1. Katzenbrüder
Als meine Eltern alt wurden, entwickelten sie eine seltsame Vorliebe für halb wilde Katzen. Vielleicht hing das mit mir zusammen. Ich glaube, insgeheim war auch ich für sie eine Art streunender Kater, der nur selten nach Hause kam und draußen in der Welt in ihnen unverständliche Abenteuer verwickelt war.
Ich kam wieder einmal zu Besuch. Es war Weihnachten. Meine Mutter hatte mir schon im Sommer geschrieben, ihnen seien zwei junge Kater zugelaufen. Ich erkundigte mich jetzt nach ihnen. Konnte ich sie sehen, mit ihnen spielen?
"Spielen auf keinen Fall, sie sind ja nicht zahm ... Sie sind jetzt nicht da. Aber heute Abend kommen sie bestimmt, wenn ich sie füttere. Sie kommen jeden Morgen und jeden Abend an die Kellertür, dort kriegen sie ihr Fressen. Ich koche ihnen Haferflocken, es gibt auch mal Hühnerfleisch."
"Wo kommen sie denn her? Und was habt ihr davon, wilde Katzen zu füttern? Wegen der Mäuse?"
Meine Mutter erzählte mir die ganze Geschichte. Eine verwilderte Hauskatze habe sie im Vorjahr hier im Gebüsch, nicht weit vom Haus, zur Welt gebracht. "Du weißt ja, wie das ist", sagte meine Mutter, "wenn sie trächtig sind und man ihnen die Kleinen schon öfer weggenommen hat, dann verschwinden sie gern." - Ja, sie selbst hatte schon so manchen Wurf beseitigt. Wie stellte sie das eigentlich an, ertränkte sie sie? Ich wollte lieber nicht fragen. Auf jeden Fall war meine Mutter eine dutzendfache Katzenmörderin. Und jetzt fütterte sie verwilderte Kater, die durchgekommen waren. Die Menschen sind oft inkonsequent in ihren Handlungen.
Sie fuhr fort: "Die Mutter scheint bald umgekommen zu sein. Und die zwei da sind hier bei uns im Gelände geblieben. Seit dem Frühjahr kommen sie näher ans Haus heran. Der eine von ihnen hinkt, ist wohl schon einmal in ein Fangeisen geraten. Wir geben ihnen zu fressen, sie haben sich daran gewöhnt. Aber natürlich sind sie scheu, sie lassen sich nicht anfassen. Wenn wir im Sommer abends im Garten gearbeitet haben, sind sie die Pfade zwischen den Beeten auf und ab spaziert. Da haben wir doch wieder einmal Gesellschaft gehabt ..." Sie sprach nicht weiter. Sollte das eine Anspielung sein? Ja, als einziger Sohn hätte ich nicht fortgehen dürfen, das meinten sie doch und davon würden sie auch nicht mehr abgehen.
Jetzt im Winter schliefen die beiden Kater unter dem Hausvordach in einer ausrangierten Hundehütte. Meine Eltern hatten sie mit Stroh und Säcken ein wenig gegen die Kälte ausgepolstert.
Am Abend stellte ich mich im Souterrain hinter der Tür auf, um sie beim Fressen zu beobachten. Sie sahen wie gewöhnliche Hauskatzen aus, schwarz und weiß das Fell in unterschiedlichen Anteilen, recht hübsche und ziemlich kräftige Tiere. Die engmaschige Gardine verhinderte, dass sie mich sehen konnten. Vielleicht hatte ich doch ein Geräusch verursacht. Der eine der beiden hob den schön gezeichneten Kopf und lief dann mühsam den leichten Hang hinter dem Haus hinauf. In der Tat hinkte er stark. Nach fünfzig Metern blieb er stehen, um den Bruder am Napf zu beobachten. Der Bruder, viel weniger ängstlich und in keiner Weise behindert, hätte weiterfressen können. Stattdessen sah er hinauf zu dem Gefährten, und als der nicht zurückkam, lief er zu ihm. Er lockte ihn leise maunzend und den Kopf hin- und herrollend allmählich zum Napf zurück. Dann fraßen beide einträchtig weiter. Der Lahme nahm sich im weiteren Verlauf gewisse Vorrechte heraus. Gelegentlich drückte er den Kopf des Bruders vom Napf weg, und der Gesunde ließ es sich gefallen. Es berührte mich seltsam, dass Tiere, die kaum vom Menschen geprägt waren, so miteinander umgingen. Es war für mich ein Beispiel der umfassenden natürlichen oder kreatürlichen Güte, die wir überall entdecken können, nicht nur in der Menschenwelt - vielleicht dort am wenigsten.
Im Jahr darauf waren sie auf einmal verschwunden. Der Hinkende kam nie mehr zurück. Der andere schleppte sich, als sie schon drei Tage vermisst waren, furchtbar zugerichtet ans Haus heran. Er hatte seine letzten Kräfte eingesetzt, um sich aus einer Falle zu befreien. Nun erst war er bereit, ins Haus zu kommen. Meine Mutter ließ ihn in die Garage, wo er noch einige Stunden schrie und am anderen Tag verendete.
2. Hunde, die wir hatten
Der Hund an sich zeichnet sich durch große Variabilität und Anpassungsfähigkeit aus. Wer welchen Hund wie hält, das sagt auch etwas über den Menschen des Hundes aus.
Lottchen und Mops waren nur wenig jünger als ich. Lottchen war eine Mittelschnauzerin, Mops entgegen seinem Namen ein schwarzer Spitzmischling. Allein von Lottchen gibt es Fotografien in meinem Album. Auf der einen sitze ich als Vierjähriger unter einem Kirschbaum an einer Kaffeetafel, wir alle frontal zur Kamera: meine Großmutter in einem schwarzweiß getupften Kleid, mein Großvater zurückgelehnt, mit übereinander geschlagenen Beinen. Es ist die Pose von Franklin Delano Roosevelt. Meine Mutter hat noch ihr volles dunkles Haar. Meine Kusine hat lange blonde Zöpfe und auf dem Schoß ein kleines Wuscheltier mit schwarzer Stupsnase: Lottchen im Alter von etwa sechs Monaten.
