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DIE AXT IM BALLSAAL - Satiren

 



1. Der Polizist als Sittenstrolch

Seltsam, dass mich dieses Motiv immer wieder reizt: der Polizist als tragikomische Figur. Ordnung und Chaos, das ist eine komplizierte erotische Beziehung, die man schreibend ergründen und vertiefen kann. Die folgende Geschichte ist so wahr, wie sie kurz ist. Sie hat in den Zeitungen gestanden. So wahr mir Springer helfe.
      Es begab sich also zu der Zeit des Bundeskanzlers Schröder und zwar irgendwo in der Norddeutschen Tiefebene, dass eine junge Polizistin in Zivil auf Streife ging. Dabei durchstreifte sie den dortigen Stadtwald, nicht ohne bestimmte Absicht. Der Polizei waren nämlich von Seiten des ordnungsliebenden Siebtels oder Achtels der Bevölkerung Klagen vorgebracht worden: Im Stadtwald treibe sich ein Unhold herum, ein Sittenstrolch, ein – horribile dictu – Exhibitionist.
      Unsere tüchtige junge Polizistin kam ihm bald auf die Spur. In der Tat: Er streckte ihr da etwas entgegen – und sie ihm daraufhin auch etwas: ihren Dienstausweis. Der junge Mann brachte stotternd noch ungefähr Folgendes vor: Da scheine bei ihr ein Irrtum vorzuliegen, ein Missverständnis sozusagen, er habe nur ein gewisses natürliches, unabweisbares Bedürfnis verrichten wollen … Im Übrigen sei er selber Polizist. Ob sie ihn jetzt seiner Wege gehen lassen wolle? Wollte sie nicht. Es wurde ermittelt und Anklage erhoben. In der mündlichen Verhandlung wurden Sachverhaltsdarstellungen zu Protokoll gegeben, die nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Ich drücke mich mit Absicht gewunden aus.
      Das Verfahren gegen den Polizisten wurde gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt. Und das war schon alles. Sind Sie, unbekannter Leser, jetzt enttäuscht? Sie werden doch keine voyeuristischen Neigungen haben?
      Also eine Zugabe. Ich, Arno Abendschön, habe selbst vor einigen Jahren einmal einen Exhibitionisten bei seiner abscheulichen Betätigung gesehen. Ich saß im ICE nach Mannheim und der Zug rollte gerade mit geringer Geschwindigkeit über einen Bahndamm am Stadtrand von Frankfurt. Da unten lauerte er. Ich ihn sehen, die Situation rasch erfassen – und mein psychologisches Interesse war sofort geweckt. Ich sah ihm daher nur noch ins Gesicht, mehrere Sekunden lang, bis es meinem Gesichtsfeld entschwand. Seine Züge verrieten ein diabolisches Vergnügen: unser Erschrecken, seine Allmacht, unsere Ohnmacht! Nun, man hätte die Polizei anrufen können … Wo genau haben sie ihn gesehen? Und dann suchen sie die Bahndämme mit Hundestaffeln ab? Ach, in Frankfurt hat die Polizei Besseres zu tun.


2. Wenn ein Kind nervt

Seine Eltern rufen ihn Nepo. Er ist sechs oder sieben Jahre alt. Es bleibt offen, ob er schon zur Schule geht. Von ihr ist nicht die Rede. Nepo ist ein lebhaftes, doch nicht hyperaktives Kind. Er ist weder ausgesprochen hübsch noch geradezu hässlich – ein recht durchschnittliches Kind, so scheint es, als sie an einem Sonntagabend das Restaurant betreten. Sie wählen einen Tisch in einer ruhigen Ecke. In ihrer Nähe sitzt nur ein einzelner Gast.
      Seine schlanke und ernsthafte Mutter hat dominante Züge, eine Personifizierung des Begriffs treibende Kraft. Im Gespräch mit Nepos Vater gibt sie die Stichworte. Er geht gewöhnlich darauf ein, doch manchmal mit Anzeichen leichter Erschöpfung. Ihr Alter ist kaum zu bestimmen. Er scheint Anfang dreißig zu sein, hat früher Sport getrieben, doch jetzt lassen Beruf und Familie dafür keine Zeit mehr übrig. Da ist schon eine gewisse Schwerfälligkeit.
      Sie schauen kaum in die Karte, bestellen gleich. Darüber, was man essen möchte, wird nicht diskutiert, auch nicht mit Nepo. Sie wissen es alle schon. Als der Wirt sich mit den Menükarten vom Tisch entfernt, steht Nepo auf und beginnt, in der Gaststube herumzuwandern. Er beschränkt sich dabei auf die nähere Umgebung. Da sind zwei Stufen, die zu einer Balustrade führen. Nepo läuft hinauf, läuft hinunter. Er übt Weitsprung.
      „Nepo!“ schallt es aus dem väterlichen Mund. „Du kommst sofort zurück an den Tisch!“ Nepo reagiert wie ein Hund, der, wenn er ausgeführt wird, auf einer Wiese anfängt, ein Loch zu buddeln, tiefer und immer tiefer. Herrchen hinterherlaufen, das kann er immer noch. Nepo läuft jetzt auf der Balustrade um einen Tisch herum und probiert, wie schnell er das tun kann, ohne hinzustürzen.
      „Nepo!“ Es hört sich schon sehr gereizt an. Nepos Mutter sagt: „Ach, lass ihn doch.“ Dann reden sie weiter über das Geschäft. Sie reden hier nur über das Geschäft. Nepos Vater ist ein kleiner Selbständiger in der Baubranche, ein Subunternehmer, er verlegt Fußböden. Er wartet auf kurzfristige Aufträge und wenn er einen bekommt, stellt er schnell einen Arbeiter dafür ein. Seine Frau hat alle Daten im Kopf. Sie sagt ihm, wann er wo anfangen muss und bis wann er fertig zu sein hat. Sie kennt die in der nächsten Woche auszuführenden Arbeiten. Sie sagt ihm, wen er jetzt gleich anrufen muss. Nepos Vater führt ein, zwei, drei Gespräche. Er verabredet sich mit einem Gesellen, sagt ihm, wo er ihn am Dienstag abholen wird. Sein Tonfall ist jetzt viel verbindlicher, freundlicher geworden. Er gibt sich Mühe im Beruf, mehr als im Familienleben. Vielleicht ist er auch davon erschöpft.
      Es ist sozusagen ein Arbeitsessen. Und Nepo springt im Lokal herum, fällt einmal hin und steht sofort wieder auf, ohne zu brüllen – ein richtiger kleiner Mann. Inzwischen ist seiner Mutter etwas eingefallen: „Du musst ihm noch …“ sagt sie. Der Vater ruft den Arbeiter sofort wieder an und seine Stimme nimmt im Gespräch erneut diese freundliche Färbung an, die man sonst an ihm vermisst. Nepo arrangiert jetzt auf der Balustrade den Blumenschmuck neu.
       „Nepo, Nepo!“ – „Ach, lass ihn doch.“
     Nepo hat plötzlich seinen Fußball in der Hand und schmeißt ihn in Richtung des Butzenscheibenfensters. Der Ball springt zurück und Nepo schießt ihn auf die Balustrade, jagt dem Ball hinterher. Da sind sich seine Eltern einmal einig: „Ball spielen läuft hier nicht. Hierher, setz dich hin“, sagt die Mutter. Nepo gehorcht.
      „Bist du müde, Nepo?“ fragt seine Mutter jetzt. Wie kommt sie darauf, das würde ihr so passen. Übrigens bleibt es die einzige Frage, die sie hier an ihn stellt. Und Nepos Vater trinkt Bier und schweigt. Hoffentlich kommt das Essen bald. Nepo dreht sich um und kniet sich auf die Sitzbank und schaut durch die Gitterstäbe der Rückenlehne auf den einzelnen Gast am Nachbartisch. Sie mustern sich. Nepo schneidet keine Grimassen dabei, er ist nur neugierig.
      Die Gerichte werden serviert. Dann essen alle drei. Jetzt ist es ein einträchtig und schweigend verzehrender kleiner Familienverband, so wie man es von den meisten Arten der Säugetiere kennt.


3. Alle wissen Bescheid

Im Film läuft es zum Beispiel so ab: Nach zehnjähriger glücklicher Ehe erwischt sie ihn auf einmal mit dem Gärtner. Merke: Der Gärtner ist nicht immer der Mörder. Verhängnis, nimm deinen Lauf!
      Im realen Leben findet sie eines Tages unter seiner Matratze ein Pornoheft, in dem nur Männer vorkommen. Sie fragt ihn, was das zu bedeuten habe. Er antwortet: „Ach so, das Heft da … Das hab ich in der Bahn gefunden. Hab ich mitgenommen, um es dir mal zu zeigen … Komische Sachen, nicht?“ Daraufhin schweigen beide. Das Heft verschwindet, man weiß nicht wie.
      Die Nachbarin kommt häufig zu Besuch. Im Sommer sitzen sie dann gern auf der Terrasse. Und eines Abends lässt die Nachbarin dort eine Bemerkung fallen, die zunächst harmlos klingt. Doch er findet allmählich einen Nebensinn heraus und grübelt: War es in Wahrheit so gemeint? Sie weiß es also auch schon?
      Sein Sohn ist jetzt achtzehn. Eines Abends bummelt der Sohn über die Reeperbahn und stößt dort zufällig auf seinen Alten. Der Alte ist mit dem Motorrad in die Stadt gefahren. Hätte ihn eigentlich mitnehmen können … Der Papa flaniert also mit einem fremden Mann über die Reeperbahn? Der fremde Mann trägt schwarzes Leder, wie der Papa, und sagt nach kurzer Zeit: „Na, ich geh dann mal rüber zu meiner Maschine.“ Der Sohn sieht ihn die Straßenseite wechseln, ein Motorrad kann er drüben nicht entdecken. Jetzt beginnt der Sohn zu grübeln. Was er nie erfahren wird: Der Unbekannte ist unter dem Spitznamen „Kofferraum“ ein einschlägig stadtbekannter Masochist.
      Sein Vater studiert weiter Kontaktanzeigen, in denen es beispielsweise heißt: „Nur Sex, keine Beziehung. Treffen bei mir zu Hause leider nicht möglich.“
      Man spricht nie darüber. Nach einigen Jahren kennen trotzdem alle die Umrisse dieser zweiten Existenz im Halbverborgenen – nur die Umrisse, die farbigen Details beginnt sich jeder selbst im Stillen auszumalen. Schmutzige Phantasie, mach dich ans Werk!


4. Die Axt im Ballsaal

Einige von ihnen sah man vorher schon beim Chinesen an der Ecke. Großes Abendbüffet für Euro 9,90. Das übliche Gerenne von den Tischen zu den Schüsseln und Kasserollen – und das Personal kam mit dem Nachfüllen nicht hinterher.
      Diamanten-Ede hatte da ein Arbeitsessen mit einem Kunden. Sie waren schnell handelseinig. Ede reinigte sich mit einem Zahnstocher die Fingernägel. Er fühlte sich angenehm satt. Dieses Bedürfnis war also befriedigt. Er sah trotzdem wieder zum Büffet.
      „Die da?“ – „Ja, die Kleine.“ – „So `ne Kindfrau?“ – „Mann, aus der kannste zwei Lolitas machen.“
      Sie war knapp über eins fünfzig, ziemlich stämmig und trug einen sehr kurzen schwarzen Wollrock. Sie war alle drei Minuten an den Schüsseln und schaufelte den Teller immer aufs Neue voll. Sie lächelte glückselig und bewegte sich dabei wie ein Schulmädchen, das gerade seine ersten Steppschritte gelernt hat und sie nun ständig wiederholt.
      „Wie alt?“ – „Siebzehn mindestens, würd ich mal sagen.“ – „Und neunzehn höchstens.“ Sie ging gerade an ihnen vorbei und ihr verschwimmender Blick streifte beide flüchtig. Sie verschwand um eine Ecke. Da musste noch einer sitzen. „Sie bringt ihm die Sachen. So viel kann die selbst gar nicht futtern.“
      Der Kunde hatte noch einen Termin. Ede ging allein ins Ballhaus. Er trank eine Menge und tanzte ab und zu. Keine wollte mit ihm gehen. Das machte ihm nichts aus, er hatte sie fast alle schon gehabt. Frischfleisch, das war es, worauf er heute Appetit hatte. Mal sehen, was noch kommt. Mit allmählich glasiger werdendem Blick musterte er das „Material“.
      Später in der Nacht kam die Kleine im Wollrock und an ihrer Seite ihr Alter. Anita an Edes Tisch sagte: „Das `n Schrotthändler.“ Sie saßen dann ganz in der Nähe. Der Schrotthändler war ein dicker Endvierziger mit rot-gelb gestreifter Krawatte und Ringen an fast allen Fingern. Sie musterten sich schon mal kurz böse. Die Kleine ließ sich von Ede beäugen und senkte erst danach den Blick ostentativ. War das ein Zeichen? Anita lachte: „Ede, du bist doch ein schöner Mann – und das war`s dann schon?“
      Jetzt kam der Papa, der hier Rosen verkaufte. Ede gab ihm fünf Euro und ließ ihr eine hinüberbringen. Und dann lief alles sehr schnell ab. Der Schrotthändler riss die Rose an sich und knickte sie und warf sie in die nächste Ecke. Er rief Ede zu: „Nicht ganz bei Trost, was?“ – Ede gab zurück: „Du, hast du ein Problem?!“ In diesem Moment fing eine neue Musik an. Anita sagte: „Warum tanzt du nicht mit mir?“ Aber Ede stand auf und ging zu der Kleinen hinüber. Die Kleine blieb sitzen und sah ihn von unten herauf fragend an. Dafür stand der Schrotthändler auf und sagte das Übliche wie: „Schleich dich, miese Visage!“ und Ede konterte: „Du, ich mach dich sooo klein – dann kannst du dich selbst als Altmaterial losschlagen.“ Und losschlagen war das Stichwort. Als Ede die Faust sah, ließ er das Messer aufklappen.
      Und plötzlich waren die Freunde des Schrotthändlers um sie herum … und Ede rief seine Männer auch dazu. Sie verschanzten sich hinter einem Tisch und türmten Stühle auf der Tischplatte auf. Ede warf einen Stuhl hinüber. Er traf aus Versehen eine junge Frau, sie war im siebten Monat. Die Stühle kippten vom Tisch und der Tisch stürzte um. Der Nahkampf begann. Jetzt war auch eine Axt zu sehen. Wer hatte sie so schnell organisiert? Gerade als die Axt zum ersten Mal niedersauste, stürmte die Polizei den Saal. Sie drängte sich zwischen die Kämpfenden und räumte sie alle ab. Danach kamen die Kellner, die geflohen waren, zeternd zurück. Und der Geschäftsführer besah sich den Schaden am Inventar und zischte beim Luftausstoßen wie eine Schlange. Als Letzter erschien der Rosenhändler, um nach seiner Ware zu sehen – alle Blüten zermanscht am Boden. Etwas Unverständliches murmelnd griff er nach seinem leeren Korb und ging hinaus in den Morgen.
      Der Polizeibericht vermeldete sieben Personen mit Kopfplatzwunden, drei mit Stichverletzungen. Einer, mit gebrochenem Fuß, musste nach der Behandlung im Krankenhaus bleiben. Das Messer und die Axt konnten nicht sichergestellt werden. Und dabei hatten die meisten doch die Axt gesehen. Es blieb ein Rätsel, wie man sie so schnell hatte beiseite schaffen können.


5. In der offenen Abteilung

Als mein Vater noch lebte, habe ich ihn zweimal im Jahr da unten in der Anstalt besucht. Es sind fast tausend Kilometer von Hamburg. Wenn es ihm gut ging, half er in der Gärtnerei. Ich musste dann nach meiner Ankunft eine Weile auf ihn warten. Einmal – es war September – ging ich hinaus in den Park.
      Die Anstalt ist in einem früheren Kloster untergebracht. Wo ursprünglich Mönche lebten, bringt die moderne Zeit die unter, die sie für unbrauchbar hält. Man kann die alte Kirche besichtigen, sie ist ein wenig düster. Schöner ist die Bibliothek und berühmt ihr Deckengemälde. Seinetwegen kommen viele Touristen und verrenken sich die Hälse. Die Mitte des Saales ist von weiß lackierten Stühlen blockiert. Auf ihnen sitzen die Patienten, wenn Messe gefeiert wird. Übrigens sind die Bücher alle fort. Hinter den bemalten Schranktüren ist nichts.
      Der Park ist für jeden zugänglich. Die Anstaltsgebäude sind zwanglos in ihm verteilt. Damals war warmes, trockenes Spätsommerwetter, es waren viele Besucher im Park. Ich fand eine Bank für mich allein und wollte Zeitung lesen. Es kam nicht dazu. Eine ältere Frau zog es in meine Nähe, sie ließ sich mit muffigem Gruß links von mir nieder. Ich rückte ein wenig zur Seite, gerade so viel, dass sie es nicht als Zurückweisung auffassen konnte. Ich betrachtete sie unauffällig: graues Hauskleid, Knoten im Nacken, derbe Schuhe.
      Überraschend für mich begann sie ein Gespräch: „Wohnen Sie auch hier?“ - Wie sollte ich das verstehen? „Ja, aber nur für eine Nacht, im Gasthof. Und Sie?“ – Es stellte sich heraus, dass sie gewöhnlich in einem Tübinger Altersheim lebte. Man habe sie hierher verschickt, zur Erholung. Nach vier Wochen dürfe sie heim nach Tübingen, ganz bestimmt.
      „Sind Sie ein Lehrer?“ fragte sie dann. Ich musste verneinen. Sie wiederholte trotzdem: „Ein Lehrer … Sie müssen ein guter Mensch sein.“ Ich machte eine abwehrende Geste und kam mir unsauber vor. In mir ein Bedürfnis nach Seife und Händewaschen.
      Auf einmal nahm auf meiner anderen Seite noch eine Dame Platz, eine Vierzigerin, adrett gekleidet und noch ziemlich rosig. Sie jedenfalls war zweifellos eine Touristin. Die beiden Frauen begannen sich zu mustern, die linke tat es feindselig, die rechte zurückhaltend. Da stand die Ältere wortlos auf und ging zu einer anderen Bank. Von dort aus beobachtete sie den Fortgang der Ereignisse.
      „Entschuldigung, dass ich gerade hier Platz genommen habe“ - ich rückte fast unmerklich ein wenig nach links -, aber ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Wohnen Sie jetzt auch hier?“ Missverständnisse schienen dort in der Luft zu liegen.
      Wir stellten beide alles richtig. Sie sagte mir, sie mache nie ein Geheimnis daraus, wenn sie zum Beispiel draußen im Gasthof oder auf einer Veranstaltung einen Fremden kennen lerne. Man erfahre es ja doch … Seit vierzehn Jahren lebe sie schon hier unter den mehr als tausend Patienten, vor vierzehn Jahren sei sie aus Göppingen hierher gebracht worden. In Göppingen lebe noch immer ihre Schwester, die sich gar nicht für sie interessiere. Vor drei Jahren sei sie zuletzt auf Besuch gekommen und sie sei so kalt gewesen …
      „Es geht mir nicht schlecht, nur eine richtige Arbeit fehlt mir. Ich würde so gern arbeiten … Manchmal habe ich ja diese Anfälle, zuerst ist es ein leichter Schwindel, dann ein richtiger Rausch. Und später erscheint mir die Jungfrau Maria … Die Schwester Oberin sorgt dann dafür, dass ich allein in einem besonderen Raum bleibe, und die Schwester Oberin hat auch ein Mittel, eine Spritze, dann bin ich bald wieder ganz normal, wie jetzt … Nur selten dauert es länger an, dabei ist mir auch unser Herr Jesus schon erschienen. Ich habe mich vor ihn hingekniet, er hat mir die Hand mit dem Ring gereicht, ich habe den Ring geküsst …“
      Sie war lebhaft geworden und kam mir allmählich näher. Ich meinerseits rückte langsam nach links und hatte schon fast das Ende der Bank erreicht, als der Wärter mit meinem Vater kam: „Herr Abendschön …“
      Wir standen auf. Ich nickte ihr zu und wandte mich von ihr ab und wollte zu meinem Vater hinüber.
      Im Fortgehen rief sie meinem Vater zu: „Er ist dein Sohn, ja? Ich habe es nicht gewusst, aber ich habe ihn erkannt.“
      Da ging ich rasch mit meinem Vater tiefer in den Park hinein.


