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Mein Herz pochte wie verrückt und ich schluckte. Das kann nicht wahr sein, dachte ich und beobachtete fasziniert, wie sich der rote Kreis auf meinem rechten Oberarm ausbreitete. Die glutrote Farbe brannte auf meiner Haut wie das Feuer, aus dem sie gemacht war. Es formte sich zu einem länglichen Muster, in dem Flammen zu erkennen waren. „Du bist nun eine von uns, Tamiy“, hörte ich Vater sagen und hob den Kopf. Er hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie und zog mich hoch. In der Menge, die in einem Kreis um uns stand, konnte ich das braune Haar von Farit erkennen und unwillkürlich musste ich lächeln. Ich würde ihn immer erkennen, egal, was passierte. Erst als ich meinen Blick ganz erhoben hatte, brach Jubel aus und meine Freunde waren nicht mehr zu halten. Sie liefen los, umringten mich und löcherten mich mit allerlei Fragen.
,,War es schlimm?“
,,Tut es sehr weh?“
Ich hob die Hand und alle verstummten. ,,Nein, es tut nicht weh. Aber ein komisches Gefühl ist es schon, jetzt einer von den Marils zu sein.“ Marils waren die Gezeichneten unter uns. Sie alle trugen ein solches Mal, jeder in einer verschiedenen Farbe, Form oder Größe. Jedes war so besonders wie sie selbst. ,,Tamiy.“ Meinen Namen aus seinem Mund zu hören war etwas Besonderes für mich. Farit lief auf mich zu und umarmte mich. Ich schmiegte mich an seine Brust und roch den Duft des Waldes, der an ihm haftete. ,,Was macht ihr da?“ Mein Vater stellte sich neben mich und zog mich weg. Verschämt senkte ich den Blick und Farit verschwand im Geäst des Waldes. Vater sah mich vorwurfsvoll an. Jetzt kam eine seiner berühmten Reden, da war ich mir sicher. ,,Du darfst ihn nicht lieben, das weißt du ganz genau. Er ist dein Seelenverwandter und das wird er immer bleiben. Nicht mehr und nicht weniger.“ Damit drehte er sich um und stapfte in die kleine Hütte zurück. Ich seufzte und setzte mich auf einen Baumstumpf. Eigentlich durften Marils sich nicht verwandeln, dass war dem obersten Führer vorbehalten. Doch wenn ich es alleine machte…
Der Gedanke gefiel mir, also stand ich auf und verließ das Lager. Mein Ziel war eine kleine Lichtung, die in der Nähe eines Sees lag. ,,Tamiy“, hörte ich meinen Vater rufen. Ich begann zu rennen. Immer schneller flogen die Bäume an mir vorbei und erst als mich das dichte Geäst umgab, wie eine undurchdringliche Mauer, blieb ich stehen. Mein Vater hatte ein Herz aus Stein, das sich durch nichts erweichen ließ. Wenn er mich bei einem meiner Ausflüge erwischen würde, stünde es nicht gut um mich. Als sich mein Atem beruhigt hatte, lief ich die letzten Meter zur Lichtung und blieb in deren Mitte stehen. Die Ruhe des Waldes umgab mich und ich schloss die Augen. All meine Gedanken waren auf das Innere Feuer gerichtet, dass nun endgültig bereit war, hervorzubrechen. Mein Puls ging schneller und ich öffnete meine Augen. Ich fühlte, wie sie sich zu schmalen Schlitzen verzogen hatten und konnte die goldgelbe Augenfarbe nur erahnen. Über meinen Armen bildeten sich feuerrote Schuppen und die Finger wurden gebogene, leicht gelbliche Krallen. Mein Rumpf wurde länger, die Zähne spitzer und schließlich stand ich auf allen Vieren da und betrachtete die Welt durch die Augen eines Drachen. Die Farben blau und grün stachen hervor, wobei rot und orange eher blass waren. Ich bewegte mich vorsichtig und versuchte, mein Gleichgewicht zu halten. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ich eine Maril geworden war. Es wurden jedes Jahr nur ein paar der jungen Schüler auserwählt und dieses Mal hatte ich dazugehört. Ich breitete meine Schwingen aus und versuchte, vom Boden abzuheben. All meine Gedanken waren darauf konzentriert und selbst unter größter Kraftanstrengung gelang es mir nicht. Da hörte ich leise Schritte in meiner Nähe und blieb stehen. Stimmengemurmel war zu hören doch ich nahm an, dass es sich um eine Truppe auf der Jagd handelte. Ich legte die Schwingen wieder an meinen Körper an und lief mit etwas unbeholfenen Schritten zu dem See. Das Wasser glitzerte unter der grellen Sonne und ich sah mir mein Spiegelbild an. Die goldgelben Augen sprühten nur vor Energie und die glatten Schuppen funkelten in der Sonne.
