INHALT
1. Endstation Tod
2. Geschichte einer Sippe
3. Europa um 1907
4. Geschichte einer Mutter
5. Geschichte einer Tochter
6. Eine Oma zweiter Klasse
7. Im Frühlicht
8. Immer wieder dieser Traum
9. Die Ernte vor der Reife
10. Schwiegersohn und Schwiegervater
11. Goldenes Lebens-ABC
12. Kindertage - Kindernächte
13. Das Dorf seines Vaters
14. Die Margarine-Esser
15. Lauter Patriarchen?
16. Versteinertes Holz
17. Anekdote zur Senkung der Wehrmoral
18. Ein wenig Zeitgeschichte treiben
19. Das Kinderhaus
20. Fleischwurst holen für Ferdi
21. Diagnostischer Scharfblick
22. Fragment
23. Auch keine heile Welt gewesen
24. Söhne und Väter
1. ENDSTATION TOD
Das ist eine Tagtraumreise durch eine versunkene Stadt. Diese Stadt gibt es nicht mehr. Ihre Häuser sind abgerissen und an ihrer Stelle andere neu erbaut. Die Straßenbahn ist stillgelegt, die Identität der Stadt ausgewechselt.
HAUPTBAHNHOF: Ich steige in die Zwei. Es ist eine von noch zwei Linien. Wir rollen in die Unterstadt und ohne Halt an einer Privatklinik vorbei. Oma Erna wird hier einmal sterben. Sie ist eine Oma zweiter Klasse, nicht vorzeigbar in ihren alten Röcken. Die Kinder rufen ihr Hexe nach. Mein Vater hat sie in einer Baracke abseits von unserem Haus untergebracht. Wenn sie sich für eine Konditorei fein macht, benutzt sie die Brennschere. Ich habe einmal gesehen, wie sie die Brennschere auf der glühend heißen Ofenplatte erhitzt. Wenn sie sie dann benutzt, riecht es nach versengtem Haar. Eines Tages wird Oma Erna auf die heiße Ofenplatte fallen und nachts allein in der Klinik sterben. Ich werde sie kaum gekannt haben.
HAUPTPOST: Hier fängt das Geschäftsviertel an. Hinter der Brücke steht das älteste Hochhaus der Stadt. Der Fluss stürzt neben der Brücke einen Katarakt hinunter. Auf und neben der Brücke ist es so laut, dass man kein Wort verstehen kann. Und es stinkt gewaltig: die Abwässer von Hütte und Stahlwerk.
DENKMAL: Er ist nicht der Gründer der Stadt, aber er schaut von seinem Sockel, als wäre er es. Ein Fürst in seinem Reich - Königreich Stumm. Ein Bankhaus steht im Schatten der dröhnenden Hochöfen auf dem Hügel. Zwischen den hohen runden Türmen mit ihren ewigen Feuern und dem Walzwerk auf der anderen Seite kommen langsam schmutzig gelbe Trolleybusse heruntergefahren. Es gibt nur ein Kaufhaus. Meine richtige Oma geht in ein kleines Haus mit einem Tabakladen. Sie führt daheim die Haushaltskasse und sagt zu Opa: "Ein Laster darfst du auch haben." Sie vergisst nie, Schnitttabak aus der Stadt mitzubringen. Sie sagt über den Tabakhändler und seine Leute: "Es sind Juden. Sie sind zurückgekommen." Wir fahren steil bergauf.
MARIENKIRCHE: Sie ist wuchtig, groß wie ein romanischer Dom, und ihre Fassade und das Dach starren vor Schmutz. Zentimeterdick der graubraune Eisenhüttenstaub. Der evangelische Dom ist genauso groß, steifleinen gotisch und steht unterhalb der Marienkirche. Die konfessionelle Kluft ist fast ein Abgrund, wie später in Nordirland, nur dass keine Bomben hochgehen. Wenn die Tagesschau beginnt, werden die Glocken der Marienkirche geläutet, mit Absicht so laut, dass keiner im Viertel die Tagesschau versteht. Es geht weiter bergauf.
OBERER MARKT: Auf dem freien Platz hat einmal die Synagoge gestanden. Das Rathaus hat eine blassblaue Steinfassade. Manchmal fallen Steine heraus. Eines Tages stehen wir als Gymnasiasten davor und skandieren Parolen. Der OB kommt nicht heraus. Jahre später wird er an einer Mandelopreration sterben. Man stirbt doch nicht an einer Mandeloperation. Wir fahren wieder bergab.
STADTBAD: Dahinter liegt das Stadion. Der Verein spielt vorübergehend sogar in der Bundesliga. Bei Punktspielen wird er auch aufgestellt. Sein Schulfreund wohnt gegenüber vom Stadtbad, in einer der Mietskasernen. Einmal habe ich die beiden in einer Grünanlage liegen sehen, auf dem Rasen, die beiden Körper in entgegengesetzter Richtung lang ausgestreckt, jeder seinen Kopf auf einer Schulter des anderen gebettet. Sie haben in ihren Himmel gesehen. Für mich kein Platz. Das Bild in mir noch da.
ENDSTATION: Wir sind noch einmal bergauf gefahren. Da ist der Waldrand, da ist die Rotkreuzsiedlung. Die kleinen Häuser sind für die Überlebenden einer Gasometerexplosion erbaut, darunter meine Großtante und meine Uroma. Ich sehe die Uroma jetzt bei der Hochzeit der Großtante. Als Fünfzigerin verheiratet sie sich ein zweites Mal und bekommt einen Stiefsohn. Er will mir die Bundeswehr schmackhaft machen, aber ich weiß schon: So ein Kerl wie er will ich nicht werden. Die Uroma ist der früheste Mensch, den ich je kennen lerne. Sie ist vom Leben erschöpft. Sie sagt fast nie etwas und sitzt still auf dem Sofa. Nimmt sie mich überhaupt als Einzelwesen wahr? Wir sind so viele. Die Großtante sagt: "Sie hat Krebs. Ich lasse sie nicht mehr operieren."
Die ewigen Feuer sind längst erloschen.
2. GESCHICHTE EINER SIPPE
Sie waren alle Kinder des späten 19. Jahrhunderts, Bens Großvater, dessen drei Brüder und die Schwester. Der älteste Bruder wurde Kaufmann. Obwohl er nur zwei Häuser weiter wohnte, verkehrte Bens Familie kaum mit ihm und seinen Leuten. Sie schienen etwas Besseres zu sein. Allerdings nannten ihn die Großeltern unter sich nur den Direktor. Damit spielten sie ironisch auf einen lange zurückliegenden Bruch in seiner beruflichen Karriere an. Es hatte auch bei ihm, wie so oft, mit dem Ideal von Besitz und Bildung begonnen und endete in kleinbürgerlichem Fortwursteln, ohne jede Tragik.
Von einem anderen Bruder sind zwei Dinge auf Ben gekommen: ein Foto und ein Krug. Den historistischen Prunkhumpen haben ihm die Preußen am Ende seiner dreijährigen Dienstzeit spendiert. Parole Heimat! steht auf dem Krug. Das Schwarz-Weiß-Foto ist auch aus dieser Zeit. Ben findet sich ihm ähnlich, so wie er selbst in jungen Jahren einmal ausgesehen hat. Sein Großonkel scheint zu fragen: Warum, warum? Er ist im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen.
Der jüngste Bruder wurde Bergmann in einer Kohlengrube. Die Schwester heiratete einen Lokomotivführer. Beide Ehepaare wurden überzeugte Nazis und hatten jeweils nur ein Kind. Der Bergmannssohn wurde Bankangestellter. Das von ihm erhaltene Foto zeigt ihn als hübschen, eleganten jungen Mann. Der Lokomotivführersprößling wurde der HJ-Führer des Ortes. Mit seinem Totenkopfschädel war er nicht gerade eine Schönheit. Nach dem Abitur fing er noch ein Jurastudium an, bevor es nach Russland ging.
Bens Großvater, der kommunistische Setzer, erst unter Hitler arbeitslos geworden, prophezeite es Bruder und Schwester: "Der Führer - er wird eure Buben ins Massengrab führen." So kam es auch. Sie fielen 1944 innerhalb weniger Wochen, der eine im Kessel von Stalingrad, der andere bei der Schlacht am Monte Cassino.
Bens Großmutter soll siebenmal schwanger gewesen sein und viermal abgetrieben haben. Ihr Erstgeborener starb als Kleinkind. Bei der letzten Geburt, einer Fehlgeburt, fand sie beinahe selbst den Tod. Übrig blieb nur Bens Mutter. Er wiederum war ihr einziges überlebendes Kind. Wie es scheint, verlief sein Leben nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit. Was kann er jetzt noch tun? Aufschreiben, was gewesen ist.
3. EUROPA UM 1907
Zimmerleute tun es heute noch: auf die Walz gehen, d.h. als junge Gesellen auf Wanderschaft gehen und in der Fremde mal hier und mal da arbeiten, dabei ein Stück von der Welt sehen und sich beruflich vervollkommnen. Bis etwa zum Ersten Weltkrieg war dieses wandernde Handwerksburschenwesen in vielen Berufen verbreitet.
Mein Großvater, Jahrgang 1889, war eines von fünf Kindern eines Bergmanns. Nach der Volksschule weigerte er sich, wie die meisten dort in die Grube einzufahren. Er wollte Zeitungssetzer werden. Bald nach Ende der Lehrzeit verließ er Elternhaus und Rheinprovinz und ging zu Fuß ins nahe Luxemburg, wo er die erste Arbeit annahm. Er sparte sich einiges zusammen und wanderte dann nach Paris, um sich die Welthauptstadt des 19. Jahrhunderts einmal näher anzusehen.
Ich weiß nicht, ob er auf allen Stationen seiner dreijährigen Wanderschaft gearbeitet hat. Als Gewerkschaftsmitgleid bekam er in jeder deutschen Stadt, in der er neu war und nicht gleich Arbeit fand, eine Art Handgeld. Erstaunlich ist für mich, wie offen die Grenzen und der Arbeitsmarkt damals gewesen sein müssen. Er ging von Paris in die Schweiz und später nach Österreich-Ungarn, hat zumindest in Wien und Prag eine Zeitlang gearbeitet. Er war auch in Berlin, in Hamburg und im Ruhrgebiet. Berlin sagte ihm, dem in Preußen geborenen Preußenhasser, nicht zu, dafür Dresden umso mehr. In Dresden verbrachte er die längste Zeit.
Er kehrte nach Hause zurück, um sich mustern zu lassen. Dann verschwand er für drei Jahre in einer Kölner Kaserne. Er hat auch den Kommiss gehasst. Anschließend kehrte er nach Dresden zurück, für lange, wie er dachte. Und dann der Sommer 1914. Es ist nicht wahr, dass die gesamte deutsche Bevölkerung den Kriegsausbruch freudig begrüßt hätte. In Dresden gingen Arbeiter für den Frieden auf die Straße, darunter mein Großvater. Militär zog auf, drohte, in die Menge zu schießen. Da zerstreuten sie sich.
Er war vier Jahre in Frankreich an der Front und blieb unverwundet. Nach dem Krieg wollte er nicht gleich nach Dresden zurückgehen. Die Lebensmittelversorgung war in den Großstädten noch immer unzureichend. Zu Hause lebten die Arbeiter in eigenen kleinen Häusern mit Gemüsegärten, hielten Ziegen. Er heiratete bald und baute selbst ein Haus.
Dresden lockte noch einmal. In den zwanziger Jahren besuchte ihn auf der Rückreise aus Frankreich sein früherer Chef und bot ihm erneut Arbeit an. Er wäre gern übergesiedelt, aber der Frau war es nicht recht. Vielleicht entgingen sie so dem Inferno. Er blieb für die letzten fünfzig Jahre seines Lebens in seinem Nest hängen. Wenn ich ihn, lange nach dem Zweiten Weltkrieg, reden hörte, war er nicht nur bei uns, sondern auch in den großen Städten seiner jungen Jahre zu Hause.
Er starb 1978. Von ihm habe ich vielleicht die Neigung zum Nomadisieren, sicher die Lust am Lesen. Und da ich im Unterschied zu ihm nicht heimgekehrt bin und keine Familie gegründet habe, beschreibe ich stattdessen, was gewesen ist.
4. GESCHICHTE EINER MUTTER
Lisbeth war die, die allein übrig geblieben war. Als sie heranwuchs, spürte sie den unausgesprochenen Vorwurf von Seiten ihrer Mutter: Warum gerade du? Warum nicht der ältere Bruder? Er war mit zwei Jahren plötzlich gestorben. Nach ihr kam noch eine Fehlgeburt, an der ihre Mutter ums Haar selbst gestorben wäre. Als Lisbeth viel später von den drei oder vier Abtreibungen ihrer Mutter erfuhr, fragte sie sich: Muss ich auch dafür büßen? - Schafft mir die Kinder vom Hals, schrie die Alte in ihrem Todeskampf, und Lisbeth sah jetzt ihre ungeborenen Geschwister im Sterbezimmer.
Von der Mutter nicht geliebt, vom Vater voller Nachsicht mehr übersehen als zur Kenntnis genommen, so wuchs Lisbeth in schwieriger Zeit auf. Die Nazis hatten ihren Vater, den roten Setzer, aus der Zeitungsdruckerei hinausgeworfen. Für ihn gab es keine Arbeitslosenunterstützung. Sie lebten von kümmerlichen Mieteinnahmen und dem, was sie im Garten anbauten, und hielten Kaninchen und eine Ziege. Lisbeths Volksschullehrer, Jahrgang 1900, kannte nur Führer, Volk und Partei. Und sie war auch in der Klasse die Tochter des Kommunisten. Als sie nach der Schule in eine Lehre gehen wollte, hieß es zu Hause: Du heiratest ja doch ... Das schaffst du nie ... Wir können dich nicht unterstützen ... Bald kam der Krieg. Lisbeth wurde ins Stahlwerk dienstverpflichtet, wo sie die Produktion mitaufrechterhielt, während neben den Hochöfen und Walzstraßen die Stadt großenteils zu Asche verbrannte.
Am Anfang des Krieges lernte sie ihren späteren Mann kennen, Sohn eines Kleinbauern aus der Umgebung. Lisbeths Eltern waren gegen die Verbindung. Sie verlobten sich trotzdem, trafen sich nur in den seltenen Heimaturlauben des Soldaten. Sie heirateten Ende vierundvierzig, dann sah sie den Mann erst nach vier Jahren wieder, von sibirischer Gefangenschaft fürs restliche Leben gezeichnet. Sie bewirtschafteten das Gütchen, schufteten siebzig Stunden in der Woche, fingen immer Neues an und kamen nicht viel weiter. Lisbeth sagte: Such dir eine Stelle bei der Post, da ist was frei. Aber es war nicht nach seinem Geschmack.
Lisbeths erste Schwangerschaft endete mit einer Totgeburt. Dann brachte sie sehr mühsam Ben auf die Welt. Wie früher für ihre eigene Mutter kamen weitere Kinder von da an für sie nicht mehr in Frage. Sie zwang sich dazu, Ben nicht als Ersatzkind zu betrachten. Sie wollte ihrer Mutterrolle vollkommen gerecht werden. Sie wurde ihrer Rolle gerecht, doch Ben fühlte hinter der Rolle nur Leere. Er war der, der den Erstgeborenen nicht ersetzen konnte, ein störender Fremdling, ein unheimlicher Gast in der Familie. Aus einem nichtigen Anlass bekam er vom Vater zu hören: Du bist hier nur geduldet. Da sie kaum Zeit für ihn hatten, war er viel bei den Großeltern. Er pendelte zwischen den Generationen, zwischen den Häusern, zwischen Stadt und Land. Es war ihm überlassen, zu kommen und zu gehen, wie es ihm gefiel. Er wurde bereits Nomade, bevor er die Gegend endgültig verließ.
Lisbeth wollte schon vor ihm gehen und die Familie sich selbst überlassen. Aber wie sollte sie sich durchbringen? Ohne Beruf, ohne Beziehungen? Und dann gehörte es sich auch nicht! Sie blieb, und dieses Festhalten an ihrer Rolle wurde der einzige Halt, an dem sie selbst ihre Stütze fand. Weiß Gott, sie hätte ein eigenständiges Leben ganz anders geführt, ein sehr normales, kleinbürgerliches Leben mit vielen Gesprächen und all dem anderen, das es in dieser Familie nicht gab.
Ben verschwand mit achtzehn und kam noch jahrzehntelang Jahr für Jahr einige wenige Tage. Dann spielten sie Familie mit immer denselben Worten, immer denselben Gesichtern. Ben trieb durch die Welt, während Lisbeth erst ihre verwirrte Mutter pflegte, dann ihren depressiven Mann versorgte. Das wirkliche Leben ihres Sohnes vollzog sich für sie wie hinter einem dichten Vorhang. Erst spät wurde er etwas durchscheinend, und sie begann jetzt zu begreifen, dass Ben homosexuell war. Sie zeigte ihre Ablehnung nicht und füllte die Rollen der aus der Ferne teilnehmenden Mutter und der perfekten Gastgeberin für drei Tage im Jahr weiter aus.