6. Der Geldmacher

Trug ist ein seltener süddeutscher Name. Er kommt nur im Gebiet der Donauversickerung häufig vor. Goldstrand ist ein kleiner Kurort an der Nordsee. Suchen Sie ihn nicht im Atlas, er ist nur auf Spezialkarten zu finden. Der Kurdirektor von Goldstrand heißt Trug, die Leute nennen ihn Bäder-Trug, zur Unterscheidung von dem anderen. Es ist nicht bekannt, welches Parteibuch Bäder-Trug hat, falls er überhaupt eins besitzt.
      Der Filialleiter der Sparkasse in Goldstrand heißt auch Trug. Er ist etwas jünger als Bäder-Trug und einige Zeit nach ihm aus dem Süden heraufgekommen. Es ist nicht bekannt, ob die beiden näher miteinander verwandt sind. Es bleibt ebenfalls offen, ob Sparkassen-Trug ein Parteibuch besitzt.
      Seit Sparkassen-Trug in Goldstrand ist, haben zwei früher vernachlässigte Branchen sich dort gut entwickelt: Bauwirtschaft und Bankwesen. Die Kreditvergabe hat stark zugenommen. Die Hypotheken haben sich vermehrt. Die Terminkalender der Notare sind gut gefüllt. Und die Baukräne drehen sich.
      Einer der Bauherren ist A. Lias aus Stuttgart. Er hat Bauland in Goldstrand von einer Tante geerbt. Auf ihm werden jetzt Ferien- und Zweitwohnungen hochgezogen. A. Lias bekommt sein Bauvorhaben erstmals beim Richtfest zu sehen. Bis dahin ist Sparkassen-Trug fast jeden Tag auf der Baustelle, um alles zu überwachen. Gewiss, die Errichtung von Wohnblocks gehört nicht zu den eigentlichen Aufgaben einer Sparkasse … Nun ja.
      Es gibt auch einen Architekten. Sparkassen-Trug hat den billigsten seiner Zunft ausgesucht. Der Architekt sagt: „Ich bin geschieden, ich muss Unterhalt für fünf Kinder zahlen, ich nehme jeden Auftrag an.“ Sparkassen-Trug sagt über den Architekten: „Ich muss ihm jeden Tag in den Hintern treten, aber er lacht mich immer freundlich an.“
      Ein Generalunternehmer aus Paris hat die Ausschreibung gewonnen. Die leeren Rotweinflaschen neben der Baugrube sind aus Spanien und die Bauarbeiter zu zwei Dritteln aus Nordafrika. Die Kripo braucht zwei Busse, um die Illegalen aus Marokko und Algerien zur Vernehmung zu fahren. Die Pariser Firma zieht sofort ab. Es ist Winter, die Wohnungen sollen in sechs Wochen bezugsfertig sein. Jetzt kommt eine einheimische Baufirma doch noch zum Zug. In den kleinen Wohnungen treten die ersten Möbelpacker den vielen Handwerkern auf die Füße, die noch lange nicht fertig sind.
      Insgesamt verkaufen sich die Wohnungen nur schleppend. Sparkassen-Trug führt immer neue Interessenten in eines der „Objekte“. Wenn sie so einen Ladenhüter besichtigen, sagt Sparkassen-Trug: „Kaufen Sie nur ruhig, es ist kein Risiko dabei – diese Wohnung werden Sie doch jederzeit mit Kusshand wieder los.“ Und nach dem Akt beim Notar gehen die Preise für Wohnungen am Ort langsam in den Keller.
      Einer seiner Kunden sagt später von Sparkassen-Trug: „Ein eiskalter Lügner.“ Wenn’s nur die Bilanz vergoldet hat.



7. Drei Zimmer, Küche, Bad

Zwei Jahre habe ich in dieser möblierten Wohnung in Moabit gelebt. Der Blick ging über den Tiergarten, rechts die Siegessäule, links der Fernsehturm am Alexanderplatz. War ich dort Mieter oder Untermieter? Oder Unteruntermieter? Jedenfalls war es eine rechtlich wacklige Konstruktion. Ich muss etwas ausholen …
      Wissen Sie, was Lastenausgleichswohnungen waren? Nun, der Staat gab Bauherren billiges Geld, die Wohnungen durften nur an Vertriebene vergeben werden, die Mieten waren niedrig. Hier gab es nun einen Oberschlesier, nennen wir ihn Matecki, nach Krieg und Vertreibung in zweiter Ehe mit einer geschiedenen Lehmann verheiratet. Sie war nicht vertrieben und brachte ihm einen Stiefsohn ein: Heribert. Die Konfusion begann, als die geschiedene Lehmann starb und Heribert Ärger mit Matecki bekam. Der Stiefvater ergab sich, wie es in alten Romanen heißt, dem Trunk. Er soff also, grölte und randalierte nächtens im Treppenhaus. Die Nachbarn beschwerten sich, der Vermieter kündigte.
      Ich habe die Prozessakte in der Wohnung gefunden. Das Verfahren endete mit einem außergerichtlichen Vergleich. Matecki verließ die Wohnung, Heribert durfte bleiben, der Vermieter nahm die Kündigung zurück. Wie bitte? Ja, sie fingierten gegenüber der Behörde die Fortdauer des Mietverhältnisses mit dem Berechtigten Matecki. Nur er konnte nach dem Gesetz dort Mieter sein, nicht Heribert allein. Matecki war also zum zweiten Mal vertrieben.
      Heribert widmete sich mit Erfolg der Schauspielkunst. Er bekam ein längeres Engagement in München und wollte die Berliner Wohnung behalten. Jetzt kam ich ins Spiel. Wir schlossen einen jederzeit kündbaren Mietvertrag und ich zog dort heimlich ein. Miete und Telefonrechnung bezahlte ich monatlich per Postanweisung unter Heriberts Namen. Bei der Rundfunkgebühr gab ich als Einzahler Matecki an.
      Alles ging gut, fast alles. Die Hausmeisterin gab mir zu verstehen, sie wisse Bescheid – und falls es herauskomme, habe sie nichts gewusst. Mit den Nachbarn hatte ich keinen Verkehr. Nur der Briefträger mischte sich ein, er meldete der Gebührenstelle, dass da kein Matecki mehr wohne, sondern ein Abendschön. Ich musste das Radio ummelden.
      Tollkühn geworden vermietete ich nach einiger Zeit ein Zimmer an K. Er war damals Fischverkäufer und wurde später Geheimagent. Er war gewitzter als ich, kannte viele Kniffe und viele Leute. Ich wollte von seinem Wissen profitieren. Wir passten nicht gut zusammen und lachten doch viel miteinander. Wir waren jung.
      Ab und zu brachte K. nachts Gesellschaft für sich mit nach Hause. Manchmal verdross es mich. Ich erinnere mich an einen Vorfall. K. klopfte nachts um drei an meine Zimmertür und sagte fröhlich: „Du, ich hab ihn grad rausgeschmissen, ein unverschämter Kerl …“ Dann rannte er zum Spion und kam lachend zurück: „Jetzt schifft er ins Treppenhaus!“ Ich sah zu, dass ich K. bald loswurde.
      Manchmal rief Mateckis damalige Freundin an und fragte: „Ist Heribert da? Oder wohnen Sie jetzt dort?“ Ich sagte: „Nein – nein.“ Dann legte sie auf. Braute sich etwas zusammen?
      Die Wohnung gefiel mir immer weniger. Die Schränke voll gestopft mit den Sachen fremder Leute. Die Probleme, wenn eine Reparatur notwendig wurde. Das ewige Rattern der Züge auf dem Stadtbahnviadukt. Und so suchte ich mir etwas Neues und zog auf die andere Seite des Tiergartens.


8. Alles unter Kontrolle

„Habe ich Ihren Fahrausweis schon gesehen?“ Der Zugschaffner sah mich durchdringend an. Ich sagte, mühsam beherrscht: „Ja, schon vor Hannover. Bin seit Hamburg im Zug.“ Und ich dachte: Geht das schon wieder los … Der Schaffner entfernte sich, einen Rest Zweifel in seinem Blick. Natürlich weiß ich, dass einer wie er heute Zugbegleiter heißt. Karl Valentin würde darauf bestehen, dass ein Zugbegleiter den Zug neben dem Zug zu begleiten hat. Ein Begleiter einer Sache kann sich doch nicht innerhalb von ihr befinden.
      Merkwürdig, wie oft ich bei Amtspersonen Verdacht errege. Aus einer Menschengruppe werde gewöhnlich ich herausgepickt. Die europäische Einigung ist für mich auf jeden Fall ein Segen. Seit das Schengener Abkommen in Kraft ist, bleiben mir einige peinliche Situationen erspart, vor allem bei Eisenbahnreisen ins benachbarte Ausland. Wie oft ist das vorgekommen: Der Grenzpolizist oder der Zöllner betritt unser voll besetztes Abteil. Wer muss sein Gepäck durchsuchen lassen? Ich natürlich. Wessen Personalien werden als einzige per Computer mit der Fahndungsliste verglichen? Meine natürlich. Das ist so demütigend. Dabei gibt es wenige, die so unbescholten sind wie ich. Warum also? Es muss meine Ausstrahlung sein. Wirke ich unsicher? Sollte ich einen Kurs belegen: Souverän auftreten in allen Lebenslagen? Fällt mir nicht ein. Dafür frage ich mich, wie viel Menschenkenntnis diese professionellen Kontrolleure tatsächlich mitbringen.
      Auch die Kellner mögen mich nicht besonders. Da wurde ich einmal Zeuge einer Straftat, ihr Name: Zechprellerei. Am Nebentisch aß einer mit gutem Appetit und entmaterialisierte sich dann vor dem Bezahlen. Was hatte ich damit zu tun? Der Kellner lamentierte an meinem Tisch und – Sie werden es nicht glauben – er ließ mich bei meinem nächsten Restaurantbesuch gleich nach dem Servieren die Rechnung bezahlen. Ich verzog keine Miene und ging nicht wieder hin.
       Ein anderes Mal lag ich zu Hause in meiner Badewanne und ließ die kleine gelbe Gummiente auf den Wellen treiben, die ich mit meiner Schaumschlägerei erzeugte. Es klingelte. Ich erwartete niemand. Dennoch sprang ich rasch aus der Wanne, glitt auf den feuchten Kacheln aus und prellte mir die Hüfte am Beckenrand. Tropfnass eilte ich zur Sprechanlage. Mein Besucher war schon an der Wohnungstür. Die Fahndung nach Schwarzsehern! Solche Leute verschaffen sich immer hintenherum Einlass ins Haus, klingeln unten bei Zitzewitz, wenn sie zu Abendschön wollen. Ich war hochgradig verdächtig – seit Jahren kein Fernsehgerät angemeldet. Damals besaß ich tatsächlich keins. Er wollte also unverzüglich und ohne jeden Aufschub in meine Wohnung gelassen werden. Darf ich mich wenigstens noch abtrocknen und anziehen? Er gewährte es mir mit Groll in der Stimme. Selbstverständlich ging er davon aus, ich würde die eine Minute nutzen, um das Gerät zu verstecken. Da er schon wieder gegen die Tür hämmerte, empfing ich ihn in Unterwäsche – und er stürmte gleich an mir vorbei. Die Wohnung war klein, er kannte die verdächtigen Stellen, blickte hinter die Vorhänge, unter die Spüle. Als er ging, sagte sein missmutiger Gesichtsausdruck: Diesmal noch entwischt!
      Damals, in den alten Zeiten, unternahm ich manchmal Tagesbesuche in Ost-Berlin. Einige kennen vielleicht noch die Situation im Bahnhof Friedrichstraße, diese Katakomben mit Neonfunzellicht, in denen eine Masse nervös schweigender, einander sehr fremder Menschen auf etwas Ungewisses wartet. Ich warte mit ihnen und werde per Lautsprecherdurchsage wieder einmal herausgefiltert. Ein sehr korrekter und dabei auch noch atypisch freundlicher Herr erwartet mich in einem abgelegenen Raum zu einer Einzelbesprechung. Ich erfahre keinen Grund dafür. Gibt es schon eine Akte über mich? Er will wissen, wo ich arbeite und was ich dort im Einzelnen tue. Er stellt sehr persönliche Fragen, etwa: Warum sind Ihre Haare so kurz geschnitten? Es schmeichelt mir fast, so ernst genommen zu werden. Dann durchsucht er meine Jacken- und Hosentaschen in der Hoffnung, illegal eingeführte Ostmark zu finden. Ich enttäusche ihn. Er entlässt mich mit einem alles in allem gewinnenden Lächeln: Wir sprechen uns noch, mein Lieber. (Glauben Sie mir doch, lieber Leser, ich habe nie eine Verpflichtungserklärung für die Stasi unterschrieben. Und wenn doch eine Akte existiert?)
      Die Unterstellungen, die Mutmaßungen, meine harmlose Person betreffend, nahmen im Lauf der Zeit absurde Züge an. Ich war gelegentlich in Wien zu Besuch. Eines Abends bummelte ich mit meinem Gastgeber durch die Innere Stadt. Er wollte dann im Rathauspark cruisen, wonach ich durchaus kein Bedürfnis verspürte. Ich wollte in der Nähe warten, auf dem Gehweg neben der Ringstraße. Ich sah auf die prächtigen Fassaden. Das Parlament! Die Universität! Das Burgtheater! Nicht lange – und ein gepanzertes Fahrzeug hält dicht neben mir am Straßenrand, ein Trupp Uniformierter stürmt heraus, umstellt mich, und einer führt ein peinliches Verhör durch: Warum ich in Wien sei? Um im Wienerwald spazieren zu gehen? Museen anzuschauen? Germknödel zu essen? Ha! Ich bekomme strenge Auflagen: mich am nächsten Tag auf der und der Wache zu melden – was sich dann als Nonsens herausstellt. Wessen hatte man mich verdächtigt? In die Ermordung eines jüdischen Stadtrates einige Tage vorher verwickelt zu sein.
      Und nun noch ein Gegenbeispiel: In meiner Berliner Zeit hatte ich einmal Besuch aus Frankfurt. Wir kamen vom Kudamm und nahmen an der Uhlandstraße die U-Bahn zum Wittenbergplatz. Ich besaß eine Monatskarte, mein Gast wollte es darauf ankommen lassen. Dann eine Fahrscheinkontrolle – und mein Frankfurter hält, einer plötzlichen genialen Eingebung folgend, dem Kontrolleur die eigene Frankfurter Zeitkarte unter die Nase. Der schaut nur flüchtig hin und sagt: Danke, gute Weiterfahrt. Tief überzeugt, dass alles in Ordnung sei.


9. Eine Krankengeschichte

Jetzt kann ich ja alles ausplaudern, was er mir anvertraut hat. Er hat uns für immer verlassen. Nein, nicht was Sie denken. Er lebt noch, weit von hier, in Australien. Er ist ausgewandert. Sagte, er fände die Luft hier bei uns zum Ersticken. War immer schon etwas überspannt gewesen. Dass sie ihn da unten noch hereingelassen haben, in seinem Alter …
      Unser Patient – so will ich ihn nennen, denn er laborierte ständig an irgendetwas – wohnte anfangs in einem der ärmeren Stadtviertel. Die Praxis seines ersten Hausarztes lag im Parterre eines dieser schäbigen Backsteinhäuser. Da ging er mit banalen Infekten hin, ließ sich drei, vier Tage krankschreiben, bekam sein Rezept für ein schleimlösendes Mittel. Der Arzt wirkte verbraucht; abgenutzt wie die Fassaden dieser hastig hoch gezogenen Nachkriegsbauten. Er war nicht mehr jung und mehr als mager – ausgezehrt. Sprechstunde hielt er nur im Beisein seiner Frau ab. Die Leute nannten sie Frau Doktor, obwohl sie nicht einmal Ärztin war. Sie organisierte die Praxis und auch den genauen Ablauf der Untersuchung. Sie sagte: Jetzt musst du ihn abhorchen. Lass ihn Kniebeugen machen. Schreib das Rezept aus … Ihr apathischer Gatte belebte sich erst, als er die Adresse des Patienten las: Ah, da wohnen Sie … Die Ecke kenne ich ja. In Nummer drei ist doch diese Kneipe, nicht? – Seine Augen leuchteten auf einmal. Ihr war es peinlich: Karlheinz, bitte!
      Tripper und Syphilis konnte man da nicht behandeln lassen. Seine Gonorrhöe bekamen sie in der großen Hautarztpraxis schnell in den Griff. Zwei der drei Ärzte waren homosexuell. Einer von diesen beiden nahm alles nur von der heiteren Seite. Ja, ja, die böse Syphilis, er sang es beinahe, wenn er mit dem positiven Befund zu einem anderen Kranken über den Flur eilte. Unser Patient suchte sich einen anderen Facharzt, als er selbst einmal verdächtige Flecken entdeckte. Bei Dr. M. war alles sehr diskret. Er führte die Praxis als Einmannbetrieb, ohne Sprechstundenhilfe. Dr. M. war schon älter, sehr mager, etwas zittrig. Dr. M. konnte ihn beruhigen: Negativ, negativ. Nur Lichen ruber, harmlos, nicht behandlungsbedürftig.
      Von einer kleinen Vergnügungsreise zurückgekehrt, fand unser Patient dann einen von Dr. M. persönlich in seinen Briefkasten geworfenen Zettel vor: Ihr Befund war doch positiv, kommen Sie umgehend in meine Praxis! – Dr. M. hatte die Karteikarten verwechselt. Er begann sofort, Penicillin zu spritzen. Die Kur zog sich über Monate hin. Mit zittriger Hand injizierte Dr. M. nach und nach achtundvierzig Spritzen. Dann sollte eine Behandlungspause eingelegt werden. Der Patient zog einen anderen Spezialisten zu Rate und erfuhr, er sei längst auskuriert. Maximal zehn Spritzen hätten dafür ausgereicht.
      Unser Patient hatte auch mal ein Depressiönchen, eigentlich nicht der Rede wert. Er wohnte damals vor der Stadt, in einem kleinen entzückenden Villenvorort. Die Umgebung bekam ihm wohl nicht. Sein neuer Hausarzt wusste nicht weiter und überwies ihn an einen Psychiater. Prof. P. leitete eine Fachklinik und ordinierte daneben für Privatpatienten. Er hatte natürlich ein Mittel der Wahl, ein Psychopharmakon, das zwar nur allmählich wirkte, dafür umso tiefer in alle Funktionen eingriff. Und beim Absetzen – langsam ausschleichen! – kam es zu Schwindelattacken.
      Mindestens ebenso hilfreich war die Gesprächstherapie. Prof. P.: Ihre Symptome sind typisch für das Ende der Lebensmitte. - Ach ja? – Prof. P.: Herr X, sind Sie glücklich? – Hm, seltsame Frage an einen Depressiven … Prof. P.: Ich rate zu einer Psychoanalyse und zwar bei meinem Kollegen Dr. Soundso in der Stadt. Der ist auch so veranlagt wie Sie. Ich könnte es selbst machen, aber ich bin naturgemäß mit Ihrer Seelenlage nicht so vertraut …
      Prof. P. hielt den Zeitpunkt für gekommen, seinem Patienten die Endrechnung zu präsentieren. Von ihm persönlich handgeschrieben, wie kalligraphiert, mit hübschem Endsümmchen. – Würden Sie mir bitte in mein Büro folgen? – Unser Patient ging hinter ihm her. Auf einmal fiel der Professor in eine Gangart, die man sonst nie an ihm bemerkte. Er wiegte sich jetzt in den Hüften, dazu peinlich aufreizende Pendelbewegungen des verlängerten Rückens. Um Gottes Willen, Herr Professor, übertreiben Sie es nicht mit der Übertragung!
      Unser Patient hatte dann keine Lust auf Psychoanalyse. Er wanderte stattdessen nach Australien aus. Ich werde ihn nicht wiedersehen.


10. Mord(s)geschichten

Seien Sie froh, wenn Sie in Düsseldorf oder einer anderen großen Stadt leben. Hier – hier im Kurort ist es wirklich gefährlich. Sie glauben mir nicht? Dann will ich mal den Namen Zurwehme fallen lassen … Sie erbleichen: der Serienmörder? Genau der.
      Auf seiner Flucht quer durch Deutschland hinterließ er damals diese furchtbare Blutspur – und er war auch hier. Zwar ist bei uns niemand ernstlich zu Schaden gekommen, doch das verdanken wir womöglich allein dem Krach durchratternder Züge. Unsere kleine Stadt liegt an der Strecke von Hamburg nach Hannover, eine der am stärksten befahrenen im Land. Besonders die Güterzüge erzeugen Tag und Nacht infernalischen Lärm, der weit übers Land zu hören ist.
      Dieter Zurwehme ist natürlich nicht in einem Hotel abgestiegen. Er brach in ein Gartenhäuschen ein und machte es sich da gemütlich. Diese Laubenkolonie ist keine zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt, nur der Bahndamm liegt dazwischen. Zittern Sie mit mir, wenn wir uns vorstellen, wie groß die Gefahr für mich war.
      Ich bevorzuge nämlich Stoßlüftung, reiße morgens als Erstes alle Fenster und die Terrassentür weit auf und mache mir dann im Bad zu schaffen. Fast fertig dort, höre ich ein Geräusch aus der Küche. Ich durchquere die Diele und rufe schon: „Moritz, bist du heut aber früh unterwegs!“ Das ist ein Kater aus der Nachbarschaft, der mich ab und zu besucht. Er bekommt sein Futter in der Küche und wartet dort auf mich, bis ich komme. Aber statt des Katers finde ich den schrecklichen Zurwehme, wie er auf einem Stuhl sitzt und mit dem Daumen die Schärfe meines Brotmessers prüft …
      Ich glaube, er ist wirklich nur abgereist, da es ihm hier zu laut war. Ansonsten hatte er wenig zu befürchten. Unsere Mordaufklärungsquote, sonst um neunzig Prozent, beträgt exakt null Komma null. Ja, doch. In vielen Jahren hat es nur einen Mord gegeben – und der blieb bis heute unaufgeklärt.
      Das Opfer war ein Schuldirektor. Das entschuldigt nichts, dafür gibt es noch keine mildernden Umstände. Ich selbst habe ein Alibi. Ja, Lehrer machen sich oft unbeliebt. Es drangen Gerüchte in die Öffentlichkeit, und zwar aus den Mauern einer Jugendstrafanstalt, dass ein ehemaliger Schüler ihm nicht nur in Liebe und Verehrung zugetan gewesen sei. Die Ermittlungen verliefen insoweit im Sand. Und die Polizei hatte bereits einen Hauptverdächtigen. Cherchez la femme! Obwohl nämlich unser Schuldirektor CDU-Mitglied war – ich bin heute etwas indiskret -, beliebte es ihm, seines Nächsten Weib zu begehren. Sie wohnte weiter weg, dennoch kam der Gehörnte hinter den Sachverhalt. Und es gab Schmauchspuren im Auto dieses Verdächtigen …
      Schneller, kommen Sie zu Ende, aus Ihnen wird nie ein guter Krimiautor, höre ich rufen. Also, ein Gutachten im Gerichtsverfahren ergab, dass die Schmauchspuren nicht zwangsläufig mit der Mordnacht in Verbindung zu bringen sind. Der Angeklagte wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Inzwischen war viel Zeit vergangen, Erfolg versprechende Ermittlungsansätze gab es nicht mehr. Der wahre und einzige Mörder läuft immer noch frei herum. Bedenken Sie das, falls Sie hier eine Kur planen.
Es dämmert schon. Sind Türen und Fenster geschlossen? Ich drehe mal eine Runde durch die Wohnung.


