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1: Winterlanglauf, 30. Geburtstag

Das Ansehen von alten N8- und Super8-Filmen macht die Vergangenheit so lebendig, dass ich mich seitdem als eine Frau von 30 Jahren betrachte, die aus ihrer Kindheit Kraft schöpft für ihr jetziges Leben. Da ich ein sehr emotionaler Mensch bin, habe ich schon immer ein reges Interesse für Fotos aus meiner Kindheit gehabt. Doch Fotos sind eingefrorene Momentaufnahmen und die dort abgebildeten Personen sind in einer starren, gestellten Pose abgelichtet. Ende 2004 komme ich auf die glorreiche Idee, dank der modernen Technik, die alten Filme von meinem Opi mit einer Digitalkamera abzufilmen und auf DVD zu archivieren. Allein das Geräusch vom Abspulen der Filmrolle verleiht mir eine angenehme Gänsehaut und ich tauche ein in alte Zeiten, als ich mit meiner Familie bei meinen Großeltern zu Besuch war und wir einen Filmabend verbrachten. Ich sehe alles genau vor mir: der Geruch von Himbeerbowle, Knabbergebäck, der Filmapparat auf dem edlen Glascouchtisch, die große Filmleinwand vor der eleganten Wohnzimmerschrankwand aus Mahagoni, meine Omi auf dem beigefarbenen Sofa, eingehüllt in ihre heimelige, selbst gehäkelte Kuscheldecke. Solche Filmabende hatten für mich etwas Feierliches und gaben mir unendlich viel Geborgenheit.

Die Lebendigkeit in den Filmen lässt mich mein derzeitiges Leben vergessen, doch nach Filmende erscheint mir die Gegenwart und Zukunft kalt, trostlos, ja beinahe hoffnungslos. Mein Leben lässt sich wunderbar in Fünf-Jahres-Schritte einteilen: 1975er Jahrgang, 1980 Ende der Kindergartenzeit, 1985 Ende der Grundschulzeit, 1990 letzter Umzug in ein anderes Bundesland, 1995 Abitur, 2000 ein viertel Jahrhundert alt und jetzt im Jahre 2005 bin ich ganze 30 Jahre alt. Mein wirkliches Leben lässt sich überhaupt nicht nach gleichmäßigen Zahlenfolgen sortieren. Auch hätte ich nie gedacht, dass ich mit 30 Jahren bereits mein Leben so stark reflektieren werde. Bis zu meinem 30. Geburtstag jetzt im Frühjahr ging mein Leben immer weiter - mit Höhen und Tiefen im stetigen Wechsel. Mein subjektives Zeitgefühl sagt mir etwas Gegenteiliges. Ich habe in diesem Jahr ständig das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Hatten Sie schon mal ein Jahr, in dem Sie sehr intensiv die Jahreszeiten wahrgenommen haben? Von Natur aus bin ich eine sportliche Frau, die gerne an die frische Luft geht, um vom Alltag Abstand zu gewinnen und um ihrem Leben immer wieder neuen Schwung zu geben. Dieses Jahr ist dieses Bedürfnis sehr stark vorhanden! Es ist die Arbeitslosigkeit, die mich immer mehr zwingt, mich positiv abzulenken - ich tue alles, um ihr nicht zu unterliegen, denn sich machtlos zu fühlen, widerspricht meinem Naturell. Mein ganzes Leben lang bin ich bestrebt, weiterzukommen und auf ein Ziel hinzuarbeiten, aktiv zu bleiben, um nur nicht von meiner Vergangenheit eingeholt zu werden!

Im Februar gelingt es mir, diesem Lebensmotto zu folgen! Ich habe jemanden durch eine Kontaktanzeige in der Zeitung kennengelernt und fahre mit ihm hinauf in die Winterlandschaft vom Nordschwarzwald. Es ist Dienstag und er hat sich vom Geschäft aus frei genommen und ich freue mich riesig auf die Unternehmung, um Abwechslung in mein monotones Singledasein zu bringen. Endlich kann ich meine Langlaufski zum Einsatz bringen, die ich mir vor fünf Jahren neu gekauft hatte. Meine von meinem Exfreund zu Weihnachten geschenkt bekommene Digitalkamera muss selbstverständlich auch mit! Wir fahren eine sehr kurvige Strecke und mit jedem gefahrenen Kilometer nimmt die pulverweiße Schneedecke zu - sie glitzert wie Millionen von kleinen Sternen in der klaren, frischen Winterluft. Als wir aus dem Auto aussteigen, fühle ich mich frei, denn der Langlaufausflug erinnert mich an meine Kindheit in Bayern, wo ich so glücklich war. In der Natur fühle ich mich unabhängig - ein Gefühl, das ich dieses Jahr im normalen Alltag sehr vermisse! Wir kaufen uns ein Loipenticket, schnallen uns die Ski an und machen uns auf den Weg. Es ist ein recht milder Tag für Februar und unsere Skibekleidung fällt dünn aus: Flieshemd, normale, Wasser abweisende Hose und Sonnenbrille zum Schutz vor dem grellen Licht. Ohne Ziel vor Augen legen wir los, denn ich handle sehr spontan - eine Eigenschaft bedingt durch mein Sternzeichen. Meine Bekanntschaft ist auch ein Widder wie ich und deshalb landen wir beide bei diesem Ausflug in der Pampa. Plötzlich hört die Langlaufspur auf, wir sind weit weg von jeglicher Zivilisation, der Schnee glänzt in der Mittagssonne, ich höre meinen regelmäßigen Atem in der winterlichen Stille, das Knirschen der Langlaufski auf dem leicht vereisten Boden und male mir bereits die Zukunft mit der Bekanntschaft an meiner Seite aus, denn ich fühle mich bei ihm wohl und ich habe das Singledasein satt. Meine Kondition wird sehr beansprucht, denn wir setzen unseren Langlauf auf ungespurter, vereister, glatter Oberfläche fort und ich muss mich anstrengen, meine Ski zusammenzuhalten und nicht seitlich immer wieder wegzurutschen. Die Belohnung lässt nicht lange auf sich warten! Wir gelangen an einen vereisten See, der sich als uns wohlbekannte Schwarzenbachtalsperre entpuppt! Es ist ein Tag wie im Bilderbuch, die Touristen bleiben heute aus und unser jetziges Ziel vor Augen ist das eines ganz normalen Langläufers: der kleine Kiosk am Ende der Talsperre, wo auf uns eine heiße Bockwurst und ein warmer Pfefferminztee warten! Ich bin rundum glücklich!