Sie wurde Witwe und saß allein auf dem Gütchen. Das Land war schon verpachtet. Als Ben nach dem Tod seines Vaters bald zu ihr kam, fühlte sie sich zum ersten Mal frei in ihren Entscheidungen, nur sich selbst verantwortlich. Sie war Alleinerbin und erklärte ihm, sie wolle alles verkaufen und sich in der Nähe neu ansiedeln. Er billigte es erleichtert und gab ihr Ratschläge, wie sie es anstellen solle. Kaum war er abgereist, sah sie es so: Da war also wieder einer, der ihr Vorschriften machen wollte. Erst die Eltern, dann der Mann, nun der Sohn. Sie verwarf nach und nach ihre eigenen Pläne, schon um nicht mit ihm übereinstimmen zu müssen. Gleichzeitig sah sie sich als müde, alte Frau überfordert mit der Aufgabe, die eigene Zukunft noch zu gestalten. Das war die Stunde des Pächters, der das Land nicht verlieren wollte. Er unterstützte und umsorgte sie in einer Weise und mit einer Intensität, wie sie es nie erlebt hatte. Sie konnte bleiben. Sie war ihre eigene Herrin und fand im Pächter jede Hilfe. Es entging ihr, dass er sie gleichzeitig überwachte. Sie konnte endlich das einfache Leben führen, das sie immer vermisst hatte. Sie war jetzt ganz frei und ganz abhängig.
5. GESCHICHTE EINER TOCHTER
Ihre drei Geschwister - ein Bruder, zwei Schwestern - waren viel hübscher als sie. Auch leichter erziehbar, geradezu Spalierobst im Vergleich mit diesem Wildschössling. In ihr kam noch einmal jener Furor zum Vorschein, der in der Verwandtschaft hier und da schon aufgefallen war: der leicht unzurechnungsfähige Onkel, die übernervösen Tanten ... Ihre Mutter war eine zwar lebhafte, doch im Umgang mit anderen eher sanfte Frau. Nur wenn sie Hilde ansah, verspürte sie diesen Unwillen. Wie klobig ihr das Kind vorkam, dabei oft bockig und immer zu dummen Späßen aufgelegt: etwas zerreißen, eine Zeitung, einen Zettel, etwas zerbrechen, einen Teller, eine Puppe - das musste sie ihr austreiben, um jeden Preis. Und sie, die sonst so sanfte Frau, verspürte jetzt selbst diesen Ingrimm und griff zum Handfeger, um ihr Kind damit zu züchtigen.
Hilde fiel immer auf. Sie fiel unangenehm auf, gerade auch in der Öffentlichkeit. Sie zupfte unbekannte Damen am Rock und lachte sich dann scheckig. Fremdes Missgeschick erfüllte sie mit Schadenfreude. Auf der Bahn-hofstraße knickte eine Dame mit Hütchen um, Hilde konnte sich nicht mehr beruhigen. Die Dame erklärte: "Das Kind ist nicht richtig im Kopf. Sie müssen es besser im Zaum halten. Wenn es noch einmal vorkommt, melde ich es den Behörden. Sie wissen, was dann geschieht ..." Hildes Mutter griff daheim wieder zum Handfeger und schlug Hilde mit dem Holzteil auf den Kopf. Hilde lachte und weinte zugleich. Diese Szenen häuften sich. Eine von Hildes Tanten warnte ihre Schwester: "Du machst es nur noch schlimmer. Willst du, dass das Kind einen Hirnschaden bekommt?"
Ihr Bruder wurde ein ehrbarer Versicherungskaufmann. Die ältere Schwester wanderte ins Rheinland aus. Alle sprachen nur mit Ehrfurcht von ihrer Berufstätigkeit: Sie war an der Oper in Köln, und zwar als Logenschließerin. Sie durfte sogar Adenauer die Loge öffnen. Hilde nahm Putzstellen an, viele Putzstellen im Lauf der Zeit. Niemand behielt sie lange. Sie zerbrach manches oder sie stahl. Hildes Mutter erzählte ihren Schwestern: "Frau Eisenbeis war bei mir ... Zehn Mark diesmal. Ich habe es ihr zurückgegeben. Die Stelle ist sie auch los."
Eine von Hildes Tanten kam zu Hildes Mutter. Die große Neuigkeit: "Weißt du, dass sie angeschlagen ist?" Sie hatte nicht einmal etwas geahnt. Hilde war schon in den Dreißigern und heiratete also einen Blinden aus der Hottentottensiedlung. Die Stadt hatte diese sehr schäbigen Häuser vor Jahren für jene bauen lassen, die für ein auch nur halbwegs bürgerliches Leben erwiesenermaßen ungeeignet waren. Es waren beinahe noch Baracken, mit nur einem Obergeschoss und billigster weißer Anstrichfarbe. Die Außenanlagen beschränkten sich auf die Toiletten zwischen den Häusern. Es war das Unterste vom Untersten. Dorthin zog Hilde nun und fertigte mit dem Blinden Bürsten und Handfeger an, die im Stücklohn vergütet wurden. Der Blinde fiel bei seltenen Besuchen in der Verwandtschaft unangenehm auf. Ein heller Kopf, gewiss, doch boshaft schien er auch, machte alles herunter ... Einige zweifelten sogar an seiner Blindheit: "Er guckt sogar Fernsehen."
Hilde kam meistens ohne ihn. Dann regte sich in der Verwandtschaft eher Mitleid mit ihr. Man lud sie zum Kaffeetrinken ein. Manchmal war sie in sehr weicher Stimmung, weinte beinahe. Oder sie berichtete von neuem Streit mit ihrer Mutter. Sie werde in Zukunft nicht mehr zu ihr gehen. Sie war noch keine fünfzig, als sie plötzlich starb. Das Herz, hieß es. Ihre Mutter wurde doppelt so alt, fast hundert, lange betreut von ihrer jüngsten Tochter. Das war eine patente Frau: hübsch, gescheit, anstellig. Da gab es nie einen Grund zur Klage.
6. EINE OMA ZWEITER KLASSE
Ein Sonntagnachmittag Anfang der sechziger Jahre.
Wir sitzen am Kaffeetisch unter dem Kirschbaum, meine Eltern, meine Großeltern mütterlicherseits, Verwandte, die zu Besuch gekommen sind, und ich. Auf einmal fragt meine Patentante meine Mutter: "Und Oma Erna, was ist mit ihr, warum sitzt sie nicht hier bei uns?" - Darauf meine Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung: "Ach ... Ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt."
Hinter einer Bodenwelle unseres Gartens ist die grün gestrichene Holzbaracke sichtbar, in der ich noch mit meinen Eltern wohne. Oma Erna bewohnt zwei der fünf Räume, sie wird hier allein zurückbleiben, wenn unser neues Haus fertig ist.
Oma Erna ragte fremd in die Wirtschaftswunderzeit, wie die Ruine einer Raubritterburg ins Eisenbahnzeitalter. Wir sprachen wenig mit ihr. Meine Mutter behandelte ihre Schwiegermutter scheinbar mit Ehrerbietung, doch verbargen sich dahinter nur Unverständnis und Vorsicht. Mein Vater legte ihr gegenüber Herablassung, vermischt mit leichter Verachtung, an den Tag. Für Oma Erna war ich, der Enkel, auch nur einer von den anderen, die jetzt den Gang der Dinge allein bestimmten.
Vieles an ihr wirkte wie aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Gesellschaftsschicht, etwa ihre Tischmanieren oder ihre Umgangsformen überhaupt. Sie drehte sich Locken mit der Brennschere und wollte in den Geschäften mit Gnädige Frau angesprochen werden. Sie trug jahrzehntealte, schon ewig aus der Mode gekommene Röcke auf. Allmählich bekam sie einen Buckel. Auf der Straße riefen ihr die Schuljungen Hexe nach.
Geboren war sie 1891. Ihr Mädchenname verriet ihre hugenottische Herkunft. Tatsächlich blieb ihr bis zuletzt etwas von der Unbeugsamkeit jener Leute. 1912 heiratete sie meinen Großvater, einen kgl.-bayerischen Berufssoldaten. Er war von ländlich-bürgerlicher Herkunft und, wie es damals hieß, gut situiert. Sie wirtschafteten beide schlecht, bald war das meiste verwirtschaftet. Der Versailler Vertrag bedeutete für ihn die Entlassung aus der Armee. Um ihn zu versorgen, stellte der neue Staat ihn vor die Alternative. ein Pöstchen auf dem Rathaus oder ein Gütchen auf dem Land. Er wählte das Letztere. Ohne rechte Freude an der Sache schlugen sie sich eben so durch. Das älteste von drei Kindern starb früh. 1937 erlag mein Großvater einem Kehlkopfkrebs. Mein Vater vergeudete zwölf seiner besten Jahre mit Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft. Seine Schwester heiratete einen Soldaten und wurde noch im gleichen Jahr Kriegerwitwe. Oma Erna führte als Witwe die kleine Landwirtschaft weiter und versuchte, dem Leben noch einige schöne Seiten abzugewinnen. Sie liebte es noch immer, kleine Exkursionen in die Konditoreien zu unternehmen. Ihr nach wie vor bestehendes Interesse am anderen Geschlecht äußerte sich ziemlich unverhüllt. War es das, was mein Vater ihr übel nahm?
Meine Eltern hatten im Krieg geheiratet, mein Vater übernahm jetzt den Hof, vergrößerte ihn. Oma Erna blieben ein Wohnrecht und eine kleine Witwenrente, die nie zum Leben reichte. So rüstig sie noch war, für sie war das Leben so gut wie vorbei. Und ringsum erholte sich jetzt das Land von zwei Kriegen und zwei Inflationen. Arbeiten, sparen, Vermögen bilden, ein Haus bauen, noch ein Haus bauen - alle waren sehr beschäftigt. Oma Erna las ihre Illustrierten, hörte ihr Transistorradio und führte laute Selbstgespräche. Wir zogen in unser neues Haus, und sie blieb noch fünfzehn Jahre in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser, mit Außentoilette. Ich glaube, sie ist nur zweimal bei uns gewesen. Dabei lebten wir auf dem gleichen Grund, nur zweihundert Meter voneinander entfernt. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, doch zu meiner Konfirmation musste sie eingeladen werden.
Mein Vater sah täglich nach ihr, brachte ihr am Schluss auch das Essen. Eines Morgens fand er sie schwer verletzt vor, sie war mit dem Kopf auf die Herdplatte gefallen. In der Nacht darauf starb sie allein in der Klinik.
Ich habe kein einziges Foto von ihr. In meinem Tagebuch wird sie nur einmal erwähnt: als sie starb. Die Baracke blieb leer. Ich stöberte in ihren Sachen und entdeckte die Bücher, die sie nach dem Krieg gelesen hatte: Romane von Alberto Moravia und John Steinbeck zum Beispiel, Autoren, die ich ihr nie zugetraut hätte.
Allmählich, im Lauf der Jahre, bekam ich einen Blick für das Drama ihres Lebens. Ich sagte mir, jede Generation bleibe allein mit ihren Erfahrungen. Jede verbringt ihre Lebenszeit abgeschottet von den früheren wie den späteren in ihrem eigenen Zeitdorf. Die Vorstellung, es könnte zwischen ihnen Austausch und Verständigung geben, erschien mir nur noch als schöne Illusion.
7. IM FRÜHLICHT
Die frühe Kindheit erscheint uns später als seltsame Schattenwelt. Undurchdringliches Dunkel liegt über dem größten Teil der Landschaft jener scheinbar endlosen Jahre. Wie langsam die Zeit damals verfloss ... An einigen Stellen weicht die Finsternis der tief braunen Tönung alter Landschaftsbilder, die im Lauf von Jahrhunderten stark nachgedunkelt sind. Die Grundstimmung ist noch wahrzunehmen, aber die Einzelheiten sind kaum zu unterscheiden. Die Erinnerung bleibt unscharf. Dann jedoch stoßen wir auf seltene Momente großer Klarheit. Ein starkes Licht, dessen Herkunft unbekannt bleibt wie auf barocken Gemälden, erhellt die Situation von damals und zeigt Personen und Konturen in voller Schärfe. Zu diesen Plätzen kehrt die Erinnerung immer wieder zurück, ohne zu wissen warum. So bleibt das Erinnerte unverstandene Episode, mag es sich auch um den Schlüssel zu allem Verständnis handeln.
Wie alt bin ich an jenem entferntesten Punkt, zu dem die Erinnerung noch gelangen kann? Ich sehe mich als Dreijährigen auf einem kurzen Spaziergang. Mutter und Großmutter haben mich bei der Hand genommen und führen mich in ihrer Mitte. Neben uns geht mein Großvater und raucht Pfeife. Mein Vater scheint zu fehlen. Wahrscheinlich hat er gearbeitet. Wir gehen sehr langsam vom Haus meiner Großeltern zum Bahnhof unseres Vorortes, dafür braucht man fünf Minuten. Eine schon heiße Frühlingssonne scheint von einem heiteren Himmel. Straßenstaub tanzt im Sonnenlicht. Die kleinen Häuser an der Straße sind schmutzig grau. Wenn die Dampflokomotiven die Wagen bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof wieder anziehen, stoßen sie große Rauchwolken aus. Die Züge verschwinden schon hundert Meter nach dem Bahnhof in einem Tunnel. Vor der Einfahrt gibt die Lokomotive ein kurzes gellendes Signal und stößt dabei eine kleinere Rauchwolke aus. So sind alle Fassaden in der Umgebung rußgeschwärzt.
Genau neben der Tunneleinfahrt steht das Haus eines Bekannten meiner Großeltern. Der Mann arbeitet im kleinen Vorgarten. Er harkt die Erde um die wenigen Tulpen, sie blühen rot oder gelb. Während die Erwachsenen mit dem Nachbarn plaudern, kann ich mich von den Händen losmachen. Ich trete dicht an das Gärtchen heran, betrachte die Blumen aus der Nähe und klatsche vor Vergnügen in die Hände. Die Großen werden aufmerksam. Der Nachbar greift zu einer Schere und schneidet eine rote Tulpe für mich ab. Die Großen bedanken sich für mich. Ich darf die Blume tragen, während wir weitergehen, und empfinde große Freude. Wir gehen noch bis zum Bahnhof und kehren dort um. Die Szene verschwindet in völligem Dunkel.
Warum gerade diese Erinnerung? Ja, ich liebe Blumen und arbeite gerne im Garten. Ich fahre auch gern Eisenbahn ... Aber es gelingt mir nicht wirklich, hinter das Geheimnis des Erinnerungsbildes zu kommen. Vielleicht bedeutet es die Neigung zum ästhetischen Lebensvollzug, wie sie mir später mal einer vorgeworfen hat. Mir scheint, viele Deutungen sind möglich, auch solche, die mich unangenehm berühren könnten. Mir bleibt nur die Vermutung, dass unsere früheste Erinnerung nicht zufällig ist. Vielleicht enthält sie im Kern schon unser Wesen und seine Entwicklung in der Zeit.
8. IMMER WIEDER DIESER TRAUM
"Mach Licht, Frau", sagte mein Großvater manchmal in der Abenddämmerung, "da oben können wir noch lange genug im Dunkeln liegen." Mit oben war nicht das himmlische Jenseits gemeint, an das er nicht glaubte, sondern unser etwas höher gelegener Friedhof.
Den besten Blick auf den Friedhof hatte man vom Bahnhof aus. Das Jenseits erreichte man eben auf einer Reise ohne Wiederkehr. Blickte man vom Bahnsteig nach Norden, sah man unmittelbar in den schwarzen Mund einer Tunnelöffnung wie in das Ofenloch eines Krematoriums hinein. Davon löste sich der Blick gern und glitt den steil ansteigenden Hang darüber aufwärts. Er war mit Dornengebüsch bewachsen, völlig unzugänglich und wurde oben von der weiß verputzten Leichenhalle im neoromanischen Geschmack gekrönt. Ein Aussichtscafé konnte nicht schöner liegen. Die Kuppe, die die Eisenbahn im Tunnel unterfuhr, war ein einziges Gräberfeld. Seit fünf Generationen bestatteten die Einwohner da ihre Toten. Meine Großeltern hatten mir wiederholt gesagt, sie würden auch einmal dort liegen. Der Gedanke war mir unbegreiflich. Und ich war noch niemals durch den Tunnel gefahren.