11. Die Maus - Nur für starke Nerven

Diese Geschichte hat mir Sandro erzählt. Er ist ein Kollege und lebt in Hamburg in einem alten Haus. Dort kommt so etwas manchmal vor. Ich dagegen wohne in einem neuen Haus auf dem Land. Da gibt es weder Mäuse noch Ratten, auch sonst kein Ungeziefer. Nicht dass ich wüsste.
      Rita hat mich damals im Büro angerufen, erzählt Sandro. Wir hätten eine Maus in der Wohnung. Es müsse sofort etwas geschehen.
      Wir treffen uns also in einem Gartenfachgeschäft. Rita sagt: Irrtum ausgeschlossen. Ich hab es rascheln gehört, ich hab im Wohnzimmer eine Käserinde als Köder ausgelegt. Ist fortgezerrt worden, ich hab etwas Graues, Flinkes die Fußbodenleiste entlangflitzen und hinter der Kommode verschwinden sehen.
      Drinnen alles in reicher Auswahl vorhanden: Sämereien, Blumenzwiebeln, Grillgeräte. Etwas gegen Wühlmäuse: Gift. Und wo sind die Mausefallen?
     Wie kann überhaupt eine Maus in unsere Wohnung kommen, frage ich Rita.
      Vom Treppenhaus her, sagt sie, wenn die Wohnungstür länger offen steht.
      Oder durchs Mauerwerk. Doch, Rita, das kommt bei alten Häusern vor.
      Wir kaufen am Ende zwei Mausefallen, eine herkömmliche und eine aus Frankreich importierte, die laut Beschreibung verspricht, die kleinen Nager lebend zu fangen. Man könne sie dann wieder auf freien Fuß setzen, möglichst weit von der eigenen Wohnung. Ich bin gleich gegen diese Falle gewesen, aber Rita hat darauf bestanden. Und sie legt noch ein Buch über Hausmäuse in den Einkaufswagen. Wozu, Rita, willst du eine Beziehung zu deiner Maus aufbauen?
      Abends stellt Rita die humane Mausefalle im Wohnzimmer auf. Es ist ein länglicher Kasten aus durchsichtigem Plastik, an dessen innerer Rückwand der Köder befestigt wird. Wir sind beide mäuschenstill. Rita blättert geräuschlos in ihrem Buch über Mäuse.
      Dann zirpt und säuselt es aus einer Ecke des Zimmers. Wir sehen uns an. Wieder Stille. Wird die Falltür vor dem Häuschen heruntergehen? Stattdessen hören wir ein trippelndes Geräusch. Jetzt läuft sie in die Küche, sagt Rita, wie heute Morgen.
      Der Speck in der Falle ist noch da. Rita wird es zu dumm. Sie stellt die zweite Falle in der Küche auf. Sie sagt: Dabei sind mir Mäuse sympathisch. Ich sollte keine Fallen stellen … Und sie zeigt mir eine Abbildung in ihrem Buch, die eine arglos posierende Hausmaus zeigt.
      Sehr lieb, Rita, aber sie übertragen Krankheiten. Und vermehren sich in einem wahnwitzigen Tempo. Man muss etwas tun … Du, ich mach mir Glühwein und leg mich zum Schwitzen ins Bett. Es kratzt schon den ganzen Tag im Hals.
      So früh?
      Ich erhitze dann den Wein in der Küche. In der Flasche bleibt ein Rest zurück. Die Maus verhält sich still. Auch diese Falle ist noch unberührt. Dann liege ich im Bett und schwitze tüchtig. Rita legt sich mit ihrem Buch neben mich.
      Da, es hat geschnappt. Kannst du nicht nachsehen?
      Unmöglich jetzt, wo ich gerade so schwitze.
      Rita geht in die Küche – und ist gleich wieder da: Du, sie lebt noch! Was soll ich bloß machen?
Gar nichts, verenden lassen.
      Wie roh du bist, Sandro! Rita geht noch einmal hinüber. Sie bleibt ziemlich lange. Ich höre, wie sie die Wohnung verlässt. Einige Minuten später sitzt sie neben mir auf dem Bettrand. Sie sagt: Ich hab sie im Treppenhaus freigelassen. Sie kann sich nicht richtig bewegen. Querschnittslähmung oder so etwas. Furchtbar … Wie soll ich jetzt einschlafen?
      Sie tut es und beruhigt sich allmählich.

Am anderen Morgen: Keine Spur im Treppenhaus. Zum Glück haben wir seitdem keine Mäuse mehr in der Wohnung gehabt.
      Und Ritas Buch, Sandro?
      Verstaubt im untersten Regal.


12. Dada aus dem Computer - Eine Textcollage

„ERBSEN ´N MAIS“ BIETET EINE BEGRIFFSREISE IN EINEN LANDWIRTSCHAFTLICHEN ABGRUND AN, IN DEM DIE LOKALE MÄDCHENUHRZEIT … Wie bitte?!
      Als ich eine Filmkritik zu „Red Dirt“ von Tag Purvis schrieb, sah ich unter www.reddirt.com nach, ob ich mich dort schlauer machen könnte. Nun erinnert mein Übersetzen aus dem Englischen an den Umgang mit einer Knoblauchpresse – das Wesentliche, die Substanz sozusagen, kommt durch, doch bleibt manches von Wert zurück. Ich beschloss, mir erstmals Googles automatische Übersetzung zunutze zu machen. Da tat sich mir eine neue Welt auf, eine Welt der Heiterkeit und des tieferen Sinns. Wenn mich seitdem etwas bedrückt, kehre ich schnell für ein paar Minuten dorthin zurück und bin bald wieder obenauf. Ich zitiere aus dem Filmexposé:
      AN NUR ZWANZIG KÄMPFT GRIFFITH MIT DEN VERANTWORTLICHKEITEN DES INTERESSIERENS FÜR SEINE UNWELL TANTE UND MACHT SICH DEN VERLUST DES MATRIARCH IHRER FAMILIE UND SEINE EIGENEN TRÄUME DES LASSENS DER KIEFER APPLE SORGEN. MIT DER ANKUNFT EINES FREMDEN, GRIFFITHS SORGFÄLTIG FANGEN KONSTRUIERTE WÄNDE DER SCHANDE UND RUHE AN, UNTEN ZU KOMMEN UND SEIN LEBEN NIMMT EINE UNERWARTETE UMDREHUNG.
      Nun, das ging schon recht flüssig. Ich rätsele noch wegen „Verlust des Matriarch“, doch die „unwell Tante“ ist wirklich ein Begriff, der hängen bleibt.Und dann erst: „konstruierte Wände der Schande und Ruhe“, das ist so gewagt wie gelungen. Warum fällt mir so etwas Gutes nicht ein? Da kann man neidisch werden. Was sagen die Filmleute denn über ihre Arbeit. Zum Beispiel das:
      GEBOREN UND IN MERIDIAN, MISSISSIPPI, PURVIS ANGEHOBEN BESCHLOSS ZU SEINEM GEBURTSORT MIT SEINEM RECHTEN MANN PABLO ANTONIO MIRABAL ZURÜCKZUGEHEN, UM DEN FILM ZU SCHIESSEN. EINEN STARKEN KÜNSTLERISCHEN HINTERGRUND TRAGEND, ZEICHNETE PRODUKTION ENTWERFER MIRABAL INSPIRATION FÜR ROTEN SCHMUTZ VON EINER VERSCHIEDENEN GRUPPE DES KÜNSTLERS DIE 17., 18., 19. UND 20. JAHRHUNDERTE ÜBERSPANNEND. KÜNSTLER WIE VERMEER, REMBRANDT UND WELTY HATTE GANZ EINE HAND, WENN ER DIE ART FORMTE, DIE IN DER KREATION DES FILMES KULMINIERTE.
      Ah, sehr aufschlussreich. Aber einen Film schießen? Nun, sie leben in Amerika und überspannen ja auch die Jahrhunderte. Rembrandt und Vermeer hatten glücklicherweise freie Hand. Oder habe ich das falsch verstanden? Und wie steht es um den Komponisten der Filmmusik Nathan Barr? Ich lese:
      SEIT SEINER ERSTEN EIGENSCHAFT HAT NATHAN FORTGEFAHREN, DIE „TOCHTER DES“ MIRAMAX FILM „HENKERS“ ZU ZÄHLEN …
      Hm, hier bleibt der Sinn dunkel. Gehen wir zu etwas anderem über. Tag Purvis hat auch Kurzfilme gemacht. Den Exposéanfang von einem haben Sie schon ganz am Anfang gesehen, ich wage nicht zu formulieren: gelesen. „Landwirtschaftlicher Abgrund, Mädchenuhrzeit“ – für mich deutet sich da der Umschwung vom Unsinn in den tieferen Sinn an. Versuchen wir es mal mit einem anderen Kurzfilm:
      LEBEND IN EINER WELT, IN DER DAS KLINGELN DER MIKROWELLE EIN SMIDGEN GERECHT IST, ERBLICKT DER TEE EIN KLEINES WENIG, DAS, „SÜSSES ´SAURES N“ SÜSSER IST, EINE ANSICHT DER FRAU JENER ÜBERHAUPT VERWIRRENMISSISSIPPI HIMMEL.
      Und das ist sprachlicher Veitstanz. Müsste man sich einen Menschen hinter diesem Text vorstellen, so könnte er ein Dolmetscher sein, der an einer schweren organischen Hirnkrankheit leidet. Oder ein geisteskranker Schriftsteller, dem alles zerfällt: Begriffe, Sprache, Denken.
      Und dann wieder findet man verblüffend Geistreiches, so z.B. wenn bei „Red Dirt“ Cousin und Kusine verwechselt werden und es „Vetter Emily“ heißt. Hat der Computer den Film am Ende gesehen und verstanden?
      Ich wollte noch eine letzte Probe liefern und stelle fest: Jetzt ist die Maschine vor Tiefsinn übergeschnappt. Die Übersetzungen verändern sich auch noch im Lauf der Zeit! Vor zwei Wochen sah der Text zum Kurzfilm „America the beautiful“ anders aus als heute. Jetzt ist es ein nicht wiederzugebendes Chaos von Zeichen geworden. Wörter von Zahlen und Satzzeichen durchsetzt und entstellt. Es ist Magie geworden, Kabbala … Und ich wollte noch Schwester Wütend aus Miami vorführen.
      Schwester Wütend, übernehmen Sie. God bless America.


13. Bei Anruf Wut

„Nein, hier ist nicht die Erotik-Bar, wirklich nicht.“ Ich konnte die Enttäuschung aus dem Schweigen am anderen Ende der Leitung heraushören. Für ihn war es ein harter Schlag, dass jener lauschige Lustort seine Pforten für immer geschlossen hatte. Ich war Anrufe dieser Art schon gewohnt. Meine Hamburger Telefonnummer hatte früher einem beliebten Nachtlokal gehört. Es war nur eine vorübergehende Nachwirkung, über die Jahre gesehen waren Fehlanrufe dort eher selten.
      Anders hier im Kurort, wo viele alte Leute leben. Nicht wenige haben Probleme beim Telefonieren. Entweder schreiben sie sich eine falsche Nummer auf oder sie tippen die richtige falsch ein. Jeder dritte oder vierte Anruf bei mir ist ein Fehlalarm. Ich unterscheide je nach Reaktion drei Hauptgruppen. Da sind zum einen die Schweigsamen. Nachdem ich mich mit meinem Namen gemeldet habe, legen sie nach kurzem verdutzten Innehalten wortlos auf. Natürlich könnte es auch ein Einbrecher sein, der wissen will, ob ich daheim bin.
      Dann gibt es die leicht Beleidigten. Angriff ist ihre beste Verteidigung. „Da ist nicht Frau Butterfass? Wie ist das möglich? Das kann doch nicht sein …“ Diese Sorte bürste ich kurz ab. Und dann haben wir noch die Schuldbewussten. Sie sehen ihren Fehler gleich ein, können ihn aber nicht recht verarbeiten. Sollte man ihnen dabei helfen? Besser nicht. Manche von ihnen entwickeln ähnlich fatale Tendenzen, wie sie Tschechow in „Der Tod des Beamten“ geschildert hat. Sie rufen wieder und wieder an, um sich erst freundlich beraten und am Ende zum Teufel wünschen zu lassen: „Bitte rufen Sie jetzt nicht mehr hier an. Das ist meine, MEINE Nummer!“ brülle ich nach ihrem fünften Fehlversuch ins Telefon.
      Wie kann man nur so unbeherrscht sein … Ich mache doch auch Fehler. Wollte einmal in Österreich die HOSI sprechen, das ist ein spezieller Verein in Wien. Am Apparat war stattdessen ein gemütlich grantelnder Wiener Kleinbürger: „Naa, do is kaa Hosi und a kaa Rosi und kaa Resi …“ So ein Pech. – Beruflich wollte ich einmal eine Leiche obduzieren lassen, verwählte mich, ohne es zu bemerken, und haspelte mein Begehren herunter – bis man mich amüsiert darauf hinwies, sie hätten ein Fotolabor und seien für Leichensektionen weniger gut ausgerüstet.
      Neulich wurde ich um zwei Uhr nachts geweckt. Eine empörte ältere Frauenstimme blaffte mich an: „Barbara, stell den Rappelkasten ab!“ – „Hier ist keine Barbara!“ (Meine Stimmlage kann kaum für weiblich gehalten werden.) – „Barbara, mach sofort den Rappelkasten aus, sonst ruf ich die Polizei an!“ Sie blieb unbelehrbar. Schlaftrunken gelang es mir nicht, sie, ebenfalls schlaftrunken, davon zu überzeugen, ich sei nicht Barbara, ihre Feindin, die ihr die Nachtruhe raubte. Ich gab es auf, legte auf und ging wieder schlafen. Angenehme Nachtruhe, wünschte ich mir selbst.


14. Die Hundeschule

Die Dorfhunde bellten und Walter gab ihnen Antwort. Pauli lag noch im Bett. Die Nacht war unerquicklich gewesen, in seinen Träumen hatte er unwürdige Rollen spielen müssen. Halb versuchte er, ein letztes Mal einzuschlafen, halb dachte er mit zärtlichem Grimm an Walter unten in seinem Zwinger. Was für ein Köter! Sandfarbenes Fell, sehr kräftige Hinterläufe und ein enormes Geschlecht. Pauli konnte ihn sich genau vorstellen, wie er jetzt, am Rand seines Terrains stehend, ins Vorland hinabhorchte und gutturale Explosionen von sich gab.
      Ein Hund zum Fürchten. Dabei harmlos, abgesehen von dieser Tollheit, diesem ewigen, leidigen Apportierzwang. Verdorben war er schon, als sie ihn brachten. Pauli war nämlich hereingelegt worden, damals vor drei Jahren, als sie ihn, vier Monate alt, für fünfhundert Euro bei ihm ließen. Wenn er gewusst hätte, dass sich das herabhängende Ohr niemals aufrichten würde … Ein Schäferhund mit Dackelohr! Daher vielleicht auch das sandfarbene Fell. Ins Riesenhafte war er seitdem gewachsen und mit ihm das Schlappohr.
      Es ging auf neun Uhr morgens. Pauli, dreiundfünfzig Jahre alt, von Beruf Schriftsteller und seit drei Jahren hier auf dem Land ansässig, hatte sich nicht ans Frühaufstehen gewöhnen können. Zu viele Kreuzberger Nächte steckten ihm in den Knochen. Sagte er. Dabei hatte er länger in Hannover als in Berlin gelebt.
      Walter gab keine Ruhe. Er war es gewohnt, um diese Zeit ausgeführt zu werden. Pauli stand auf und zog sich an. Auf dem Weg ins Freie sah er kurz bei Margarita hinein, die schon seit einer Stunde in ihrem Atelier arbeitete. Sie sagte: „Gib mir Bescheid, wenn du zurück bist. Ich mache dann den Tee für uns beide.“ Zwar sorgte sonst jeder für sich selbst – Pauli war seit einiger Zeit Vegetarier -, doch den Tee ließ er von ihr mitzubereiten. Es war ökonomischer, fand er.
      Bevor er den Zwinger öffnete, befühlte er die Außentasche seiner Jacke. Es waren noch genügend kleine Steine drin. Walter war nämlich versessen darauf, Steine aufzuspüren und sie dem zurückzubringen, der sie von sich geschleudert hatte. In diesem Hinterherjagen, Aufschnappen und Apportieren bestand für ihn der ausschließliche Sinn seiner Hundeexistenz. Da ließ er nicht mit sich spaßen. Pauli hatte es erfahren, als er einmal ohne geeignete Gegenstände in den Zwinger trat. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre unter der Wucht des ihn anspringenden Hundes zu Boden gegangen. In höchster Not hatte er sich von dem Lyrikband in seiner Linken getrennt. (Von ihm selbst herausgegeben und eigentlich als Rezensionsexemplar gedacht.)
      Seit diesem Vorfall argwöhnte er, Walter lege es eben darauf an, ihn in diese ausweglose Situation zu bringen, in der er ihm mit leeren Händen gegenüberstand. Dafür sprach, dass Walter ihm nicht erlaubte, sich in seiner Nähe nach einem Stein zu bücken. Er stürzte sich dann sofort auf das von Pauli ins Auge gefasste Objekt. Um jeden Preis wollte er Paulis zugreifender Hand zuvorkommen und sei es auch, dass er nach ihr schnappte. In solcher Lage stieß Pauli dann den Stein mit der Fußspitze von sich, um sich eine Atempause zu verschaffen.
      Walter trainierte, er apportierte immer rascher. Es war der Kampf um den letzten Stein. Es galt, die Steine sehr weit fortzuschleudern, Walter in irgendeinem Dickicht zu beschäftigen und sich rasch mit einem neuen Vorrat zu versehen. Pauli scheute sich nicht, die Steine tief in Brombeerhecken zu werfen, aus denen Walter sich erst nach längerer Zeit, zwar blutend, doch mit dem Stein im triefenden Maul befreite. Pauli konnte sich noch einen weiteren Vorteil in ihrem Spiel verschaffen: Was Arglist war, war Walter unbekannt. Pauli tat so, als hätte er einen Gegenstand in der Hand, mit der er die gewöhnliche Bewegung des Fortschleuderns beschrieb. Walter verfolgte mit schwachen Augen die fiktive Flugbahn und suchte dann ausdauernd und erfolglos den von ihm berechneten Aufprallort im Gebüsch ab. Besiegt kehrte er nach einigen Minuten zurück und gab für eine Weile Ruhe.
      Heute trieb er Walter den Hohlweg hinunter und kehrte mit ihm über die Wiese zurück. Als er ihn im Zwinger eingeschlossen hatte, ging er zum Briefkasten. Ein Brief – schon wieder ein anonymer Brief! Seit seinem ersten Fernsehauftritt vor vier Wochen bekam er fast täglich ein Schreiben ohne Unterschrift, ohne Absender. Wirres Zeug, beleidigende Angriffe, doch gut formuliert, um nicht zu sagen: meisterhaft geschrieben. Er saß manche Stunde darüber und versuchte, Sinn oder Absicht zu ergründen, bislang erfolglos. Er war es satt.
      Pauli ging über die Wiese, zerriss den Umschlag samt Briefinhalt, verstreute alles im Gras. Dann trat er an den Zwinger. Walter kam heran. Sie sahen sich in die Augen. Walter zeigte vollkommenes Verständnis. Pauli sagte: „Kluger Hund. Siehst du, so treiben sie es mit mir. Anonyme Briefe – Steine im Gebüsch …“