Später hat Lottchen mich mal gebissen, der einzige Hund in meinem bisherigen Leben. Brachten meine Eltern mich daraufhin zum Arzt, damit ich eine Tetanusspritze bekäme? Keineswegs. Sie werden das Übliche gesagt haben: Ach, es wird schon nicht so schlimm sein ... Lottchen war leicht reizbar und extrem willensstark. Ihr Ende war traurig: Sie entwickelte eine Fettgeschwulst am Bauch. Als der Tumor immer größer wurde und die Leute darüber redeten, hieß es: Zum Tierarzt? Ach, was soll denn der noch daran ändern? Dann wurde er doch geholt - und erschoss den Hund.
Auch mit Mops fing es wie in einer Idylle an. Mein Großvater fährt die frisch gemolkene Milch mit mir und Mops zur Sammelstelle. Unser Maulesel ist vorgespannt, wir sitzen auf einer Holzpritsche. Es holpert, und vermutlich hat die Sonne geschienen. Mops, noch sehr jung, ist so aufgeregt, dass er mir auf die nackten Knie pinkelt. Lottchens Reich waren das Haus und der Garten, Mops war zum Hofhund bestimmt. Er bewachte das abseits gelegene Wirtschaftsgebäude, den Tag über an der Kette liegend. Zeigte sich ein Fremder, bellte er wie tobsüchtig. Wurde er abends losgelassen, sauste er als rasender Kugelblitz die Feldwege entlang, kam aber zum Fressen immer zurück an die Kette. Er verfolgte alle Traktoren mit glühendem Hass, biss in ihre Reifen. Dabei geriet einmal sein Kopf unter ein Rad und ein Auge lief aus. Er hat noch viele Jahre durch-
gehalten, ein einsamer, jähzorniger Zyklop in Hundegestalt.
Die nächste Generation: Hasso und Lottchen Nr. 2. Hasso war ein schöner, imposanter Schäferhund mit einer kleinen Beimischung von Dackelblut; daher das eine Schlappohr. Er residierte in einer Holzhundehütte am Rand des Gartens, bellte aus tiefster Kehle furchterregend über das ganze Tal hinweg und war von insgesamt eher täppisch-gutmütigem Wesen. Nie hätte er einen Menschen gebissen, eher schon hätte er ihn beim Anspringen umgeworfen. Er war süchtig aufs Apportieren. Man musste ihn, wenn er nicht angekettet war, ständig auf diese Weise beschäftigen, da verstand er keinen Spaß. Übrigens konnte er durchaus zubeißen. Ich habe einige Male erlebt, wie er Jagd auf Ratten machte, die sich gern neben den Hühnerställen herumtrieben, lüstern auf Geflügelfleisch und -blut. Er erwischte die meisten und ließ es tüchtig knacken.
Mit ihm zusammen hielten wir Lottchen Nr. 2, eine Dackelmischlingshündin, klein, grauschwarzes Fell, auf Leckeres erpicht bis zur Verfressenheit, später entsprechend beleibt. Sie wurde im Haus gehalten, war lebhaft, verspielt.
Dann verließ ich das Elternhaus. Hasso, Mops und die beiden Lottchen waren nicht mehr, und in die Hundehütte zog ein neuer Schäferhund ein. Timo war ohne Fehl und Tadel, frei laufend nicht ungefährlich. Daher schrieb ich vor jedem Besuch dort: Und denkt bitte daran, dass Timo angekettet ist ... Er war es die meiste Zeit. Abends durfte er an der langen Leine einen ausgedehnten Gang mit meinem Vater machen. Meine Mutter brachte ihm zweimal täglich frisch Gekochtes, sehr Heißes für seine Schüssel hinaus. Wie das an kalten Wintertagen dampfte! Er hat das Haus nie von innen gesehen.
Anka war die Letzte. Sie hatte ihr halbes Hundeleben schon hinter sich, als meine Eltern, selbst schon etwas klapprig und empfindsamer als früher, sie im Tierheim auswählten. Hatte ihr bisheriges Schicksal meine Eltern gerührt? Sie war vom Vorbesitzer brutal geschlagen worden und wies einen deformierten Schädelknochen vor, anklagend, wie es schien. Sie hat noch oft geweint, schrieb mir meine Mutter nach einiger Zeit. (Nicht gewinselt - geweint!) Auch Anka war in dieser Hütte am Steilabfall des Geländes untergebracht, bekam jedoch ein größeres Gehege als ihre Vorläufer. Sie lebte sich ein, schien zufrieden. Sie wurde ein guter Wachhund und war dabei vollkommen unaggressiv. Spuren aufnehmen und verfolgen, das war ihre größte Freude, wenn mein Vater sie abends herumführte. Wenn ich den beiden von weitem zusah, stellte ich fest, wie hinfällig mein Vater schon war. Eher führte sie ihn als er sie.
3. Die Maus - Nur für starke Nerven
Diese Geschichte hat mir Sandro erzählt. Er ist ein Kollege und lebt in Hamburg in einem alten Haus. Dort kommt so etwas manchmal vor. Ich dagegen wohne in einem neuen Haus auf dem Land. Da gibt es weder Mäuse noch Ratten, auch sonst kein Ungeziefer. Nicht dass ich wüsste.
Rita hat mich damals im Büro angerufen, erzählt Sandro. Wir hätten eine Maus in der Wohnung. Es müsse sofort etwas geschehen. Wir treffen uns also in einem Gartenfachgeschäft. Rita sagt: Irrtum ausgeschlossen. Ich hab es rascheln gehört, ich hab im Wohnzimmer eine Käserinde als Köder ausgelegt, ich hab etwas Graues, Flinkes die Fußbodenleiste entlangflitzen und hinter der Kommode verschwinden sehen.
Drinnen alles in reicher Auswahl vorhanden: Sämereien, Blumenzwiebeln, Grillgeräte. Etwas gegen Wühlmäuse: Gift. Und wo sind die Mausefallen?