,,Tamiy.“ Die Stimme war leise, doch ich war sofort alarmiert. Es war Farit und er hörte sich aufgeregt an. In Gedanken antwortete ich ihm über unsere einzigartige Verbindung, die es ermöglichte, über weite Distanzen miteinander zu sprechen. ,,Was ist los?“ Schnell verwandelte ich mich zurück, was ein wenig schmerzhaft war, doch ich beachtete nicht den Schmerz, sondern konzentrierte mich auf Farit.
,,Sie sind da.“ Dieser einzige Satz zerstörte mein Leben, zerstörte meine Heimat. Drei Worte machten alles zunichte, was wir mühsam aufgebaut hatten. Ich begann zu rennen. Rannte, wie ich noch nie gerannt war. Die Zweige schlugen mir ins Gesicht, zerkratzten Arme und Beine, doch ich spürte es nicht. Mein Atem ging schneller und in Gedanken sah ich das Gesicht von Farit vor mir. Er durfte nicht sterben. Brandgeruch lag in der Luft, als ich die Stelle betrat, wo unsere Hütten gestanden hatten. Doch nichts stand mehr an seinem ursprünglichen Platz. Überall waren kleine Brandnester, und Blutflecken färbten den Boden rostbraun. Die einfachen Holzhütten waren zerschlagen und einzelne Holzlatten lagen einsam auf dem Boden. Ich rannte zu der Stelle, an der unser Haus gestanden hatte. Glassplitter lagen überall verstreut und als ich einen aufhob bemerkte ich nicht das Blut, das aus einer kleinen Wunde lief. Meine Augen schweiften über den Boden, doch es gab kein Andenken mehr, das mich an die frühere Zeit erinnert hätte. Ich ließ die Glasscherbe fallen und damit auch ein Stück meiner Vergangenheit.
Eine Träne rollte mir über die Wange, als ich die eisernen Fesseln bemerkte, die am Rande der Lichtung lagen. Ich kniete nieder und berührte mit zitternden Fingern das kühle Metall, das am Ende durchgeschnitten war. An den meisten Stellen klebte Blut und mir schauderte. Es war vorhersehbar gewesen, dass sie uns eines Tages fanden. Aber wann, dass wusste niemand. Und jetzt war es geschehen.
Ich ballte die Fäuste und stand auf. Meine Augen blickten über die Überreste unseres Lagers. Ich konnte den Blick nicht von den zerstörten Hütten, dem Blut abwenden und versuchte mir vorzustellen, was Farit erlitten haben musste.
Ich sank auf die Knie und berührte den von Blut durchtränkten Boden. Unkontrollierbare Tränen liefen mir die Wangen hinunter und meine Schultern zuckten. Erst als ich keine Tränen mehr hatte, kein klagender Laut mehr aus meiner Kehle drang erhob ich mich. Ein letztes Mal dachte ich daran zurück, wie wir alles aufgebaut hatten, wie fröhlich wir damals gewesen waren. Dann wandte ich all dem den Rücken zu und begann, nach Süden zu laufen. Dort, so hatte mein Vater gesagt, konnten wir sie finden. Drachenjäger der besonderen Art. Sie töteten die Unseren nicht nur, nein, sie machten sich einen Spaß daraus, uns zu quälen. Noch nie war jemand aus ihrer Gefangenschaft entkommen, weshalb ich sie Fiur nannte, unser Wort für „gefangen“. Meine Beine bewegten sich wie von selbst und ich dachte nicht darüber nach, was ich machen sollte, wenn ich angekommen sein würde. Immer wieder blieb ich stehen, hielt nach Spähern Ausschau oder lauschte, doch die Jäger schienen verschwunden zu sein.
