG. Quentin tobt, fuchtelt viel mit dem Schießeisen herum, weiß noch nicht, wen er erschießen soll: Guy, dessen neuen Freunde oder sich selbst? In der WG spitzt sich die Lage gefährlich zu ...
Gelegentlich blitzt Ironie auf, gelegentlich sehen wir Szenen wie nach einer Landung auf Kythera. Der Film scheut auch vor Pathos nicht zurück und ist auch dieser Tonlage gewachsen. Spencer z.B. erzählt die Geschichte seiner Narben. Sein Vater hat ihn einmal mit einem Golfschläger krankenhausreif geschlagen, ein Mitschüler hat ihn im Schulbus mit einem Feuerzeug gebrandmarkt, andere haben ihn vor ein Auto - er bricht mitten im Satz ab. Guy, an sich viril und lebenslustig, ist zugleich schwer traumatisiert. Gefühle will er vermeiden, Gefühle bedeuten Schmerzen. Er wird seine Bombe zünden. In einem furiosen letzten Akt gelingt es India, ihn davon abzubringen.
Zurück in die Siebziger! Das scheint ein Motto dieses sehr gelungenen Gewaltstreichs von Film zu sein. Alles wieder da: Gay Liberation Front, Militanz, Wohngemeinschaften (also Kommunen), die Wertschätzung von Nacktheit, Sexualität als große Kraftquelle und vor allem: Make love - not war.
Es gibt auch Unterschiede, ein historischer Lernprozess hat stattgefunden. Destiny duldet keine Drogen. Kondome sind verpflichtend vorgeschrieben. Die Notwendigkeit einer eigenen festen sozialen Struktur wird eingesehen.
Der Film ist auch ästhetisch eigenwillig, kühn und überzeugend. Die meisten Szenen spielen in dunklen Höhlen. Kameraführung und Lichtgebung erzeugen fortlaufend barocke Interieurs und Porträts. Beleuchtung, Farbgebung und Musik machen aus einem Thesenfilm, machen aus Agitprop ein sehr lebendiges Kunstwerk ersten Ranges. Verlagert sich die Handlung einmal auf die Straße, bleibt der Himmel meist ausgeblendet. Sein Smoglicht fällt zwar auf diese Menschen, doch sie blicken nicht zu ihm auf. Sie bleiben in ihrer geschlossenen Welt. Das kann man kritisch sehen, ein großer künstlerischer Wurf ist der Film dennoch. Oder gerade deshalb?
12. LATIN BOYS GO TO HELL
Der Film von Ela Troyano ist zugleich Melodram aus der Welt junger Latinos in Brooklyn und Parodie auf mexikanische Seifenopern. Für diese steht beispielhaft „Dos Vidas“, aus dem immer wieder Sequenzen in die Filmhandlung eingeblendet sind. Folge für Folge geht es im TV um einen Mann, der insgeheim zwei Zwillingsschwestern verbunden ist. Als die Erstgeliebte hinter den Sachverhalt kommt, sinnt sie auf Rache und richtet die Pistole auf den Treulosen: „Deine Zeit ist um!“
Leidenschaft kann also tödlich sein, auch in der Haupthandlung. Von deren fünf Hauptpersonen überlebt nur eine. Unter vier fast zu gut aussehenden jungen Männern bewegt sich Andrea (Jennifer Lee Simard). Sie hat ein enges platonisches Verhältnis zu Braulio (Alexis Artiles). Zwar kommt ihm schon mal der Gedanke, sie zu heiraten, und einmal küsst er sie sogar spontan – doch er ist auf Carlos (Mike Ruiz) fixiert, ihm geradezu verfallen. Braulio versäumt keine Folge von „Dos Vidas“.
Andrea scheint Ersatz für Braulio in Angel (John Bryant Davila) zu finden. Er ist vor kurzem aus Chicago nach Brooklyn übergesiedelt und bei Verwandten untergekommen. Sein noch sehr junger Cousin Justin (Irwin Ossa) hat sich prompt in ihn verliebt. Doch Angel will bei aller Sympathie für den Vetter nur mit Andrea ins Bett. Justin versäumt ebenfalls keine Folge von „Dos Vidas“.
Carlos ist die personifizierte sexuelle Libertinage. Selten kommt Treulosigkeit so offen und zugleich so warmherzig einnehmend daher. Braulios exklusive Anhänglichkeit, seine starke Eifersucht werden Carlos bald lästig. Zudem hat er ein Auge auf Justin geworfen. Als Braulio erfährt, der Angebetete sei hier an sein Ziel gekommen, verwandelt sich Liebe in wahnsinnigen Hass. Wie die mordende Zwillingsschwester tötet er den Treulosen – und verstümmelt ihn hinterher.
Braulio findet keine Ruhe, er will auch noch Justin umbringen. Andrea, der er die Tat gestanden hat, sucht ihn zu entwaffnen und wird in dem entstehenden Handgemenge selbst getötet. Bei einer Vernissage zu Ehren des toten Carlos treffen Braulio und Justin aufeinander, und zwar auf der Dachterrasse eines Hochhauses. Angel ist auch anwesend und wirft sich, als Braulio auf Justin zielt, vor den Cousin. Der Mörder kann kein zweites Mal schießen, er stürzt sich in die Tiefe.
Melodram und Parodie vertragen sich überraschend gut miteinander. Das liegt vor allem am raschen Tempo des Films, an der Realistik seiner Schauplätze – allein schon die Disco-Szenen sind sehenswert – und am Einsatz zahlreicher die Welt der Latinos charakterisierenden Details: Puppen, Masken, Devotionalien. Sehr stimmig auch die experimentell angehauchte Musik von Ari Gold. Wieder einmal wurde bewiesen: Das Leben ist vor allem eine Seifenoper – und noch dazu die bessere im Vergleich mit jenen auf der Mattscheibe.
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2009
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