Wie kann überhaupt eine Maus in unsere Wohnung kommen, frage ich Rita. - Vom Treppenhaus her, sagt sie, wenn die Wohnungtür länger offen steht. - Oder durchs Mauerwerk. Doch Rita, das kommt bei alten Häusern vor.
Wir kaufen am Ende zwei Mausefallen, eine herkömmliche und eine aus Frankreich importierte, die laut Beschreibung verspricht, die kleinen Nager lebend zu fangen. Man könne sie dann wieder auf freien Fuß setzen, möglichst weit von der eigenen Wohnung. Ich bin gleich gegen diese Falle gewesen, aber Rita hat auf ihr bestanden. Und sie legt noch ein Buch über Hausmäuse in den Einkaufswagen. - Wozu, Rita, willst du eine Beziehung zu deiner Maus aufbauen?
Abends stellt Rita die humane Mausefalle im Wohnzimmer auf. Es ist ein länglicher Kasten aus durchsichtigem Plastik, an dessen innerer Rückwand der Köder befestigt wird. Wir sind dann beide mäuschenstill. Rita blättert geräuschlos in ihrem Buch über Mäuse.
Dann zirpt und säuselt es aus einer Ecke des Zimmers. Wir sehen uns an. Wieder Stille. Wird die Falltür vor dem Häuschen heruntergehen? Stattdessen hören wir ein trippelndes Geräusch. - Jetzt läuft sie in die Küche, sagt Rita, wie heute Morgen.
Der Speck in der Falle ist noch da. Rita wird es zu dumm. Sie stellt die zweite Falle in der Küche auf. Sie sagt: Dabei sind mir Mäuse sympathisch. Ich sollte keine Fallen stellen ... Und sie zeigt mir eine Abbildung in ihrem Buch, die eine arglos posierende Maus zeigt.
Sehr lieb, Rita, aber sie übertragen Krankheiten.Und sie vermehren sich in einem wahnwitzigen Tempo. Man muss etwas tun ... Du, ich mach mir Glühwein und leg mich zum Schwitzen ins Bett. Es kratzt schon den ganzen Tag im Hals. - So früh ins Bett?
Ich erhitze den Wein in der Küche. In der Flasche bleibt ein Rest zurück. Die Maus verhält sich still. Auch die zweite Falle ist noch unberührt. Dann liege ich im Bett und schwitze bald tüchtig. Rita legt sich mit ihrem Buch neben mich.
Da, es hat geschnappt. Kannst du nicht nachsehen? - Unmöglich, wo ich jetzt gerade so schwitze.
Rita geht in die Küche - und ist gleich wieder da: Du, sie lebt noch! Was soll ich bloß machen? - Gar nichts, ver-
enden lassen. - Wie roh du bist, Sandro!
Rita geht noch einmal hinüber. Sie bleibt ziemlich lange. Ich höre, wie sie die Wohnung verlässt. Einige Minuten später sitzt sie neben mir auf dem Bettrand. Sie sagt: Ich hab sie im Treppenhaus freigelassen. Sie kann sich nicht richtig bewegen. Querschnittslähmung oder so etwas. Furchtbar ... Wie soll ich jetzt einschlafen? - Trink den Rest Wein aus der Flasche. - Sie tut es und beruhigt sich allmählich.
Am anderen Morgen: Keine Spur im Treppenhaus. Und zum Glück haben wir seitdem keine Mäuse mehr in der Wohnung gehabt.
4. Kater machen Besuche
Lange Jahre wohnte ich im Parterre eines großen alten Hauses im Hamburger Westen. Es war eine ruhige Seitenstraße mit kleinen Gärten hinter den Häusern. Gerne hätte ich eine Katze gehalten, doch zu viel sprach dagegen: Ich lebte allein in der Wohnung, ich war berufstätig und immer wieder ganze Tage und Nächte abwesend.
Zwei Stockwerke über mir wohnte eine mehrköpfige türkische Familie mit einem Kater zusammen. Er war braun getigert, sie nannten ihn Boncho und sprachen es sehr weich aus. Der große, kräftige Boncho war ein eher rauer und etwas kratzbürstiger Geselle. Da die Wohnung auch ohne ihn schon eng war, verbrachte er seine Tage und teilweise auch seine Nächte lieber außerhalb des Hauses. Er lief die Gehwege auf und ab, er strich durch die kleinen Vorgärten oder er präsidierte dem Straßenleben, auf einer Mülltonne hockend.
Wenn ich im Winter mitten in der Nacht oder erst im Morgengrauen heimkam, konnte ich ihm nicht schnell genug die Haustür öffnen - so durchfroren war er. Er raste sofort die Treppe hinauf und maunzte vor der Wohnungstür, bis ihm einer öffnete. Eines Nachts blieb er auf der untersten Treppenstufe sitzen und sah mir zu, wie ich meine Tür aufschloss. Ich nickte ihm kurz zu, und er huschte schon durch den Türspalt. Er inspizierte gleich alle Räume und beroch sehr interessiert die alten Möbel, die ich geerbt hatte.
Von da an kam er häufig auf kurze Besuche zu mir. Um sich anzumelden, kratzte er die schöne alte Türleibung aus Holz zuschanden. Er war ein schwieriger Gast. Unruhe brachte er herein und lief pausenlos durch alle Räume. Wenn er doch sitzen wollte, passte es mir wieder nicht. So sprang er sehr gern auf die Arbeitsplatte in der Küche und ließ sich von da nur schwer vertreiben. Dann gab es noch einen Platz, auf dem er gern verweilt hätte: zwischen den Pflanzen auf den Fensterbänken zur Straße. Doch ich wollte vermeiden, dass ihn seine Leute dort entdeckten. Ich grüßte sie wohl freundlich im Hausflur, hatte allerdings keinen weiteren Kontakt zu ihnen. Sie wussten nichts von Bonchos Besuchen bei mir.