15. Alle meine Zahnärzte

Dr. Weiß in Hamburg kam wie auf Kufen ins Behandlungszimmer gerollt. „Was wie Plattfüße aussieht“, sagte er, „sind meine erfrorenen Zehen. Ich habe sie aus dem Krieg mitgebracht.“ Klein und dicklich, wirkte er wie ein freundlicher älterer Maulwurf. Einmal erzählte er vom Zahnziehen an der Ostfront. Sie hätten zum Desinfizieren Pferdeurin genommen. „Altes Mittel aus Ostpreußen. Sehr zu empfehlen.“ Er wollte wissen, wie alt ich ihn schätzte. Ich sagte, ungefähr sechzig. – „Pah, schon fast siebzig. Ich muss noch eine Weile durchhalten. Gegen die Ölpreise kann man kaum anverdienen. Ich habe ein Haus mit hundertvierzig Quadratmetern zu beheizen.“ Und er begann zu bohren.
      Dr. Weiß hatte bei seiner Statur oft Mühe, mit dem Bohrer an die entscheidende Stelle im Mund zu gelangen. „Meine Helferin sagt manchmal: Setzen Sie sich ihm doch auf den Schoß. Na, das würde Ihnen natürlich Spaß machen, wenn Sie vom anderen Ufer wären …“ Das war absurd, damals war ich ein junger Mann. Er wollte es wieder gutmachen und fügte hinzu: „Seien Sie beruhigt, dafür halte ich Sie bestimmt nicht.“ Und er tätschelte mir die Schulter.
      Um diese Zeit musste ich einmal am Wochenende in die Zahnklinik. Der Warteraum für Notfälle war überfüllt. Einer trug Texasstiefel mit Sporen und hatte seine Freundin mitgebracht. Sie war schwanger, hoffentlich von ihm. Er stiefelte schmerzgeplagt wie ein gereizter Tiger vor allen auf und ab. Dann war er dran, ich aber noch lange nicht und hatte auch Schmerzen. Es gibt mitleidige Menschen, die Erbarmen kennen: Ich durfte außer der Reihe ins Behandlungszimmer. Seine Ausstattung war mangelhaft und veraltet, die Stromversorgung des Bohrers setzte in Intervallen aus. Es war sehr aufregend. Endlich war der Durchbruch geschafft, der Herd bald ausgeräumt. Den Rest sollte Dr. Weiß besorgen.
      Als ich den Stadtteil wechselte, wollte ich auch einen anderen Zahnarzt haben. Dr. Gold war jung, dynamisch und voller Ideen. Er sah mir in den Mund: „Das sieht ja nach DDR-Kronen aus … Muss alles ersetzt werden … Und links haben Sie keinen richtigen Biss, merken Sie das denn nicht?“ Er entfernte den Zahnstein und entließ mich für diesmal. Die Helferin sagte: O, wir werden Ihnen viele Termine geben müssen. Machen wir nächstes Mal.“
      Stattdessen konsultierte ich Dr. Schmelz. Er sagte: „Wissen Sie, es gibt Ärzte – und es gibt Kaufleute. Ihre Kronen ersetzen wir nach und nach, wenn es an der Zeit ist.“ An den Wänden seines Wartezimmers hingen Plakate mit Ansichten tropischer Strände. Er verbrachte seinen Urlaub gewöhnlich auf tropischen Inseln. Die Atmosphäre in seiner Praxis hatte etwas Einlullendes. Sanft, behutsam, sehr freundlich. Immerzu wurde gelächelt. Ich glaube, seine Helferin war vielleicht auch seine Geliebte. Sie sagte zu mir: „Zähne ziehen, das kann er!“ und blickte bewundernd zu ihm auf. So sagt eine Konditorsfrau über ihren Mann: „Versuchen Sie einmal seinen Baumkuchen!“
      Wir hatten also eine kleine Debatte über eine Extraktion. Ich drücke mich mit Absicht gewählt aus. Nach dem kleinen Eingriff sagte Dr. Schmelz: „Aspirin, falls Sie Schmerzen haben sollten, vielleicht schon zur Vorsorge, wenn Sie schlafen gehen.“ Dann stand ich im Wartezimmer, die Hand vor dem blutgefüllten Mund. Es war inzwischen eine frühere Kollegin von mir eingetroffen, ich hätte sie gern begrüßt und mit ihr geredet. – „Sagen Sie nichts, ich kenne die Situation.“
      Daheim hörte die Blutung allmählich auf. Ich hatte es hinter mir. Erleichtert machte ich mir Tee und trank drei Tassen Assam Broken. Und schluckte zur Nacht Aspirin, wie mir geraten. In meinen Träumen hatte ich das Gefühl von Lakritzstangen in meinem Mund. In Wirklichkeit waren diese weichen Wülste in meinem Mund, die immer länger wurden und mir bereits in den Hals hineinwuchsen, geronnene Blutfäden. Blut sickerte unaufhörlich aus der Wunde und es ließ sich auf keine Weise stoppen. In der Herrgottsfrühe eilte ich mit einem Taxi zum Notzahnarzt. Er sagte: „Ich muss die Schiene erst anfertigen, die Ihre Wunde zusammenpressen soll. Mögen Sie solange fernsehen?“ Und später: „Aspirin? Bei Extraktionen absolut kontraindiziert!“ Den Tee hatte ich ihm verschwiegen.
      Hier auf dem Land gehe ich zu Dr. Biss. Die Leute sagen, er sei ein Pferdenarr. Tatsächlich sieht er wie ein älter gewordener Jockey aus, klein und mager, und er hat auch den typischen Gang. Bei Pferden spielt das Gebiss eine große Rolle. Die raue Stimme von Dr. Biss schallt durch die Praxis wie über eine Rennbahn. Alle Behandlungsräume stehen offen wie Pferdeboxen. Dr. Biss behandelt seine Patienten gewöhnlich parallel. Wenn er einen schon unter sich hat, bespricht er gleichzeitig schon die nächsten Fälle mit den Assistentinnen nebenan. Eine von ihnen bereitet mich in einem Nachbarzimmer auf die Behandlung vor. Ich höre Dr. Biss rufen: „Riecht die Füllung bei Herrn Abendschön noch?“ – „Ja, tut sie, nach Gas.“ – „Dann kriegt er wieder eine Einlage.“ Und alle bekommen alles mit.
      Dr. Biss ist im direkten Umgang mit seinen Kranken überraschend sanft, geradezu zartfühlend. Wenn er hereinkommt, sieht er aus wie ein tüchtiger Handwerker – und ist ein Künstler in seinem Fach. Ein Griff in den Mund, wie bei Pferden, und er ist sich seiner Diagnose sicher. Sofort beginnt die Behandlung. Es ist eigentlich ein Vergnügen, sein Patient zu sein. Ich bleibe ihm treu, bis auf weiteres.


16. Falsche Ansage

Seine Stimme lang nach American Dressing: sehr cremig. „Und jetzt hat unser Hörer Holger Kloß aus Hildesheim eine Üüüüüberrraschung für seine liebe Frau Mareike. Sie feiern nämlich heute ihren dreiundzwanzigsten Hoch-
zeitstag … Sicher haben Sie beide in dreiundzwanzig Jahren einen Schatz an Erinnerungen angehäuft – beneidenswert. Also nun für Frau Mareike Kloß den dritten Satz des Violinkonzerts von Jean Sibelius. Ich verabschiede mich schon jetzt von Ihnen, liebe Zuhörer. Nach den Nachrichten führt Sie Walter Sauerbrey durch den Rest des Nachmittags …“
      Er überraschte sie jedes Jahr mit einem von ihr vorher ausgesuchten Musikstück. Selber etwas Passendes für sie auszuwählen, dazu würde er nie imstande sein. Was hörst du denn gern in letzter Zeit, fragte er sie genau zwei Wochen vor dem Termin, scheinbar beiläufig. Sie hatte es sich jeweils schon längst überlegt. Ohne es noch verabreden zu müssen, saßen sie dann nachmittags zur richtigen Zeit am Kaffeetisch und er stellte das Klassikprogramm ein, das er sonst mied wie der Hund das Stachelhalsband.
      War das überhaupt Sibelius? Sie zweifelte schon nach zwei, drei Takten. Eine gewisse Verwandtschaft war zu erkennen – und doch war es eine ganz andere Musik, zur gleichen Zeit ursprünglicher und raffinierter. Nein, nie im Leben Sibelius. Hatte er etwas Falsches notiert? Und dann –
      „Das ist es nicht. Nicht von Sibelius. Und es ist nicht mal die Violine.“
      „Aber ich habe es doch genau so formuliert: Sibelius, Violinkonzert, dritter Satz. Die werden sich doch nicht vertun …“
      „Es ist keine Violine, es ist ein Cello!“
      „Bist du sicher?“
     Ihr furchtbarer Blick traf ihn. Er sagte nichts mehr. Dachte: Sie hält mich wieder einmal für amusisch. Und diese quälende Erinnerung war wieder da: Vor der Hochzeit hatte sie ihn Klaviermusik von Schubert anhören lassen und er hatte raten sollen, vermutlich den Komponisten, wie er heute annahm. Stattdessen hatte er etwas sehr Törichtes gesagt: Wird irgend so eine Sinfonie sein. – Ihr Lachen war wie Glockenklang gewesen – wenn die Glocke einen Sprung hat. Sie hatten dennoch geheiratet. Musste Liebe gewesen sein.
      Eigentlich gefiel ihr diese Musik noch besser als die von Sibelius. Und sie war neu für sie. Ein beständiges Sehnen, ein kraftvolles Brausen, die Motive rangen miteinander, bäumten sich gegeneinander auf und sanken sich dann in die Arme. Oder sonst wohin. Verschmolzen auf höherer Ebene. Es war erreicht. Jubel über Jubel. Frenetisches Ausatmen. Ein Kraftakt des Glücks – vorbei.
      Jetzt eine nüchterne Frauenstimme aus den Lautsprechern: „Aufmerksame Hörer machen uns darauf aufmerksam, dass es sich bei der soeben verklungenen Musik nicht um das Violinkonzert von Sibelius gehandelt hat. Leider wissen wir nicht, was wir da gerade gesendet haben. Zurzeit ist niemand im Funkhaus, der es herausfinden könnte. Bitte rufen Sie nicht mehr an. In zehn Sekunden die Nachrichten. Im Anschluss daran eine Unwetterwarnung …“
      Wenn nicht durch Zufall wird sie Titel und Komponisten nie erfahren. Das Stück kam ihr im Rückblick bereits so verheißungsvoll vor wie eigenes Leben früher einmal, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Was bleibt in solchen Fällen: ein rein abstrakter Eindruck von vergangenem Glück. Gut möglich, dass sie die Musik, wenn sie erneut irgendwo erklingt, nicht einmal wieder erkennt.
      „Diesmal war es jedenfalls wirklich eine Überraschung. Danke, vielen Dank.“


17. Absurde Großstadt

„Bitte, können Sie mir sagen, wie ich zum Gänsemarkt komme?“ Er ist fremd in der Stadt und ich erkläre ihm den Weg. Während ich es mit wenigen Worten tue, verändert sich sein Blick. Sein Ausdruck ist nicht mehr fragend, sondern jetzt zweifelnd. Wirke ich unglaubwürdig, wieder einmal? Unzuverlässig? Inkompetent? Zum Teufel, er soll zuhören und sich danach richten! Ich haspele den Rest meiner Wegbeschreibung unlustig herunter und lasse ihn zurück. Und er – fragt an der nächsten Ecke einen anderen Passanten. Der kann ihm keine andere Auskunft geben, der Gänsemarkt hat nun mal seinen unverrückbaren Platz in der Stadt. Aber der andere gibt die Auskunft bereitwilliger, um Überzeugungskraft bemüht. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, ich kriege es aus einem Augenwinkel noch mit. Tatsächlich, erst jetzt schlägt der Fremde den richtigen Weg ein.
      Wo, bitte, geht’s zur Oper? Zum Hafen? Zum Hauptbahnhof? Die meisten glauben mir nicht und fragen sich weiter durch. Sie wollen es nicht nur erklärt haben, es soll auch mit Nachdruck geschehen, mit persönlichem Interesse, mit Engagement … Meine knappe, bloß sachliche Antwort ist ihnen verdächtig. Ich will sie eben nicht überzeugen, ich bin nur ein anonymer Passant, funktioniere beinahe wie eine automatische Auskunft. Ist mir im Grunde doch egal, ob er die Oper findet oder nicht … So übermittelt wird meine Auskunft nicht akzeptiert, sie wird als persönlich kränkend empfunden. Deshalb fragen sie noch einen anderen.
      Den äußersten Gegensatz dazu bilden unfreiwillige Paare in der Großstadt. Ich ging einmal über den Jungfernstieg und hielt folgende kleine Szene für mich fest. An jeder Ecke regeln dort Ampeln den Verkehr. Fußgänger wechseln vom Stillstehen zum hastigen Gehen. Ein Herr und eine Dame, beide Anfang dreißig, wollen blicklos aneinander vorbeigehen und fühlen sich plötzlich am Vorwärtskommen gehindert. Sie werden auf eine ihnen noch rätselhafte Weise festgehalten. Wer ist der oder die Unverschämte? Mit suchendem und auch schon strafendem Blick erforschen sie die Umgebung. Jetzt stehen sie beide allein auf dem Fußgängerübergang, die Wogen der Passanten haben sich geteilt und verlaufen. Fest verbunden sind sie miteinander: Die runde Krücke seines unternehmend abgespreizten Stockschirmes hat den mobilen Lederriemen ihrer Schultertasche in seiner raumfordernden Bewegung aufgefangen. Nun haben sie es begriffen. Sie nestelt den Riemen von der Krücke los. Und dann gehen beide sofort weiter, ohne auch nur zu lächeln.
      Eine andere Variante ist das hartnäckige Nichtverstehenwollen einer Partei. Es war einmal in Berlin, zur Winterszeit am Kudamm. Eine Frau verließ den Doppelstockbus durch die Tür neben der Fahrerkabine. Dabei blieb das eine Ende ihres zwei Meter langen Wollschals in der automatisch schließenden Tür hängen. Sie klopfte sofort gegen die Scheibe der Tür, um dem Fahrer zu signalisieren: Mach die Tür noch einmal kurz auf. Aber der legte dem Klopfen eine andere Bedeutung bei: Ich will auch noch mit. Der Fahrer blieb stur: Tür schon zur Abfahrt geschlossen. Soll sie den nächsten Bus nehmen. Die Ampel schaltete auf Grün. Die Frau klopfte energischer. Immer noch erfolglos. Der Bus fuhr an. Die Frau lief noch ein Stück neben dem Bus her – schließlich wollte sie nicht stranguliert werden. Dann riss der Schal, sie flog auf das Gehwegpflaster. Der Krankentransport war schnell da. Sie schafften sie, ohne viel zu fragen, ins nächste Krankenhaus: Platzwunden im Gesicht und ein Speichentrümmerbruch rechts.


18. 1001 Missgeschicke

Wo passieren mehr Unfälle und Missgeschicke, daheim oder im Büro? Ich behaupte, das Büro schlägt das Zuhause nach Punkten. Die Gründe liegen auf der flachen Hand: Man ist nicht zur Entspannung auf Arbeit, man ist dort nicht wirklich zu Hause, die Kollegen laufen einem permanent vor die Füße – und dann soll man auch noch Leistung bringen und zwar nicht zu knapp und ein bisschen plötzlich …
      Ja, ja, ich weiß, noch immer stürzen Hausfrauen beim Fensterputzen ab, reißen Kleinkinder Töpfe mit siedendem Wasser vom Herd und verwüsten Hobby-Autorinnen Wohnzimmer und Küchen beim Nachfüllen von Druckerpatronen. Aber was ist das alles gegen einen typischen Bürotag?
      Sich mit Tinte zu besudeln, ist dort eine der leichtesten Übungen. Da lässt man sich morgens unausgeschlafen am Schreibtisch nieder, baut die Siebensachen auf und stellt fest: Das Stempelkissen ist schon wieder ausgetrocknet. Ein Griff zum Behälter mit der Stempelfarbe, ein Druck darauf, kommt nix, noch ein stärkerer – und schon schwimmt die halbe Schreibtischplatte in Blau, Schwarz oder Rot, je nachdem welche Farbe Sie bevorzugen. Momentan bevorzugen Sie keine, Sie saugen mit Konzeptpapier die Flecke auf und verschmieren sie dabei erst recht. Dann stehen Sie im Waschraum und rubbeln sich die verfärbten Finger sauber und wie von ungefähr fällt Ihr Blick in den Spiegel: das neue Hemd! Die Manschette hat also auch was abbekommen, während Sie die Tischplatte bearbeitet haben. Bringt’s die chemische Reinigung?
      Zurück in Ihrem Zimmer wollen Sie nach gründlichem Lüften den Fensterflügel schließen. Sie stehen davor, greifen danach – in diesem Augenblick reißt ein Kollege die Tür auf, es ist plötzlich Durchzug, der Fensterflügel schnellt an Ihnen vorbei und seine Metallkante schlitzt Ihre Oberbekleidung (Pullover, Jackett, Bluse) auf. Haftet der Betrieb dafür? Sie wollen sich in einem anderen Raum Rat holen und …
      … finden im Flur einen Engpass vor. Das ist der nur ein wenig korpulente Kollege X, der Ihnen entgegenkommt und Sie zum Ausweichen zwingt, immer an der Wand entlang. Die ist allerdings vor einer Stunde frisch gestrichen worden, hübscher Ockerton – passt er auch zur Farbe Ihrer Hose? (Sie müssen sowieso zur Reinigung.) Die Malerfirma hat kein Warnschild aufgestellt. Kann man daraus Ansprüche ableiten?
      Jetzt wird endlich mal gearbeitet. Und wie! Die Ausgangspost her, die Eingangspost, die Mahnungen, die Beschwerden … Was schreibt der da? So ein Vollidiot. Diktat an … Sie sind ja richtig in Schwung gekommen – und schwungvoll landet das Diktiergerät in hohem Bogen auf dem Fußboden. Entglitten. Neuerdings entgleitet einem so manches. Sind’s die Nerven? Oder das Alter? Das Gerät funktioniert nicht mehr. Muss, wenn möglich, repariert werden. Nun schreiben Sie diesen Brief und die folgenden gleich selbst am PC. Damit beginnt – aber wir wollen nicht zu ausführlich werden.
      Wohlverdiente Mittagspause. Den Mantel überziehen, frische Luft wird gut tun. Vor Verlassen des Zimmers kontrollieren Sie wie üblich die Manteltaschen. Alles an seinem Platz? Der Schlüsselbund fehlt! Wo zum Teufel kann er sein? Sie suchen das Zimmer erfolglos ab, Sie grübeln … Ja, einmal hatten Sie am Morgen den Schlüsselbund in der Hand, um Ihren Safe aufzuschließen. Sie müssen die Schlüssel danach verlegt haben. Sie suchen noch einmal den Raum und alle seine Winkel ab. Endlich, nach einer Dreiviertelstunde, finden Sie den Schlüsselbund hoch oben auf dem Aktenschrank. Dort haben Sie ihn noch nie abgelegt; muss wohl eine Absence gewesen sein.
      Unten auf der Straße sieht die Welt heute merkwürdig verschwommen aus. Kein Wunder, Sie haben die Brille nicht gewechselt. Die Bildschirmbrille bildet alles bis zur Entfernung von siebzig Zentimetern deutlich ab, das Weitere verschwindet im Nebel. Mag es verschwinden.
      Sie trösten sich mit einer Tüte Butterplätzchen vom Konditor und essen Sie nachher am Schreibtisch auf. Dann ist die kleine Tüte bis auf die Krümel leer. Sie wollen sie wegwerfen, da kommt Ihnen eine Idee. Das haben Sie seit Kindertagen nicht mehr gemacht: die Tüte prall aufblasen, dann mit der Hand auf die Tüte schlagen. Peng, eine Mordsexplosion! Dann stellen Sie fest: Schreibtisch, Monitoroberfläche, Tastatur, alles mit kleinen Tröpfchen übersät. Es ist pures Fett – die Explosion hat zur Fettabscheidung aus den Krümeln geführt.
      Zum Abreagieren eher zu empfehlen: aus öden Dokumenten Papierflieger basteln.


19. Die Kaffee-Mühle

Pottenstein ist das Zentrum der Fränkischen Schweiz. Rund um den Ort jede Menge Felsen. Von jedem Gasthof sieht man einen Felsen und von jedem Felsen einen Gasthof. Die einzeln stehenden Cafés heißen immer Mühle, aber außer Kaffee wird in ihnen nichts mehr gemahlen.
      Wir zwei haben gerade in einer Mühle Platz genommen. Die Kellnerin fragt nach unseren Wünschen. Dabei sächselt sie stark. Wir bestellen jeder ein Stück Pflaumenkuchen und eine Tasse Kaffee. Sie wiederholt ungenau: „Zweimal Pflaumenkuchen und zweimal Kaffee.“ In mir steigt ein fürchterlicher Verdacht auf. Tatsächlich, sie bringt zwei Kännchen. Nun ist die nächste Mühle einen Kilometer entfernt – vielleicht gibt es auch dort den verdammten Kännchenzwang? Und wir wollen den Bus nehmen, der in einer knappen Stunde geht. Wir mucken also nicht auf. Und von diesem Blümchenkaffee kann ohnehin keiner eine Herzattacke bekommen. Dafür ist der Kuchen vorzüglich.
      Die Kellnerin unterhält jetzt das Rentnerehepaar am Nebentisch. Ihr großes Thema ist der Diabetes mellitus; nahe liegend, wenn man in einem Café arbeitet. Sie selbst, sagt die Kellnerin, brauche unbedingt fünf Mahlzeiten am Tag, sonst bekomme sie „Unterzucker“. Das Wort – ihr sollt es lassen stahn – kommt ihr mit jedem Satz erneut über die Lippen: „Unterzucker, Unterzucker!“ schallt es durchs Café. Der alte Mann sagt: „In der Gefangenschaft haben wir fast nichts zu essen bekommen, trotzdem hatte keiner Unterzucker.“ Die Kellnerin beharrt auf ihrer Theorie der Unterzuckerung. Sie kommt ihm mit der Wissenschaft, mit Schwächegefühlen und drohendem Kollaps. Er bleibt unbeeindruckt.
      Dann ist ihr Freund dran, der hat zu viel Zucker. „Ist von heute auf morgen gekommen. Musste gleich anfangen zu spritzen. Keine Tabletten, gleich Spritzen. Das ist immer so bei diesen schweren Fällen …“ Der Kuchen schmeckt nicht mehr ganz so gut. Vielleicht bin auch ich bald so ein schwerer Fall?
      Wir zahlen. Bevor wir gehen, suche ich das WC. (Häufiger Harndrang ist typisch für Diabetes.) Im Flur grüßt mich der Wirt, er verschwindet sofort durch eine Tür. Ein Schild weist mir den Weg. Man muss über den Hof gehen, das WC ist auf der Rückseite des Hauses. Umso überraschter bin ich, als ich im Pissoir den Wirt vorfinde, er Igel, ich Hase. Er fühlt sich zu einer Konversation verpflichtet. Dabei hasse ich Toilettengespräche. Ich bekomme prompt eine Harnverhaltung, wie peinlich.
      Er fragt: „Ihr Begleiter – es ist Ihr Vater?“ – „Nein, mein Freund – und er ist Jahre jünger als ich.“ Nun ist es ihm peinlich. Er will es gutmachen und fragt nach Woher, Wohin und Weshalb: „So, Urlaub? Eine Ferienwohnung in A …? Vier Wochen lang – ja, sagen Sie mal, wird Ihnen das nicht langweilig?“ – „Aber hören Sie, als Wirt hier dürften Sie so etwas eigentlich nicht sagen …“
     Jetzt sucht er den Schaden zu begrenzen: „Es war nicht bös gemeint.“ Aber er traut mir nicht mehr und retiriert verdächtig schnell aus der Retirade. Endlich erreiche auch ich den Zweck meines Aufenthaltes dort.
      „Wo hast du nur so lange gesteckt?“ fragt nachher mein Freund. Als ich ihm umständlich den Weg zu jenem Ort erkläre, fällt mir die Kellnerin ins Wort, nimmt ihn beinahe bei der Hand (als wäre er mein Enkel, fünf Jahre alt) und verschwindet mit ihm. Sie benutzen jene geheimnisvolle Tür, die sonst dem Personal vorbehalten ist.
      Fränkische Schweiz, du Schlupfwinkel deutschen Gemüts, bewahre dir deine Einfalt!