Ich träumte immer wieder den gleichen Angsttraum. Darin spazierte ich vom Bahnhof zum Haus der Großeltern. In Höhe des Tunnelmundes, genau unterhalb der Leichenhalle, näherte sich mir ein von zwei wilden braunen Pferden gezogener Leichenwagen. Es handelte sich dabei um einen einfachen Pritschenwagen, wie ihn die Bauern zum Transport von Rüben oder Kartoffeln verwenden. Wie mich die Pferde sahen, fielen sie sogleich in scharfen Galopp. Der Leichenwagen holperte und schlingerte, der Sarg sprang auf und nieder. Ich wich zurück, voller Entsetzen - zu spät: Die Pferde bäumten sich bereits hoch auf und setzen dazu an, mich niederzutrampeln. Schon spürte ich ihre Hufe - und erwachte, von tiefem Schrecken erfüllt.
Beim Aufwachen aus diesem Traum stürzte ich eines Nachts aus meinem hohen Bett und renkte mir dabei das Schultergelenk aus. Meine Leute fürchteten, man würde mir einen mächtigen Gipsverband anlegen und das ruhig gestellt Gelenk würde nie mehr seine volle Funktion erhalten. Daher brachten sie mich nicht zu einem Chi-
rurgen oder Orthopäden in der Nähe. Stattdessen trat meine Großmutter mit mir die Reise zu einer Wunderheilerin an. Sie erfreute sich eines sagenhaften Rufes. In Wirklichkeit war sie eine geschickte Heilpraktikerin, die aus dem Fehlen jedes medizinischen Titels so viel Nutzen zog wie der Doktor in der Stadt aus seinem. Rasch und schmerzlos wurde das Gelenk wieder eingerenkt. Meine Großmutter jedoch spürte die geheimnisvolle Kraft, die von jener Schamanin ausging, als sie mich berührte. Jahrelang noch pries sie die wundersame Heilung in bewegten Worten. (Auch Atheisten neigen manchmal zum Wunderglauben.)
Auf der Fahrt nach Norden hatte ich also erstmals den Tunnel unter dem Friedhof durchfahren - und ich war zurückgekehrt! Ich war genesen, wenigstens was die Schulter betraf. Und der Traum mit dem Leichenwagen kehrte nicht wieder - dafür träumte ich nun andere Angsträume.
9. DIE ERNTE VOR DER REIFE
"Wenn der Beamte kommt, dann sag ihm bloß nicht, dass du den Hof nicht übernehmen willst." Mein Vater war Landwirt und hatte ein größeres staatliches Darlehen beantragt. Ich war der einzige Sohn, und ohne Aussicht auf einen Hoferben würde der Kredit vielleicht nicht bewilligt werden.
Ich war damals zwölf, und ich war der, der den Hof nicht übernehmen wird. Keine sehr komfortable Situation. Von Zeit zu Zeit tat mein Vater so, als sei noch alles offen. Dann hielt er mich zur Mitarbeit an, übertrug mir kleine Aufgaben. Davon will ich ein Beispiel bringen.
Mein Vater fing immer neue Sachen an. Es gab bei uns Großvieh und Kleinvieh, Feldfrüchte und Schnittblumen. Und dann kam noch Obst dazu: Äpfel und Birnen, Kirschen und Pflaumen und sogar Pfirsiche. Die Buschbäume trugen in jenem Jahr erstmals reich. Meinem Vater fehlte die Zeit, selbst alle Bäume abzuernten. Er war ein gehetzter Mann. Ich lief ihm zur falschen Zeit über den Weg.
"Es wird Zeit, dass du dir einmal einen Überblick über unser Wirkungsfeld verschaffst ..." Er liebte allgemeine Betrachtungen als Einleitung, ich fand seine Ausdrucksweise dann etwas geschraubt. Bald kam er, schon barscher, zur Sache: "Die Pfirsiche müssen vom Baum. Du wirst sie heute Nachmittag herunterholen. Jetzt gleich." Ich hatte Besseres vorgehabt: mich draußen im Gelände mit Jungen aus der Nachbarschaft zu treffen. Da gab es eine Mulde mit vielen Quellen und mit kleinen Bächen. Man konnte sie leicht aufstauen und dann das Wasser auf einmal als Sturzbach, alles wegreißend, abfließen lassen.
Mein Vater bemerkte meinen Unwillen und beschloss, die Sache rasch abzumachen. Er sagte in scharfem Ton: "Dort am Rand steht der Baum. Siehst du ihn? Hol sofort den großen Korb aus dem hinteren Keller und stell ihn nachher aufs Treppenpodest." Er ging schnell weg. Er hatte sich durchgesetzt, mein Wille war gebrochen. Ich machte mich eilig an die Arbeit. Wenn ich bald fertig war, konnte ich doch noch zu den Quellen gehen.
Das Buschbäumchen war schon zur Hälfte leer gepflückt. Die Früchte lagen im Korb. Da stellte ich fest, dass diese Pfirsiche noch hart waren. Sie waren ziemlich klein und von graugrüner Farbe. Offenbar waren sie unreif. Richtig, reif waren die Früchte des nächsten Baumes in der Reihe. Wie hatte ich mich so täuschen können? Mein Fehler musste möglichst vertuscht werden. Ich kippte den Korb um, die vorzeitig gepflückten Früchte kollerten den Abhang hinunter und verschwanden unter wilden Himbeeren. Dann pflücke ich die schönen roten Pfirsiche vom Nachbarbaum.
Mein Vater kam unerwartet zurück, um mich zu kontrollieren. Er lobte mich und nahm einen Pfirsich aus dem Korb: "Schöne Früchte, gut geraten. Wenn nur alles so gut würde." Er ließ den Blick über die anderen Bäume schweifen. Da trug ein Baum nur auf einer Seite Früchte, es sah doch sonderbar aus. Mein Vater sagte nichts. Wir trugen den Korb zum Haus. Ich fragte mich, ob er wirklich nichts bemerkt hatte. Oder warf er sich insgeheim vor, mir den richtigen Baum nur von fern und in Eile gezeigt zu haben?
Im Winter darauf gründeten wir eine Schülerzeitung. Ich suchte Stoff für meinen ersten Artikel und kam auf die Sache mit den Pfirsichen. Ich beschrieb es so, wie es sich abgespielt hatte, doch nicht als Ich-Erzählung. Die Geschichte war einem Jungen namens Werner passiert. Am Schluss stellte ich die Frage: Und war Werners Vater wirklich nichts aufgefallen? Oder machte er sich Vorwürfe?
Ich war ursprünglich kein verschlossenes Kind. Als die erste Nummer der Schülerzeitung verteilt war, erzählte ich es meiner Mutter. Mein Vater hörte beim Mittagessen davon und wollte das Heft sehen. Mir fiel keine Ausrede ein, ich brachte es ihm, neugierig, wie er es aufnehmen würde. Es war meine Erstveröffentlichung, und mein Vater war der erste Leser, dessen Reaktion ich kennen lernen würde.
Mein Vater las den kleinen Bericht. Unmittelbar danach las ich einander widerstreitende Gefühle von seinem Gesicht ab. Kam noch etwas? Mein Vater sagte - nichts.
Vielleicht bilden wir uns den Ablauf der Zeit wirklich nur ein. Vielleicht ist alles nur sich endlos dehnende Gegenwart. Im Grunde schreibe ich noch immer, um mir die Fragen zu beantworten, die mein Vater unterlassen hat.
10. SCHWIEGERSOHN UND SCHWIEGERVATER
Die Schwiegereltern meines Vaters lebten lange Jahre im Dachgeschoss unseres Hauses. Es gab für alle nur ein Badezimmer. Wenn mein Großvater es benutzen wollte und auf dem Weg dorthin meinem Vater begegnete, grüßten sie sich knapp und kühl. Mein Vater hörte sich muffig an, bei dem Alten klang es gemessen. Sie redeten sonst nie miteinander. Ihre Charaktere, ihre Lebensgeschichten hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Mein Großvater war Zeitungssetzer gewesen, Gewerkschaftsmitglied und jahrzehntelang auch in der KP. Er hatte eine Frau geheiratet, die von sich sagte: Ich habe von Anfang an nur SPD gewählt. Sie verwaltete die Kasse und brachte durch eisernes Sparen ein kleines Vermögen zustande, das vor allem in Grundeigentum bestand. So stiegen beide aus der proletarischen Schicht ins gut situierte Kleinbürgertum auf. Ihre Vorfahren, Bergleute und Hüttenarbeiter, waren aus verschiedenen Teilen Deutschlands zugewandert. Man wusste fast nichts von den Ahnen.
Die väterliche Familie dagegen hatte im Mannesstamm vielleicht schon seit der Völkerwanderung in unserer Gegend gelebt. Es waren überwiegend Bauern gewesen, in neuerer Zeit auch ein Lehrer darunter sowie ein Berufssoldat. Um 1900 scheint der Höhepunkt des Wohlstands erreicht worden zu sein. Man raunte später noch von einem Gut und zwei Miethäusern. Das 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen, Annexionen und Inflationen wurde zu einer langen, mühseligen Geschichte.
Mein Vater mühte sich redlich, den früheren Status wieder zu erreichen. Es gelang ihm nur teilweise. Für einen kleinen Landwirt war die Zeit nicht günstig und er auch zu schmächtig für harte Arbeit. Wenn ich die Kretschmersche Typenlehre zugrunde lege, war er der Leptosome und der Schwiegervater der Athlet. Der Alte trug gewöhnlich bequeme, weite Arbeitshosen und um sie einen Gürtel, den er nur Leibriemen nannte. Oft stand unter dem Gürtel der oberste Hosenknopf offen. Mein Vater dagegen bevorzugte engere Beinkleider und benutzte stets Hosenträger, nie einen Riemen. Sie rasierten sich auch auf unterschiedliche Weise. Mein Großvater verwendete noch das althergebrachte Rasiermesser, wogegen mein Vater sich mit dem damals neumodischen Nassrasierer schabte. Mein Vater hat niemals geraucht, dagegen der Alte unendlich viele Pfeifen und Selbstgedrehte und wurde dabei noch ein gutes Stück älter als sein ungeliebter Schwiegersohn.
Für das Wirtschaften meines Vaters hatte mein Großvater nur Spott übrig. Und die Großmutter sagte zu mir: "Lern was, du siehst, wie es deinem Vater geht."
Vater und Großvater hatten auch Gemeinsames. Beide neigten zur genauen und kritischen Beobachtung ihrer Mitmenschen, und bei beiden waren unverkennbar Ironie und Spottsucht vorhanden. Doch gerade das brachte sie einander nicht näher. Vielleicht lagen der Wahl meiner Mutter gerade diese wenigen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern zugrunde. Sie liebte ihren Vater mehr als ihre Mutter und kam ihm doch nicht wirklich nahe. Ihre Eltern konnten sich mit der Missheirat, als die sie die Verbindung betrachteten, niemals anfreunden. So ging ein allezeit spürbarer Riss durch die Familie. Wenn ich auf die Wiesen hinter dem Haus hinaufging, sah ich diese beiden Herkünfte dreidimensional vor mir: im Süden die von dichten Wäldern umgebene Stadt mit dem Eisenwerk und den Gruben und im Norden die offene bäuerliche Kulturlandschaft alten Stils.
Meine Großeltern waren nur meinetwegen zu uns gezogen. Aber ich verließ das Haus so früh wie möglich. Danach verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Generationen noch weiter. Die Kleinfamilie zerfiel endgültig, und meine Großeltern zogen kurz vor dem Tod des Alten ein letztes Mal um.
11. GOLDENES LEBENS-ABC
Adle heilig deine Würde
Bleibe stets der Tugend treu ...
Auf dem Heimweg vom Friedhof wurde sie gegrüßt, was selten vorkam. So sehr sie ihre Augen anstrengte, die verschwimmenden Züge vor ihr riefen keine Erinnerung wach. Die andere musste viel jünger als sie selbst sein, die Achtzigjährige, und war doch schon eine ältere Dame. Ob sie vom Grab ihres Mannes komme, wollte die viel jüngere ältere Dame wissen. Jetzt erkannte sie sie an der Stimme: Es war Fräulein Krüger, die Tochter des Apothekers, ledig geblieben.
Sie sprachen einige Sätze miteinander. Beim Auseinandergehen bat die Greisin das Fräulein, zu Hause die Mutter zu grüßen. Fräulein Krüger stutzte und sagte dann, ziemlich heiter, wie ihr schien: "Aber, Frau Martin, meine Mutter ist doch schon Jahre tot ..." Dann fuhr sie ernster fort: "Sie hat doch diesen Autounfall gehabt, sie ist totgefahren worden. Erinnern Sie sich nicht?" Die Greisin stand grübelnd da. Die alte Krügerin tot? Und das Fräulein so gut gelaunt?
Centnerschwer drückt oft die Bürde
Doch verzage nicht dabei ...
Ebenso unangenehm war ihr einige Wochen später eine andere Erinnerungsstörung. Auf dem Friedhof fiel ihr ein Mann mittleren Alters in ihrer Nähe auf. Sie ging einige Schritte vor und erkannte, seit langem vertraut mit den Grabstellen dieser Abteilung, vor welchem Grab er stand. Sie sprach ihn an: "Jetzt erkenne ich Sie, wo ich sehe, welches Grab Sie besuchen. Sie sind doch mit meiner Tochter in eine Schulklasse gegangen ..."
Er ließ sich ihren Namen nennen und sagte dann, sie irre sich, sie verwechsele ihn mit seiner eigenen Mutter. "Meine Mutter und Ihre Tochter sind in eine Klasse gegangen. Ich bin schon der Sohn." Er hatte wohl Recht, wie hatte sie sich so täuschen können ... Zum Glück vergaß sie den Vorfall noch vor dem Abend.
Ehrsam seien deine Taten
Forsche stets der Wahrheit nach
Gehe froh auf ihren Pfaden ...
Nur selten kam Besuch. Zweimal wöchentlich sah sie ihre Tochter bei sich, die ein warmes Essen brachte und Vorgekochtes, das sie an den Folgetagen aufwärmen konnte. Die Tochter kam mit dem Gesicht eines mürrischen Lieferanten und hatte es immer eilig. Und sie selbst wollte sich beklagen, dass sie noch schlechter sehe und höre und immer allein sei. Doch sie kam nicht dazu. Der pflichtbewusste Ton in der Stimme der Tochter veränderte sich schon. Es klang ungeduldig, gereizt. Sie hatte Besseres zu tun, als sich überflüssige Klagen anzuhören. Nach zehn Minuten war sie fort.
Leider hatte sie nur dieses Kind. Sie hatten sich nie recht verstanden, deshalb war sie zurückgekehrt in ihr eigenes Haus. Bei wem sonst konnte sie sich beklagen, bei den Nachbarn? Die waren selbst alt und krank.
Hüte dich vor jeder Schmach
In des Lebens Labyrinthen
Kommst du über Stock und Stein ...
Einmal im Vierteljahr kam der Neffe und brachte Frau und Tochter mit. Sie hatten dann den ganzen Nachmittag Zeit für sie. Die Frau des Neffen entdeckte die Spinnwebfäden, die für die Greisin unsichtbar waren. Der Neffe ließ sich den Besen geben und entfernte den Trauerflor, der sanft von der Decke herabwehte. Ob ihr Enkel immer noch ledig sei, wollte die Frau des Neffen wissen, ihr einziger Enkel, der weit fort war und den sie nur einmal im Jahr sah. Sie wusste nichts Neues von ihm. Sie wusste fast nichts von seinem Leben jetzt. Neulich war er dreißig geworden.
"Oma, er wird mit einer Frau zusammenleben", sagte die Tochter des Neffen, "das wird es sein." Sie wunderte sich. Der Gedanke war ihr nie gekommen. Früher hatte es das nicht gegeben. Sie sagten ihr, das komme jetzt oft vor, besonders in Großstädten.
Lasse nie den Gleichmut sinken
Mag's Geschick auch widrig sein ...
Der Enkel schrieb ihr viel zu selten, in vier Wochen ein kurzer Brief - und jetzt in der Pfingstwoche wartete sie schon seit Ostern auf seine Antwort. Sie wollte sich nicht länger gedulden. Sie nahm die Lupe, den dicken Filzstift und das Linienblatt und schrieb ihm, sie müsse vielleicht doch am Auge operiert werden. Er solle im Urlaub nicht nach Spanien fliegen, wie leicht könne ihm was passieren. Beckers Rudi sei da beim Baden ertrunken ... Sie wusste nicht mehr, was sie bereits geschrieben hatte. Selber lesen konnte sie es nicht. Würde er es lesen können? Die Adresse schrieb ihr eine Nachbarin auf den Umschlag. Sie schickte den Brief als Einschreiben ab.
Es dauerte noch einmal zehn Tage, bis seine Antwort kam. Aufgeregt und stolz ließ sie sich den Brief vorlesen und behielt vor aufgeregtem Stolz nichts vom Inhalt. Und schrieb sofort zurück, was sie immer schrieb: dass es ihr schlecht gehe und dass ihm was passieren könne. Dann begann sie wieder, zunehmend ungeduldig auf Antwort zu warten.
Nie enthülle andrer Schwächen
O, du leidest selbst daran ...