Atemlos blieb ich stehen, als sich der Wald lichtete und unter mir eine Stadt sichtbar wurde. Der steile Abhang sollte ein Hindernis sein, doch die Fiur schien es nicht aufgehalten zu haben. Vater wollte immer einen sichereren Ort suchen, doch wir hatten uns geweigert. Der Wald war unsere Heimat und die konnten wir nicht einfach so verlassen.
Die kleinen Häuser hatten rote Backsteindächer und am Horizont erkennbar war ein Palast mit marmornen Kuppeln. Staunend blieb ich stehen, denn ich war noch nie so weit von unserem Lager entfernt gewesen wie jetzt. Es war immer zu gefährlich gewesen, denn die Fiur schickten Späher aus und durchkämmten jeden Winkel des Waldes auf der Suche nach uns. Nachdem ich tief durchgeatmet und einen letzten Blick auf den Wald geworfen hatte, lief ich den schmalen Pfad entlang. Es erwies sich als schwierig, nicht abzurutschen, doch irgendwie schaffte ich es, heil unten anzukommen. Ich lief den abgetretenen Weg entlang und stand schließlich vor einem Tor. Die heiße Mittagssonne brannte auf meiner Haut, doch mir war eher kalt, als ich die Wächter zu beiden Seiten des Tores sah. Misstrauisch beäugten sie jeden neuen Besucher und ließen sich gelegentlich die Aufenthaltsgenehmigung zeigen – die ich natürlich nicht hatte. Ich versteckte mich hinter einem Felsen und wartete, bis die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden. Eine andere Möglichkeit hätte ich sowieso nicht gehabt, denn durch das Tor würde ich niemals kommen. Ich faltete nervös die Hände, als ich das Blut bemerkte, dass an meinen Fingern haftete wie dunkelrote Schatten. Schnell wischte ich es im Sand ab und atmete auf. Vorsichtig blickte ich über die Felskante und sah die Wächter, die gelangweilt am Tor standen und sich unterhielten. Ich stand auf lief auf die Mauer zu. Erst als ich in ihrem Schatten stand, fühlte ich mich sicher und tastete sie nach einer Erhebung ab. Die Steine waren unregelmäßig angeordnet, weshalb ich mich daran festhalten und hochziehen konnte. Unbemerkt gelangte ich auf die andere Seite und atmete auf.
Ich lief durch die Gassen und sah mir staunend die vielen Geschäfte an, hielt jedoch immer Ausschau nach Farit und den anderen. Manchmal rief ich ihn gedanklich, doch er antwortete nicht. Das fahle Mondlicht fiel auf ein Schild, das leicht im Wind schaukelte. ,,Zum strahlenden Drachen“ stand in geschwungenen Buchstaben darauf und ich öffnete die Tür. Ich betrat die Gaststube mit einem mulmigen Gefühl, ging zielstrebig auf die Theke zu und versuchte, dabei niemandem in die Augen zu sehen. ,,Was willst du?“ Der Inhaber kam aus einem Hinterraum und sah mich abschätzig an. Sein fettiges Haar klebte an seiner Stirn und das ehemals weiße Hemd war mit Schmutzflecken übersäht. ,,Ich möchte ein Zimmer für eine Nacht“, sagte ich mich erhobener Stimme und hoffte, er würde mich nicht nach der Bezahlung fragen. Doch meine Sorge war unbegründet, denn er legte einen Schlüssel auf die Theke und verschwand wieder im Hinterraum. Ich zuckte die Achseln, nahm den Schlüssel und lief die morsche Treppe nach oben. Aus mehreren Zimmern waren leise Stimmen zu hören und meines schien das einzige Einzelzimmer zu sein. Es bestand aus einem Bett und einem Tisch. Nicht gerade viel, doch mir würde es reichen. Nachdem ich mir kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, lief ich wieder nach unten in den Schankraum. Dort war inzwischen Hochbetrieb und zwei kräftige Männer standen auf den Tischen und schwenkten die Bierkrüge. Ich bestellte mir Brot und Wasser und setzte mich in die hinterste Ecke des Raumes, wurde jedoch trotzdem bemerkt.