Als ich ihm einmal mit einer Gymnastiksandale aus Holz auf eine Zehe trat, nahm er es nur vorübergehend übel. Vielleicht war er doch auf seine Weise sensibel, denn nach dem Tod seines Herrn, des Familienvaters, siechte er selbst dahin und starb in der Blüte seiner Jahre. Bald darauf verließ ich Hamburg.
Es hatte dort noch einen Besucher auf vier Pfoten gegeben, einen ganz anderen Charakter. Kater Namenlos hatte ein schwarzes Fell mit weißen Tupfen. Er kam immer nur von der Gartenseite her. Hier lag die Wohnung fast drei Meter über dem Bodenniveau und besaß hinter der Küche einen Balkon mit einem Fliederbusch davor. Ihn benutzte der Namenlose, um heraufzukommen. Es fing damit an, dass er mich von unten auf dem Balkon beobachtete und ich ihm eine Scheibe Wurst - Mortadella, glaube ich - anbot. Er fraß sie auf dem Balkon, dem Anschein nach nur aus Höflichkeit, und kam dann vorsichtig in die Küche.
Er war zugleich munter und sanft, gutartig und verspielt. Er ruhte auf dem Sofa oder streckte sich lang auf dem Teppichboden aus und schlug seine Krallen ins Gewebe: Schlingware! Und er sah mich dabei halb schelmisch, halb glückselig an. Ich ließ ihn gewähren.
Übrigens war er so gut wie stumm und brachte nur ein Piepsen zustande, vielleicht Folge einer Bissverletzung an seinem Kehlkopf.
Anfangs wollte er einmal an einem regnerischen Spätherbstabend partout nicht mehr heimgehen. Ich musste ihn nach zwei Stunden höflich dazu auffordern, indem ich ihn auf den Balkon hinausschob. Er merkte es sich und blieb danach nie länger als zwanzig Minuten. Besucher von mir tolerierte er niemals. Er wollte dann sofort hinausgelassen werden. (Boncho dagegen hatte es kalt gelassen.)
Eines Tages knickte ein Orkan unseren Flieder. Es gab keine Aufstiegshilfe mehr für den Namenlosen. von da an grüßten wir uns nur noch aus der Distanz, schmerzlich betrübt, verzichtend. Das Leben hatte uns auseinander gerissen.
5. Tiere als Nachbarn
Ich wohne am Ortsrand in einer Sackgasse - und auch noch in Nummer dreizehn. Unsere Straße grenzt an ein Landschaftsschutzgebiet. Der Wald, der Fluss, die Feuchtwiesen sind nah. Die Häuser haben große Gärten. Es herrscht reger Wildwechsel, da gibt es viel zu beobachten. Zum Beispiel Igel in der Abendstunde, wenn es schon beinahe dunkel ist. Ich sah ihnen früher wiederholt von der Terrasse aus zu, wie sie durch den Garten zogen. Ihr Ziel war der Rasen des Nachbarn. Ich glaube, sie suchten dort Würmer. Es waren lautlose graue Schattenflecke, die um die Sträucher und Stauden glitten und dann drüben auf der Grasnarbe verharrten. Inzwischen kommen sie nicht mehr. Mein Garten ist ihnen jetzt für ihren Transfer zu dicht bewachsen.
Vögel kann ich zu allen Jahreszeiten aus den Fenstern gut beobachten. Die schönsten sind für mich die Stieglitze, beinahe papageienbunte Kleinvögel mit scharlachroter Gesichtsmaske. Sie kommen nur im Spätsommer und Frühherbst, wenn die Sonnenblumenkerne reif sind. Zwei Sommer lang saß eine Wildtaube am liebsten auf dem First des Nachbarhauses und gurrte vom Morgen bis zum Abend. Gurr, gurr, gurr ... Kleine Pause ... Gurr, gurr, gurr ... Sie wurde lästig. Dann hörte es für immer auf und eine tote, halb zerfetzte Taube lag im Garten. Welcher Vogel hatte sie geschlagen? Ich zog Handschuhe an, nahm eine Schaufel und ... Darf man tote Wildvögel als Restmüll entsorgen? Oder gehören sie in die Biotonne?
Im Winter sehe ich von der Wohnung aus hin und wieder einzelne Rehe. Auf dem Asphalt, zwischen parkenden Autos, wirkt ein Reh exotisch. Sie suchen den Rückweg in den Wald, springen hektisch über Zäune und durch Gärten. Leider sind sie auf den Geschmack an Tulpentrieben gekommen. Jedes Frühjahr fressen sie mir nun die sprießenden Tulpen ab, bevor sie blühen. Es gibt hier auch Füchse. Eine Nachbarin sah einmal vom Balkon aus einen durch meinen Garten schnüren.
Und Haustiere? Ja, Katzen, nicht wenige - doch heute einmal nichts über Katzen. Hunde? Sie werden im Allgemeinen sicher verwahrt. Manchmal bellen sie mehr als nötig. Ein lebhafter Schnauzermischling treibt sich hier neuerdings allein herum. Für unser Grundstück hat er eine besondere Vorliebe entwickelt. Er fühlt sich hier wie zu Hause und verhält sich auch so. Einmal hat er, hinter unserem Zaun stehend, den Zeitungsausträger verbellt. Der Austräger hat sich nicht hereingetraut und die Zeitung zwischen die Zaunlatten gesteckt. Ich ... hatte gerade draußen nichts zu erledigen.
In der Nähe ist ein Reiterhof. Sie züchten sogar Trakehner. Manche Pferdefreunde werden mit ihren Tieren nicht fertig. Dann läuft schon mal ein Pferd allein in die Stichstraße hinein. Das Hufgetrappel eines entlaufenen Pferdes, das man noch nicht sieht, hört sich auf Asphalt bedrohlich an. Ich verschwinde dann lieber im Haus und beobachte den Fortgang der Ereignisse vom Fenster. Richtig, unser Tor steht offen, und das Pferd galoppiert auf das Grundstück. Hoffentlich kommt bald einer und fängt es wieder ein.