Diesmal versagten ihr die Beine vollkommen. Der Rettungswagen brachte sie nicht zum ersten Mal ins Krankenhaus. Doch jetzt konnte sie nicht einmal aus dem Sessel aufstehen. Die Gelenke schienen vollkommen versteift. Die Sanitäter trugen sie im Sessel auf die Straße. Der Sessel wurde mit ihr abgesetzt, um die Türen des Wagens zu öffnen. Die Köpfe von Nachbarn zeigten sich: "Geht es Ihnen so schlecht, Frau Martin?" - "Wer weiß, ob wir ins wiedersehen!" Man hob sie aus dem Polster und setzte sie auf dem des Wagens nieder. Ihre Haltung blieb königlich leidend. Es war ein bedeutender Tag für sie.
Auf der Station ging es nüchterner zu. Die Untersuchung durch zwei junge Ärzte erschien ihr flüchtig. Als sie "Neurologie konsultieren" verstand, wusste sie, sie würde das Krankenhaus bei nächster Gelegenheit verlassen. Vor Jahren hatte sie einmal einige Wochen auf der Neurologisch-Psychiatrischen Abteilung des Universitätskrankenhauses gelegen. Nie wieder dorthin! Während die Schwester mit der Tochter telefonierte und sie bat, die nötige Wäsche zu bringen, verließ die Achtzigjährige die Station. Sie huschte am Pförtner vorbei und bog eilig um die Straßenecke. Zu Fuß erreichte sie zwei Stunden später ihr Haus. Kurz nach ihr traf ihre Tochter auf dem Rückweg vom Krankenhaus mit der Wäsche dort auch wieder ein.
Pünktlich halte dein Versprechen
Quäle dich mit keinem Wahn ...
Alle übrigen Tage gingen gleichförmig dahin, einer nach dem anderen, ohne Unterschied, ohne Neues - als wäre ihr Leben schon zu Ende und ihre Gewohnheiten würden noch eine Zeitlang von einer ihr fremden Person teilnahmslos weitergeführt.
Jeden Morgen stand sie um halb acht auf, frühstückte, ging zum Arzt. Sie ließ sich die Spritze gegen den Zucker geben. Pünktlich zu Beginn der Kassenstunde betrat sie die Schalterhalle der Bank. Man legte ihr Anweisungen zur Unterschrift vor, Formulare, die sie selbst nicht mehr auszufüllen imstande war. Meistens bat sie dann noch um Beratung in ihren Vermögensangelegenheiten. Sie hatte erfahren, es gab noch andere Arten der Geldanlage als das ihr vertraute Sparbuch mit den kümmerlichen drei Prozent. Es war eine Verschreibung, wie hieß es nur ... Jetzt hatte sie es: "Schuldsparverschreibung?" - "Sparschuldverschreibung", berichtigte das Fräulein lächelnd, wie es das immer tat, und versuchte noch einmal, ihr die Sache zu erklären. Sie müsse jetzt dreiundzwanzigtausend Mark einzahlen und bekomme in sieben Jahren vierzigtausend zurück. - Ging das denn mit rechten Dingen zu? Und was bedeutete: abgezinst? Und wenn sie vorher stürbe? - Dieser Fall war an sich nicht vorgesehen, dann ende der Vertrag vorzeitig, und die Endsumme müsse neu berechnet werden. - Wie immer sagte sie nur, sie wolle es sich überlegen, und verließ die Bank mit den Auszügen. Sie legte sie daheim in die große Schublade zu den übrigen ungeprüften.
Im Supermarkt war das Verfahren einfacher, die Hilfe unmittelbarer. Sie legte Waren in den Rollwagen, und die Kassiererin nahm Scheine und Münzen aus ihrer Geldbörse. Sie bekam den Kassenbon und durfte zum Packtisch gehen.
Recht tun gelte dir zur Ehre
Sittlichkeit sei dein Gebot ...
Jeden Nachmittag ging sie auf den Friedhof. Die Begonien blühten in jenem letzten Sommer besonders reich. Befriedigt übersah sie die Doppelgrabstelle. Sie hatte selbst den dunklen Marmorstein ausgesucht und die Inschrift bestimmt: Eheleute Martin-Schreyer, nichts weiter, keine Vornamen, keine Daten. Es kam billiger so: Die Erben würden nach ihrem Tod den Bildhauer kein zweites Mal beauftragen müssen.
Oft dachte sie an ihren letzten Besuch im Krankenhaus zurück. Dass man den armen Mann mit neunundachtzig noch am Bruch zu operieren versucht hatte! Sie dachte an seine Abschiedsworte: "Ich danke dir für alles, was du mir gewesen bist." Das hatte er noch zu ihr gesagt, sie täuschte sich doch nicht?
Trockne deines Bruders Zähre
Und erleichtre seine Not ...
Auf dem Rückweg vom Friedhof bog sie oft an der Ecke ihrer Straße ab und ging zum Bahnhof. Wie lange war sie nicht mehr mit dem Zug gefahren, zwanzig Jahre, fünfundzwanzig Jahre? Sie wusste es nicht. Sie würde nie mehr die Treppe zum Bahnsteig hinaufgehen, nie mehr fortfahren oder irgendwen vom Zug abholen. Sie ging hier nur vorbei, weil sie den Umweg durch die Bahnhofstraße nehmen wollte. Der Nachmittag zu Hause war sonst endlos. Gewöhnlich ging sie schon um sechs Uhr zu Bett. Meist schlief sie dann gegen zehn Uhr ein.
Einmal fand sie unterwegs ein Taschentuch. Es lag im Rinnstein, und der, der es verloren hatte, musste einen gewaltigen Schnupfen gehabt haben. Sie ekelte sich nicht, sie bückte sich und steckte es in ihre Manteltasche. Zu Hause wusch und bügelte sie es und verleibte es ihrem Wäschebestand ein. Dabei freute sie sich, ganz wie früher.
Vorsicht sei die starke Säule
Welche trägt und stützt dein Haus ...
An einem Herbstnachmittag kam sie heim und fand das Lebens-ABC auf dem Fußboden liegen. Gerissen war das Schuhband, das die gerahmten Sinnsprüche so viele Jahre am Nagel festgehalten hatte. Sie hob den Glasrahmen auf und ertastete zwei klaffende Sprünge auf der Scheibe. Die Sprüche waren ihr zum größten Teil entfallen. Sie noch einmal durchzugehen, war nicht mehr möglich. Sie tat das ABC in eine Schublade zu anderen Dingen, die nicht mehr benötigt wurden.
Xenien der Liebe teile
Zum Geschenke allen aus.
12. KINDERTAGE - KINDERNÄCHTE
Opa schläft seit Wochen wieder in meinem kleinen Zimmer. Er sagt, die Frau hat es mit den Nerven, und überlässt ihr das große Schlafzimmer zum Garten, das mit der schönen Aussicht. Unsere Betten stehen hintereinander an der Wand. Im Dunkeln kann ich Opa nicht sehen, nur hören, wie er sich umdreht. Manchmal stöhnt er minutenlang und schüttelt und massiert sich, dann weiß ich, er hat wieder seinen Krampf im Bein. Wenn Opa nachts im Zimmer ist, ist er mir weniger vertraut als bei Tag, ein beinahe fremder Mann, von dem ich zufällig einiges weiß. Er ist sechzig Jahre älter als ich, mindestens. Ich glaube, er mag mich nicht besonders, lässt es sich aber kaum anmerken. Er hat mir die Uhr genau erklärt, er hat mir gezeigt, wie man Schnürsenkel bindet. Nur fragt er mich nie irgendwas, wie Oma es oft tut, zum Beispiel ob mir etwas gefällt oder was ich mal werden will.
Opa mag auch Papa nicht, Papa mag Opa nicht. Sie reden nur miteinander, wenn es nicht anders geht, und sprechen sich nie direkt an, weder per Du noch per Sie. Komisch, wie sie dann aneinander vorbeireden, um rasch irgendwas loszuwerden. Meine Eltern haben ein eigenes Haus, weiter draußen. Sie haben immer viel im Betrieb zu tun, von früh bis spät. Deshalb bin ich die halbe Woche bei Mamas Eltern. Mama ist hier geboren, hier oben, wo wir jetzt schlafen oder gerade wachliegen, und hier auch hat sie mich auf die Welt gebracht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Mama hat lieber mit Opa zu tun als mit Oma, das fällt mir ab und zu auf.
Ich mag es nicht, wenn Opa nachts im Zimmer ist, wenn er stöhnt oder sein Bett knarrt. Dann noch lieber im Dunkeln allein sein und sich vor diesen Gestalten fürchten. Natürlich glaube ich nicht mehr an Gespenster, dafür bin ich schon zu groß. Nur merke ich eben deutlich, wenn draußen auf dem Gang einer ist, und manchmal kommt er herein, öffnet lautlos die Tür, will sich an mich heranschleichen. Ich muss mich sehr auf diesen fremden Mann konzentrieren, in seine Richtung starren, dann kommt er nicht näher. Ich kann ihn nicht wirklich sehen, es ist zu dunkel im Zimmer. Das geht abends oft lange so, eine Stunde, zwei Stunden, bis ich doch einschlafe. Wovor fürchte ich mich denn? Angegriffen zu werden, erdrosselt, zerstückelt, was weiß ich …
Das Zimmer hier oben geht auf die schmale Straße. Genau gegenüber steht Tante Marias Haus. Sie ist Opas Schwester und kommt oft zu uns. Sie lacht gern, dabei nie laut heraus, wie Oma es tut, eher seufzt sie dabei auch ein bisschen. Wenn sie mit einem spricht, hat man das Gefühl, sie möchte einen am liebsten streicheln, tut es dann aber doch nicht. Sie ist dick und schnauft oft. Der Onkel, ihr Mann, ist gelähmt, nach einem Schlaganfall sitzt er im Rollstuhl, kommt nie aus dem Haus. Ich weiß schon, sie hat mal ein Kind gehabt, einen Sohn. Wenn sie nicht dabei ist, sagen die anderen leise, ach ja, er ist im Krieg gefallen, und reden dann von etwas anderem.
Auf unserer Seite, ein Haus weiter Richtung Bahnhof, da wohnt Tante Alma. Wir sind nur entfernt mit ihr verwandt. Auch ihr Mann ist gelähmt, er war es schon immer, sitzt ständig nur daheim. Tante Alma hat als schöne junge Frau einen gelähmten Mann geheiratet. Sie sieht ein bisschen streng aus, geht schweigend durch ihren Garten und grüßt uns von da nur, wenn es nicht anders geht. Noch ein Haus weiter wohnt Minchen, eine kleine, schmale alte Frau, mit der wir bestimmt nicht verwandt sind. Sie ist immer ganz in Schwarz. Sie redet viel mit Oma, auch wenn ich dabei bin, und hält sich geradezu an ihr fest. Sie geht es immer wieder durch: Wie sie ihren Mann damals in diese Klinik gebracht, wie sie ihn dort besucht hat, wie er gestorben ist. Und dann dasselbe mit ihrer Schwester: Krankheit, Tod – ihre Stimme wird im Verlauf der Geschichten immer dünner, dann weint sie, geht irgendwann fort, untröstlich. Wenn sie mal ausnahmsweise guter Stimmung ist, erzählt sie, wie sie das Gras in den Ritzen vorm Haus verbrennt: indem sie kochendes Wasser drüberschüttet.
Und noch etwas weiter, da steht Omas und Opas neues Haus, beide Wohnungen vermietet. Mit den Leuten unten haben wir mehr zu tun. Sie ist Kriegerwitwe. Oma sagt, die bekommt eine schöne Kriegerwitwenpension. Mit ihr lebt jetzt einer aus Ostpreußen, arbeitet in der Grube, sogar unter Tage, und nebenbei als Friseur. Er kommt auch zu uns, schneidet mir die Haare und sagt: Merk es dir, auf zwei Sachen schaut man bei einem Jungen, auf die Schuhe und auf die Frisur. Er hat eine Tochter aus dem Osten mitgebracht, sie ist schon eine junge Frau, kräftig, wird wohl bald heiraten, braucht Aussteuer, sagt meine Mutter. Einmal habe ich gehört, dass die Frau des Ostpreußen auf der Flucht hierher gestorben ist. Sonst ist das kein Thema.
Wenn ich eingeschlafen bin, habe ich oft Alpträume. In den schlimmsten ist eine dicke ältere Frau um mich herum, die ich nicht kenne und von der ich nicht weiß, was sie mit mir vorhat, und ich will vor ihr fliehen. Manchmal schreie ich dann. Einmal bin ich träumend aus meinem hohen Bett hier gefallen und habe mir dabei die Schulter verrenkt. Oma hat daraus eine große Geschichte gemacht und mich zu verschiedenen Ärzten geschleppt.
Noch mehr Nachbarn gibt es Richtung Dorfmitte. Gleich im Nachbarhaus wohnt Opas jüngerer Bruder allein mit seiner Frau. Auch ihr Junge ist im Krieg gefallen. Mit dem Bruder redet Opa ab und zu ein paar Worte, mit der Frau ist Oma schon lange verfeindet, mit ihr spricht keiner mehr von uns. Das nächste Haus gehört Opas älterem Bruder. Man redet auf der Straße miteinander, besucht sich aber nur selten. Opa macht sich bei uns zu Hause über alle dort lustig, den älteren Bruder, der mal Direktor war, seine vornehme Frau, seine zwei Töchter - eine davon nennt Oma alte Jungfer -, den Schwiegersohn – scheint auch nicht viel zu taugen, sagt Opa – und den Enkel, in meinem Alter. Der wird mal studieren, das hat der Alte ihm schon an der Wiege prophezeit, sagt Opa hämisch.
Ein Haus weiter ist das Dachgeschoss vermietet. Dort wohnt mit seiner Frau ein junger Mann, über den sich die ganze Straße aufregt: ein Faulenzer, sagen sie, arbeitet nicht, liegt den ganzen Tag nur im Bett. Manchmal sehe ich ihn trotzdem auf der Straße. Na, wenigstens ist er hübsch und er grinst gern. Er neigt schon zur Fülle. Ich muss an eines von meinen Mecki-Büchern denken: Mecki im Schlaraffenland. Ich selbst bleibe spindeldürr und Oma hat von mir gesagt: Der wird noch nicht mal zwanzig! Der Faulenzer ist mir ziemlich sympathisch.
Zwei Häuser weiter wohnt der dickste Junge der Straße, erst lang aufgeschossen und später schwammig geworden. Seine Mutter schiebt es auf die Hormone. Seine Oma hat gerade schon zum zweiten Mal versucht, sich umzubringen. Sie ist zum Fluss gerannt, ins Wasser gegangen, und als ihr Sohn sie hat herausziehen wollen, da hat sie ihn mit hinunterreißen wollen ins tiefe Wasser. Nur ist er stärker gewesen und hat sie herausgeholt, das weiß jetzt die ganze Straße.
Oma hat oft Besuch von weiter weg, unser Dorf ist ja groß. Dann geht es hoch her, stundenlang ein Reden ohne Pause. Am lautesten wird es, wenn diese andere Kriegerwitwe kommt. Wahrscheinlich sind wir auch mit ihr irgendwie verwandt, noch entfernter als mit Tante Alma. Die Witwe ist klein, zierlich, sehr lebhaft. Sie hat Großes vor, sie steckt schon mitten drin. Sie hat ihre Witwenpension abfinden lassen und baut mit dem Geld am Dorfrand ein neues Haus für sich und ihre Tochter und eine Mietpartei. Davon kann sie lang und breit erzählen. Oma kann nicht genug davon hören, aber ich langweile mich sehr.
Es ist nicht immer derselbe Mann, der mir abends im Flur hier oben auflauert. Da sind verschiedene, die mich töten wollen, und einer aus ihrer Schar kommt dann aus dem Dunkel auf mich zu. Ich glaube nicht an Gespenster und ich erzähle Oma nie von meiner Angst, nie von den Gestalten im Dunkeln. Denn ich weiß ja, wie sie reagieren würde: So, da wollen wir doch gleich mal sehen … Du kommst jetzt sofort mit mir rauf … Da ist doch keiner, gar keiner, siehst du?! Meinst du vielleicht, die verstecken sich tagsüber auf dem Dachboden? Oma reißt die Tür zur Bodentreppe auf, zieht mich an der Hand hinter sich her, dahin wo sonst keiner von uns in Jahren mal hinkommt. Und dann finden wir sie natürlich. Keine Rettung, aussichtslos.
13. DAS DORF SEINES VATERS
Es war nicht einmal das Heimatdorf, schon Bens Großvater war fortgezogen. Aber sein Vater fuhr immer noch oft hin. Er, der ständig Gehetzte, der unfrohe Pläneschmied, er unterbrach fast jede Arbeit gern, um wieder einmal in Murbach zu sein. Dort, im Kreis seiner Cousins und Cousinen und der vielen weiteren Verwandten, da schien er ein anderer zu werden, schien einmal ausatmen zu dürfen. Ihre leichtere Lebensart, ihr geselligeres Wesen verlockten ihn immer wieder zu diesem Ausflug, der einem Ausbruch ähnelte. Zu allen Jahreszeiten fuhr er mit Frau und Sohn hin – eine Stunde mit dem Auto.