,,Schau mal die Kleine da. Denkst du ich habe eine Chance bei ihr?“ Einer der Männer kam auf mich zu und baute sich vor mir auf. ,,Wie heißt du denn, meine Hübsche?“ Ich ignorierte ihn und konzentrierte mich auf meine Hände. Bieratem schlug mir ins Gesicht, als er sich zu mir beugte und sein Gesicht meinem näherte. Das wurde mir zu viel. Mein Blut kochte und die Gefahr bestand, dass ich mich in meine Drachengestalt verwandeln würde. Schnell stand ich auf und wollte aus der Tür stürzen, doch der zweite Mann versperrte mir den Weg. ,,Lasst mich durch“, schrie ich verzweifelt, doch sie hielten mich fest. ,,Lasst sie los.“ Es wurde still und ich wurde wie ein nasser Sack losgelassen. Meine Knie knickten ein und ich fiel auf den Boden. Mein Atem beruhigte sich wieder, doch mein Herz schlug immer noch wie wild gegen meine Brust. ,,Wir sehen uns noch.“ Der Mann kniete sich neben mich und stieß mich nach hinten. Ich schluckte und konnte nicht verhindern, dass meine Augen golden blitzten. Das Gesicht des Mannes erstarrte und seine Augen weiteten sich. ,,Sie hat goldene Augen“, flüsterte er und stand auf. Eine weitere Gestalt kam in mein Blickfeld. Es war ein Junge, ungefähr in meinem Alter und ganz in schwarz gekleidet. An seiner Hüfte hing lose ein Kurzschwert und als Gürtel trug er eine Metallkette. ,,Lass mich durch“, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme und sah mir ins Gesicht. ,,Die Augen sind grün, du Dummkopf.“ Erleichtert atmete ich auf. Der Junge hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie dankbar. ,,Ich bringe dich zu mir. Da bist du in Sicherheit. Nächstes Mal bin ich nicht da, um dich zu retten“, sagte er und zog mich mit sich zur Tür hinaus. Als er mich betrachtete, konnte ich die Traurigkeit in seinen Augen sehen und dachte bitter: Er hilft mir nur, weil ich ihm leid tue.
Wie betäubt stolperte ich hinter ihm her, während mir immer mehr klar wurde, dass ich es hier mit einem Drachenjäger zu tun hatte. Die Metallkette und die Narben an seinen Händen waren für mich Beweis genug. Ich überlegte, wie ich mich von ihm verabschieden konnte war jedoch zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen. Das Letzte was ich sah, waren seine unendlich blauen Augen. Dann gaben meine Knie nach und mich umhüllte Dunkelheit.


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Ruckartig setzte ich mich auf und wurde von dem grellen Sonnenlicht geblendet, das durch die großen Fensterbögen ins Zimmer herein fiel. Der fremde Junge saß am Ende des Bettes und betrachtete mich. ,,Du bist wach“, sagte er erleichtert und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Zögernd nickte ich und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. ,,Ich bin übrigens Zion“, stellte er sich vor und verbeugte sich leicht. ,,Tamiy“, murmelte ich und stand auf. Ich hatte ein schwarzes, langärmliges Hemd und eine ebenso schwarze Lederhose an, welche ich noch nie zuvor gesehen hatte. ,,Wo bin ich?“, fragte ich Zion, doch er schwieg und bat mich, ihm zu folgen. Langsam lief ich hinter ihm her, die langen Flure entlang und befand mich schließlich auf einem Hof. ,,Hier ist der Hof der Drachenjäger“, sagte Zion stolz und bemerkte nicht, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten. ,,Und wo sind die Drachen?“, presste ich heraus und rief in Gedanken ein weiteres Mal nach Farit. Doch ich erhielt noch immer keine Antwort. ,,Drachen habe ich nicht zu bieten. Aber Drachenmenschen“, sagte Zion und wurde ernst. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten, als er mich musterte. ,,Hast du etwa noch nie von ihnen gehört?“
,,Doch, doch“, entgegnete ich schnell, um keinen Verdacht zu erregen. ,,Aber ich habe sie noch nie gesehen.“ Ich musste unbedingt sehen, ob es sich bei diesen Drachenmenschen um Farit und die anderen handelte.