6. Verspielte Hunde
Der Spieltrieb des Hundes ist vor allem Freude an rascher Bewegung. Ein Stück Jagdleidenschaft blitzt auf, wenn einem Gegenstand hinterhergesaust wird. Das Objekt wird eingeholt, gepackt und womöglich zerfleddert. Gibt es keinen Gegenstand in Bewegung, jagen manche Hunde der eigenen Schwanzspitze nach. Ein Vierfünftelkreis rotiert rasend schnell und selbstvergessen vor unseren Augen. Wir staunen - so wenig kann schon Glück ausmachen.
Gefahren kommen ins Spiel, wenn Technik hinzukommt, die von Menschen ersonnenen Apparate und Maschinen. Da saust der Hund einem fahrenden Auto hinterher, will ins rollende Rad beißen, wird selbst überrollt und verliert, wenn er Glück hat, nur ein Auge.
Wenn Sie dem Spieltrieb einen Riegel vorschieben wollen, riskieren Sie leicht größeren Schaden, als Sie vermeiden wollten. Ein Paar aus Hannover wollte ins Theater gehen und den Hund nicht allein in den Wohnräumen lassen. Sie sperrten ihn also ins Gäste-WC. Der Hund langweilte sich dort und riss das Toilettenpapier vom Halter und jagte die Papierschlangen durch das Kabuff. Dabei verstopfte er den Abfluss des Handwaschbeckens und brachte es auch noch fertig, den Wasserhahn aufzudrehen. Er flutete die verlassene Wohnung und durchnässte die Decke der darunter liegenden. Ein unvergesslicher Theaterabend.
Wenn Sie jedoch glauben, unter Ihren Augen könne ein Hund spielend nicht viel anrichten, erliegen Sie einem vielleicht tödlichen Irrtum. In Frankreich bestieg einmal eine mehrköpfige Familie ein Gummiboot. Der Familienhund paddelte aufgeregt nebenher. Vor lauter Vergnügen biss er in die Bootswand aus Gummi. Das Boot sank sofort. Alle Insassen - bis auf den Vater, glaube ich - ertranken. Der Hund schwamm an Land. Jetzt hatte er ausgespielt.
7. Kleine Katzen töten
Meine Jugend habe ich zu einem guten Teil in einem aufgelassenen Steinbruch verbracht. Mein Vater kaufte ihn der Gemeinde ab, als ich vier Jahre alt war. Auf dem Gelände befand sich die vormalige Unterkunft der Steinbrucharbeiter, eine Holzbaracke mit einem Steinsockel. Wir bezogen drei der fünf Räume, in zwei weiteren drängte sich noch eine der ärmsten Familien des Ortes. Etwas später bekam sie anderweitigen Wohnraum zugewiesen.
Wie viele Kinder hatten die Moschs? Ich weiß es nicht mehr, gewiss nicht wenige, und sie waren viel wilder als ich. Eines von ihnen, ein zwölfjähriges Mädchen, stürzte damals in den Felsen hinter dem Haus tödlich ab. Ja, das sah höchst romantisch aus, diese steilen Wände und davor die Schutthalden, pyramidenförmig oder länglich wie ein Sarg und alle schon dicht bewachsen.
Vater Mosch war, glaube ich, Gelegenheitsarbeiter und stand am liebsten auf der Treppe vor dem Haus, gleichmütig auf den Zehen wippend. Gelegentlich bot auch dieser Phleghmatiker Beispiele von Tatkraft, die mich gleichzeitig anzogen und abstießen. So sagte er einmal gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein.
Zwei seiner Kinder, die noch nicht zur Schule gingen, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich gerade vor der Felswand eine Abfallgrube auftat.
Vater Mosch griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sahen wir, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und staunten.
Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht von Vater Mosch, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Man konnte diesen Ausdruck mit nur einem Wort beschreiben: ERLEDIGT.
8. Die Hundeschule
Die Dorfhunde bellten und Walter gab ihnen Antwort. Pauli lag noch im Bett. Die Nacht war unerquicklich gewesen, in seinen Träumen hatte er unwürdige Rollen spielen müssen. Halb versuchte er, ein letztes Mal einzuschlafen, halb dachte er mit zärtlichem Grimm an Walter unten in seinem Zwinger. Was für ein Köter! Sandfarbenes Fell, sehr kräftige Hinterläufe und ein enormes Geschlecht. Pauli konnte ihn sich genau vorstellen, wie er jetzt, am Rand seines Terrains stehend, ins Vorland hinabhorchte und gutturale Explosionen von sich gab.
Ein Hund zum Fürchten. Dabei harmlos, abgesehen von dieser Tollheit, diesem ewigen, leidigen Apportierzwang.Verdorben war er schon, als sie ihn damals gebracht hatten. Pauli war nämlich hereingelegt worden, vor drei Jahren, als sie ihn, vier Monate alt, für fünfhundert Euro bei ihm ließen. Wenn er gewusst hätte, dass sich das herabhängende Ohr niemals aufrichten würde! Ein Schäferhund mit Dackelohr ... Daher vielleicht auch das sandfarbene Fell. Ins Riesenhafte war er seitdem gewachsen und mit ihm sein Schlappohr.
Es ging auf neun Uhr morgens. Pauli, dreiundfünfzig Jahre alt, von Beruf Schriftsteller und seit drei Jahren hier auf dem Land ansässig, hatte sich nicht mehr ans Frühaufstehen gewöhnen können. Zu viele Kreuzberger Nächte steckten ihm in den Knochen. Sagte er. Dabei hatte er länger in Hannover als in Berlin gelebt.
Walter gab keine Ruhe. Er war es gewohnt, um diese Zeit ausgeführt zu werden. Pauli stand auf und zog sich an. Auf dem Weg ins Freie sah er kurz bei Margarita hinein, die schon seit einer Stunde in ihrem Atelier arbeitete. Sie sagte: "Gib mir Bescheid, wenn du zurück bist. Ich mache dann den Tee für uns beide." Zwar sorgte sonst jeder für sich selbst - Pauli war seit einiger Zeit Vegetarier -, doch den Tee ließ er von ihr mitzubereiten. Es war ökonomischer so, fand er.