Die Besucher waren den Leuten dort nicht vollkommen geheuer. Ihre gewöhnliche Neigung zur Absonderung gab es in Murbach nicht. Dort hielt man noch an der althergebrachten und sippenverhafteten Geselligkeit fest. Die Feiertage wurden in großen, dunklen, verräucherten Stuben begangen, in deren Mitte Neunzigjährige saßen und Stunde um Stunde die Besuche der vielköpfigen Nachkommenschaft empfingen. Da war ein Kommen und Gehen, ein Bewirten und Zulangen, eine unmittelbare Ansprache und offene Aussprache …
Fremd und einschüchternd wirkte diese Welt auf Ben, zum Beispiel am Neujahrsmorgen, wenn er verschlafen und frierend dort ankam. Zu Hause waren sie vor Morgengrauen abgefahren und trafen mit dem ersten Frühlicht ein. Ben wollte jetzt nichts essen, keine Neujahrswecken, keine Brezeln, er wollte bloß den lebhaften Großcousinen zuhören und die Gesichter der Großcousins betrachten. Da er sich weigerte, etwas zu verzehren, geriet er unfehlbar ins Zentrum der großfamiliären Aufmerksamkeit und fühlte sich dort doppelt unwohl - nun hätte er wirklich nichts mehr hinuntergebracht. Die Sippenältesten redeten ihm zu und auf ihn ein, versuchten ihn umzustimmen. Dann schimpften sie. Ben hatte eines der wichtigsten Gebote übertreten: an den allgemeinen Genüssen und Vergnügen teilzuhaben. Er war schlecht erzogen, gab man seinen Eltern zu verstehen. Sie lächelten unsicher und versuchten, seine Appetitlosigkeit zu bemänteln. Er war doch erst fünfeinhalb …
Jahre später aß er immer noch nichts bei ihnen. Es war zur Gewohnheit geworden, und sie taten die Sonderbarkeit nur noch mit einer kurzen Bemerkung ab. Sie ging im allgemeinen Wortschwall unter. Wie laut sie hier redeten – und sein sonst so schweigsamer Vater debattierte munter mit, als wäre er einer von ihnen. Bens Mutter strengte sich an, den Anschluss nicht ganz zu verlieren.
Ben fuhr jetzt immer lieber mit nach Murbach - Fredis wegen. Fredi war der Sohn aus dem Nachbarhaus, mit Ben gleichaltrig. Sprach es sich in der Kaiserstraße herum, dass die aus dem Norden wieder da waren, war Fredi bald zur Stelle und lotste ihn hinüber. Mit ihm konnte man herrlich spielen. Ihre Bühne war das Getränkedepot, das Fredis Vater führte. Zwei Etagen mit Kästen voller Flaschen, Biere und Limonaden, Sprudel und Säfte und im Keller die Eisblöcke, die mit den Bierfässern an die Wirtshäuser geliefert wurden. Sie waren dort allein, erzählten sich dies und das, schrieen sich an, tobten, rannten einander nach, versteckten sich, suchten sich.
Einmal hatte Ben Fredi hinter einem turmhohen Stapel aufgespürt, und Fredi rannte los und bog um eine Ecke und streifte im Durchgang zum Hof eine der Eisenstangen, mit denen die Fässer und Eisblöcke auf dem Bierwagen ergriffen und durch die Luken in die Bierkeller hinabgelassen werden. Die Stange löste sich aus ihrer Halterung, fiel auf Fredi, der niederstürzte, und bohrte sich mit der eisernen Spitze in seine Schläfe. Er schrie und blutete sofort stark. Ben ließ ihn liegen, lief vom Depot in die Wohnung und sagte Bescheid. Fredis Mutter rief die Sanitäter, schickte Ben ins Nachbarhaus zurück – aber geh über die Straße, nicht übern Hof! – und lief selbst ins Depot.
Er sah also den blutenden Fredi nicht mehr, er sah ihn überhaupt nie wieder. Er hörte zwar noch, die Risswunde sei gut verheilt. Aber bald darauf kam die Nachricht, Fredis Vater sei gestorben, viel zu früh, sagten die Leute. Ben schrieb ihm das Übliche: Wie leid ihm Fredi tue und dass er Mut fassen solle und so weiter … Er bekam nie eine Antwort. Bens Vater fuhr erst Monate später wieder mit ihm nach Murbach, und in der Zwischenzeit hatte die Witwe Haus und Betrieb verkauft und war mit Fredi weggezogen. In Ben entstand ein unklares Gefühl von Schuld und dass alles miteinander zusammenhing: ihr Toben im Depot, die blutende Wunde, der plötzliche Tod des Vaters und Fredis Schweigen.
Wieder Jahre später gab es neuen Verdruss. Die Großcousinen sprachen ihn mirnichtsdirnichts auf sein Äußeres an: „Ben, lass dich mal anschauen: Wie groß du geworden bist! Und den Mädchen könntest du schon gefallen … Aber - du hast so viele Pickel und Mitesser … Mach mal was dagegen.“ Ja, was sollte er bloß tun, wegen der Pickel …
Etwas später trat das bis dahin Unvorstellbare ein – die Fahrten nach Murbach hörten auf. Bens Vater war dabei, alt zu werden, und sein Sohn dachte nur noch ans Fortgehen.
14. DIE MARGARINE-ESSER
Das liebste Tischgespräch der Großeltern war: was auf den Tisch kam, bei ihnen selbst - und vor allem: bei den anderen. Großmutter schnob durch die Nase und dann kam ihr Standardspruch: „Weißt du, Opa, was es bei denen gibt – MARGARINE!“ Opa grinste amüsiert und sagte verächtlich: „Ach so, Margaretchen …“ Das hieß: erledigt, indiskutabel, diese Leute.
Wenn einer sich statt Butter Margarine aufs Brot schmierte, war das für die beiden der untrügliche Beweis, dass der Ärmste sich nichts leisten konnte. Nur eine Gruppe war noch übler dran als diese Margarinefresser – die, die überhaupt nichts zu beißen hatten. Auf sie gemünzt lautete die Feststellung, in hochdramatischem Ton vorgebracht: „Die? Die haben das Brot nicht über Nacht im Haus!“ Schlimmer konnte es um einen nicht stehen.
Nun waren die Not- und Hungerzeiten schon länger vorbei, auch die Fresswelle der Fünfziger abgeklungen. Die Wirtschaftswunderjahre standen in ihrem Zenit, Diäten wurden langsam ein Thema - bald wird Twiggy die Bühne betreten. Woher dann diese panische Sorge ums tägliche Brot, die anhaltende Wut auf die Margarine und die Vergötterung der Butter bei den Alten? („Daumendick“ versprach die Großmutter sie dem Enkel aufs Brot zu streichen – doch er war ein schlechter Esser.)
Tante Adolphine, eine von Großmutters Schwestern, gab ihm eines Tages einen Tipp. „Weißt du“, sagte sie, „deine Großeltern behaupten immer, andere könnten sich nichts zu essen leisten, nur bei ihnen soll’s was Gutes geben … Das musst du nicht glauben. Ein bisschen viel Propaganda, meine ich. Deine Oma will sparen und das neue Haus schnell abbezahlen. Und deinem Opa macht sie es mit dem Gerede schmackhaft … Aber sag’s ihnen bloß nicht.“
Ihre Bemerkung – gepriesen sei sie dafür - führte für den Jungen zur ersten Einübung in Kritik und in selbständiges Denken. Er hörte nun genauer hin und erfasste bald Form und Inhalt der abendlichen Responsorien als Ganzes, ihre Struktur sozusagen. Sie liefen stets etwa so ab, wenn er die Küche betrat:
GROSSMUTTER: Ah, du kommst grade recht. Willst du mit uns essen? Haben dir deine Eltern nichts gegeben? Aber hier ist der Tisch immer gedeckt.“
ENKEL (schweigt, wohl wissend, dass eine Antwort nicht erwartet wird)
GROSSVATER: Frau, jetzt lass uns aber anfangen. Ist noch von der Blutwurst da? Ist das alles an Brot?
GROSSMUTTER: Nein, da unten liegt noch ein Dreipfünder. Als ob uns das Brot je ausgegangen wär! Das wär ja furchtbar – das Brot nicht über Nacht im Haus haben. Aber das kommt bei Leuten vor, von denen es keiner glaubt. Schicke Kleider und neue Mäntel und immer noch ein Hütchen …
GROSSVATER: Ja, außen hui – aber das Brot nicht über Nacht im Haus …
GROSSMUTTER (bringt von der Veranda einen kleinen gusseisernen Topf herein): Und dann müssen sie jetzt auch einen - Kühlschrank haben. Aber es ist nichts drin bei ihnen! Das hier ist unser Kühlschrank. Mit Butter und mit Wurst.
GROSSVATER: Kühlschrank? Alles nur Geschäftemacherei! Ist die Blutwurst noch in Ordnung? (Er riecht an ihr.)
GROSSMUTTER: Kann man sie noch essen? Geht wohl noch, hab ich erst vorgestern geholt. Bis zum Oberen Markt bin ich gelaufen, nicht mit der Straßenbahn, alles zu Fuß. Beim Schmidt war sie wieder billiger. Warum soll ich denen hier im Dorf die Wurst teuer bezahlen? Da lauf ich doch lieber bis zum Pilatus …
ENKEL (schweigt weiter. Ihm fällt auf, dass sie hier in Widerspruch zu ihrer Lieblingsmaxime sonst gerät: Der Preisunterschied liegt immer in der Ware, sagt sie, wenn sie sich in einem Geschäft das Ansehen einer potenten und kundigen Käuferin geben will – aber er hütet sich, die liturgische Handlung durch blasphemische Äußerungen zu stören. Man ist inzwischen zu Tisch gegangen.)
GROSSVATER (schneidet Scheiben vom Brotlaib für alle ab, jeder bestreicht die seine mit Butter und belegt sie mit der preiswerten Blutwurst): Das schmeckt wirklich gut.
GROSSMUTTER: Ja, beim Essen darf man nicht sparen.
GROSSVATER: Aber das machen die meisten, beim Essen sparen.
GROSSMUTTER: Wann gibt’s da schon mal Wurst?
GROSSVATER: Oder Butter?
GROSSMUTTER: Margarine!!!
GROSSVATER: Mit Fenner Harz drauf!
GROSSMUTTER: Und Fleisch …
GROSSVATER: … kennen die gar nicht. Das ist doch so wichtig. Sonntags ein Stück Fleisch, das gibt Kraft.
GROSSMUTTER: Fleisch, das ist für die meisten Leute ein Fremdwort.
GROSSVATER: Bub, sag, gibt’s bei euch droben so oft Wurst wie hier? Und wann kommt bei euch mal Fleisch auf den Tisch?
ENKEL (weiß, dass jetzt eine Antwort erwartet wird und welche. Aber zu Hause gibt es jeden Tag Wurst und nicht allezeit dieselbe billige Blutwurst. Und sie haben daheim nicht nur sonntags ihr Huhn im Topf, es ist ihm schon über. Also antwortet er zögernd und ungenau, in der Hoffnung, es allen recht zu machen): Nei – ein.
(Und das war nun seine erste Einübung in Unaufrichtigkeit - und auch in Scham darüber.)
15. LAUTER PATRIARCHEN?
Manuel Puigs Roman „Der Kuss der Spinnenfrau“ von 1976 enthält einige strukturelle Besonderheiten. Der Text, der die Geschichte zweier Sträflinge in einem argentinischen Gefängnis wiedergibt, besteht fast ausschließlich aus Dialogen. In ihnen nimmt die Nacherzählung von älteren Filmen den größten Raum ein. Darüber hinaus weist der Text zahlreiche Fußnoten auf. Hier referiert Puig die zeitgenössische Diskussion von Thesen Sigmund Freuds zum Komplex Bisexualität, polymorph-perverse Grundstruktur usw. Es wird deutlich, wie im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts Neo-Marxismus und Psychoanalyse sich in einem zentralen Begriff trafen – dem des Patriarchats. Stellvertretend sei hier nur der Name Herbert Marcuse genannt.
Als Leser von heute, der zur Entstehungszeit des Romans selbst jung war, frage ich mich, ob das von den damaligen Theoretikern beschriebene gesellschaftliche Modell die realen Verhältnisse tatsächlich abgebildet hat – oder ob sie sich aus einer Teilrealität einen Kampfbegriff mit Anspruch auf Totalität erst konstruiert haben. Wie war das seinerzeit in unserer weit verzweigten Verwandtschaft, die sowohl städtisch als auch bäuerlich, sowohl proletarisch als auch bürgerlich-vermögend war? Gab es bei uns den klassischen Fall der patriarchalisch strukturierten Familie mit dem Mann als alleinigem Ernährer, der über seine Familie, bestehend aus Nur-Hausfrau und Kindern, mehr oder weniger unumschränkt herrschte? Und wenn es ihn gab: Wie häufig war er anzutreffen?
Ich nehme mir zunächst die Familie meiner Großmutter mütterlicherseits vor, sie bietet das reichste Anschauungsmaterial. Die Großmutter war eines von zehn Kindern eines Hüttenarbeiters, der eine Bauerntochter geheiratet hatte. War der Urgroßvater ein Patriarch? Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt, doch nach den Erzählungen seiner Kinder dürfte er zu Hause vor allem eins gewesen sein: erschöpft von der Arbeit am Hochofen. Mir scheint, er und die Urgroßmutter waren beide darauf bedacht, die Familie gemeinsam materiell durchzubringen und sie zum Gehorsam gegenüber Kirche und Staat zu erziehen. Zwar versuchte er, die Autorität des Familienvaters zur Geltung zu bringen – er kontrollierte regelmäßig das von seiner Hausfrau zu führende Haushaltsbuch, doch wenn er dann seufzte: Maria, ich meine, du hast diesen Monat wieder viel Geld für Seife ausgegeben … - dann war das für die zuhörenden Kinder wie eine Offenbarung: Der Patriarch konnte ausgetrickst werden.
Meine Großmutter war eine von sieben Schwestern. An sechs von ihnen habe ich deutliche Erinnerungen. Alle waren verheiratet, nur eine blieb kinderlos. Zwei waren während ihrer Ehe ausschließlich Hausfrauen, eine war Büroangestellte, drei machten sich als Kauffrauen selbständig (zwei Marktfrauen, eine Kneipenwirtin). Allen sechs Frauen, geboren zwischen 1895 und 1914, war eines gemeinsam: Sie dominierten ihre Männer. So verschieden diese auch sonst waren, ihre Frauen waren aktiver und hatten bei Auseinandersetzungen das entscheidende Wort, gerade in ökonomischen Fragen. Besonders deutlich war das bei meiner Großmutter, einer der beiden Nur-Hausfrauen. Sie verwaltete alle Geldeinkünfte und legte die Ersparnisse nach ihren Vorstellungen an. Dabei war mein Großvater sonst geistig rege, ein gebildeter Autodidakt, der viel las und stark an Politik interessiert war. Auch meine Großmutter führte penibel ein Haushaltsbuch, doch nur für sich, zur Selbstkontrolle.
Über die drei Brüder meiner Großmutter weiß ich wenig - einer war Gewerkschaftsfunktionär, ein anderer Frühinvalide und Psychopath -, dafür mehr über die beiden des Großvaters. Sein jüngerer Bruder, ein Bergmann, erschien mir ruhig, in sich gekehrt und insgesamt eher passiv zu sein, wohingegen seine Frau von aufbrausendem Temperament war. Sollte einer von beiden in der Ehe die Hosen angehabt haben, kann nur sie es gewesen sein. Anders sah es beim ältesten der drei Brüder aus, einem Kaufmann, der es bis zum Direktor einer Konsumgenossenschaft brachte. Hier ging es en famille tatsächlich wie im Lehrbuch zu, alles gediegen bürgerlich und gesittet. Er verdiente gut, und sie, die züchtige Hausfrau, erzog ihm daheim zwei höhere Töchter.
Mein Großvater väterlicherseits starb lange vor meiner Geburt. Er war erst Berufssoldat, (Feldwebel, glaube ich), später Landwirt. Er dürfte schon von Berufs wegen nicht gerade zur Unterordnung geneigt haben. Allerdings war seine Gattin, für mich eine Oma zweiter Klasse, durchaus nicht die Person, die sich gern anlehnte oder zurücknahm. Ich denke, sie wird ihre Interessen gewahrt haben, innerhalb eines vorgegeben Rahmens. Man darf nie vergessen: Frauen wie sie arbeiteten im Betrieb mit, trugen unmittelbar zum Auskommen bei, und schon deshalb hatten sie mehr Einfluss als eine nur auf Küche und Kinder beschränkte Hausfrau.