,,Na dann komm mit.“ Er nahm meine Hand und hielt sie fest. Zusammen gingen wir in ein Gewölbe, das von dem Schein weniger Fackeln erleuchtet wurde. An einem Gittertor standen vier Wachen und blickten uns an. ,,Was wollt ihr?“ Zion ließ meine Hand los und flüsterte dem Mann etwas ins Ohr, der daraufhin nickte. ,,Ihr könnt passieren.“ Das Tor wurde geöffnet und dahinter kam ein langer Gang zum Vorschein. Plötzlich spürte ich es. Die Qual und den Schmerz, der nur von Farit stammen konnte. Schnell lief ich weiter und blieb entsetzt vor einem eisernen Gittertor stehen.
In einer winzigen Zelle, die nur aus dunklem Felsgestein bestand, standen Farit, Vater und einige andere meiner Freunde dicht zusammengedrängt und zitterten am ganzen Körper. Die Temperatur hier unten schien weit unter dem Nullpunkt zu sein, denn auch ich begann zu frösteln. Ihre Oberarme waren allesamt nackt und von blutigen Striemen bedeckt, jeder einzelne Körper von Blutergüssen übersät. Wie in Trance näherte ich mich der Zelle und blieb an dem Gitter stehen. Meine Hände umklammerten das Eisen so fest, dass meine Fingerknöchel hervortraten und ich zitterte am ganzen Leib. Farit, flüsterte ich in Gedanken, doch Farit sah nicht einmal auf. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen und eine Hand ergriff meine und hielt sie fest. ,,Traurig, dass mit ansehen zu müssen, nicht?“ In seiner Stimme war der Hohn nicht zu überhören und ich schauderte.
Ich konnte Zions spöttischen Blick spüren, erwiderte diesen jedoch nicht. Da hob Farit den Kopf und nur ein einziges Wort kam über seine Lippen. ,,Tamiy.“ Ich zuckte zusammen und Zion hob den Kopf, seine Augen sahen wachsam zwischen mir und Farit hin und her.
,,Woher kennt dieser Abschaum dich?“, fragte er mit gesenkter Stimme und sah mich durchdringend an. Mein Blut floss schneller und ich hatte Mühe, mich unter Kontrolle zu halten, doch die Kälte verhinderte meine Verwandlung. Was sollte ich ihm sagen? Ich sank unter Zions Blick zusammen und sah zu Boden, spürte nicht seinen harten Griff, der mich packte und zu den anderen in die Zelle warf. Hörte nicht seine Worte, die er mir zuflüsterte. Das Einzige, was ich durch den Tränenschleier sah, waren Zions Augen, die mich kalt und gefühllos anblickten. Als die Zellentür zuschlug, erwachte ich aus der Starre und sah mich um. Schnell wischte ich mir die heißen Tränen von den Wangen und rannte in Farits Arme. Er zuckte zusammen, entspannte sich dann aber und legte mir tröstend die Hand über die Schulter. ,,Es wird alles gut“, flüsterte Farit mir ins Ohr, doch er klang nicht sehr überzeugend. Ich atmete seinen Duft ein und drückte seine Hand, die schlaff an seiner Seite herunterhing. ,,Wäre hier bloß nicht diese Kälte“, hörte ich eine leise Stimme wispern und drehte mich um. Mein Vater hatte seine Augen geöffnet und sah mich an. Ich hatte noch nie eine so unendliche Traurigkeit und Verzweiflung in seinen Augen gesehen wie jetzt. Sonst war er immer so gefasst, doch jetzt sah er aus wie ein gebrochener alter Mann, der seinen Tod erwartete. Ich fasste mir ein Herz und ging zu ihm. Seine Lippen waren leicht geöffnet und er stieß einen leisen Seufzer aus, als ich seine Hand hielt. Ich sah die Verzweiflung in den Augen all jener, die ich liebte und Zorn überkam mich