20. Katastrophenflüge

„Zuerst bin ich von Caracas nach Houston geflogen, da gab es Huhn“, sagte der Mitreisende neben mir. „Dann bin ich nach New York weitergeflogen, es gab wieder Huhn. Nun fliegen wir nach London – und ich bekomme zum dritten Mal Huhn …“ Er weinte beinahe. Ja, ja, auch das sind Katastrophen. Eine noch größere wäre eine Salmonellenvergiftung an Bord gewesen.
      Eine andere Katastrophe hätte sich beinahe einmal über und unter den Wolken von Saarbrücken ereignet. Wir saßen ahnungslos in einer zwölfsitzigen Linienmaschine nach Berlin und ruckelten übers Flugfeld. In diesen kleinen Flugzeugen nimmt man alles viel deutlicher wahr: Löcher und Rillen auf dem Rollfeld, später dann die Luftlöcher, von denen Adorno behauptet hat, es gäbe sie schlichtweg nicht. Hier wenigstens irrte der Philosoph … Wir waren schon auf der Startbahn, machten uns startklar – als folgende Durchsage kam: „Herr Doktor Riesenstiefel, Sie haben die Autoschlüssel Ihrer Gattin versehentlich mit an Bord genommen. Würden Sie das bitte nachprüfen …“ Er fischte den Schlüsselbund aus der Jackentasche und gab ihn der Stewardess. Wir ruckelten zurück zur Halle. Die Stewardess riss die Tür auf und verschwand die Gangway hinunter, wobei sie die Schlüssel wie eine Trophäe in der erhobenen Rechten schwenkte: „Frau Doktor, Ihr Tag ist gerettet!“
      Aber jetzt wird es endlich wirklich einmal dramatisch. (Bitte anschnallen.) Allerdings empfand ich damals fast nichts dabei, ich war die ganze Zeit wie anästhesiert. Das kam so: Nur ungern und in allerletzter Minute hatte ich mich in München aus einer – hm, hm – liebevollen Umarmung gelöst und war mit dem Taxi zum Flughafen gerast, bloß um dort zu erfahren, mein Flug nach Berlin sei gestrichen. Der nächste ging in fünf Stunden. War mir doch egal, ich war noch so glücklich … Dann konnten wir nach sehr unruhigem Flug in Berlin wegen Schnee und Eis nicht landen und flogen tief über der damaligen Halbstadt dahin, wie ein neuer Fliegender Holländer. Vielleicht müssten wir noch nach Hannover ausweichen … Als um zwei Uhr nachts Tegel unter uns zum elften Mal auftauchte, wurde die gefahrvolle Landung doch noch gewagt – die Feuerwehrautos standen für alle Fälle neben der Landebahn parat. Es hat mich noch immer kalt gelassen.
      Auch keine Katastrophe, nur eine unglückliche Fügung war das Folgende. Ich flog einmal von Berlin ins Wochenende, nach Köln. Beim Einnehmen der Plätze ließen sich vor mir eine rheinische Mama und ein rheinischer Papa nieder, biedere Kleinbürger mit strengen Gesichtern, denen man das Pflichtbewusstsein von der Stirn ablesen konnte. Rheinischer Frohsinn? Nichts da! Vielleicht hatten sie in Berlin an einer Beerdigung teilgenommen. Ihr Sohn, ungefähr neunzehn und sehr ansehnlich, flog mit. Er wollte sich gerade neben mich setzen. War es mütterlicher Instinkt – die Mama blickte sich auf einmal argwöhnisch um und ihr ahnungsvoller Blick ruhte nicht lange auf uns beiden, da befand sie: „Rolf, wir tauschen!“ Und so geschah es dann.
      In allen Zeitungen liest man heute ständig vom Fliegen. Um mitzuhalten, habe ich einmal in Erinnerungen gekramt. Was tut man nicht alles für das gebildete Lesepublikum. Fliegen, du uralter Menschheitsalptraum, auch ich habe dich nicht nur geträumt. Geflogen bin ich nun schon sehr lange nicht mehr.


21. Tafelfreuden

Mein Freund Svoboda in Wien – Gott hab ihn selig – war gelernter Koch. Nur ungern ging er mit mir in Restaurants essen. Er sagte, er habe zu viele Küchen von innen gesehen. So habe einmal eine Chefin von ihm verlangt, dass er von verdorbenem Fleisch das Grüne wegschneide. Die merken das gar nicht … Das kann man doch nicht alles fortwerfen, wär ja eine Sünd …
      Auf dem Land kannst du in Österreich noch mehr erleben. Eine Kellnerin in Tirol, aufgerüscht in Dirndl und Bluse, vereinte Grazie mit Geschäftstüchtigkeit. Als du schon sehr hungrig warst, stellte sie dir einen Teller mit Zanderfilet hin. Dabei hattest du Schweinebraten bestellt … Wo ist da der Unterschied – essen kann man beides. Schon hat deine Gabel ein Kartöffelchen aufgespießt … Und hast du nicht auch schon den Fisch beträufelt? Da kommt die Kellnerin zurück, sehr charmant, und zieht dir den Teller unter dem Besteck fort: „Nur ein kleines Versehen. Das bringen wir gleich wieder in Ordnung … So, bitte sehr, der Herr …“ Und hurtig stellt sie den Teller dem anderen Gast hin, der mit dem Rücken zu dir sitzt und nichts gesehen hat. Wer hat von seinem Tellerchen gegessen? Er weiß es nicht.
      Im Waldviertel trug sich einmal Folgendes zu: Wir saßen am Frühstückstisch und sahen die Bedienung hereinkommen. Sie ähnelte einer alten Magd und verhielt sich auch so. Ihr Blick war zu Boden gesenkt – und was entdeckte er da unten: Erdklumpen aus den Profilsohlen unserer Schuhe. Wir waren am Vortag in sehr feuchten Gegenden unterwegs gewesen. Sie sagte nichts, schlug ihre weiße Schürze vorne um und sammelte die Erde ein, um sie in der Schürze zu verwahren. Dann kam sie mit ihrer Fracht zu uns herüber und fragte, was wir wünschten. – Jedenfalls keine Erdklumpen. Wir sind nämlich keine Erdesser.
      Bei uns Piefkes geht es nicht anders zu. In Berlin aß ich oft in einem großen SB-Restaurant. Die Qualität des Essens dort war ziemlich umstritten, auch nach Meinung des Personals. Es kam sogar vor, dass sich die Angestellten heimlich mit dem Gast gegen die Geschäftsführung solidarisierten. Das ging so vor sich: Verlangte ich ein Steak, wurde mir nicht selten, rein pantomimisch, durch Kopfschütteln und mit angeekelter Miene, davon abgeraten. Dann bestellte ich etwas anderes. Einmal bestand ich auf Kroketten als Beilage und wurde so aufgeklärt: „Och, was wollnse denn mit den ollen Dingern …“ Nur Salzkartoffeln seien heute genießbar.
      In einer kleinen Stadt an der Lahn ließen die Wirtsleute, Italiener, glaube ich, ihr Söhnchen von vier Jahren gern im Lokal spielen. Er hatte sich etwas ausgedacht und es wohl schon öfter ausprobiert. Er kam zum Gast, strahlte ihn aus großen Kinderaugen an und grapschte dabei nach dem Salatteller. Als der Gast, schon abgelenkt, den Salat zu sich heranziehen wollte, schnappte sich der Kleine blitzschnell ein Pommes frites-Stäbchen und warf es ihm juchzend ins Weißbierglas. An den Tischen rundum wurde gelacht. „Wie niedlich.“ – „Aber dafür müsste er ein neues Bier bekommen.“ Was natürlich nicht geschah.


22. Vom Reisefieber geschüttelt

Einmal sollte es für vier Wochen nach Italien gehen. Ich deponierte am Vorabend zwei Koffer in zwei verschiedenen Schließfächern des Hauptbahnhofs. Frohgemut und leichten Schrittes passierte ich am Tag der Abreise das Hauptportal. Noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt. Zuerst nahm ich den kleineren Koffer aus dem Schließfach. Dann war der größere an der Reihe. Sagt man von einem Koffer, er habe Übergröße? Diese Frage stellte sich, als es mir auf keine Weise gelingen wollte, dieses Monstrum aus dem anderen Fach herauszuziehen. Wie war das möglich, er hatte sich doch hineinschieben lassen … Dabei hatte ich nur seinen Griff umklappen müssen – der danach sofort zurückgeschnappt und jetzt für meine Hand unerreichbar war. Der Koffer saß passgenau fest. Noch zwölf Minuten bis zur Abfahrt.
      Den einen Koffer mitschleppend und schon etwas außer Atem fand ich nach mehreren Minuten eine Aufsichtsperson. Sie war männlichen Geschlechts, wies mir ihre zerschrammten Handgelenke vor und weigerte sich schlankerhand, schon wieder eine ganze Reihe von Schließfächern auseinander zu schrauben und zu stemmen. Ich erzählte ihm in aller Kürze etwas von Mailand, Florenz und Neapel und dann durfte ich ihm zusehen. Es war Schwerarbeit. Bei mehr Zeit und Nerven hätte ich ihn bedauert. So wie die Dinge standen, riss ich ihm den befreiten Koffer aus der Hand und flog beinahe zum noch wartenden Zug. Als wir die Norderelbbrücke passierten, kam mir eine beunruhigende Geschichte in den Sinn. Da hatte sich einmal ein Halbwüchsiger aus Jux selbst in ein Schließfach gezwängt und dann war es ihm nicht gelungen, alle Gelenke in ihre anatomisch richtige Stellung zurückzuversetzen – auch er hatte von der Gepäckaufsicht befreit werden müssen.
      Man kann ja auch mit leichtem Gepäck reisen. Doch wie leicht kann es selbst dann zu Zwischenfällen kommen! Einmal war ich nur mit Rucksack unterwegs und saß entspannt im Zug, der mich an den Fuß der Berge bringen sollte. Wonach suchte ich, als ich im Rucksack zu kramen begann? Ist mir entfallen. Umso schärfer die Erinnerung an den Schmerz, der mich plötzlich durchfuhr: Soeben hatte ich die Kuppe meines linken Ringfingers an der im Nassrasierer eingelegten neuen extradünnen Klinge aufgeschlitzt. Woraus sie entnehmen dürfen, ich sei bei der Verwahrung gefährlicher Gegenstände etwas nachlässig. Die Blutung war nicht einfach zu stillen, die Narbe ist noch sichtbar.
      Ach, schon beim bloßen Warten kann etwas passieren. Da wollte ich einmal von Tempelhof abfliegen und stand vor dem Ausgang. Man legte dort damals den Weg von der Halle zur Maschine zu Fuß zurück. Alles drängelte sich vor dem Auslass und rannte dann wie eine Büffelherde los. Da wurde ich plötzlich von hinten in die Seite gestoßen. Ein Blick zurück: ein unauffällig wirkender junger Mann. Ich putzte ihn noch kurz herunter, dann durften wir raus. Und da erst sah ich, es war ein Spastiker, der sich mit jeder Bewegung schwer tat. Zu ihm hingehen und sagen: Tut mir Leid, dass Ihre Bewegungen so unkontrolliert sind wie meine Reaktion darauf? Lieber hielt ich den Mund.
      Man kommt nur einmal zum ersten Mal im Leben in New York an. Ja, das ist banal, aber ich war damals so aufgeregt, dass ich nachher den Plastikbeutel mit den Waren aus dem Frankfurter Duty Free Shop vergaß. Wenn mehr als dreihundert Passagiere ein Flugzeug verlassen, kann man das Zurückgelassene gleich abschreiben. Nur dumm, dass Schnaps und Zigaretten nicht für mich bestimmt waren. Ein Mitreisender hatte sein Kontingent ausgeschöpft und mich gebeten, Mitbringsel für Freunde von ihm zu besorgen. Die mussten nun mit weniger auskommen und ich hatte den Schaden zu ersetzen.
      „Es gibt nur Würstchen!“ schrie einer, der das Angebot der Autobahnraststätte schon inspiziert hatte. Wir waren also wieder daheim im Reich, hätte ich beinahe geschrieben, nach drei Wochen österreichischer Gastronomie. Der Hunger trieb uns alle hinein – und siehe: Es gab nicht nur Würstchen, sondern z.B. auch Rührei mit Schinken, welches Gericht bald schon vor mir stand. Und der Kaffee dampfte, wie es sich gehört. Ich nahm die Zuckerbüchse und holte schwungvoll aus – als das Verhängnis hereinbrach oder wie ein Felssturz niederging, nämlich in Gestalt der Zuckerbüchse, die den Teller zerschmetterte, die Tasse umstürzte und den sich über das weit verstreute Rührei ergießenden Kaffee noch im Übermaß süßte. Was für eine Schweinerei! Ich hielt das abschraubbare Metallrohr wie gelähmt in der Hand – ein Unbekannter hatte es losgedreht und mir übel mitgespielt. Eine Angestellte begann sofort klaglos mit den Aufräumarbeiten. Seitdem kontrolliere ich alle Schraubverschlüsse: Lernen am Erfolg!


23. Markttage im Paradies

Karl Marx hat doch Recht behalten. Allmählich hat sich bei uns so etwas wie Kommunismus durchgesetzt. Wir leben im Überfluss. Überschüsse, wohin man sieht. Alles ist gratis: Essen, Wohnen, Kleidung. Wir arbeiten auch umsonst. Das Geld ist faktisch abgeschafft. Um ihre Waren absetzen zu können, verteilen die Kapitalisten Gutscheine an die Bevölkerung.
      Wenn wir nicht arbeiten, bebauen wir unsere kleinen Privatgärten. Wir produzieren dort Obst und Gemüse. Die Behörden haben Straßenmärkte eingerichtet, auf denen wir unsere überschüssigen Produkte umsonst abgeben können. Auf einem von ihnen habe auch ich meinen kleinen Stand. Zwar bringt mein Gärtchen nichts Essbares hervor, nur Blumen, doch auch für sie suche ich Abnehmer.
      Unser Markt wird viel besucht. Wir Produzenten mischen uns oft unter das Publikum und beurteilen die Erzeugnisse unserer Kollegen. Auch von Stand zu Stand erfolgt manche Wechselrede. Da geht es mitunter recht philosophisch zu. Frieden ist ein großes Thema. Oder die Güte Gottes. Manchmal gebe auch ich meine Kommentare dazu ab. Nur selten wird einer von uns vom Markt vertrieben. Er muss sich zuvor schon sehr ungebührlich verhalten haben.
      Es gibt Markfrauen und Marktmänner. Die Frauen sind in der Überzahl. Mir scheint, ihre Früchte sind im All-
gemeinen schöner anzusehen, ob auch immer schmackhafter, kann ich nicht sagen. Es ist schwer, sich bei diesem Überangebot ein objektives Urteil zu bilden. Manche Marktmänner gebärden sich merkwürdig. Sollte man sie Marktschreier nennen? Sehr seltsam finde ich Folgendes: Die Männer mit den besten Früchten treten besonders herausfordernd auf. Haben sie das nötig? Einer von ihnen ist Carlo. Er preist sein herrliches Obst sogar singend an, er hat einen schönen Bariton. Er singt: Mi – ra – bel - len … Rei – ne –clau - den … Schade, dass ich unmusikalisch bin. Ich begreife nicht, warum er mit Singen aufhört, wenn sich ihm einer nähert. Stattdessen schlägt er ihm auf die Schulter und lacht gellend – sonderbar.
      Eine von unseren Gemüsefrauen heißt Beate. An ihr ist alles von größter Akkuratesse, ihre Zuckererbsen, ihre Prinzessböhnchen: makellos. Und sie selbst immer chic, liebenswürdig, geistreich. Dennoch muss sie leidend sein. Vorübergehend tritt bei ihr Gedächtnisverlust auf: Die Ärmste kann sich dann nicht mehr an einen erinnern. Oder scheint es nur so und sie verfolgt in Wahrheit mit ihrem Verhalten weit reichende Pläne?
      Manche zanken sich hin und wieder mit der schwarzäugigen Susanne. Diese handelt mit Gewürzen – nun, sie handelt natürlich nicht, sie gibt sie kostenlos ab, wie wir alle es hier mit den Waren tun. Manche werfen Susanne vor, diese Gewürze seien keine eigenen Erzeugnisse und daher auf unserem Markt nicht zugelassen. Gibt es solche Statuten? Ich weiß es nicht. Einige schätzen Susannes Intelligenz und ihr tiefes Verständnis für unsere Sprache, die nicht einmal ihre Muttersprache ist.
      Und da ist noch Mathilde. Während wir anderen Gärtner und Marktleute sozusagen nur spielen, erscheint mir Mathilde ihrer ganzen Natur nach wie eine echte Landbewohnerin, die ihre Erzeugnisse auf einem richtigen Markt in einer richtigen Stadt feilbietet. Sie hat viel Mutterwitz, ist oft drastisch, doch fühlt sich kaum einer verletzt. Alle mögen Mathilde. Mir hat sie sogar einen Kranz abgekauft. Ja, ich verwende den Überschuss an Blumen, mit dem ich sonst nichts anzufangen weiß, zum Kranzbinden. Für Kränze benötigt man bekanntlich Draht. Und Metalle sind fast das Einzige bei uns, das knapp und daher wertvoll ist. Also kann ich die Kränze nicht umsonst abgeben. Mathilde hat den Kranz zu ihrem Stand hinübergetragen und ihn dann lange, von einer Plane verdeckt, untersucht. Manchmal hat sie mir Zeichen gegeben, die ich nicht zu deuten verstand. Ich habe trotz ihrer Geheimniskrämerei herausbekommen, dass sie tatsächlich den Kranz auseinander genommen und in seine Bestandteile zerlegt hat. Danach hat sie ihn wieder zusammengesetzt, gerade so, wie er ursprünglich gewesen war. Schließlich hat sie ihn den anderen Marktleuten gezeigt und gesagt, es sei ein zwar merkwürdiger, doch im Ganzen durchaus brauchbarer Kranz.
      Was ist denn nun geschehen? Ich höre Geschrei, ich sehe, dahinten ist ein Apfelkorb umgestoßen worden. Habe ich schon erwähnt, dass es hier manchmal zu hässlichen Auseinandersetzungen kommt? TROUBLE IN PARADISE – ansonsten wäre es keines.


24. Alles unter Strom

Heute, liebe Leser, wollen wir uns einmal mit der Elektrizität beschäftigen. Schon im zarten Alter von fünf Jahren kam ich in erste Berührung mit ihr. Es geschah an einem Sonntag. Mein Vater führte mich stolz auf seinem eigenen Grund und Boden spazieren. Ich sollte einmal der Hoferbe werden. (Er hatte keinen außer mir.) Vielleicht ließ ich es auf unserem Spaziergang an Enthusiasmus fehlen … Mein Vater forderte mich plötzlich auf, den Weidezaun neben mir zu berühren. Arglos, wie nur ein Kind von fünf Jahren sein kann, streckte ich die Hand aus – um sie gleich aufschreiend zurückzuziehen. Nun wusste ich, wie gemein Strom sich anfühlt. Mein Vater lachte und mein Vertrauen in seine Autorität wie in Technik überhaupt war nachhaltig gestört.
      Ein Vierteljahrhundert später zog ich in eine gerade sanierte Hamburger Altbauwohnung. Man hatte mir versichert, auch die Elektrik sei vollständig erneuert. Ich verließ mich darauf. Nur seltsam, bald traten sehr häufig Kurzschlüsse auf. Dann lagen Teile der Wohnung im Dunkeln. Es geschah immer dann, wenn ich meine Nachttischlampe anknipste. Ich legte die Hauptsicherung um und alles funktionierte wieder bis zum nächsten Abend. Eines Tages flog nicht nur die Sicherung heraus, gleichzeitig schoss eine Flamme mit lautem Knall aus einer Steckdose an der Schlafzimmerwand. Ich zog schnell in ein anderes Zimmer um und ließ bald einen Elektriker kommen. Er fand Schmauchspuren unter dem Putz und nur noch Reste einer verkohlten alten Leitung.
      Einmal erlebte ich im Büro, wie sich in der Teeküche die Zuleitung zum Wasserkocher selbst zerstörte: eine Kettenreaktion von sehr lauten Explosionen mit grellweißem Licht und ein Feuer, das sich vom Kocher in Richtung Steckdose weiterfraß. Kaltblütig zog ich den Stecker. Der Spuk hörte sofort auf. Jetzt endlich fühlte ich mich der Elektrizität gewachsen.
      Inzwischen vertraue ich dieser Kraftquelle grenzenlos, ich vertraue dem Strom sogar meine Geheimnisse an. Ich benutze ihn als Datenträger. Meine Internetverbindung verläuft innerhalb der Wohnung über den Stromkreislauf. Ein Wunder der Technik! Weniger wunderbar ist, dass sich in der Nähe der Telekom-Steckdose keine weitere für Strom befindet. Der Techniker legte mir daher flugs drei Kabelschnüre vom Flur in die Küche, wo er den Adapter installierte. Die Kabel liegen frei und sehr verwundbar zwischen Tür und Rahmen. Das Internet ist heute unser Tor zur Welt und mein Tor zum Internet ist eben die Küchentür. Ich darf sie wegen der Kabel unter keinen Umständen mehr schließen. Und vor jedem Lüften muss die Tür vorher gegen Zufallen gesichert werden. So hat jeder Fortschritt seinen Preis, ich sehe es ja ein und …
O Gott ---



25. Eine Tür fällt zu

Sich selbst aussperren – ein Alptraum. Vier Lektionen für Unaufmerksame …

Du bist allein in deiner Parterrewohnung und erwartest sehnsüchtig einen lieben Brief. Durch das Fenster zur Straße siehst du den Briefträger im Hauseingang verschwinden und wieder herauskommen. Da verlässt du schnell deine Behausung, die Wohnungstür bleibt weit offen. Es ist wieder kein Brief gekommen, du bist sehr enttäuscht. In diesem Augenblick fegt ein Zugwind durchs Haus. Mit Wucht schlägt die Wohnungstür zu. Und der Schlüssel steckt innen. Jetzt kannst du zum Hausmeister gehen. Er weiß, wie man das Schloss ausbaut. Das kostet ihn Mühe und dich mehr als nur ein Dankeschön.
      Nie nach getaner Gartenarbeit einen Schlüssel mit erdverschmierten Fingern oder Handschuhen anfassen! Je lehmhaltiger eure Erde ist, umso größer die Gefahr, dass dann der Schlüssel das Schloss mit Erdresten verklebt. Dann bewegt sich gar nichts mehr – im Schloss. Du selbst eilst zur Nachbarin: Kann ich mal Ihr Telefon benutzen? Du weißt doch: Der Schlüsselnotdienst kostet noch viel mehr als der Hausmeister.
      An Diebe denkst du nicht, wenn du krank bist und einen Arzttermin hast. Du lässt deine Jacke mit Brieftasche und Schlüsselbund im Wartezimmer hängen, wenn du ins Sprechzimmer gerufen wirst. Mit dem Rezept in der Hand kommst du zurück – und die Jacke ist weg. Plötzlich hast du noch andere Sorgen als die um deine Gesundheit. Du stellst dich geduldig noch einmal bei der Anmeldung an. Wenn die Schlange vor dem Tresen lang genug ist und du auch noch Glück hast, kommt währenddessen der alte Mann zurück, der eure Jacken vertauscht hat. Dann ist es noch einmal gut gegangen.
      Also, wenn du – unbekannter Leser – nachts unbedingt deinen flüchtigen Partner oder die Partnerin nachher bis zum Lift begleiten willst: Zieh dir was über. Ich weiß, es ist zu viel verlangt, in deiner Verfassung auch noch an den Schlüssel zu denken – aber geh wenigstens nicht in Unterwäsche ins Treppenhaus. Macht so keinen guten Eindruck, wenn du im Falle des Zufallens um halb drei morgens die pensionierte Studienrätin, deine Nachbarin, herausklingeln und um den Zweitschlüssel bitten musst. Oder mit welcher dürftigen Lügengeschichte gedenkst du vor ihr die nackten Tatsachen zu bemänteln? Das würde ich gerne von dir hören.