Auch meine Mutter leistete später auf dem Hof körperlich anstrengende Arbeit, die sie weitgehend ausfüllte. Mein Vater organisierte die gemeinsame Arbeit, bestimmte die Zeiteinteilung. Er allein verwaltete Eingang und Ausgang der Gelder. Meine Mutter scheint nur in häuslichen, familiären Angelegenheiten ein Vetorecht gehabt zu haben. Insgesamt war die Dominanz des Mannes unübersehbar. War mein Vater also ein Patriarch? Ja, aber zugleich ein von Natur sanfter und nachgiebiger, ein sensibler, eher schüchterner Mann.
Welches Gesamtbild ergibt sich? Dieses: Der autoritäre Musterpatriarch war unter meinen Vorfahren die absolute Ausnahme. Und: Je weniger bürgerlich die Verhältnisse waren und je ärmlicher, desto weniger patriarchalisch. Schließlich noch zwei Tendenzen: Im städtisch-industrialisierten Milieu stoße ich kaum auf den Patriarchen, häufiger im agrarischen oder kaufmännischen Sektor. Und die letzte große Blütezeit des Patriarchats scheint eher die Zeit unmittelbar nach der Mitte des 20. Jahrhunderts als dessen erste Hälfte gewesen zu sein.
So differenziert war die Debatte damals um 1970 nicht. Man benötigte seinerzeit ein starkes, einfaches Bild, um sich daran abzuarbeiten und um zu erreichen, was man zu Recht für fortschrittlich hielt. Auf diese Weise ist viel gewonnen worden – rechtliche Gleichstellung und mehr Autonomie, nicht nur für Frauen. Drohen Rückschritte? Ich weiß es nicht. Kein Zustand ist von Dauer. Ob aber das Festhalten an einem alten einseitigen Erklärungsmuster zur Verteidigung erreichter Fortschritte ausreicht – ich bezweifle es.
16. VERSTEINERTES HOLZ
Mama legte nach dem Umzug Wert auf die Feststellung, dass wir keineswegs in einer Baracke lebten. Davon könne nicht die Rede sein, sagte sie, denn unser Holzhaus besitze einen steinernen Sockel, wie jedes richtige Haus. Sie schärfte so mein bis dahin wenig entwickeltes Unterscheidungsvermögen. Noch teilten wir jenes Holz-auf-Stein-Haus mit einer kinderreichen Familie. Sie war einkommensschwach und ihre Mitglieder schienen lebhafter als wir zu sein. Die Kommune, die uns den Steinbruch verkauft hatte, plante erst Sozialwohnungen für Bürger wie sie.
Der Abbau im Steinbruch war einige Jahre vorher eingestellt worden. Wir holten all unser Trink- und Brauchwasser anfangs nur aus dem Brunnen vor seinem Halbrund. In den sich begrünenden Wänden des Steinbruchs herumzuklettern, war mir verboten. Die Kinder jener Familie stiegen dort auf und ab, bis eines von ihnen, ein Mädchen, elf oder zwölf Jahre alt, in den Tod stürzte. Ihr Vater ist mir als Katzentöter in Erinnerung. Er warf die neugeborenen, kaum mehr als kleinfingerlangen Kätzchen zu diesem Zweck eines nach dem anderen gegen die glatteste der Felswände.
Hoch über jener Wand hatte das scharfe Auge des Jagdpächters in einer horizontalen Bruchspalte des gelblichen Sandsteins einen Fuchsbau entdeckt. Eines Tages genügte dem Pächter ein Schuss vor unseren Augen und er holte die Füchsin herunter. Wollte meine Mutter vielleicht den Pelz? Sie lehnte höflich dankend ab, sie besitze schon einen, trage ihn nur selten. Allein zu Hause öffnete ich Mamas Kleiderschrank, besah und befühlte ihren Feiertagsstaat: Kriegs- und Nachkriegsgarderobe, stark nach Mottenkugeln riechend. Da war auch der Fuchskragen mit dem präparierten Kopf, unheimlich die aufgesetzten Glasaugen. Ich warf die Schranktür rasch zu.
Als jene Leute ausgezogen waren, als die kommunale Wasserleitung zu uns gelegt und der Brunnen bald darauf versiegt war und als wir die kleine Steinhütte neben ihm, früher Schutzraum der Steinbrucharbeiter, zur Aufzucht von Küken nutzten – ging eines Nachts ein Felssturz nieder und streifte die Hütte. Ihre Seitenwand war beschädigt, die Küken hatten überlebt. Wir besahen die Steintrümmer, die zermahlenen Mauersteine, die großen und kleinen Felsbrocken. Mama wies mich auf eine gut erhaltene vertikale Struktur in all dem Chaos hin: „Das war mal ein versteinerter Baum.“ Auch er war fragmentiert. Nach und nach fanden seine Stücke ihre Liebhaber, wurden weggetragen. Mama bewahrte einige Teile jahrzehntelang auf und schenkte mir viel später zwei davon, als ich wieder einmal zu Besuch kam, einmal im Jahr in ihr neues, größeres Haus dort im Steinbruch.
Ich nehme die zwei Stücke jetzt nacheinander in die Hand. Sie sind handtellergroß und immer wieder mit mir umgezogen, kreuz und quer durch die Norddeutsche Tiefebene, weit von ihrem wie von meinem Ursprungsort. Die Steine sind fast das einzige Materielle, das ich von dort noch besitze (- versteinert am Ende auch das Verhältnis zu Mama). Ich lege die Steine zurück auf die Glasplatte der Etagere. Ich blicke auf die Pflanzen, die ich rundum ziehe. Sie gedeihen gut, ich darf zufrieden sein.
17. ANEKDOTE ZUR SENKUNG DER WEHRMORAL
Großvater, Jahrgang 1889, erzählte es mir manchmal, Jahrzehnte später, mir, dem Enkel:
„Ja, im Sommer vierzehn war ich in Dresden. Gute Arbeit in der Setzerei, die Leute umgänglich und herrlich die Stadt. Da wär ich gern geblieben … Und dann plötzlich Krieg. Wir Arbeiter demonstrierten vor dem Rathaus, ein paar Hundert, ich war auch dabei. Wir wollten nicht ins Feld. Dann zog Polizei auf, drohte, in die Menge zu schießen. Ja, und so gingen wir eben auseinander … Ich wurde schon bald eingezogen – vier Jahre in Frankreich, vier Jahre verloren. Ich habe es überlebt, zwei Brüder nicht …“
18. EIN WENIG ZEITGESCHICHTE TREIBEN
Sommer 1992. Erich Honecker ist von Russland ausgeliefert worden und sitzt als schwerkranker Untersuchungshäftling in Moabit ein. Aufgrund seines Krebsleidens ist bereits damit zu rechnen, dass er ohne Prozess freikommt. Wohin dann mit ihm? Mama schreibt mir dazu im nächsten Brief: „Von Honecker wollen die Leute hier nichts wissen, sind froh, wenn er nicht kommt.“ Zugleich entschuldigt sie ihn, zeigt Verständnis, indem sie fortfährt: „Er ist ein Opfer seiner Erziehung und Veranlagung. Sein Vater hatte immer nur die Wörter Bolschewismus und Kommunismus im Mund.“ Meine Mutter kann sich auf unmittelbare Zeitzeugenschaft berufen – als sie Schulkind war, verkehrte der Vater Honecker gelegentlich in ihrem Elternhaus. Er kam, so erfahre ich von ihr, um dort „Schwarzsender“ zu hören. Tatsächlich ist mir von den Großeltern gesagt worden, sie hätten im Dritten Reich oft das deutschsprachige Programm der BBC eingeschaltet. Für mich stellt sich heute die Frage: Konnte Wilhelm Honecker das nicht in seinem eigenen Haus tun? Sie waren zwar Parteigenossen, doch keineswegs Nachbarn, sein Haus und das der Großeltern liegen mehr als einen Kilometer voneinander entfernt.
Mamas Brief enthält noch mehr, das mich schon bei der Lektüre 1992 frappiert hat: „Meine Eltern haben vor 1935 im Keller eine heimliche Druckerei von der KPD geduldet und Opa hatte Glück, daß er nicht eingesperrt wurde, er wollte ja auch emigrieren. Ein Buchdrucker aus Berlin hat bei uns im Keller gearbeitet und manchmal mit seiner Frau auch bei uns gewohnt. Es waren sehr nette Leute, habe sie noch in guter Erinnerung.“ Ich kann Mama nicht mehr fragen, weshalb aus der Emigration damals nichts wurde. Vielleicht wollte Oma nicht mitkommen. Mein kommunistischer Opa, der bis dahin als Setzer gearbeitet und gut verdient hatte – auch während der Weltwirtschaftskrise -, wurde nach der Rückgliederung des Saargebiets aus dem Zeitungsverlag geworfen und bekam dabei noch zu hören: Kannst froh sein, wenn du nicht in einem Lager verschwindest …
Opa blieb arbeitslos bis zum Kriegsende, ohne Unterstützung zu beziehen. Am Wiederaufbau der Partei ab 1945 beteiligte er sich nicht. Er blieb politisch interessiert, war aber nicht einmal mehr Sympathisant. Regelmäßig kam dennoch per Post die Zeitschrift „Die Sowjetunion heute“. Er las sie kaum einmal, machte knappe, abschätzige Bemerkungen über sie und die Herausgeber wie über eine abgedankte Jugendliebe. Oft kam er von einem Spaziergang heim und sagte zu Oma: „Weißt du, wer mir über den Weg gelaufen ist – der Honecker …!“ Er sprach es wie bei uns üblich mit langem, geschlossenem O aus, als ob es von Hohn sich herleite. Dann zitierte er amüsiert neue Aussprüche des Alten, den er längst nicht mehr ernst nahm. Opa war also Revisionist geworden. Oder anders ausgedrückt: stark ernüchtert.
19. DAS KINDERHAUS
Arnos Oma und Opa bauten noch einmal ein Haus, obwohl sie schon so alt waren. Wie viel gab es auf der Baustelle zu sehen! Man darf aber nicht fortgeschickt werden, nur weil man erst sechs ist. Man muss alles aus der Nähe betrachten und untersuchen dürfen. So viel liegt da zwischen der Baugrube und dem Straßenrand herum und wartet darauf, verbaut zu werden.
Es gibt zum Beispiel Haufen von rotem und von weißem Sand. Nur in der Farbe unterscheidet er sich. Die Kinder drangen mit ihren Händen ins Innere dieser Sandberge vor, die höher waren als sie selbst. Jedenfalls waren sie es, bevor sie damit anfingen. Es war sehr spannend, im Sand kleine Höhlen zu bauen. Die Kinder trieben dazu Stollen hinein und warteten ab, ob die ausgehöhlten Berge vielleicht einstürzten. Das kam manchmal vor. Bei ihrer Arbeit entdeckten sie Verschiedenes. An warmen Tagen hatte die äußere Sandschicht eine hohe Temperatur. Wo die Sonne daraufschien, glühte der Sand beinahe. Er war trocken und rieselte fein wie Zucker. Drangen sie dann mit ihren Fäusten ins Innere vor, nahm seine Temperatur schnell ab. Der Sand dort klebte feucht an ihren Händen. Mit ihm konnten sie die Decken der von ihnen schon ausgehöhlten Stellen festklopfen.
Um sich zu entspannen, sprangen die kleinen Bauarbeiter auf die Gipfel und Hochflächen der von ihnen noch nicht eingeebneten Sandberge und rutschten auf ihren Hosenböden zu Tal. Noch mehr Spaß machte es, wenn man sich im Rutschen auf die Seite warf und von den nachfolgenden Sandmassen ein bisschen verschütten ließ. Wie das prickelte, wenn der Arm oder ein Bein vom Sand niedergedrückt wurde. Aber wenn man wollte, kam man immer schnell wieder frei.
Doch bald schimpften die Maurer. Es war ihnen zu viel Arbeit, eine Schubkarre mit Sand zu füllen, wenn das Material nun in kleine Haufen verteilt war. Nach einem Regenguss verfolgten die Kinder den Weg des weggeschwemmten Sandes. Er führte in Schlieren zum Rinnstein, Sandkorn für Sandkorn. Wieder waren die Kinder schuld und der Großvater wurde gerufen. Sie durften nicht mehr mit dem Sand spielen.
Da kam ihnen etwas anderes in den Sinn. Sie mussten nur warten, bis die Maurer Feierabend hatten. Danach machten sich die Kinder rasch ans Werk und bauten aus Hohlblocksteinen ihr eigenes Haus. Die Steine waren zum Glück nicht so schwer, wie sie aussahen. Sie schleppten sie zu zweit zu ihrer eigenen Baustelle. Sie lag hinter dem Bauwagen und blieb daher von Nachbarn und Passanten lange unbemerkt. Auf Mörtel mussten sie verzichten, ihr Haus sollte ja noch vor dem Abendessen fertig werden. Es gab nur ein Zimmer und es hatte kein Fenster, aber vier Ecken, wie es sich gehört. Das Dach machte ihnen etwas Kopfzerbrechen. Schließlich fanden sie ein großes Stück Dachpappe, das sie mit viel Mühe über die aufgeschichteten Wände warfen. Dabei wackelten die Mauern, beinahe wäre alles zusammengefallen. Dann gingen sie hinein. Innen konnte man aufrecht stehen. Sie waren alle sehr stolz auf ihr Werk. Sie hatten etwas geschafft und fühlten sich in ihrem eigenen Haus jetzt wohl und sicher.
Leider war es inzwischen Zeit für das Abendbrot geworden. Sie verabredeten, später alle noch einmal zu ihrem neuen Haus zu kommen. Arno ging als Erster weg. Kaum saß er mit den Großeltern am Tisch, kam ein Nachbar angerannt und berichtete von ihren neuesten Taten. Der Steinhaufen könne jeden Augenblick in sich zusammenstürzen, sagte er - und die restlichen Kinder unter sich begraben! Großvater unterbrach seine Mahlzeit und rannte zur Kinderbaustelle, um die Steinblöcke abzutragen. Arno musste an diesem Abend im Haus bleiben und bekam eine Strafpredigt gehalten. Immer wieder hieß es da: gefährlich und unvernünftig. Er begriff es nicht ganz, sie hatten sich doch so geborgen gefühlt, da drinnen in ihrem Haus. Für morgen musste er sich etwas Neues ausdenken.
20. FLEISCHWURST HOLEN FÜR FERDI
Oma und Opa ließen sich damals ein Haus bauen und Arno kam oft zur Baustelle. Da stand er und schaute zu Ferdi hinüber, wie er Mörtel herstellte, noch ohne Mischtrommel. Er war der Lehrling und schaffte Sand, Zement und Wasser herbei. Er rührte alles in einem Bottich zusammen und füllte das Gemisch in Blecheimer und reichte sie den Gesellen auf das Gerüst hinauf. Die Gesellen blieben Arno fremd, er sah sie kaum an, sie waren so viel älter als er. Ferdi fühlte er sich näher, er hatte gerade erst mit der Maurerlehre angefangen, so wie Arno vor kurzem mit der Grundschule. Arno ging ungern hin und die Schulzeit stellte er sich unendlich vor. Ferdi auf der Baustelle – das war der Beweis, dass man diese Zeit doch hinter sich bringen konnte.
Ferdi war immer guter Laune. Er trat so wendig auf, er hantierte mit viel Geschick. Wenn Arno ihn ansah, kam er sich selbst ungelenk vor. Gegen seinen Willen bewunderte er ihn. Der Maurerlehrling war noch sehr schmal. Arno wollte Oma bitten, ihm Hosen zu kaufen, wie Ferdi sie trug. Er kannte das Wort Jeans noch nicht.
Einmal unterbrach Ferdi seine Arbeit und legte das Kinn auf den Schaufelstiel. Die braune Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel, wippte noch hin und her. Er zog die Augenbrauen zusammen und sah Arno scharf an. Nur an den Mundwinkeln, die lustig zuckten, war zu bemerken, dass er noch immer guter Laune war. „Hast du schon wieder Ferien?“ fragte er. „Langweilst du dich?“ Er nahm den Kopf vom Schaufelstiel und die Brauen gingen auseinander. Dann wollte er etwas von Arno: „Du, sei ein lieber Kerl und hol uns dafür beim Metzger Fleischwurst.“ Er zählte ihm ein paar Münzen in die Hand und Arno ging los. Was für Ferdi lästige Pflicht war, Arno kam es wie eine ehrenvolle Aufgabe vor. Würde er ihr gewachsen sein? Wahrscheinlich würde er irgendetwas falsch machen und nicht mehr herangezogen werden …
Die Metzgerei lag ein paar Hundert Meter weiter. Die Metzgerfrau wog Fleisch und Wurst stets mit Ernst und Würde ab. Arno fürchtete sie ein wenig. Diesmal blickte sie besonders streng. Arno sagte rasch: „Für das Geld Fleischwurst“ und legte die Münzen auf die Theke. Alles schien gutzugehen, schon lief er mit der Wurst im dicken Packpapier zurück. Er würde gelobt werden. Beinahe wäre er vom Bordstein abgerutscht und hingeschlagen.