Wir konnten doch hier sterben! Es musste einen Fluchtweg geben. Mit neuem Mut untersuchte ich jeden Winkel des Raumes, während Farit und die anderen wieder wie erstarrt dastanden und sich so wenig wie möglich bewegten. Drachen erfrieren, wenn es zu kalt wird und können sich nicht mehr verwandeln. Genau das machte mir solche Sorgen. Ich sorgte mich nicht um mich – ich sorgte mich um meine Freunde und ganz besonders um Farit. Wir waren immer zusammen gewesen, Seelenverwandte und wir liebten einander, auch wenn Vater das nicht wahrhaben wollte. Unbewusst umschlossen meine kalten Finger die Kette meiner Mutter, dass letzte Andenken an sie. Meine Mutter war gestorben als ich fünf Jahre alt gewesen war und zum Abschied hatte sie mir diesen Quarzanhänger geschenkt. ,,Quarz ist dein Glücksstein“, hatte sie gesagt. ,,Er wird dir einmal helfen können.“ Ich dachte nach. Vielleicht war ja heute dieser Moment gekommen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie mir ein Stein helfen sollte. Ich nahm die Kette ab und wog den Anhänger in meiner Hand. ,,Essen für die Gefangenen.“ Die Stimme ließ mich zusammenzucken und der Stein fiel mir aus der Hand und fiel auf den Steinboden. Es gab ein klirrendes Geräusch, dann zersprang er in alle Einzelteile und nur noch weißes Pulver blieb auf dem Boden zurück. Entsetzt kniete ich mich auf den Boden und betrachtete ungläubig das weiße Pulver. Vorbei, dachte ich wütend. Aus und vorbei. Und Zion war Schuld. Hätte er mich nicht erschreckt, hätte ich das Geheimnis des Anhängers herausgefunden. Mein Blut begann wieder zu kochen, doch mir fehlte einfach die nötige Wärme, um mich zu verwandeln. Ich nahm gar nicht wahr, wie sich mein Vater, Farit und die anderen auf die winzige Portion auf dem Metalltablett stürzten, denn mich umgab ein leichtes Flirren und die Zelle um mich herum begann sich aufzulösen. Die Wände verschwanden, dann der Boden und kurz darauf befand ich mich in einem leeren Raum. Das grelle Weiß blendete mich, doch ich konnte meine Augen nicht vor der Wahrheit verschließen. Denn vor mir stand eine wunderschöne Frau. Ihr lockiges braunes Haar umrahmte das herzförmige Gesicht und die waldgrünen Augen sahen mich aufmerksam an. Sie sah anders aus, doch ich hatte sie erkannt. ,,Mutter“, flüsterte ich tonlos und rannte auf sie zu. Kurz bevor ich sie berühren konnte, hob sie die Hand und ich kam zum stehen. ,,Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, Tamiy.“ Ihre Stimme klang so hell wie der Ton einer Glocke und als sie mich anlächelte, musste ich schlucken. Das Lächeln, das ihr kleine Grübchen in die Wangen zauberte und das ich früher immer so an ihr geliebt hatte.
,,Was ist -?“ Abermals hob sie die Hand und ich verstummte. ,,Wir haben nicht viel Zeit. In diesem Anhänger war ein Stück meiner Seele gefangen. Und mit ihm deine gesamte Drachenkraft.“ Verständnislos sah ich Mutter an. ,,Du zählst jetzt zu den Marils, das weiß ich. Doch du bist etwas Besonderes. Deshalb wollte dein Vater dich immer beschützen, wollte nicht, dass du dich in Farit verliebst. Weil du die letzte Aelira bist.“ Mutter kam auf mich zu und berührte zärtlich das Mal an meinem rechten Oberarm. Ihre Hand war so kalt wie Eis, und doch tröstlich. ,,Deine Kräfte sind stark. Stärker als die deines Vaters. Du bist der wahrscheinlich mächtigste Drache, den es je gab. Doch du musst deine Kräfte entfalten können. Hab Mut, dann schaffst du es, dich aus deinem Gefängnis zu befreien.“ Sie trat einen Schritt zurück und ich schrie auf, als mich eine Windböe erfasste. ,,Mutter!“

Ich riss die Augen auf und sah das Gesicht von Farit, der mich besorgt anblickte. Seine Wange war blutverkrustet und seine Augen weit aufgerissen. ,,Du lebst.“ Er nahm mich behutsam in die Arme und ich drückte mich an seinen Oberkörper. In Gedanken war ich jedoch bei den Worten, die meine Mutter gesagt hatte. Kräfte entfalten. Was das wohl bedeutete?