26. Schön essen gehen

Zum Abendessen ging der Fremde in den „Mailänder Hof“. Von allen Gasthöfen der kleinen Stadt hatte dieser die beste Küche. Ob man sich dort allerdings gut bedient fühlte, hing vom Dienstplan des Restaurants ab. An diesem Abend hatte er Pech: Die nette, blonde Kellnerin grüßte ihn freundlich von der Bar her, als er am Fenster Platz nahm. Und da nahte die andere schon, die hagere Italienerin, dabei eine Zigarette rauchend. Sie kam nicht, um nach seinen Wünschen zu fragen – es war so ihre Art, bloß stumm neben dem Gast Posten zu beziehen, um sich dann wortlos die Bestellung zu notieren.
      So sehr sie mit Worten geizte, so beredt waren Miene und Haltung. Offenbar empfand sie es als bitteres Unrecht, in fremdem Land in öffentlichen Speisehäusern Fremde bedienen zu müssen. Mit den Anzeichen lebenslanger Verbitterung schrieb sie den Hirschpfeffer und das Übrige auf. Dann trat sie den Gang zur Küche an, als wäre es ihr allerschwerster. Bald darauf brachte sie Suppe und Mineralwasser und servierte mit dem Ausdruck mühsam unterdrückter Empörung. Der Fremde hatte sich im Verlauf mehrerer Abende schon an dieses Schauspiel gewöhnt, wie es sonst nur Galeerensträflinge in historischen Filmen bieten. Er ließ sich die Suppe schmecken.
      Die Italienerin entfernte sich ein wenig und lehnte dann, schon wieder rauchend, am freien Nebentisch. Sie beobachtete gerade mit kaum verhohlener Ungeduld ein älteres Ehepaar, das in der Nähe ausgiebig die Weinkarte studierte. Die wollten sich hier wohl einen schönen Abend machen, es sich etwas kosten lassen … Die Ahnungslosen! Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
      Bald darauf kam sie mit dem Wein für die Alten und öffnete die Flasche nach den Regeln ihrer Kunst. Sie stand dabei im Gang zwischen des Fremden Tisch und demjenigen des Ehepaares, die Weinflasche gegen den linken Oberschenkel gepresst, das andere Bein rückwärts abgespreizt. Plötzlich eine Erschütterung – fast wäre seine Suppe übergeschwappt. Der Rückstoß infolge der Hebelwirkung war sehr heftig gewesen und sie mit dem Fuß gegen seinen Tisch gestoßen. Dabei entblößte der hochrutschende Rock das Bein weit hinauf. Für einige Sekunden bot sich dem Fremden der Anblick eines nackten Frauenschenkels, den er überraschend wohl geformt fand.
      Gegen das Essen war nichts zu sagen. Er wollte dann zahlen. Schon stand die Italienerin am Tisch und rechnete mit ihm ab. Sie wühlte mit Ingrimm in der großen Börse, um sein Wechselgeld herauszuholen, und stieß dabei mit dem Ellenbogen den Brotkorb vom Tisch. Zwei Scheiben Brot, die übrig geblieben waren, lagen nun neben dem Korb auf dem Boden. Da unterbrach sie ihr Scharren, sammelte auf, was heruntergefallen war, legte die Brotscheiben zurück in den Korb, stellte ihn an seinen früheren Platz und gab dann das Wechselgeld heraus. Bei alledem bleib sie stumm wie gewöhnlich.
      Er gab ein kleines Trinkgeld und sie bedankte sich auch dieses Mal nicht. So hatte sie es vom ersten Abend an gehalten. Dennoch gab er ihr immer wieder einen kleinen Betrag. Eines Tages würde sie doch danke sagen … Und am Tag darauf konnte er beruhigt abreisen.


27. Vor der Leinwand - Kino ist immer live

 

Hier soll es nicht um gute Filme gehen, nicht um das, was einer der Großen unserer Schauspielerzunft neulich auf seine charmante Art „Kunstkacke“ genannt hat. Reden wir auch nicht von der Werbung. Beginnen wir mit diesem Moment, wenn das Licht noch einmal angeht, damit man zu Eiskrem und Knabberzeug kommt. Ich liebe ihn, er ersetzt uns die Pause in der Oper. Wie voll ist es, wer ist denn noch da, kenne ich jemand? Warum sehen sich so viele junge Frauen „Brokeback Mountain“ an? Der Verkaufswagen bleibt immer irgendwo hängen.
      Es ist wieder dunkel. Tüten werden aufgerissen. Es knistert und raschelt. Nun gut. Einige fangen an zu reden. Es ist natürlich nur ein dummes Vorurteil, dass Frauen schwatzhafter sind als Männer. Und wenn sie doch einmal zwei solche … hm … Ratschkatheln ganz in Ihrer Nähe haben, so verrate ich Ihnen ein Rezept: Wiegen Sie die beiden zuerst in Sicherheit – scheinbar ignorieren. Dann schnellen Sie vor wie eine Schlange und zischen die zwei an: Wenn Sie sich unterhalten wollen, dann gehen Sie doch in ein Café! Wirkt meistens.
      Manche müssen ja nach Beginn des Hauptfilms ihren Platz wechseln. In einem Programmkino waren die Eintrittspreise nach Reihen gestaffelt. Ein junger Mann setzte sportlich über zwei Stuhlreihen hinweg. Woraufhin das Licht anging und sich folgender lautstarker Dialog bei laufendem Film entwickelte: Sie, zeigen Sie mal Ihre Karte … Da dürfen Sie aber nicht sitzen. – Ich sitz hier besser. Zahl Ihnen auch die fünfzig Pfennige … - Nein, so geht das nicht, Sie müssen zurück … Nein, warum denn? – Sie verhandelten noch eine Weile. Die Platzanweiserin setzte sich durch. Es war in Berlin.
      In Berlin veranstalten sie, wie jeder weiß, jedes Jahr die Berlinale, eine wirklich weltstädtische Angelegenheit. Im Forum des Jungen Films lief einmal im Beiprogramm ein Streifen über das Ruhrgebiet. Lange Kamerafahrten über grau-grüne Halden, dazu Musik eher experimenteller Art. Ich dachte: Es hat was. Allmählich kam Unruhe auf. Langweilten sich einige? Einer schrie durchdringend: FILM HÖRT NIE AUF! Die Vox populi hatte sich Gehör verschafft.
      Ganz anders die Verhältnisse in Fulda. Hier kam ich einmal in den Genuss einer Privatkinovorstellung. War es nicht ein Film von Robert Altman, vielleicht „Therapie zwecklos?“ Ich kaufte eine Eintrittskarte und betrat den mittelgroßen Vorführraum. O, wir sind nur zu zweit hier, sagte ich mir, gleich fängt es an. Aber bevor es dunkel wurde, kam noch der Geschäftsführer und verschaffte sich einen Überblick. Er sagte zu mir: Ein sehr guter, ein toller Film, aber für Fulda völlig ungeeignet. Hier mögen sie nur Baller-Baller-Filme … Mein Mitzuschauer blieb zwanzig Minuten, dann verschwand er.
      Dagegen wird in Hamburg Filmkunst seit jeher hoch geschätzt. Ich sah einmal im Abaton-Kino diesen wunderbar poetischen spanischen Film „Der Bienenkorb“. Ging noch einmal rein, um den Eindruck zu vertiefen. Und hatte Pech. Alle Plätze um mich herum besetzt und auf einem ein Alkoholiker im Endstadium. Und es war nicht nur dieser spezifische Fuselgeruch, da drang noch etwas in die Nase. Kann man Leberzirrhose riechen? Armer Kerl. Dabei blieb unklar, wo er genau saß. Köpfe drehten sich spähend in der Dunkelheit. Schultern, straff hoch gezogen, drückten aus: Von mir kommt es nicht. Ja, Kino spricht alle Sinne an.
      Damals, in den alten Zeiten, kannte ich den Filmvorführer im Berliner Delphi-Palast. „Kunst-Kacke“ gab es seinerzeit dort nur am Sonntagmittag zu sehen, in der Sondervorstellung für die griechischen Gastarbeiter. Ansonsten das damals Übliche: Schulmädchen und Jungfrauen, die es nicht mehr sein wollten. Der Filmvorführer nahm mich mit in den Projektorraum. Er eröffnete mir ganz neue Perspektiven. Über den vielen Köpfen da unten flimmerten Busen, Hüften, Beine, alles wie durch einen langen, breiten Schlitz gesehen. Dazu das Stöhnen vorgetäuschter Ekstase, dröhnend wie die primitiv stampfende oder schleimig süßliche Musik, Heute funktioniert die Technik natürlich ganz anders, ich verstehe davon fast nichts. Der Vorführer sagte: Wenn ich es eilig hab, kürz ich den Film ein bisschen beim Vorführen. Die merken das gar nicht. Zehn Minuten sind da schon mal drin. War er besonders guter Laune, erlaubte er sich einen Jux. Er schob zwischen die Werbedias für Zeitungen, Rasierwasser oder Möbel einen von ihm mit folgender Beschriftung versehenen Karton: Das *** ist nur gegen eine Schmutzgebühr von 50 Pfennig erlaubt. Diese Art Humor (lat. ‚Feuchtigkeit’, ‚Saft’) kam gut an. Die Männer da unten stampften, sie johlten.
      Das waren herrliche Zeiten. Sie kehren nicht wieder.


28. Die Konfirmation

Der Jüngere von beiden hieß – aber lassen wir das, vielleicht lebt er ja noch und amtiert woanders. Bei uns predigte er damals erst seit kurzem; mehr als ein Vierteljahrhundert ist das jetzt her. Er predigte gern, mit feinem und oft auch maliziösem Lächeln, mit sichtlicher Freude am eigenen, gut geölten Redefluss. Das Lächeln verstärkte sich an hohen Festtagen oder wenn ein anderer Anlass mehr Mitglieder als sonst in das viel zu geräumige Kirchenschiff trieb. Heute erblicke er, rief er dann von der hohen Kanzel herab, viel mehr Köpfe als leider üblich. (Die Köpfe senkten sich, wie einer Schuld bewusst.) Viel mehr Füße hätten den Weg zum Herrn gefunden als sonst ein ganzes Jahr lang. (Einige Füße scharrten.) Ja, so gehe es zu in einer Welt, in welcher der Geist willig und das Fleisch schwach. Allzu viele lebten Jahr um Jahr nur dahin wie’s liebe Vieh. Und da sei doch einer, der befohlen habe: Stehe auf und wandle! – Er hangelte sich weiter von einem Bibelzitat zum anderen und das Lächeln wurde mit jeder Spitze immer spitzer und spitziger.
      „Wie’s liebe Vieh“ – zweifellos war das seine Lieblingsphrase. Auch wir bekamen sie zu hören, als Katechumenen und Konfirmanden, zwei Jahre lang. Im Gemeindesaal hatten wir ihn nahe vor uns und sahen jetzt viel deutlicher als in der Kirche das feine, spitzige, maliziöse Lächeln. Was an dem Mann abstieß – uns von ihm und ihn von uns – hätten wir nicht genau zu sagen vermocht, doch fühlte ein jeder, worauf es hier ankam, was wir für ihn waren: Vieh vom Vieh.
      Sein Amtsbruder hieß Schuster und war, obwohl viel älter, keineswegs gütiger. Es war derselbe Stoff, nur in der Leideform. Dort das Spitzige, Aggressive, hier das Verletzte, Gekrümmte. Sie wirkten wie ein Figurenpaar am Chorgestühl des Ulmer Münsters: antagonistisch, doch vom selben Holz; von Geist konnte hier ja nicht die Rede sein.
      Die Gemeinde war groß und hatte daher ständig zwei Pfarrer im Amt. Sie teilten jede Aufgabe: predigen, taufen, beerdigen. So verfuhren sie auch beim Pfarrunterricht und bildeten aus jedem Jahrgang zwei Gruppen. Ich gehörte zu Schusters Haufen, doch da er oft krank war, hatten wir es viel mit dem füchsisch lächelnden Jüngeren zu tun. Schuster lächelte nie. Er war und blieb uns fremd. Weit im Norden geboren und erst bei Kriegsende in unsere Gegend gekommen, hatte er es in zwanzig Jahren nicht gelernt, den Dialekt zu verstehen, geschweige denn sich selbst verständlich zu machen. Die Zwölf- bis Vierzehnjährigen vor ihm hörten sonst Tag für Tag nur ihre breite heimatliche Sprache, zu Hause, in der Schule, auf der Straße. (Beim Fernsehen war die Bilder die Hauptsache.) Und nun dieser Graukopf da vorn: eine unverständliche Rede, unverständliches Zeug, Glaubensartikel vergangener Jahrhunderte, Liedtexte aus dem Dreißigjährigen Krieg … Erst breitete Langeweile sich aus, dann Unruhe. Sie tobten. Der Alte war schwach, auch seine Stimme war dürftig. Dennoch versuchte er, sie zu überschreien. Es misslang, sie tobten noch mehr.
      Schuster war leidend, er hatte es mit dem Herzen. Und dass er die Kontrolle über uns immer wieder verlor, verschlimmerte sein Übel noch. Er presste dann die Hand auf das kranke Organ, beschuldigte uns, sein Ende zu beschleunigen und lief für einige Minuten hinaus auf den Pfarrhof. Wenn es ihm besser ging, kam er zurück und flüchtete sich in einem Anfall sonderbarer Ironie zu Paul Gerhardt oder einem anderen Poeten und rief uns, den Anfang eines alten Gesangbuchverses zitierend, zu: „Valet will ich euch sagen!“ Leider verstand niemand, was „Valet“ eigentlich bedeutete.
      Neue, mir noch unbekannte Ausdrücke reizten mich schon damals. Auch hatte ich vielleicht als Einziger die seltsame Befriedigung erfasst, die über Schusters Züge huschte, als er den frommen Liedtext ironisch benutzte: ein süßer Trost aus Wörtern nur, denn an seiner kläglichen Rolle änderte sich ja nichts.
      Meine Aufmerksamkeit galt damals nur nebenbei dem Pfarrer. Meist äugte ich nach einem Jungen, der links hinter mir döste, sich räkelte oder frech grinste – wenn er überhaupt da war. Er hieß Rolf und schwänzte fast jedes zweite Mal und zum Gottesdienst kam er schon lange nicht mehr. Wir Übrigen gingen regelmäßig hin und bekamen jeden Sonntag den kleinen Stempel ins Kontrollbuch. Er war uns bereits von der Kanzel herab als warnendes Beispiel vor Augen oder besser: vor Ohren geführt worden. Schuster drohte, ihn nicht zu konfirmieren. In letzter Zeit trug er, als Erster und Einziger weit und breit, eine schwarze Lederhose, eine Aufmachung, die ich ziemlich aufregend fand. Ich wollte ihn fragen, wo er sie gekauft hatte, doch es war schwer, an ihn heranzukommen.
      Bereits im Februar planten die Familien, die es anging, ihre Konfirmationsfeiern. Auch bei uns zu Hause war oft die Rede davon. Meine Gefühle waren gemischt. Es war mit Geschenken zu rechnen, vor allem auch mit Geld. Ich war in dem Alter, in dem man die ersten größeren Anschaffungen plant. Bargeld war mir willkommen, aber keine Gäste, die für ihre Geschenke Gegenwerte erwarteten: Bewirtung und Geselligkeit, meine Anwesenheit und vor allem meine Dankbarkeit. Ich wäre damit einverstanden gewesen, wenn uns der Postbote die Geldgeschenke in Briefumschlägen gebracht hätte. Dann hätte ich mich schriftlich bedankt, eine feine Sache, sauber und ordentlich abzuwickeln. Stattdessen drohte die gleichzeitige Invasion sämtlicher Verwandten, deren vereinzelte Besuche mir schon die gewöhnlichen Sonntage vergällten. Ich war noch sehr jung, mein Wesen hatte sich meiner Umgebung noch kaum enthüllt, vielleicht war ich von Natur aus ungesellig.
Ich schlug meiner Mutter vor, auf die Feier zu verzichten, Wir sollten uns die Ausgaben ersparen und am Tag der Konfirmation einen Ausflug unternehmen. (Und vielleicht würden dann ja doch einige Briefumschläge eintreffen.) Meine Mutter lächelte, sehr angenehm berührt. Den Trubel hasste sie ebenso wie ich. Sie erwärmte sich geradezu an der Vorstellung, wie wir auf und davongehen würden – sagte dann aber, es ginge nicht: Was würden die Leute sagen.
      Meine Eltern verhandelten schon mit Sieglindes Eltern. Wir waren mit der Familie befreundet. Sieglinde war mit mir gleichaltrig und sollte auch konfirmiert werden. Es war zu erwarten, dass Sieglindes Gratulanten zum Teil auch unsere Gäste sein würden. Um Absagen, Ausfällen von Geschenken und anderen Enttäuschungen vorzubeugen, beschlossen die zwei Elternpaare, dass in einem der beiden Häuser einen Sonntag später gefeiert würde. Das Los entschied, Sieglinde musste eine Woche warten.
      Zu selben Zeit diktierte Schuster uns eine lange Liste von Texten, die wir zur Konfirmation auswendig lernen sollten. Wir würden ja noch geprüft werden. Alles musste klar, protestantisch rechtschaffen und rechtschaffen protestantisch vor sich gehen. Eine entmutigend lange Liste von Liedern aus dem Gesangbuch: Valet und so weiter. Und dann die Glaubensartikel. Wir bekamen jeder ein Heft, in dem die Dogmen der protestantischen Kirche in Frage-und-Antwort-Form abgehandelt waren. O ja, auch der Protestantismus hatte seine Dogmen. Üblich war es, die Prüflinge vor der Konfirmation in einem ExtraGottesdienst nach ihren Kenntnissen zu befragen. Eine Probe im Pfarrunterricht zeigte, wie Schuster sich das dachte. Er las die kanonischen Fragen Wort für Wort aus dem Heft ab und wir sollten die spitzfindig formulierten Antworten Wort für Wort aufsagen – aus dem Gedächtnis, wobei es auf jedes Wort ankam. Kein Noch und kein Auch durfte fehlen. Nicht vorgesehen waren irgendwelche Abers, Jedochs und Trotzdems. Die freie Rede war von vornherein verpönt. Nicht auf den Inhalt kam es an, nur aufs Wiederkäuen.
      Jene Artikel waren mir durch den Unterricht vom Hörensagen bekannt. Intelligent und faul, wie ich war, hätte ich darüber und das heißt darum herumreden können; Jahre später nannte man das: diskutieren. Ich fand, das müsste zur Not ausreichen. Nun also zu den Liedern! So leicht sich meinem Gedächtnis Zitate aus meinen Lieblingsbüchern einprägten, so schwer fiel mir das Auswendiglernen von Gedichten für die Schule. Gegen Lyrik war ich früh immun. Und diese Verse hier waren noch ärger. Entweder verstand ich nicht, worum es ging, oder ich verstand es zu gut. In beiden Fällen lief es auf dasselbe hinaus: Blockade des Gedächtnisses. Ich mühte mich fünfzehn Minuten. Oder waren es zehn? Oder nur fünf? Fest steht, dass ich dann bedingungslos kapitulierte und keinen zweiten Versuch mehr unternahm.
      Es wird schon irgendwie klappen … Wie üblich gelang es mir, mich mit dieser Formel zu beruhigen und auf den günstigen Ausgang der Sache zu vertrauen. Dass allerdings am Prüfungstag Tante Adolphine unter den wenigen Zuhörern zu erblicken war, dämpfte meine Zuversicht etwas. Die Tante, eine ebenso glaubenseifrige wie geschäftstüchtige Schwester meiner Großmutter, hatte sich neulich mit der jüngsten der sieben Schwestern überworfen und von ihr einen Brief erhalten, darin war von Heuchelei und Gewinnsucht und einem christlichen Mäntelchen die Rede gewesen. Sie hatte ihn uns zornbebend vorgelesen. Die Tante winkte mir ernst und gefasst zu. Es war vielleicht aufmunternd gemeint, kam mir aber drohend vor. Ich nahm in der vierten Reihe Platz, der letzten für uns Prüflinge, die kritische Tante im Nacken.
      Und es klappte dann doch vorzüglich. Schuster hielt sich an die Wenigen, die sich freiwillig meldeten, wenn er, taktisch klug, seine Fragen an alle zusammen richtete. Er verhielt sich wie jeder vernünftige Gläubiger gegenüber einer Schar von Schuldnern, die gemeinsam haften: Er mied die unsicheren Kantonisten und pickte sich die solventen Kunden heraus. Tatsächlich hatten einige Mädchen den gesamten Stuss auswendig gelernt und waren begierig, Zeugnis ablegen zu dürfen, wenn nicht von ihrem Glauben, so doch von ihrer Mühe. Wie Schnellfeuergewehre ratterten sie die Artikel und die Gesangbuchverse herunter. Zum Schluss, um den Schein zu wahren, gab es noch ein paar Fragen an einige der bis dahin Verschwiegenen. Diese haspelten sich irgendwie durch, mit dem Beistand wissender Nachbarinnen oder indem sie einfach aus Heft oder Buch ablasen, die offen auf dem schrägen Bord vor ihnen lagen, unsichtbar für Schuster und das Presbyterium, nicht zu übersehen für die kleine Gemeinde hinter uns. Ich blieb verschont und für alle hieß es: Bestanden.
      „Du hast dich ja überhaupt nicht gemeldet!“ Tante Adolphine lauerte mir an der Kirchentür auf. „So eine Enttäuschung für mich.“ Dabei schob sie mir einen Umschlag zwischen die Finger, in dem ich Bargeld vermuten durfte; es war der erste seiner Art. Er enthielt, wie ich hinter der nächsten Straßenecke feststellte, fünfzig Mark, damals ein stattlicher Betrag. Als belastend, wie eine Hypothek, empfand ich jedoch den verächtlichen Gesichtsausdruck der Tante vorhin bei der Übergabe. Er besagte nur das eine: Fehlinvestition!
      Als ich nach Hause kam, stieß ich in der Küche beinahe mit einer Nachbarin zusammen, die gemeinsam mit meiner Mutter Backbleche einfettete. Die Vorbereitungen für das große Fest liefen an. Ich stellte bald fest, dass ich bei derart ernsthafter Arbeit nur stören konnte, und zog mich auf mein Zimmer zurück.
      Endlich Palmsonntag! Die Kirche war überfüllt. Rolf stach in seinem neuen himmelblauen Anzug von allen anderen ab, ich fand: zu seinem Vorteil. Natürlich war jetzt keine Rede mehr davon, ihn nicht zu konfirmieren. Schuster predigte erst und verteilte dann Bibelsprüche, er hatte für jeden einen ausgewählt und ihn hübsch drucken lassen. Da er uns nicht persönlich unterschied, war das auf eine Lotterie frommer Zitate hinausgelaufen. Auf meinem Blatt las ich: HERR, FÜHRE MICH AUF DER STEIGE DEINER GEBOTE!
      Einem altklugen Kind wie mir musste das wie ein ironischer Kommentar zu dem Lebenswandel vorkommen, den ich zwar noch nicht begonnen hatte, doch voraussichtlich führen würde. Beim Nachdenken, was es mit der Steige auf sich haben könnte, störte mich Onkel Georgs Lamento (ohne „Trionfo“) über den verlorenen Zwanzig-Mark-Schein. Als ihm die Sammelbüchse gereicht worden war – ein Kelch, der nicht an ihm vorüberging -, war er ohne irgendeine kleine Münze gewesen und hatte sich unter Schmerzen von einem halben Tagesverdienst getrennt. Gar nichts zu geben, war natürlich nicht in Frage gekommen – was hätten dann die Leute rundherum gedacht … Jetzt beklagte er sich bei uns, als hätten wir ihn geschädigt. Wir beide fuhren in seinem Wagen mit, da mein Vater zu Hause geblieben war. Um mich abzulenken, ging ich Wortfelder durch, wie in der Deutschstunde: Steige, Absteige, verstiegen …
      Das Fest war dann für mich bei weitem nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Nicht ich stand im Mittelpunkt, sondern die Feier selbst. Sie kreiste um sich selbst, ohne erkennbaren Sinn, Zweck oder Mittelpunkt. Allgemein aß und trank man viel und sprach sehr laut. Mein Gott, wie viel Lärm sie damals machten, unsere Gäste! Sie hatten es eilig, zu Tisch zu kommen, und hielten sich nicht lange damit auf, mir Glück für meinen „Lebensweg“ zu wünschen und dabei die Geschenke loszuwerden. Ich kam mir vor wie ein Kassierer, bei dem man ja auch nicht lange verweilt. Sie interessierten sich viel weniger für mich als für die Gesichter aus ihrer eigenen Generation: Geschwister und Schwäger und Schwippschwäger. Junge Leute waren kaum da.
      Oma Erna war auch gekommen, die Mutter meines Vaters, eine Oma zweiter Klasse. Zur Feier des Tages hatte sie die wenigen ihr verbliebenen Haare mit der Brennschere bearbeitet und zurechtgelegt. Dass sie vor Zeiten etwas Besseres gewesen war, vor ihrem Bankrott und Ruin anno dreizehn, kam auch ans festliche Licht dieser Familienfeier. Sie nahm nicht einfach am Tisch Platz, sondern ließ sich zur Tafel führen und entfaltete dabei eine zitterige Grazie. Sie trank nicht einfach wie alle anderen, sondern stellte einem vor Augen, was es bedeutet: sein Glas zum Munde führen. Was tat es, wenn sie dabei ein wenig von dem Wein verschüttete – auf die Handbewegung kam es an, die sie allein von uns Übrigen unterschied und die an eine längst hingesunkene, prächtigere Zeit gemahnte ( - nobles Wort zu nobler Geste). Sie bat die festlich Versammelten im Hinblick auf ihr hohes Alter, die schmackhaften Bissen und besonders das ihr schon vorgeschnittene Fleisch mit der Gabel in der Rechten zum Mund führen zu dürfen. Das war zwar unvornehm, nur wie gesagt, sie war schon etwas zitterig.
      „Der Pfarrer! Der Herr Pfarrer!“ Einmal trat nun doch Stille ein. Schuster ließ sich an diesem Tag durch seine Frau von Feier zu Feier chauffieren und blieb überall fünf oder zehn Minuten. Ob er sich auch bei Rolf sehen ließ, in der Hottentottensiedlung? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Er sah aus wie ein erschöpfter Politiker am Ende des Wahlkampfs und aß ein halbes Stück Sandkuchen – die Frau Pfarrer verweigerte jeden Bissen – und er lächelte dünn, o ja, Schuster lächelte, was noch nie erlebt worden war. Heute war ja Konfirmation und zum Glück damit nun alles vorbei.
      Kaum war er weg, setzte das Geschnatter wieder ein. Meine Oma – die „richtige“ Oma – schrie über alle Köpfe hinweg: „Bei Opas Geburtstag taucht er jetzt auch immer auf! Seit Opa siebzig ist! Er muss doch wissen, dass wir nicht in der Kirche sind! Seit fünfundvierzig Jahren schon! Aber er riecht wohl den Braten, der Herr Pfarrer!“
      Alle lachten. Nur Tante Adolphines Gesicht wies Flecken voller Entrüstung auf. Immerhin hatte sie die Kraft, nichts zu sagen.
      Beim Aufbruch verfehlte Onkel Georg die richtige Zufahrt zur Straße. Das Gelände um unser Haus war etwas unübersichtlich, er verfuhr sich und blieb im Schlamm stecken; zudem drohte der Wagen, einen Abhang hinunterzurutschen. Wir gingen mit den übrigen Gästen hinaus und halfen ihm, sein Auto wieder flottzukriegen. Der Einfachheit halber verabschiedeten sich die letzten Gäste dann draußen von uns. Wir kehrten ziemlich verdreckt ins Haus zurück. Ich inspizierte sofort die Geschenke: einige praktische Sachen, viele Blumentöpfe – Azaleen vor allem – und Geld, noch mehr Geld, als ich gedacht hatte. Es waren sechshundertundfünfzehn Mark, wie eine erste Zählung ergab und eine zweite bestätigte.
      Wir räumten auf. Es war schon spät, als wir das Gröbste hinter uns hatten. Vor dem Einschlafen blätterte ich im Neckermann-Katalog. Was ich mir von dem Geld alles kaufen konnte: ein Zelt, ein Fahrrad, eine Lederhose und - eine Schreibmaschine …
      Die Azaleen schmissen wir schon nach einer Woche fort. Sie waren total verlaust.