Ferdi öffnete das Paketchen und sagte gleich ärgerlich: „Was ist denn das?! Du hast dir die billige andrehen lassen, die nehmen wir doch sonst nicht. Hast du denn nicht gesagt, dass es für uns ist? Geh und bring’s zurück. Und mach schnell, der Polier hat geschimpft, weil’s schon nach eins ist.“ Es kam noch schlimmer für Arno. Die Metzgerfrau weigerte sich, die Ware zurückzunehmen, und er musste Ferdi bitten, diesmal mit der billigen Sorte vorliebzunehmen. Die Maurer, die schon Pause hatten, brummten ein wenig, lachten ärgerlich und begannen dann mit dem Imbiss.
Trotzdem wollten sie anderntags, dass er wieder Wurst holen ging. Doch seine Oma hatte es ihm inzwischen verboten. Jetzt ärgerte es ihn, ihr davon erzählt zu haben. Die preiswerte Wurst war gerade die, die sie daheim selbst immer aßen. Auch Ferdi gegenüber war er ein wenig verstimmt. Er hatte ihm einen zu schwierigen Auftrag gegeben – und wie gerne hätte er sich doch bewährt und ihm alles recht gemacht … Als er Arno nicht überreden konnte, lachte Ferdi und ging wieder selbst.
21. DIAGNOSTISCHER SCHARFBLICK
Das ist eine kleine Anekdote, der Überlieferung wert.
Meine Mutter erinnert sich: Als ich Schulkind war, brachte mich deine Oma mal zum Augenarzt. Sie putzte mich vorher gehörig heraus und zog mir mein schönstes Stück an, den neuen Sonntagsmantel. Ich durfte ihn nicht ablegen, sie führte mich voller Stolz so ins Sprechzimmer und zupfte dann noch ausführlich an ihm herum. Und der Arzt sagte als Erstes: „Wem fehlt denn was, dem Kind oder dem Mantel?“ Ich kann dir sagen, Oma war vielleicht wütend …
... auf den Augenarzt Karl Schneider (geb. 1869), der lange in Neunkirchen / Saar praktizierte. Schlagfertiger Witz fehlte auch in seiner ärztlichen Korrespondenz nicht. Das „Heil Hitler“ parierte er einmal so: „Ich bin zwar kein Nervenarzt und kann deshalb euren Hitler nicht ‚heilen‘. Ich bin Augenarzt und steche den Star.“
Der Pazifist Karl Schneider starb 1940 im KZ Dachau. Gedenken wir seiner.
22. FRAGMENT 1
Am Anfang war die Frage: Werde ich meinem Vater, jetzt da das Alter auch bei mir einsetzt, ähnlich? Ich kann unser Äußeres nicht unmittelbar vergleichen, er ist mehr als zehn Jahre tot und hat sich in seiner letzten Zeit nicht mehr fotografieren lassen. Mir fällt auf, dass schon hier die Übereinstimmung zwischen uns beginnt. Ich habe als junger Mann viel fotografiert, genau wie er, und bin selbst oft aufgenommen worden. Jenseits der vierzig hat beides aufgehört, wie so vieles andere …
Nein, dem Alten noch ähnlich zu werden, und sei es auch nur äußerlich, würde mir nicht passen. Ich müsste mich dann fragen, ob er am Ende Recht behalten und sozusagen posthum die Oberhand über mich gewonnen hat, ausgerechnet er, mein Vater: zwanzig Jahre lang kaum mehr als eine atmende Totenmaske auf einem Küchensofa. Anfangs gab er sich noch amüsiert, wenn ich nach Hause kam und von dem zu berichten versuchte, was draußen in der Welt geschah. Er nahm mich demonstrativ nicht ernst. Die Achtundsechziger, Reformen, sexuelle Revolution, davon brauchte ich gar nicht erst anzufangen. Aber auch mein Privatleben, soweit ich es offenzulegen bereit war: Reisen, Wohnungswechsel, Berufsarbeit - all das langweilte ihn offenkundig. Davon konnte ich meiner Mutter erzählen, er schwieg dazu immer nur, lächelte höchstens mal skeptisch.
Allerdings waren wir beide – schon wieder: wir beide – nicht immer vollkommen aufrichtig. Erzählte ich von Freunden, mit denen ich hier und da verreiste, konnte er lebendig wie selten werden und mit Schärfe fragen: ein Kollege? Ich sagte nein und wechselte das Thema. Er fragte nie nach den Büchern, die ich gerade las – ich las viel, wenn ich bei ihnen war, aus Langeweile -, doch ich überraschte ihn mehrmals, wie er den Buchtitel studierte, wenn ich mal aus dem Zimmer gegangen war und plötzlich zurückkam. Und die Zettel, die ich beim Lesen gern mit Notizen bedeckte und beim Hinausgehen in den Band legte, fand er unwiderstehlich. Wie er sich dann abmühte, mein Gekritzel zu entziffern, meist vergeblich, nehme ich an - auch dabei habe ich ihn ertappt und dazu immer geschwiegen. Am Schluss verschlief er meine Besuchstage nur noch oder drehte sich zur Wand.
Ich weiß ja, mit meinem Vater komme ich nicht mehr ins Reine. Nähe oft gespürt, aber nie ertragen, das war unsere Unterart von Familienhölle. Aber ich will mir von seiner nur noch schemenhaften Erscheinung nichts kaputt machen lassen, nicht das bisschen Stolz auf das bisschen Autonomie. Macht kaputt, was … Ach, vergessen wir’s!
Ich zog eine Kommodenschublade auf und nahm ein altes Fotoalbum heraus. Da war plötzlich das Bedürfnis nach einem Verbündeten - vielleicht mein eigenes jüngeres Selbst?
Manche Fotos von mir finde ich heute peinlich. Fürs Büro wie mit Absicht schlecht angezogen, auf Reisen gekünstelt lächelnd – warum habe ich sie eingeklebt, ich hätte sie besser vernichten sollen. Auf anderen dagegen komme ich mir sehr reizvoll vor, zumal in meiner damals üblichen Abendausgehgarderobe. Mein kleines Schwarzes, so nannte ich das bei mir und vor anderen. Das war nicht sehr originell, aber ich genoss es, dabei verrucht zu lächeln. Ich hätte, wenn ich ausging, gern meine eigene Bekanntschaft gemacht. Einige Jahre lang, das kann ich ganz objektiv behaupten, war ich ein recht hübscher Kerl. Und mehr als das: An mir ist auf diesen Bildern unbestreitbar etwas Seelenvolles. Blicke ich jetzt in den Spiegel, entdecke ich davon so gut wie nichts mehr. Wann und auf welche Weise ist es mir abhanden gekommen? Das zu untersuchen, reizt mich zunächst noch nicht. Ich stelle lieber fest, wie sehr meine Augen damals glänzten. Ich sehe meistens verliebt aus, und ich war es auch. Ich war verliebt in die Welt. Nun ist die Welt an sich eine mehr oder weniger abstrakte Angelegenheit. Konkret gliedert sie sich oder besser: zerfällt sie in Trillionen und Abertrillionen von Einzelerscheinungen. Die Aufgabe ist einem klar gestellt: Die eigene Liebesfähigkeit an einem dafür geeigneten Objekt zu erweisen. Damit beginnen die Schwierigkeiten, die einem die besten Jahre vergällen können.
Die kleinen Bilder aus dem Fotoautomaten sind die gelungensten. Das kam mir zunächst merkwürdig vor, dann begriff ich: In der Enge der Kabine waren Gestik und sich in Positur bringen so gut wie ausgeschlossen. (Ich war immer ein schlechter Tänzer.) Hier musste ich mit den Augen sprechen. Von diesen Aufnahmen konnte ich mich nicht trennen, auch wenn ein Ausweis abgelaufen war. Eine von ihnen, ich glaube, für die U-Bahn damals, zog meine Aufmerksamkeit jetzt auf sich. Das mit Fotoecken eingeklebte Bild schien sich zu wölben. Ich fasste unter das kleine Rechteck – und machte einen überraschenden, ja wunderbaren Fund.
Ein kleiner Zettel, zusammengefaltet. Ich falte ihn auseinander. Das Papier mürbe, vergilbt. Muss schon sehr alt sein. Ich erkenne eine blaue, noch immer akkurate Kugelschreiberschrift. Vor- und Familienname - eine Adresse in Amsterdam mit Telefonnummer? Der Name sagt mir zunächst nichts: Johan Ortelius… Dann jubiliere ich: Er, Johan?!
Ich hatte zwar seinen Namen schon lange vollständig vergessen, besaß aber noch immer in meiner Erinnerung einen starken Eindruck von ihm. Ich hätte sein Äußeres nur noch sehr unvollkommen beschreiben können, dafür umso eindringlicher die überaus starke und seltsame Wirkung seiner Person auf mich. Ich schiebe das noch etwas hinaus … Der Zettel ist von ihm, da habe ich wieder etwas in der Hand, einen Beleg. Es hat ihn also wirklich gegeben. Es ist auch der Name der Gracht, an die ich mich wieder erinnere. Warum mag ich das kleine Papier damals behalten und gerade an dieser Stelle verwahrt haben? Gewöhnlich übertrug ich doch die Adressen meiner Bettgenossen in ein Notizheft und warf die Zettel danach weg. Mein kleines rotes Buch – eines Tages trennte ich mich auch von ihm in einem wahnhaften Anfall, dem aussichtslosen Versuch, noch einmal neu anzufangen. Nur Weniges habe ich so sehr bereut.
Dass man Kunstwerke technisch reproduzieren kann, daran sind wir schon lange gewöhnt. Neu ist in der schönen neuen Welt der Suchmaschinen: Wir können jetzt auch unser Gedächtnis mit den Mitteln moderner Technik auffrischen. Wir können darüber hinaus fast mühelos Anschluss an für uns längst abgebrochene Entwicklungen finden. Johan Ortelius, ich rufe dich auf, erscheine mir … Lebt er noch, ist nicht an AIDS gestorben? Hat er sich als Künstler durchgesetzt? Er schien mir damals auf dem Weg zum Erfolg zu sein, dafür sprachen schon Größe und Ausstattung seines Ateliers. Mit wenigen Klicks war ich nach dreißig Jahren wieder im Bild. Er lebt also, und ich freute mich spontan für ihn. So viele andere sind längst tot.
Ich erfuhr, er ist seit Jahrzehnten gut im Geschäft. Hat Ausstellungen im In- und Ausland, auch in den USA. Er organisiert selbst Ausstellungen von Berufskollegen. Da gab es die Foto-Triennale in X oder die Woche zeitgenössischer Fotokunst in Y. Und wichtige Preise hat er bekommen … Dann blieb ich auf der Seite einer Berliner Galerie hängen, ich blieb dort wirklich hängen und bin noch immer nicht losgekommen. Es war nur eine kleine Ausstellung, im vorigen Jahr, sechs Wochen im Herbst. Man kann sich im Netz noch das Plakatbild von damals ansehen. Es ist ein Selbstporträt von ihm, gerade aus dem Jahr, in dem ich ihm begegnet bin. Ich bin ihm auf einmal wieder sehr nahe. Oder er mir?
An das von ihm gewählte spezielle Arrangement habe ich mich allerdings erst gewöhnen müssen. Ich gebe zu, es hat mich anfangs ein wenig verstört. Dabei hat er nur konventionelle Mittel verwendet für seine Studie Ich als Mann von dreißig Jahren. Es ist ein Schwarz-Weiß-Brustbild im klassischen Halbprofil, die Ärmel des Jeanshemdes bis zum Bizeps hinaufgerollt. Der blonde Schnauzbart lässt die Oberlippe frei, die Lippen sind einen Spalt geöffnet. Was für ein Mund: sinnlich und schwerblütig, mitfühlend und vielleicht ein wenig bitter. Die Augen schauen ernst, schauen unbestechlich prüfend in die Welt und bieten sich ebenso der Überprüfung dar. Es ist ein Porträt im Stil der Renaissance – mit einer barocken Zutat. Vor diesem stattlichen, schönen, ja doch: schönen Mann steht in Brusthöhe ein kleiner runder Tisch mit Glasplatte, über ihr die linke Hand. Sie steckt in einem schwarzen Halbfinger-Lederhandschuh. Und die Hand ruht auf einem Totenschädel. Alt muss er sein, seine Farbe scheint die von altem Elfenbein. Die nackten Fingerspitzen betasten die Schädeldecke. Wollen sie die Struktur der Oberfläche prüfen? Mit dem Schädel spielen? Nein, die Geste wirkt begütigend. Sanft war er auch - sanft.
Ich begriff, dass der Zufall mir ein Angebot machte. Ich beschloss, den Weg noch einmal zu gehen. Vielleicht würde ich danach den Abstand zwischen meiner Welt und der meines Vaters wieder für groß genug halten. Es kommt auf die Perspektive an, unter der man den Lebensverlauf betrachtet. Johan war eine viel versprechende Perspektive, wenn auch leider nur noch eine in der Vergangenheit.
2
Die PanAm-Maschine hob ab und ließ die Hochfläche mit ihren Vororten, Straßen, Schienen, Wiesen und Wäldchen unter sich. Sie stieg nur langsam auf in den Himmel über Stuttgart. Ein Eindruck von Schwere, von Last – das passte zu meiner Verfassung. Da unten war mir fast alles misslungen, wieder einmal, und ich löste mich auch diesmal nicht leicht. An Gepäck hatte ich nur das Notwendigste dabei. Viel schwerer, so kam es mir vor, wog das andere, das, was ich unbewältigt zurückließ …
Das Flugzeug legte sich in eine Kurve. Der Talkessel mit der inneren Stadt drehte sich von uns weg. Unter uns jetzt der Neckar. Ich erkannte Cannstatt und die großen Werkshallen, die Parks, den Wasen. Ich versuchte mich dazu zu zwingen, an nichts zurückzudenken. Es gelang mir weitgehend. Wir stiegen und gewannen an Flughöhe wie an Geschwindigkeit. Die Teile der Stadtlandschaft unter uns gerieten in rasche Bewegung. Bevor sie endgültig verschwanden, gingen sie noch untereinander neue Beziehungen ein, neue optische Verbindungen, andere Nachbarschaftsverhältnisse. Die letzten Blicke waren solche auf ein chaotisches Kaleidoskop, in dem sich mitten in der Auflösung des Gesamtbildes noch neue Kontakte ergaben – nur für mich nicht mehr, denn gleichzeitig entfernten sich die Orte immer weiter von mir. Ich musste nichts dazu tun. Das Loslassen erschien mir auf einmal einfach. Dann stob am Boden alles auseinander, war schon ausgelöscht.
Wir durchstießen die Wolkendecke. Wolken können vom Boden aus so nicht erlebt werden. Man gleitet beim Fliegen mühelos durch massive Wolkenkörper, verlässt sie ohne Anstrengung, quert ein besonntes Tal – so leicht, als wäre man ein Insekt über einer Sommerwiese - und gerät wieder für längere Zeit in das milchweiße Element. Es sind traumhafte Sequenzen, nur vergleichbar unseren Träumen von einer Allmacht, die bei aller Potenz gänzlich passiv bleibt. Dann fliegt man über den Wolken. Der Friede und die Beruhigung dort oben sind umfassend.
Es war erst mein dritter Flug. Ich war unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch in West-Berlin, und ich hatte keinen Rückflug gebucht. Sie würden mich schon nehmen, alles andere war unvorstellbar. Ich würde in Berlin bleiben, auf jeden Fall. Es sollte mein Bruch mit allem Bisherigen sein.
Jetzt eine energische Durchsage: Bitte sofort anschnallen! Von da an verlief der Flug bis in die Nähe von Berlin sehr unruhig. Einmal verspürte ich, was das war: ein Luftloch. Bei Adorno hatte ich irgendwo gelesen, es gäbe gar keine Luftlöcher. Damals waren mir erste Zweifel am Philosophen gekommen. Doch den einen Satz hielt ich nach wie vor hoch: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Ich machte mir noch nicht klar, worin die verführerische Kraft dieser Feststellung für uns damals lag – sie entlastete einen selbst, wenn etwas schlecht ablief. Ich war neunzehn und sollte noch mehr von ihm lesen, bis mich viel später in Hamburg einer fragte: Und praktische Konsequenzen, wie sieht es damit bei dir aus? Ich gab zu, auch Adorno nur gelesen zu haben, um die Welt besser zu verstehen. Im falschen Leben kann es eben kein richtiges geben.
Es war Erik, der gefragt hatte. Ich machte gerade das Frühstück für uns, nach der einzigen Nacht mit ihm, und er studierte die Buchrücken. Als Fotograf legte Erik großen Wert darauf, als Künstler zu gelten, ein Künstler zu sein. Eine Fotografie war für ihn, so verstand ich ihn, die arrangierte Widerspiegelung eines Weltausschnitts, das ernsthafte Bemühen um einen ästhetischen Wert. Gerade er könnte verstanden haben, warum einer wie ich Adorno las. (Es wird kein Zufall sein, dass mir jetzt ein Fotograf als Erster in den Sinn kommt. Ist Fotografieren heute nicht die wahre religiöse Kunst?)