,,Eure Behandlung wird wieder fällig.“ Zions Stimme war so dicht an meinem Ohr, dass ich leise aufschrie. Zornig drehte ich mich um und sah erst jetzt, dass wir uns in einem anderen Raum befanden. In der Mitte befand sich eine Erhebung, auf der mein Vater lag. Seine Hände waren mit Ketten an den Stein gefesselt und er sah mich mit leerem Blick an. Ich machte mich von Farit los und stand auf. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, als ich den Dolch in den Fingern des Feindes sah. Das Heft war mit einer Flamme verziert. Sollte das etwa eine Provokation sein? ,,Komm schon! Nur ein Schnitt in dein hübsches Gesicht, für den Anfang. Morgen sehen wir weiter.“ Er kam drohend auf mich zu und ich wich zurück. Als ich die kalte Steinwand an meinem Rücken spürte, konzentrierte ich mich nur auf Zions Hand, sie sich mit der Waffe meinem Gesicht näherte. In diesem Moment stieß ich einen Schrei aus. Mein Körper erwärmte sich rasend schnell und der Schrei ging in ein Brüllen über. Die Verwandlung war in wenigen Sekunden abgeschlossen und ich brüllte Zion an, der mich erstaunt ansah. „Was machst du da?“, hörte ich Farit ungläubig fragen, doch ich antwortete nicht. Mit einem einzigen Prankenhieb hob ich die eiserne Zellentür aus den Angeln und riss ein riesiges Loch in die Wand. Die kühle Nachtluft beruhigte mich ein wenig, doch Zion stand zu meinen Füßen und hatte sein Schwert erhoben. Furchtlos stellte er sich mir in den Weg, doch ich beachtete ihn gar nicht. Ich konnte ihn von den anderen ablenken.
Mit einem einzigen Satz sprang ich über ihn hinweg und breitete die Schwingen aus. Ich hob ab und schlug gleichmäßig mit den Flügeln, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich hatte es geschafft, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Würde ich es aber aus der Stadt schaffen? Da spürte ich einen stechenden Schmerz auf meinem Rücken und bemerkte das Gewicht, das sich auf meinem Körper befand. Zion! Ich flog schneller um ihn abzuschütteln, doch er hieb mit dem kleinen Dolch immer wieder auf die gleiche Stelle ein, die einzige Stelle zwischen den starken Drachenschuppen, die ungeschützt war. Ganz offensichtlich kannte er das Geheimnis unserer Verwundbarkeit.
Ich brüllte vor Schmerz auf und konnte mich nicht mehr auf den Flug konzentrieren. Langsam sah ich den Boden auf mich zukommen, da mich meine Flügel nicht mehr tragen konnten. Das warme Blut lief an meinem Körper hinunter und tropfte in einzelnen Tropfen auf den Boden. Meine Sicht verschwamm und ich schaffte es gerade noch zu landen. Meine Klauen bohrten sich in den Boden und meine Flügel fielen hilflos zu beiden Seiten auf die Erde. Das lut sammelte sich bereits in einer Lache unter meiner Brust und ich stöhnte auf.
„Tamiy!“, hörte ich Farits entsetzte Stimme in meinen Gedanken. Mein Atem ging keuchend und ich sah Zion vor meinem geistigen Auge. Fahr zur Hölle, dachte ich und eine Träne rollte mir die Wange hinunter. Inzwischen war mein Körper wieder der eines Mädchens geworden und ich lag zusammengesunken auf der Erde. Ich liebe dich Farit, dachte ich und das Letzte, was ich sah, war Zions selbstzufriedenes Grinsen. Dann schloss ich mit einem Seufzer die Augen und ließ mich von meiner Mutter in das Reich unserer Ahnen führen.

Impressum

Texte: Das Recht am Text gehört allein mir
Bildmaterialien: Die Rechte des Covers gehören teetrinkerin
Lektorat: gnies.retniw
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

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