Bevor er den Zwinger öffnete, befühlte er die Außentasche seiner Jacke. Es waren noch genügend kleine Steine drin. Walter war nämlich versessen darauf, Steine aufzuspüren und sie dem zurückzubringen, der sie von sich geschleudert hatte. In diesem Hinterherjagen, Aufschnappen und Apportieren bestand für ihn der ausschließliche Sinn seiner Hundeexistenz. Da ließ er nicht mit sich spaßen. Pauli hatte es erfahren, als er einmal ohne geeignete Gegenstände in den Zwinger trat. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre unter der Wucht des ihn anspringenden Hundes zu Boden gegangen. In höchster Not hatte er sich von dem Lyrikband in seiner Linken getrennt. (Von ihm selbst herausgegeben und eigentlich als Rezensionsexemplar vorgesehen.)
Seit diesem Vorfall argwöhnte er, Walter lege es eben darauf an, ihn in diese ausweglose Situation zu bringen, in der er ihm mit leeren Händen gegenüberstand. Dafür sprach, dass Walter ihm nicht erlaubte, sich in seiner Nähe nach einem Stein zu bücken. Er stürzte sich dann sofort auf das von Pauli ins Auge gefasste Objekt. Um jeden Preis wollte er Paulis zugreifender Hand zuvorkommen, und sei es auch, dass er nach ihr schnappte. In solcher Lage stieß Pauli dann den Stein mit der Fußspitze von sich, um sich eine Atempause zu verschaffen.
Walter trainierte, er apportierte immer rascher. Es war der Kampf um den letzten Stein. Es galt die Steine sehr weit fortzuschleudern, Walter in irgendeinem Dickicht zu beschäftigen und sich rasch mit einem neuen Vorrat zu versehen. Pauli scheute sich nicht, die Steine tief in Brombeerhecken zu werfen, aus denen Walter sich erst nach längerer Zeit, zwar blutend, doch mit dem Stein im triefenden Maul befreite. Pauli konnte sich noch einen weiteren Vorteil in ihrem Spiel verschaffen: Was Arglist war, war Walter unbekannt. Pauli tat so, als hätte er einen Gegenstand in der Hand, mit der er die gewöhnliche Bewegung des Fortschleuderns beschrieb. Walter verfolgte mit schwachen Augen die fiktive Flugbahn und suchte dann ausdauernd und erfolglos den von ihm berechneten Aufprallort im Gebüsch ab. Besiegt kehrte er nach einigen Minuten zurück und gab für eine Weile Ruhe.
Heute trieb er Walter den Hohlweg hinunter und kehrte mit ihm über die Wiese zurück. Als er ihn im Zwinger eingeschlossen hatte, ging er zum Briefkasten. Ein Brief - schon wieder ein anonymer Brief! Seit seinem ersten Fernsehauftritt vor vier Wochen bekam er fast täglich ein Schreiben ohne Unterschrift, ohne Absender. Wirres Zeug, beleidigende Angriffe, doch gut formuliert, um nicht zu sagen: meisterhaft geschrieben. Er saß manche Stunde darüber und versuchte, Sinn oder Absicht zu ergründen, bislang erfolglos. Er war es satt.
Pauli ging über die Wiese, zerriss den Umschlag samt Briefinhalt, verstreute alles im Gras. Dann trat er an den Zwinger. Walter kam heran. Herr und Hund sahen sich in die Augen. Walter zeigte vollkommenes Verständnis. Pauli sagte: "Kluger Hund. Siehst du, so treiben sie es mit mir. Anonyme Briefe - Steine im Gebüsch ..."
9. Die Fliege und ich
Vor acht Jahren bin ich zuletzt umgezogen. Beim Auspacken und Einräumen schwor ich mir: Ich will nie wieder wechseln! Ordnen Sie einmal tausend Bücher, die vollkommen unsortiert in den Kartons gewesen sind, nach Sachgebieten und alphabetisch richtig in die Regale ein ... Es kommt einer dreizehnten Herkulesarbeit gleich.
Dann wurde ich nachdenklich: Ist es vielleicht tatsächlich dass letzte Mal, dass du eine neue Wohnung beziehst? Bist du an der Endstation deines Lebens angekommen? Das war keine sehr angenehme Vorstellung. Sie passte allerdings zur Jahreszeit: Herbst.
Ich gewöhnte mich allmählich ein. Im Haus war es ungewöhnlich ruhig; der einzige Nachbar, ohnehin rücksichtsvoll, war meistens abwesend. Ich konnte die Stille förmlich sehen, riechen, schmecken. Und der Herbst schritt immer weiter fort.
Jene Fliege fiel mir schon bald nach dem Einzug auf. Es musste die letzte Fliege des Sommers sein, die sich in meine temperierte Behausung gerettet hatte. Anfangs flog sie noch recht vital durch die Räume. Sie interessierte sich vor allem für meinen Speisezettel. Konfitüre fand sie unwiderstehlich. Ich verscheuchte sie. Sie kam zurück. Ich schlug nach ihr, ohne sie zu treffen. Es gelang mir nie. Allmählich kam es zu einer Koexistenz zwischen uns. Oder ist Kohabitation das rechte Wort?
Sie folgte mir von der Küche ins Wohnzimmer. Ich hörte Schuberts Vierte, und sie summte um meine Stirn. Da ich Musik gewöhnlich mit Kopfhörer genieße, hörte ich sie nicht. Plötzlich fühlte ich sie an meiner Nasenwurzel. Ich bedeutete ihr, sich zu entfernen. Sie tat mir den Gefallen und erging sich in den Zimmerpflanzen oder auf der Tischplatte.
Sie begleitete mich ins Schlafzimmer, unternahm Annäherungsversuche, als ich im Bett las. Wenn ich in der Nacht einmal die Lampe neben mir anknipste, entdeckte ich sie in der Nähe meiner Lagerstatt, an der Wand oder der Zimmertür.