Als ich nach Berlin flog, war der Philosoph schon zwei Monate tot. Die Wahl zum Bundestag lag nur Tage zurück. Brandt würde Kanzler werden, darauf lief es hinaus. Alles würde anders, besser werden. Auch meine Erwartungen waren groß, dabei so unbestimmt im Einzelnen wie fest gefügt im Großen und Ganzen. Es verhielt sich mit ihnen nicht anders als mit meinen Gefühlen beim Aufsteigen des Flugzeugs, es war eine rein passive Auffassung der Sache. Der Fortschritt musste kommen, und ich hielt nach ihm Ausschau. Dabei hatte ich vor kurzem noch, wie so viele andere, das Heraufkommen eines neuen autoritären Staates befürchtet. Sie blieb uns also bis auf weiteres erspart, die NATO-Notstandsdiktatur, wie schön.
Wenn es kein richtiges Leben im falschen gab, dann musste sich tatsächlich alles ändern. Eines hatte sich schon geändert: Der Paragraph war gefallen, wenige Wochen vor der Wahl. Schluss mit dem Hundertfünfundsiebziger – und nicht länger mit uns Hundertfünfundsiebzigern. Auch das war für mich bisher mehr Theorie als Praxis - ich hatte noch nie mit irgendeinem geschlafen, weder mit einem Mann noch mit einer Frau. (Den einzigen und weitgehend misslungenen Versuch lasse ich dabei unberücksichtigt.)
Wir flogen jetzt tief, Berlin war schon unter uns. Mein erster Eindruck, noch aus der Luft, war wie beim vorigen Mal: eine Stadt, anders als andere Städte. Aber was kannte ich bisher schon? Stuttgart oder Mannheim konnten sich mit West-Berlin nicht messen, nicht einmal München. Wirklich große Städte wie Paris oder New York hatte ich noch vor mir, und als ich sie kannte, blieb Berlin auch unter ihnen ein Sonderfall.
Berlin kam mir entgegen, aufnahmebereit, dachte ich, es war infolge des Sinkflugs auch körperlich spürbar. Dann legte sich das Flugzeug unerwartet auf die Seite, wie ein unruhiger Schläfer, nahm eine rasante Kurve und düste unter rapidem Höhenverlust erst knapp über die Mietskasernen, dann über die Friedhöfe von Neukölln. Unmittelbar danach plötzlich das harte Aufsetzen auf der Tempelhofer Rollbahn, wie eine Sturzgeburt mit Geburtsschock. Das Drosseln der Triebwerke und der Gegenschub machten erstmals seit dem Start die Erdenschwere wieder fühlbar. Ein wenig Vernichtungsangst überkam mich noch – und sie fiel von mir ab, als ich spürte, wie die Maschine langsam ausrollte auf der Rollbahn des Lebens. Ein Flug wie eine Wiedergeburt. Mein neues Leben, es würde sofort anfangen abzurollen. Erst jetzt begann alles.
Noch am Tag der Ankunft stellte ich mich in Steglitz vor. Sie nahmen mich, wie ich war (dachten sie vielleicht), und schon am nächsten Tag konnte ich bei ihnen anfangen. Ich blieb dort, solange ich mit Berlin noch nicht fertig war. Damit ist schon so gut wie alles darüber gesagt. Berufsarbeit war entfremdete Arbeit im Gegensatz zu Arbeit an sich selbst, ich zweifelte keinen Augenblick daran. Selbstverwirklichung war, wenn überhaupt, nur außerhalb der Berufswelt möglich. So waren die Spielregeln, sie waren nicht von mir. Ich akzeptierte sie.
Sollte ich je Lust verspüren, einen Roman über diese Arbeitswelt zu schreiben, muss mich schon die damals eingegangene Schweigeverpflichtung davon abhalten. Sie kann sich streng genommen nur auf die Fakten beziehen, die dem Unterschreibenden nach Vertragsabschluss bekannt werden. Also dürfte ich das Einstellungsgespräch schildern und die beiden Geschäftsführer … Daran ist für mich nichts Reizvolles. Es waren durchschnittlich farblose Männer in einer bloß alltäglichen Situation.
Später gab es doch ab und zu Stoff, geeignet für eine satirische Erzählung. Niemand wird mich für diesen einen Verstoß noch maßregeln wollen, nach so langer Zeit … Drei Jahre nach meinem Eintritt dort stand eine Renovierung des Hauses an. Die ferne westdeutsche Zentrale – wir waren nur eine Filiale von ihr – gab alles bis ins letzte Detail vor: den Wandanstrich und die Farbe des Teppichbodens, welche Möbel angeschafft und wie sie in den Räumen aufgestellt wurden. Die Ordnungswut ging so weit, dass sogar jede Schreibschale ihren fest zugewiesenen Platz auf einem neuen Schreibtisch haben sollte. Und wenn Geräte nicht in die neuen engen Schubladen passten, wurden sie kleiner gemacht, Teile von ihnen abgerissen. Unter der Fahne der Rationalisierung liefen Nivellierung und Disziplinierung mit. Dabei taten sich die Aufsteiger, diese Männer der Zukunft, besonders hervor. Einer von ihnen, mein direkter Vorgesetzter, hatte sich ab und zu mit mir über Literatur unterhalten, mir Bücher ausgeliehen, von Uwe Johnson zum Beispiel. Er hatte auch gesagt, für ihn laufe die natürliche Entwicklung der Gesellschaft auf den Sozialismus hinaus. Jetzt monierte er, dass die erwähnte Schreibschale bei mir auf der falschen Seite stand. Ich stritt mich ein wenig mit ihm und fügte mich dann.
So verbrachte ich Jahr um Jahr vierzig Stunden in der Woche in einem Milieu, für das ich nach meinem Gefühl nicht geschaffen war. Waren es denn meine Kollegen? Mein Gegenüber, der hübsche, sensible H., war musikalisch, er hatte in einer Band ein Instrument gespielt und inzwischen damit aufgehört. Vielleicht hätte ich mich in Stuttgart in ihn verliebt, aber ich war nicht nach Berlin gekommen, um noch einmal den gleichen Fehler zu machen. Mit Kollegen überhaupt war ich fertig. H. waren mein Auftreten und mein Ton viel zu brüsk, und ich warf ihm insgeheim vor, dass er sich den bürgerlichen Kleidernormen wie auch den meisten anderen Regeln unterwarf. Zum Geburtstag des Chefs kam er statt wie sonst im Rollkragenpulli mit Schlips, und bei der Feier hörte ich ihn vom anderen Ende des Tisches her, nicht einmal unfreundlich, sagen, ihr junger Kollege langweile sich offenbar außerordentlich.
Natürlich hatten wir im Büro auch einen Homo, das heißt, einen, von dem es jeder wusste. Nur ein knappes Jahrzehnt älter als ich, schien er einer anderen, tieferen Schicht in der Zeit anzugehören. Er trug flauschige Sachen, die den Körper betonten, wahrscheinlich von Schwulbach, wie der wirkliche Name der Firma gern abgewandelt wurde. Der Laden am mittleren Kudamm bot noch immer den Tuntenlook der Sechziger zu moderaten Preisen und in großer Auswahl an und wurde von einem anderen, boshafteren Kollegen nur Pupen-Bilka genannt. Mein älterer schwuler Bruder war mir peinlich, sein verdrücktes Benehmen, die ganze zurückgestaute Tempelhofer oder Mariendorfer Erotik, seine zerquälte Sanftmut, wie bei einem Hund, der getreten wird und beißen möchte und es längst verlernt hat. Wenn ich ihn ansah, hatte ich vor mir, was ich auf keinen Fall sein wollte. Er litt unter seinem Ruf so sehr, dass er sich verlobte oder es wenigstens behauptete. Keiner trug den Verlobungsring wie er, er wies ihn ständig vor, als den erschwindelten Ausweis einer Normalität, die ihm doch niemand glaubte.
23. AUCH KEINE HEILE WELT GEWESEN
Dank Google Street View feiere ich Wiedersehen mit der Straße meiner Kindheit, erkenne fast alles auf den ersten Blick. Vieles ist hübscher geworden, nur weniges heruntergekommen, einiges abgerissen und durch Neues ersetzt. Über die Gebäude gelange ich zu den Menschen, die damals dort lebten. Meine Erinnerung reicht dabei so weit wie Omas Zunge zu ihrer Zeit: zwei Dutzend Häuser, rechts, links und gegenüber. Schauplatz: eine ältere Straße in einem Industriearbeitervorort, halbdörflich noch. Zeit: um 1960. Ich vergebe neue Hausnummern und fange mit der anderen Straßenseite an, am entferntesten Ende.
Nr. 1: Die Leute sind katholisch, die einzigen in der Nachbarschaft. Oma mokiert sich gern: Die rennen täglich in die Kirche. Oma hält die Beichte der Katholiken für eine Art Sündenwaschmaschine.
Nr. 3: Mit den Bewohnern ist Opa entfernt verwandt. Es ist ein untereinander verfeindetes Geschwisterpaar. Er ist verheiratet, hat einen Jungen. Seine Schwester – wir nennen sie Tante – ist unverheiratet geblieben, freundlich, leicht kapriziös. Die Geschwister haben sich das kleine Haus aufgeteilt, jedes hat seinen Eingang, man grüßt sich kaum. Später werde ich erfahren, die Tante ist auf Dauer in der Psychiatrie untergebracht.
Nr. 5: Oma ist befreundet mit der Kriegerwitwe, die in einer Onkelehe lebt. Das kritisiert Oma hinter ihrem Rücken bei anderen. Die Witwe bekommt Darmkrebs, stirbt. Sie hat Oma ihr Speisezimmer vermacht.
Nr. 7: Die Rollläden zur Straße sind fast immer unten. Man weiß nicht viel über die Bewohner. Über sie gibt es nichts zu verbreiten, schade.
Nr. 9: Sozial schwach die Leute, würde man später sagen. Eine mittelalte Frau, alleinstehend, mit einem wenig begabten Jungen. Am 13. August 1961 steht die Frau am Fenster und ruft laut in die Straße: Leute, stellte euren Fernseher an – es gibt Krieg!
Nr. 11: Da wohnt neuerdings ein auffallend unauffälliges junges Ehepaar zur Miete. Oma muss erst Erkundigungen einziehen.
Nr. 13: Noch ein Geschwisterpaar, dieses einträchtig mit der Mutter zusammenwohnend. Oma steht ihnen kritisch gegenüber und sagt von dem jungen Mann: Er schimpft sich Ingenieur.
Nr. 15: Das Haus genau gegenüber, Opas Elternhaus. Seine Schwester lebt dort, versorgt den gelähmten Mann. Ihr Sohn, einziges Kind, ist 1944 in der Ukraine gefallen.
Nr. 17: Wieder ein Haus, das dem Klatsch wacker standhält mit einer schönen Blendsteinfassade.
Nach einer Baulücke, einer Hangwiese mit Obstbäumen, kommt Nr. 19: Da ist vor kurzem mit Mann und Kind eine rührige junge Geschäftsfrau eingezogen, von weit her. Sie umgarnt Oma, fährt mit ihr im Auto spazieren. Was soll man davon halten?
Jetzt wechseln wir die Straßenseite und nehmen Nr. 28 ins Visier: Der Junge in meinem Alter ist extrem dick. Die Drüsen seien schuld, heißt es. Seine Oma will ins Wasser gehen. Als ihr Sohn sie retten will, versucht sie ihn mit unter Wasser zu ziehen - Suizid trotzdem gescheitert.
Nr. 26: Noch mehr unauffällige Leute.
Nr. 24: Ein junges Paar als Mieter. Oma sagt: Er ist ein Faulenzer. Er arbeitet nicht, er bleibt morgens im Bett liegen. - Ich finde ihn interessant.
Nr. 22: Opas älterer Bruder wohnt hier mit Frau, zwei Töchtern, Schwiegersohn und Enkel. Opas Einstellung dem Bruder gegenüber ist unterkühlt. Unter uns nennt er ihn ironisch den Direktor und bezieht sich dabei auf ein länger zurückliegendes geschäftliches Fiasko.
Nr. 20: Das Haus von Opas jüngerem Bruder. Sein Sohn, einziges Kind, ist 1944 in Italien gefallen. Oma ist mit der Schwägerin verfeindet, daher reden die Brüder wenig miteinander.
Nr. 18: Hier bei den Großeltern bin ich die Hälfte der Zeit. Die Alten schätzen ihren Schwiegersohn nicht, machen vor mir kritische Bemerkungen über ihn.
Nr. 16: Auch hier pflegt eine ältere Frau ihren gelähmten Mann. Sie tut das schon jahrzehntelang, seit ihrer Hochzeit, inzwischen eine Spur verbittert. Opa ist mit ihr entfernt verwandt, wir nennen auch sie Tante.
Nr. 14: Da wohnt nur eine kleine alte Frau, die jedem auf der Straße mit dünner, weinerlicher Stimme die Leidensgeschichten von Mann und Schwester immer wieder erzählen muss – beide tot.
Nr. 12: Wieder ein kleines Haus, das nichts zur Chronik beiträgt. Dabei ist es bei weitem das älteste von allen, ein Vierteljahrtausend alt.
Nr. 10: Oma und Opa haben es in der Hitlerzeit bewohnt und nun an ein Paar vermietet. Der jungen Frau ist die Mutter 1945 auf der Flucht aus Ostpreußen weggestorben.
Nr. 8: Ihr Vater lebt da in Onkelehe mit einer weiteren Kriegerwitwe. Das Haus haben meine Großeltern nach dem Krieg bauen lassen, um die zwei Wohnungen zu vermieten. In der oberen Etage trennt sich bald das junge Ehepaar. Die Frau bleibt nach der Scheidung mit ihrem kleinen Jungen dort wohnen.
Nr. 6: Zwei würdige alte Damen, die scheinbar immer schon alt und würdig waren und über die nichts Negatives bekannt ist.
Nr. 4: Hier betreut eine reife Frau ihre ältere behinderte Schwester. Sie tut es so liebevoll wie pflichtbewusst und spricht gern darüber. Sie lehnt es ab, ein Fernsehgerät anzuschaffen, und sagt: Die Illustrierten bringen das doch auch alles.
Nr. 2: Ein Wirtshaus, das vielleicht früher mehr Gäste hatte. Zwei Schulkinder im Haus, das Mädchen geht in meine Klasse. Von dem Jungen wird mir Oma einige Jahre später schreiben, er sei im Spanienurlaub im Meer ertrunken.
Am Tag der Street View-Aufnahmen war der Himmel heiter, strahlend blau mit einigen weißen Wolken, die Straße optimal ausgeleuchtet. Das kleine Barockhaus Nr. 12 ist inzwischen abgerissen.
24. SÖHNE UND VÄTER
Da lese ich heute ein Gedicht und fühle mich gleich stark berührt. Es ist von einem Vater die Rede und es zeigt sich ein miserables Vater-Sohn-Verhältnis - ich kenne das, nur zu gut. Wie mein eigener war auch jener Vater im Krieg in Russland, eine beide prägende Zeit. Der andere Vater liegt im Sterben und das Lyrische Ich rechnet mit ihm ab. Ich wollte nie abrechnen, nur meinen Weg gehen und später dann: verstehen … Der andere Vater schlug den Sohn, meiner tat das niemals. Es wäre gegen seine Natur gewesen.
Auch wir kämpften miteinander, als ich sehr jung war. Ich hasste ihn vorübergehend, solange er mir Grenzen setzen, mich führen wollte. Es misslang ihm, wie so vieles in seinem Leben. Ich behielt die Oberhand, setzte meinen Willen auf Dauer durch. Wenn ich mich erforsche, so warf ich ihm damals insgeheim vor, zu schwach zu sein für die übernommene traditionelle Rolle. Er war ohne Neigung in sie geschlüpft, nur aus Pflichtgefühl; es wurde allzu deutlich.
Sobald ich mein eigenes Leben führte, begann er mich erst recht zu beunruhigen. Wenn ich, selten genug, wieder daheim war, sah ich ihn entblößt vor mir: schwach, erschöpft, resigniert. Er hätte mich dauern können, aber ich erschrak immer wieder darüber, dass ich uns ähnlich fand in unseren Reaktionen, Verhaltensweisen. Ich fühlte Mitleid, doch zugleich fürchtete ich Selbstmitleid. Ihn länger anzusehen, wurde mir unerträglich. Was war ich selbst? Nur eine Variante?
Er ist schon lange tot. Heute bin ich ihm näher als zu seinen Lebzeiten. In mir ist nur noch Erbarmen - zu spät.
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2009
Alle Rechte vorbehalten