29. Der Kurde

Letztes Jahr im August fuhr ich einmal von Mannheim nach Düsseldorf. Es war an einem Sonntagnachmittag, der Zug war überfüllt. Ich hatte einen Platz reservieren lassen und fand ihn besetzt. Man schien begriffsstutzig zu sein. Ich musste einige Worte verlieren, bis man den Sitz räumte. Ich stemmte dann meinen Koffer zur Ablage hinauf, zog die Jacke aus und warf sie auf den Koffer.
      Nun saß ich, es war ein Fensterplatz. Gerade rollte der Zug über die Rheinbrücke. Ich atmete noch schwerer als normal. Vielleicht war ich zu energisch aufgetreten. Man sollte sich besser unter Kontrolle haben … Um mich abzulenken, begann ich die Mitreisenden zu mustern. Zuerst blieb mein Blick an einem Augenpaar schräg gegenüber hängen. Dort, auf dem Mittelplatz, saß ein schlanker junger Mann, etwa Mitte zwanzig, vielleicht ein Türke. Er blickte mich freundlich an, auch etwas neugierig, wie mir schien. Ich fühlte, wie meine Züge sich entspannten, ich nickte ihm automatisch zu. Vor mir rechtfertigte ich das damit, dass ich ja grußlos ins Abteil gestürmt war. Ich löste meinen Blick, sah hinaus. Der Zug hielt eben in Ludwigshafen. Auf dem Bahnsteig liefen Menschen am Wagen entlang und blickten auf der Suche nach freien Plätzen ins Abteil hinein.
      Der Zug fuhr wieder an. Ich setzte die Umschau fort, die ich so rasch abgebrochen hatte. Mir gegenüber las ein anderer junger Mann in einem medizinischen Lehrbuch. Er war blond. Er nahm von nichts sonst Notiz und hob kaum einmal den Blick. Rechts von mir saß ein älteres Ehepaar, er in der Mitte, sie am Gang, und ihr gegenüber eine junge Frau, eine auffallende Erscheinung – aber da fühlte ich mich erneut durch den Orientalen fixiert. Ein Strom von Aufmerksamkeit ging von ihm aus. Wider Willen suchte ich seinen Blick. Er hielt eine Weile stand, schlug die Augen dann nieder und vergewisserte sich Sekunden später, dass ich ihn noch beobachtete. Ich fühlte, das könne lange so weitergehen, es war mir nicht unangenehm.
      Ich stand dann auf und packte das Buch aus, die Novelle, in der ich lesen wollte. Kaum hatte ich zwei, drei Sätze gelesen, begann die ältere Frau am Gang eine Unterhaltung mit ihrem Gegenüber, jener jungen Frau, in deren Betrachtung ich vorhin abgelenkt worden war. Sie war immens fett, jedoch nur um die Leibesmitte. Darüber balancierte sie ein kleines, sorgfältig gepflegtes Puppengesicht, das an Porzellan denken ließ. Der Ausdruck dieses Gesichts war so vollkommen nichtssagend, wie ich es niemals vorher gesehen hatte. Wegen ihrer Unförmigkeit musste ich gleich an die Figuren der Niki de Saint-Phalle denken und nannte sie bei mir Nana.
      „Voll ist es heute im Zug“, stellte die Ältere fest. „Das haben wir gleich beim Einsteigen in Heidelberg gemerkt. Zum Glück hatten wir Platzkarten.“
      „Sind Sie denn aus Heidelberg? Wir sind in Stuttgart eingestiegen, da gab’s noch freie Plätze.“ Die Nana sprach Hochdeutsch mit schwäbischem Akzent. „Wir kommen aus Geislingen, Geislingen an der Steige, wenn Sie’s kennen.“ Wir haben meine Eltern übers Wochenende besucht. Er da ist mein Verlobter. Er kommt aus der Türkei, aber er ist kein Türke, er ist Kurde.“
      Sie gehörten zusammen, die Nana und der Orientale; das überraschte mich: ein so ungleiches Paar. Ohne Umstände gab sie alles preis. Sie erbrach ihre Lebensgeschichte und seine dazu. Als der Zug Mainz erreichte, hatte ich keine Zeile im Buch weitergelesen und war dafür über ihre Verhältnisse im Bild.
      In seiner Heimat, da seien sie alle Faschisten, sagte sie, da habe er nicht bleiben können. Er sei schon ein paar Jahre hier bei uns und wohne in Köln bei einem Onkel; der sei auch ein Flüchtling. Zum Glück habe er Arbeit, Busfahrer sei er. Er fahre die städtischen Linienbusse in Leverkusen.
      „Ich bin noch nicht lange in Köln, erst seit drei Monaten. Apothekenhelferin bin ich, ich habe ein Zimmer in Mülheim. Es ist nur für den Übergang, wir heiraten ja bald. Ich habe schon eine Wohnung für uns, am Ebertplatz, wenn Sie’s kennen. Wenn es nur schon soweit wäre. Es fehlen immer noch einige Papiere fürs Standesamt. Wir waren schon öfter da. Morgen müssen wir deshalb auch wieder zum Anwalt. Ohne den kämen wir gar nicht weiter.“
      Der Anwalt schien eine große Rolle zu spielen. Hatten sie sich auch über ihn kennen gelernt?
      Als das Wesentliche ausgeplaudert war, ging sie zu seinen Lieblingsspeisen, seiner schlanken Figur, seiner Neigung zu Kopfschmerzen über. Sie wollte überhaupt nicht mehr aufhören, die Porzellanbäckchen röteten sich vor Eifer und Stolz. Er sprach gar nicht, er drückte sich nur verlegen in seinen Sitz und hielt den Blick meist gesenkt.
      Während der Zug jetzt unmittelbar am Strom entlangfuhr, begann der alte Herr ein röchelndes Schläfchen, immer wieder unterbrochen von ruckartigem Aufwachen. Seine Frau stellte ihr „Ja, ach ja?“ allmählich ein. Nana war der Resonanzboden entzogen, sie verstummte endlich.
      Als es so still geworden war, stand der Kurde mit einemmal auf, setzte Nana murmelnd von etwas in Kenntnis und ging hinaus auf den Gang. Er ging draußen einige Meter auf und ab, blieb dann am Fenster stehen und sah auf den Rhein hinaus; er kehrte uns den Rücken zu. Auffällig war, dass er seinen Mantel angezogen hatte, obwohl es im Zug warm war. Ich sah ihn in seiner Manteltasche kramen. Er holte ein Stück Papier heraus, las etwas davon ab, las es wieder und wieder. Dabei hatte er sich allmählich vom Fenster weggedreht. Er zeigte jetzt sein Profil, er war hübsch. Dann vollführte er rasch noch eine Vierteldrehung und richtete den Blick sofort auf mich. Nana hatte ihn nicht im Blickfeld, sie blätterte in einer Illustrierten. Er stand schräg hinter ihr und sah durch das Gangfenster über sie hinweg in meine Richtung. Ich fühlte mich ertappt, ich hatte ihn ja minutenlang beobachtet. So wandte ich den Kopf zur anderen Seite und sah durch das Außenfenster auf die Weinberge.
      Der Zug fuhr jetzt langsamer. Ich sah in die Zwischenräume zwischen den Rebzeilen hinein, immer in die Zwischenräume hinein. Die Zeilen liefen endlos vorbei. Davon konnte einem schwindlig werden. Ich gab es auf und sah geradeaus. Der lernende Student war ohne Interesse für mich. Der leere Platz des Kurden bot meinem Blick keinen Halt. Nanas Anblick war mir nicht angenehm – der Blick landete wieder beim Kurden. Da lächelte er, auf eine zurückhaltende und gleichzeitig nachdrückliche Weise. Ich – und nur ich – war gemeint. Ich lächelte nicht, ich sah ihn nur ruhig an. Da nahm er wieder den Zettel zur Hand, las ein weiteres Mal die Notiz oder die Adresse oder was es sonst war und bewegte die Lippen dabei.
      Ich sagte mir, ich sollte vielleicht aufstehen und auch auf den Gang gehen. Vielleicht wollte er mit mir sprechen, mich um Rat fragen. Ich fühlte mich unsicher, ich war unfähig zu irgendeinem Entschluss. Es waren bloß zwei, drei Minuten, die für eine Entscheidung blieben. Ich schob sie auf. Und dann kam der Schaffner, wollte die Fahrkarten sehen. Der Kurde kehrte ins Abteil zurück. Nana wies die Karten für sie beide vor.
      Sie fragte ihn: „Was machen deine Kopfschmerzen?“
      „Es geht.“ Er schien sich erst darauf zu besinnen, dass er wegen Kopfschmerzen hinausgegangen war.
      Das alte Ehepaar wurde munter. Sie sagten, sie müssten in Koblenz aussteigen. Nana beeilte sich, ihnen in loser Folge die geheimen Artikel ihres Ehevertrages offen zu legen.
      „Wenn Kinder kommen, werden sie natürlich katholisch getauft … Ich hoffe, dass ich ihn in zehn Jahren soweit habe, dass er auch Schweinefleisch isst … Seine Verwandten, die sehen das gar nicht gern, dass er eine Deutsche heiratet. Egal, sollen sie bleiben, wo sie sind … Manchmal hat er Ärger auf der Arbeit. Dann sag ich immer: Pass dich an, pass dich an … Wenn wir erst verheiratet sind, fahren wir auch einmal in seine Heimat.“ (Ins wilde Kurdistan?)
      Wir waren noch nicht in Koblenz. Der Stoff war ihr nun doch ausgegangen. Sie blätterte wieder in ihrer Illustrierten. Der Prozess gegen eine Kindsmörderin gab ihr zu denken: die Todesstrafe, nur die Todesstrafe! Dann geriet sie ohne Übergang auf die Punker vom Kölner Hauptbahnhof: Dass so etwas geduldet wurde.
      Der Kurde, in dessen Heimat sie alle Faschisten waren, schwieg zwischen Bingen und Koblenz, wie er schon zwischen Worms und Mainz geschwiegen hatte. Er sah nur noch gelegentlich zu mir herüber. Seine Augen wanderten jetzt oft umher und verrieten mir, dass in seinem Kopf viel mehr vorging, als seine Verlobte sich jemals würde vorstellen können. Als die alten Leute ausgestiegen waren, schwieg auch Nana.
      Ich versuchte wieder zu lesen. Ich sah bald ein, ich war nicht genügend konzentriert für das Buch. Es war die „Mexikanische Novelle“ von Bodo Kirchhoff. Der Kurde bemühte sich, den Titel zu entziffern. Ich tat ihm den Gefallen, wenigstens diesen, und hielt das Buch senkrecht. Er begann auch noch das Umschlagmotiv zu studieren. Einen breiten, warm fleischfarbenen Sandstreifen riegelte da ein schwarzes, gebuckeltes Mondgebirge ab. Und darüber ein kalter, leerer Himmel von düsterer Bläue, in den ein Düsenjäger seine Kondensspur ritzte: absturzbereit.
      In Bonn stieg der Medizinstudent aus. Wir blieben zu dritt im Abteil. Der Kurde lehnte jetzt mit geschlossenen Augen in seinem Polster, über das er seinen Mantel gebreitet hatte. Er versank, er machte sich klein. Sie lehnte sich von ihrer Seite gegen die trennende seitliche Kopfstütze und überwölbte ihn mächtig. So bildeten sie eine sonderbare Pietà, über der mir allerdings schon die Vorzeichen der Rebellion zu stehen schienen.
      Die Landschaft draußen änderte sich, die Hügel verliefen sich. Ich sah hinaus, ich nahm alles wahr und nichts auf. Die Landschaft fiel durch mich hindurch. Felder, Wälder, Siedlungen, kaum registriert, schon vergessen.
      Die Nana und ihr Kurde stiegen in Köln aus, grußlos, blicklos. Ich sah noch, wie sie sich auf dem Bahnsteig entfernten. Sie schleppten eine Menge kleiner Gepäckstücke mit sich. Ich blieb allein bis ans Ende der Fahrt.


30. Das Leben eine Sitcom

1. Vorspiel

Da er Wolfgang hieß, nannten sie ihn anfangs Wolferl. Später passte es nicht mehr, er war ein kräftiger und hübscher Kerl geworden. Seine Eltern betrieben ein kleines Hotel in Gmunden, er sollte es einmal übernehmen. Sie ließen ihn Koch lernen und waren hoch erfreut, als er Magda, ihre Kellnerin, zur Frau nahm. Es kam für alle überraschend. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
      Wenn die beiden einmal in Salzburg waren und sich durch die Getreidegasse schoben, gingen ihre Blicke in verschiedene Richtungen. Magda fiel jede Frau unangenehm auf, die den Gemahl freudig musterte. Dafür entgingen ihr die Augenaufschläge, die Wolfgang von Seiten mancher Männer erhielt. Wolfgang nahm sie zunächst gelassen hin und stellte bei sich fest, dass Magda ahnungslos war.
      Bald schon empfand er die Ehe als Gefängnis. Magda erfuhr, sie könne nicht bei ihm bleiben. Sie drohte, sich in den Traunsee zu stürzen. Stattdessen siedelte sie nach München über, wo sie besser verdiente. Sie betrieben beide die Scheidung.