Es wurde noch herbstlicher, und wir gewöhnten uns immer mehr aneinander. Die Vorstellung, sie jedenfalls sei in ihre letzte Behausung übergesiedelt, begann mich zu beschäftigen. Hätte sie nicht schon längst tot sein müssen? Etwas wie Sympathie mit ihr und ihrem unausweichlichen Schicksal regte sich in mir. Ich verscheuchte sie nicht mehr, ließ sie auf meinen Händen und Unterarmen krabbeln. Fliegen sind leichtfüßig. Sie kommen schnell voran, und dann verweilen sie plötzlich lange an einem Punkt der Körperoberfläche. Ich registrierte es genau.
Wenn sie nicht zu mir kam, hielt ich nach ihr Ausschau. Sie wurde schwächer, müder. Ich kam auf die Idee, für sie zu sorgen. Bevor ich morgens zur Arbeit aufbrach, stellte ich ihr ein Glasschälchen mit einem Klacks Marmelade hin. Zwischenzeitlich erholte sie sich wieder, um dann noch schwächer zu werden. Sie verharrte jetzt die meiste Zeit an einem Punkt.
Sie hielt noch lange durch, weit über die ihr von der Natur bestimmte Zeit hinaus. Weihnachten war schon vorüber. Ob ich sie bis zum Frühjahr durchbringen würde? Aber mit einemmal war sie doch verschwunden. Soviel ich auch gesucht habe: Ich habe in jenem Winter bei mir nie eine tote Fliege finden können.
10. Ein Satan von Hund
Wie sie ihn riefen, weiß ich nicht mehr. Mir wäre Satan eingefallen. Sie – das war ein älteres Ehepaar, unsere nächsten Nachbarn. Auch sie wohnten in einem alleinstehenden Haus über dem Fluss. Unseres stand in einem Wäldchen noch weiter oben, ihres in Wiesen auf halber Höhe, fünfhundert Meter von uns.
Ich war zwölf oder dreizehn, glaube ich. Alle vierzehn Tage schickte meine Mutter mich mit frischen Hühnereiern hinunter. Im Austausch brachte ich einige Flaschen Sprudel und Limonade mit, sie hatten einen Getränkeverkauf. In größeren Abständen legte ich ihnen auch das „Wasserbuch“ zur Abrechnung vor. Ihre Leitung zweigte von unserer ab und die Wasserwerke kassierten nur bei uns. Am Schluss der jeweiligen Verrechnung fiel immer ein kleines Trinkgeld für mich ab.
Die paar Groschen waren mein Lohn der Angst. Die Mutprobe begann, wenn ich die Pforte im Maschendrahtzaun öffnete. Ich durchquerte ihren Garten rasch und so leise wie möglich. Klingelte an der Tür. In diesem Moment entschied sich, ob ich aufatmen konnte. Das war der Fall, wenn Satan im Keller zu bellen und zu toben begann. Blieb es dagegen still, war ich in großer Gefahr und stellte mich sogleich auf den folgenden Kampf ein.
Satan war ein schwarzer Schäferhund, groß, schlank und von gestrecktem Wuchs, dabei sehr beweglich. Er war von äußerster Tücke. Lief er frei herum und kam einer in seine Nähe, begann er sofort, ihn anzufallen. Dabei bellte er nie. Er sprang sein Objekt lautlos an und zwar immer von hinten, nie von vorn. Dem Opfer blieb nichts übrig, als sich wie ein Brummkreisel zu drehen, den Hund nicht aus den Augen zu lassen und ihn möglichst einzuschüchtern. Und zu hoffen, dass Hilfe kam.
Gewöhnlich rechnete man mit mir und der Hund war im Keller. Doch zwei- oder dreimal im Jahr lief er frei herum und sprang auf mein Klingeln um eine Hausecke auf mich zu – und dann begann unser Tänzchen im Windfang. Es ist immer gut gegangen. Die Frau des Hauses öffnete nach zwanzig, dreißig Sekunden, packte Satan und brachte ihn weg. Nicht auszudenken, die Haustür wäre einmal verschlossen geblieben.
Ein paar Mal kam es sogar vor, dass Satan mir auf unserem Privatweg ins Dorf auflauerte. Da war ich ihm eher gewachsen, konnte ihm leichter ausweichen. Er versuchte unablässig, mich von hinten anzuspringen. Ich drehte mich im Weitergehen immer wieder rasch um, ich drohte ihm rückwärts gehend mit einem Stock oder Schirm. So zog ich ihn bis zu den ersten Häusern hinter mir her. Hier endete sein Revier, daher trollte er sich und lief nach Hause.
11. Die Bestie und ich
Einmal musste es ja geschehen. So lange schon hatte ich furchtsam danach Ausschau gehalten, draußen in den tiefen Wäldern, fern von Berlin. Da ging ich also gestern auf einem denkbar einsamen Weg so für mich hin, als im Dämmerlicht ein Lebewesen auftauchte, vierbeinig, rasch vorwärtsstrebend, mir entgegen. Ein streunender, wildernder Hund? Wird er mich als mögliche Beute wahrnehmen? Sei mutig, Arno, du Adler, erweis dich deines Namens würdig. Wegfliegen würdest du wohl gerne? Schau lieber, ob du am Boden einen Stock findest …
Plötzlich wie eine Eingebung die Erkenntnis: Es ist kein Hund, es ist ein Wolf und er ist keine fünfzig Meter mehr entfernt. In der freien Natur war ich noch nie einem begegnet. Er lief anders als ein Hund: immer gleichmäßig geradeaus, zielbewusst, wie in Eile. Hell leuchtete im Waldesdunkel der große weiße Fleck auf der Halsvorderseite und um sein Maul herum. Vermeide, Arno, beim Niederschreiben jetzt Verweise auf eine Gestalt aus Grimms Märchen, behaupte, du hättest ihn wiedererkannt als den Wolf, der in des Portugiesen Rodrigues Film „Der Ornithologe“ jenem Fernando im Wald erscheint und entgegenknurrt. Freilich, jener Kino-Wolf schien wie vom Präparator ausgestopft und ohnehin nur eine Vision. Man unterlässt es nicht ungestraft, seine Pillen zu nehmen …
Ich bitte wieder ansetzen zu dürfen, so formuliere ich, einen Großen zitierend, als läse hier irgendeiner mit. Zurück also zum gestrigen Wolf und in die Märkische Schweiz. Der Wolf hatte mich noch gar nicht wahrgenommen, das holte er nun nach und floh sogleich, wie ein scheues Reh. Ein Hase würde erst noch einmal kurz innehalten und sich vergewissern. Mein Wolf jedoch bog einfach, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, im rechten Winkel ab und verschwand im Unterholz. Um seinen Fluchtinstinkt zu unterstützen, klatschte ich zwei-, dreimal in die Hände, und er verstand es nicht falsch als Applaus und Dacapo. Nein, das Geräusch splitternder Zweige wurde noch kurz zum Stakkato, ehe Waldesstille wieder eintrat. Ich kann es nicht anders ausdrücken: Dieser Wolf verhielt sich in allem mustergültig.
Fast bedauere ich es, dass unsere Begegnung so kurz war. Anderenfalls hätte ich, sie beschreibend, weiter ausholen, mehr Aufwand treiben und mehr Effekt erzielen können.
12. Die Welt aus der Sicht der Katze
Weißli war und blieb die Lieblingskatze meiner Eltern. Sie verdrängte ihre Konkurrentin Lätzli erst aus der Kellerküche, dann aus dem ganzen Souterrain und damit aus dem Haus. Beide waren gleich alt, wenn auch aus verschiedenen Würfen, und sehr klein zu uns gekommen. Weißli hatte sich als die Umgänglichere, Anschmiegsamere allmählich durchgesetzt. Sie hatten sich gejagt und wechselseitig gebissen. Lätzli, ungeachtet ihres Namens eine kräftige schwarze Katze mit weißem Fleck am Hals, schlug dann ihr Quartier unter dem Vordach eines entfernteren Nebengebäudes auf, wurde dort versorgt und brachte halbwild bleibende Katzenkinder zur Welt. Selbst ließ sie sich nicht mehr berühren. Ihre Sicht auf die Welt blieb ein Geheimnis.
Wenn ich die Alten damals besuchte, einige Tage oder auch länger, fand ich oft die weiße Katze auf meinem Vater ruhend; manche Stunde verdämmerten sie so, gemeinsam auf dem Kellerküchensofa liegend. Ging er da unten zu Tisch, folgte sie und erbettelte sich den Großteil seiner Fleischportion. Dazu schlug sie, sich von den Hinterbeinen aufrichtend, die Vorderkrallen in seinen Hosenstoff. Ich genoss das possierliche Bild, litt es aber nicht, wenn sie mit mir ebenso verfahren wollte.
Weißlis Welt war das Souterrain und für Ausflüge noch der Garten und die Wildnis eines aufgegebenen Steinbruchs hinter dem Haus. Sie durfte nie in die Räume im Erdgeschoss vordringen. Meine Eltern nutzten tagsüber nur die untere Ebene und gingen erst abends hinauf. Immer zog es die weiße Katze magisch zu dieser Oberwelt hin. Wenn ich von meinem dort gelegenen Zimmer hinunter wollte, fand ich sie manchmal hinter der Kellertreppentür hocken – oder sie schloss sich mir beim Hinaufgehen an, um vor dieser Tür zurückbleiben zu müssen. Eines Tages wollte ich ihre Neugierde befriedigen und nahm sie auf den Arm und zeigte ihr die Räume, alle Möbel, Teppiche, Pflanzen. Sie blieb dabei eng an mich geschmiegt, war ganz Auge, voller Konzentration. Was sie in sich aufnahm, war vielleicht ein himmlisches Katzen-Jerusalem.
Solange mein Vater mich noch bei meiner Abreise zum Bahnhof fuhr – später nahm ich den Bus -, brachte ich jeweils am Vorabend den gepackten Koffer in die Kellerküche; die Garage war gleich daneben. Und jedes Mal amüsierte mich die folgende Szene. Weißli, sonst so keck und mutwillig, zeigte alsbald Furcht vor dem großen schwarzen Koffer. Sie machte auf ihren Wegen durch die Küche einen weiten Bogen und sah dabei ängstlich zu ihm hinüber. Sie ließ auch aus großer Distanz zu ihm merken, dass sie sich belästigt fühlte; da war sogar ein Anflug von Beleidigtsein. Auf einen großen schwarzen Hund würde sie ähnlich reagiert haben. Ich machte mir klar, dass sie keinen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Welt kannte. (Umgekehrt bereitete das Jagen einer Spielzeugmaus ebenso viel Spaß wie das einer echten.)
Lange danach in einem Tiroler Gebirgstal. Ich bin gerade angekommen, habe den schwarzen Koffer ausgepackt und mache einen ersten Rundgang durch den Ort. Die Hauptstraße ist stark befahren. Ich überquere die Einmündung einer Seitenstraße und mir bietet sich ein zuerst idyllisches, dann schmerzliches Bild. Drei Kätzchen spielen und sie jagen sich, springen über etwas hinweg. Ich sehe genauer hin – das Hindernis ist ein toter Katzenkörper, das Tier wohl erst vor Stunden überfahren worden. Der Kadaver stört die kleinen Katzen nicht, im Gegenteil, sie benutzen ihn als Deckung und sie zerren auch spielerisch an seinem Fell. Was ist es für sie: eine ausgewachsene Katze, jetzt ruhend, oder nur noch ein Objekt wie andere Gegenstände auch? Es könnte ihre tote Mutter sein, aber sie scheinen keinen Begriff vom Tod zu haben. Die Szene blieb mir bis heute im Gedächtnis.
I N H A L T
1. Katzenbrüder
2. Hunde, die wir hatten
3. Die Maus - Nur für starke Nerven
4. Kater machen Besuche
5. Tiere als Nachbarn
6. Verspielte Hunde
7. Kleine Katzen töten
8. Die Hundeschule
9. Die Fliege und ich
10. Ein Satan von Hund
11. Die Bestie und ich
12. Die Welt aus der Sicht der Katze
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009
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