2. Wels

Wolfgang zog nach Wels, zu seinem älteren Bruder, der dort einen Gasthof hatte. Es war der Stammsitz der Familie. Er richtete sich unter dem Dach ein Studio ein und wurde Vertreter für Hotelwäsche. Gäste kommen immer, Wäsche wird immer verschlissen. Er fing an, übers Wochenende nach München zu fahren und die andere Seite kennen zu lernen. Um sich passend neu einzukleiden, ließ er in Deutschland von einem Lederschneider Maß nehmen. Das Paket mit den fertigen Sachen blieb zunächst bei der Post hängen. Er machte Spektakel, es sei eine Kollektion, die er für die Messe in Brünn benötige. Da suchten sie natürlich mit Nachdruck.
      Neu ausstaffiert fuhr er zum ersten Mal nach Köln und lernt prompt Carlo kennen. Er lud ihn ein, seinen Urlaub bei ihm in Österreich zu verbringen. Musst doch nicht immer nach New York fliegen, sagte er ihm. Für Carlo war Wels ein genügend exotisches Reiseziel.
      Mein Bruder hat keine Ahnung, sagte Wolfgang bei Carlos Ankunft. Die Schwägerin begegnete dem Gast mit großer Zurückhaltung. Wenn die beiden überhaupt zu Hause aßen, dann immer nur im Studio. Der Kochlehrling brachte die fertigen Speisen nach oben und übertrieb es dabei mit der Diskretion seiner Blicke. Wolfgangs Bruder war viel beschäftigt. Carlo bekam ihn kaum zu Gesicht. Gast und Gastgeber besuchten Cafés in der Stadt und langweilten sich dort ein wenig.


3. Wien

Daher fuhren sie in die Bundeshauptstadt. Sie nahmen ein Zimmer dicht am Graben. Die Pensionswirtin: Also, aus Linz kommen Sie? Na, geschenkt … - Carlo schlug vor, seinen alten Freund Svoboda zu besuchen. Er meldete sie telefonisch an, dann gingen sie zu Fuß in den 7. Bezirk. Svoboda ließ sie herein und lachte: Aus Wels bist du? Na, so was! – Wolfgang hatte sich ihm gegenüber neulich in München für einen Salzburger ausgegeben. Er entschuldigte sich: In München bin ich halt nur inkognito.
      Sie gingen zusammen essen. Dann besuchten sie noch eine Bar. Als Svoboda nicht in der Nähe war, behauptete Wolfgang vor anderen Gästen wieder, er komme aus Salzburg und sein Name sei Thomas.
      Sie sahen das Übliche: Schönbrunn, den Wurstlprater und das Belvedere. Dann fuhren sie durch die Alpen ins Salzkammergut.


4. Gmunden

Wolfgangs Eltern waren zuvorkommend, beinahe herzlich und auf jeden Fall neugierig. Wolfgang sagte auch von ihnen: Sie haben keine Ahnung. Da das Zimmer des Sohnes zu klein für beide war, bekamen sie ein Gästedoppelzimmer. Dem Hotel war ein Nachtlokal angeschlossen. Am ersten Abend besuchten sie es und sahen einen Striptease ländlicher Art. Sie täuschten amüsiertes Interesse vor und Wolfgang sagte nachher: Um Gäste zu bedienen, wär sie auch weniger geeignet.
      Am Tag darauf nahmen sie ein Elektroboot und fuhren auf dem Traunsee herum. Wolfgang zeigte auf die riesige Kalkpyramide über dem See und sagte: So wie der Traunstein, so ist später mal das Alter. Carlo war anderer Ansicht: Zu einer Altersdepression passe eher eine Tiefebene.
      Dann stand Salzburg am Abend auf dem Programm. Sie besuchten zwei Bars, an die Carlo sich schon bald nicht mehr erinnern konnte. Wolfgang sagte dort, sein Name sei Bernhard und er wohne in Wien. Wolfgangs Mutter wurde tags darauf beim Frühstück etwas lästig. Sie wollte durchaus die Namen der von ihnen besuchten Lokalitäten erfahren. Ihrem Sohn waren sie schon entfallen, er sprach lieber über die Parkplatzsuche in Salzburg. Die Mutter blickte unbefriedigt drein.


5. München

Am Schluss verbrachten beide einige Tage in München. Sie wohnten erst bei einem von Wolfgangs Freunden und siedelten schon nach einer Nacht lieber in ein Hotel über. Carlo musste aufpassen, dass er nicht die Wahrheit verriet, wenn sie abends ausgingen. Wolfgang war jetzt angeblich wieder in Salzburg zu Hause. Immerhin duldete er es, mit Wolf angesprochen zu werden. Im Gespräch mit einem anderen Gast behauptete er, Carlo und er hätten sich gerade erst getroffen und würden bald durch die Alpen nach Wien fahren. Der andere: Dann schaut euch unbedingt auch das Gesäuse an. Und er begann ihnen etwas vom Ennsdurchbruch vorzuschwärmen, den sie tatsächlich auf dem Weg nach Gmunden schon besucht hatten. Wolfgang lachte hinterher: Der hat das geglaubt!
      Als Carlo in den Zug nach Köln stieg, kam die Frage: Willst du nicht ganz nach Österreich kommen? Wir finden schon etwas für dich … - In der Wäschebranche? – Na, ich dacht eher an Brotaufstrich. Frühstücken tun die Leute immer.


6. Nachspiel

Sie telefonierten ab und zu. Carlo erfuhr, Wolfgangs Eltern rechneten nicht mehr mit ihm als Nachfolger und suchten einen Käufer für ihr kleines Hotel. Und sein Bruder hatte ihm gesagt, er wisse längst über ihn Bescheid.
Auch von Magda gab es Neues zu berichten. Sie war jetzt schwanger. Wolfgang sagte: Sie will das Kind nicht. Ich hab ihr Geld für die Abtreibung angeboten … Ihr Freund gibt nichts dazu. Du, ich glaub, ich geh ganz nach München. Dann kann ich mich wieder mehr um die Frau kümmern. Und du, hättest du nicht auch Lust zu kommen? Nein? Warum nicht? Pourquoi pas?

 

 

31. Wie mein Bad einmal beinahe unter Wasser gesetzt wurde

 

Ich langte nach dem Badetuch, um mich nach dem Duschen abzutrocknen. Es hängt gewöhnlich über der oberen Querstange der Kabinenwand, ich muss mich nach ihm recken und dabei ging mein Blick wieder zur weißgestrichenen Decke, gedankenlos heute. Wie oft hatte ich schon misstrauisch nach oben gestarrt: ob sich etwas zeige. Der Makler hatte mir seinerzeit versichert, der Schaden sei beseitigt, die Decke absolut trocken. Und beide waren wir nacheinander auf die alte Trittleiter gestiegen, vom Vorbewohner her, und hatten uns von der Unbedenklichkeit der kinderhandgroßen Verfärbung überzeugt. Ich hatte die Stelle dann beim Renovieren übermalen lassen; drei Jahre seitdem vergangen.

Da waren jetzt wieder Flecke! Kein einzelner, sondern Flecke von verschiedener Größe, schön aufgereiht auf langer Bahn. Ob ich mich auf diese Entdeckung hin auch verfärbte, gut möglich. Ich trocknete mich hurtig ab, griff wie immer zur Flasche mit der Lotion, um sie gleich wieder zurückzustellen - keine Zeit jetzt fürs Eincremen. Noch ein Blick nach oben: wie das feucht glänzte. Wurden sie schon größer? Es schien mir fast so.

Ich hatte Glück, der Hausmeister ging gleich ans Telefon und kam sofort. „Das sieht bös aus, sieht ganz nach Leckage aus“, sagte Herr Feininger, „ich geb’ sofort oben Bescheid. Vielleicht müssen sie was abdrehen.“ Beruhigend, dass ich mich mit dem Mann so gut stehe.

Dennoch banges Warten meinerseits. Ich wollte die Flecke nicht nur hypnotisieren, ich holte die alte Leiter und stand auf dem obersten Tritt und prüfte mit dem Zeigefinger. Gewiss, es fühlte sich feucht an, wenn auch nicht gerade klatschnass. Wahrscheinlich sickerte es schon seit gestern in die Decke hinein.

„Frau Weißwasser kann nichts abdrehen, sie hat gar nichts laufen“, berichtete der Hausmeister. „Die Quelle müsste in der Decke sein. Tja, so ist das, wenn die Eigentümer die Strangsanierung immer weiter hinausschieben …“ Ich schwieg schuldbewusst. Tatsächlich besaß Herr Feininger inzwischen Routine im Umgang mit solchen Havarien und die Versicherung hatte bereits mit Haftungsbegrenzung gedroht. Er würde jetzt erst telefonisch die Kostenübernahme der Hausverwaltung einholen müssen …

Es zog sich ein bisschen hin. Mir schien, die Flecke nähmen nicht nur an Größe, sondern auch an Farbkraft zu. Spielte es nicht schon ins Bräunliche? Das sagte ich später auch dem Klempner. Er äußerte sich dazu nicht, bestieg die Leiter und nahm oben einige manuelle Abstriche.

„Es kommt mir etwas schmierig vor“, sagte der Fachmann und roch an seinem Finger. „Hm, da ist ein seltsamer Geruch, nicht das, was sie jetzt vielleicht denken –  es riecht irgendwie fein. Ein Rätsel – lösen wir es oben!“ Und er verschwand für lange Zeit. Ich hörte ihn über mir immer wieder hämmern und bohren.

Sein Bescheid kam gegen Mittag. Er hatte den Fußboden aufgestemmt, die Leitungen seien trocken, nirgendwo eine Spur von Feuchtigkeit in der Decke. Ob bei mir hier unten etwas passiert sei? Mit dieser neuen Rätselaufgabe ließ er mich allein. Und ich löste sie …

Ich sah mich im Bad um. Hatte ich versehentlich beim Duschen den Wasserstrahl gegen die Decke gerichtet? Wie sollte das die Beschaffenheit der Flecke erklären, ihre Farbe, ihren Geruch? Das konnte es nicht sein. Mein Blick wanderte über alle Gegenstände im Raum und blieb endlich an der Plastikflasche mit der Lotion hängen. Auf einmal sah ich mich am Vortag mit ihr hantieren. Sie war fast leer und wie immer war ich bestrebt gewesen, das letzte Quäntchen herauszuholen und zu verwerten. Ich habe dazu mein eigenes Verfahren: umstülpen, kräftig schütteln und mehrmals hintereinander mit der flachen Hand gegen die Unterseite schlagen. Das führt zu kleinen Explosionen, die recht ergiebig sein können. Und oft spritzt und verteilt sich die Substanz dabei zum Teil auf dem Boden und an der Kachelwand. Gestern allerdings, erinnerte ich mich jetzt, war der Strahl senkrecht nach oben gegangen. Aber an der Decke waren keine Flecke zu bemerken gewesen, erst heute waren sie sichtbar. Mysterien der Oxidation? Man hätte in Chemie besser aufpassen sollen.

Nur noch schnell eine E-Mail an die Hausverwaltung schreiben! Da leider die Ursache der Durchfeuchtung nicht festzustellen sei, werde ich schreiben, sie jedoch vermutlich nicht im Gemeinschaftseigentum liege, seiest du bereit, die Kosten der Renovierung in der Nachbarwohnung zu erstatten – so ungefähr. Nicht dass aus der Leckage noch eine Blamage wird.

 

 

32. Reinhold, ein Psychologe 

 

Am dritten Tag unserer Reise erreichten wir mittags Coburg. Wir nahmen ein Doppelzimmer für zwei Nächte in einem Gasthof unweit vom Markt. Ich war schon einige Male mit Reinhold unterwegs gewesen, wandernd, mit dem Rad oder dem Zug. Er kam immer von Frankfurt, ich aus dem Norden, wir trafen uns meistens in Würzburg und zogen dann weiter.

Während wir auspackten und uns einrichteten, fragte ich ihn: „Wann genau machst du deine Praxis auf?“ – „In zwei Wochen. Gleich nach der Rückkehr geht’s mit den Vorbereitungen los.“ Reinhold wollte sich in Hanau etablieren und dort Beratung in Lebenskrisen anbieten. In Frankfurt hätte er sich die Gewerbemiete nicht leisten können. Es war ein Versuch, sich in die Selbständigkeit vorzutasten, seine Teilzeitstelle würde er vorerst behalten. – „Denkst du an einen Umzug nach Hanau?“ – „Das hängt von der Entwicklung ab, von der Nachfrage …“ Er lächelte auf seine Art, in dieser Mischung aus Selbstsicherheit und schüchterner Skepsis. Mir war das immer sehr gewinnend an ihm vorgekommen. Er wollte jetzt nicht weiter über die Praxis reden und drängte zum Aufbruch. Coburg war neu für uns, wollte entdeckt werden.

Wir bummelten kreuz und quer durch die Altstadtgassen, warfen Blicke auf gut restaurierte Fassaden, in Schaufenster mit schönem Überflüssigem. Bei unserem Herumgehen wechselte Reinhold öfter die Seite, ging mal rechts, mal links von mir. Ich hielt es ebenso, wie es sich gerade ergab: hätte ich sagen können. Aber Reinhold hatte etwas an meinem Verhalten auszusetzen.

Er sagte: „Was ich neuerdings an dir bemerke: Du strebst immer an meine linke Seite, wie zwanghaft. Ist dir das bewusst?“ – „Nein, wieso? Und was soll daran Besonderes sein?“ – „Du weißt wohl: Der Herr geht immer auf der linken Seite der Dame, als Beschützer  … Ein traditionell männliches Rollenverhalten, das du da ein bisschen spät ausbildest, dünkt mich … Das war früher bei dir anders.“

Kurzes Nachdenken meinerseits, dann konnte ich ihn aufklären. „Reinhold, es ist nicht das Herz, es ist das Ohr. Seit ich mit Sascha zusammen bin, kann ich mir das tatsächlich angewöhnt haben. Er ist rechts schwerhörig und verlangt immer, dass ich auf der anderen Seite gehe.“ Reinhold kommentierte es nicht, er lächelte wieder nur, halb verunsichert, halb seiner selbst gewiss.

Auf dem Marktplatz bewunderten wir erst die Prachtfassaden und aßen dann jeder eine Bratwurst. Wir nahmen sie vom Stand mit hinüber zu einer Bank, das Prinz-Albert-Denkmal im Blick. Beim Verzehren beobachteten wir auch die Menschen in der Nähe, wie sie schlenderten oder auf Bänken saßen, sich ruhig oder lebhaft unterhielten. Ich könne mir, sagte ich Reinhold, gerade keinen größeren Kontrast vorstellen als den zwischen dieser Szenerie und dem Hamburger Hauptbahnhof mit seiner ewigen hektischen Dynamik. „Sind es nur die Zwecke, die man gerade verfolgt, oder doch eine andere Mentalität, die sich da zeigt? Und ist es nur eingeübt oder tiefer verankert, sozusagen vererbt?“ – Er antwortete rasch und etwas heftig: „Vererbt gewiss nicht im biologischen Sinn! Perpetuierend sind nur die Verhältnisse, die sozialen Rahmenbedingungen. Es sind die gleichen Menschen wie in deinem Hamburg.“ Seine Augen ruhten jetzt länger auf einer kleinen Gruppe junger Leute neben uns.

Nach dem Imbiss brachen wir zur Veste auf, kamen jedoch nicht weit. An der zweiten Ecke stieß Reinhold einen Schrei aus: „Die Jacke! Ich habe meine Jacke auf der Bank liegen gelassen!“ Wir kehrten rasch um, erreichten im Laufschritt wieder den Marktplatz und fanden die Bank leer. Auch die Nachbarbänke waren nicht mehr besetzt, keiner da, den man hätte fragen können. Der Verlust war ärgerlich, doch keine Katastrophe: Die Börse mit den Wertsachen, Geld wie Karten, verwahrte Reinhold in einer Hosentasche und die Jacke war nur aus billigem Material. Wir traten dennoch etwas verstimmt den Weg bergwärts erneut an. 

Reinhold war sich sicher, wer die Jacke an sich genommen hätte: das junge Volk neben uns vorhin. Er habe die Gestalten im Blick gehabt und sie hätten ihn immer wieder interessiert gemustert, sagte er. Das sei ihm gleich seltsam vorgekommen.

Um ihn abzulenken, kehrte ich zum Thema Verhaltensvererbung zurück; als Bauernsohn hätte ich bei Haustieren da meine Beobachtungen gemacht. Ich erzählte ihm von zwei Kätzchen aus unterschiedlichen Würfen, die wir kurz hintereinander bekommen hätten – sie seien von Anfang an in ihrem Wesen diametral verschieden gewesen. Sollte das nicht ein Indiz dafür sein, wie Merkmale sich bei Säugetieren vererben könnten? – „Nein, nein, das bestreite ich ganz entschieden. An so etwas zu denken, ist abwegig. Es sind allein die Bedingungen, es ist nur das Milieu.“ – „Aber beide Katzen wurden von klein auf zusammen aufgezogen und ganz gleich behandelt.“ – „Es genügt schon, wenn die eine beim ersten Öffnen der Augen freundlich angeschaut wurde und die andere nicht. Der kleinste Unterschied der Behandlung in dieser Phase kann sich lebenslang auswirken, die eine geht dir danach immer freundlich schnurrend um die Beine und die andere bleibt dauernd überängstlich oder kratzt und beißt nur. Komm mir bitte nicht mit evolutionärer Psychologie durch die tierische Hintertür.“

Wir waren noch im Hofgarten und erst wenig angestiegen, als auf dem Kamm die Veste wie ein erhabenes Zauberbild ins Blickfeld kam. Ich suchte im Kopf weiter nach Argumenten und Beispielen, da blieb Reinhold abrupt stehen: „Das Postsparbuch! Es war in der Jacke, ich wollte doch heute Nachmittag Geld abheben. Was nun?“

Sofort losrennend verständigen wir uns im Laufen darüber, was geschehen müsse. – „Zuerst suchen wir noch einmal die Bänke ab.“ – „Aber dann schleunigst zur Post!“ Reinhold scheint mir sehr nervös. – „Vielleicht gibt es doch noch Zeugen.“ Wir finden den Marktplatz jetzt wieder belebter vor, nur von Jacke und Sparbuch keine Spur. Es ist sinnlos, Wildfremde mit Fragen zu belästigen. Da kommt mir eine Idee: „Der Bratwurststand? Fragen wir da noch.“ Mir sei mal die Brieftasche gestohlen worden und dann halb geleert, ohne Geld, doch mit Ausweis, per Post zugegangen. – „Ja, klar, sie nehmen erst das Sparbuch an sich und bringen dann nur die Jacke zum Imbiss …“

Reinhold geht trotzdem hin, während ich von weitem zusehe. Zwei oder drei Sätze werden gewechselt, er muss seinen Ausweis vorzeigen – da, er bekommt die Jacke herübergereicht. Er greift in die Innentasche und nun dreht er sich nach mir um, macht sichtlich erleichtert das Victory-Zeichen. Ich laufe schnell zu ihm hin und höre gerade noch, was die Frau hinter dem Tresen meint: „Gelt, da seid ihr froh, dass die jungen Leute so gut aufgepasst und die Jacke gleich rübergebracht haben?“

Reinhold lächelt befriedigt wie selten, diesmal ganz ohne Skepsis. Er sagt: „Suchen wir die Post, ich brauche Bargeld. Für die Veste ist es heute zu spät.“

 

 

33. Die Esoterikerin

 

Frau Bergner ging nun auf die sechzig zu. Als Endvierzigerin hatte sie der Gewerkschaft ade gesagt und sich den Anthroposophen angeschlossen. Ihr Bürozimmer lag schräg gegenüber von unserem. Ab und zu besuchte sie uns, den jungen Kollegen und mich, um eine Viertelstunde zu verplaudern. Wir sahen das gern, oft heiterte sie uns auf.

Eines Tages bringt sie die Rede aufs Rauchen, ein unverfängliches Thema, keiner von uns greift noch zur Zigarette. Frau Bergner hat es früher getan, jetzt rechnet sie damit ab. Wenn sie so bei der Sache ist, wippt sie eurythmisch auf Zehen und Fußballen.

„Wissen Sie“, verkündet Frau Bergner, „was man jetzt herausgefunden hat? Bei Rauchern ist die Körpertemperatur im Durchschnitt um acht Grad niedriger als bei Nichtrauchern.“

Der junge Kollege kräht sofort los: „Aber dann müssen sie ja schon beinahe tot sein!“

Ich versuche zu vermitteln: „Na ja, wenn die Wissenschaft so etwas herausgefunden hat, dann können es vielleicht null Komma acht sein, aber doch nicht ganze acht Grad. Oder, Frau Bergner?“

Wir wollen ihr die Bandbreite der Körpertemperatur vermitteln. Unmut kräuselt schon ihre Stirn. Gleich wird er sich Luft machen. Sie sagt laut und vorwurfsvoll: „Sie wissen doch beide, dass ich kein Zahlenmensch bin! Warum nageln Sie mich dann auf so etwas fest?“ Offenbar zürnt sie uns, nicht sich selbst.

Das Thema Rauchen wird aufgegeben, ein neues kommt nicht in Gang. Frau Bergner verlässt uns bald. Wir sehen uns an, lachen noch mal kurz und arbeiten weiter. 

 



I N H A L T

1. Der Polizist als Sittenstrolch


2. Wenn ein Kind nervt 


3. Alle wissen Bescheid 


4. Die Axt im Ballsaal 


5. In der offenen Abteilung 


6. Der Geldmacher 


7. Drei Zimmer, Küche, Bad 


8. Alles unter Kontrolle 


9. Eine Krankengeschichte 


10. Mordsgeschichten 


11. Die Maus – Nur für starke Nerven 


12. Dada aus dem Computer 


13. Bei Anruf Wut 


14. Die Hundeschule 


15. Alle meine Zahnärzte 


16. Falsche Ansage 


17. Absurde Großstadt 


18. 1001 Missgeschicke 


19. Die Kaffeemühle 


20. Katastrophenflüge 


21. Tafelfreuden 


22. Vom Reisefieber geschüttelt 


23. Markttage im Paradies 


24. Alles unter Strom 


25. Eine Tür fällt zu 


26. Schön essen gehen 


27. Vor der Leinwand – Kino ist immer live 


28. Die Konfirmation 


29. Der Kurde 


30. Das Leben eine Sitcom 

 

31. Wie mein Bad einmal beinahe unter Wasser gesetzt wurde 

 

32. Reinhold, ein Psychologe 

 

33. Die Esoterikerin 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

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