Dieser Aufflug hat frischen Wind in mein einzurosten drohendes Gehirn gebracht. Ich bin eine Frau von 30 Jahren und habe keine Arbeit, keinen Partner und noch keine eigene Familie. Dieses Jahr gibt es viele Anlässe, mich mit meinen unerfüllten Wünschen auseinanderzusetzen. Mein 30. Geburtstag ist im Anmarsch. Die Wichtigkeit des eigenen Geburtstages wurde stark in meiner Erziehung geprägt und deshalb ist mein 30. Geburtstag ein bedeutungsvoller Tag in meinem Leben. Nach langem hin und her ringe ich mich durch, ihn überhaupt zu feiern, denn großen Anlass gibt es meiner Meinung nach nicht. Aber ich sage mir, so viel Zeit wie dieses Jahr aufgrund von Arbeitslosigkeit wirst du nie mehr haben und beginne mit den Geburtstagsvorbereitungen. Sie sind wieder einmal Mittel zum Zweck, denn somit bin ich von meiner Perspektivlosigkeit abgelenkt. Ich verhalte mich dieses Jahr wie ein Reh, das im Wald vor dem Bösen Schutz sucht und bei guter Witterung den Wald für ein paar Sonnenstrahlen verlässt. Der Wald ist mein eigentliches Zuhause, in dem ich mich aber nicht mehr durch äußere Umstände sicher fühlen kann und deshalb suche ich immer mehr Situationen auf, die mir Sonnenstrahlen bereiten. Die schlimmste Situation für ein Reh ist es, wenn es vom Jäger kreuz und quer durch den Wald gehetzt wird. Genauso fühle ich mich dieses Jahr in einem Deutschland, das einem verwilderten Wald gleicht und kaum Fluchtwege offen lässt. Die anstehende Geburtstagsparty bringt mich wieder in Abhängigkeiten, da ich nicht bei mir in meiner Wohnung feiern kann. Ich lebe auf 33 qm² Wohnfläche in einem der schönsten Dörfer Deutschlands. Meine Wohnung ist sehr hell, freundlich und gemütlich, aber für 15 Gäste habe ich einfach nicht genügend Platz. Für meine Mutter ist es gar keine Frage, dass ich bei ihr im Haus feiern kann, aber ich weiß, dass es von den Vorbereitungen her ihr viel zu anstrengend ist, da sie inzwischen gesundheitliche Einschränkungen hat. Dennoch bleibt es bei meinem Entschluss und ich gestalte aufwendige Einladungskarten, auf denen ich in verschiedenen Altersstufen zu sehen bin und gehe Einkaufen für das geplante Racletteessen. Meine Mutter habe ich wie immer davon überzeugen müssen, dass ich die Hauptarbeit beim Tischdecken und Putzen übernehmen will, doch als ich mich dazu angekündigt hatte, war alles schon festlich geschmückt und das Möbelrücken für die Sitzordnung vollendet. Meine Mutter verhält sich eben wie in den 80er-Jahren, als ich noch ein Kind war. Aber ich bin kein Kind mehr und will mein Leben selbstständig gestalten können! Das ist eine sehr schwierige Aufgabe in einem Land, das sich in einer Wirtschaftskrise befindet und mit Eltern, die ihre Kinder in der Wirtschaftsblüte großziehen durften. Die Tischdekoration hat meine Mutter traumhaft schön hinbekommen! Alles farblich aufeinander abgestimmt, an der Decke sind Lichterketten in Blütenform und alles ist in den warmen Sonnentönen gehalten, die ich so sehr liebe! Ich feiere dieses Jahr genau an meinem Geburtstag, denn er fällt auf einen Samstag. Am Vormittag laufen noch Vorbereitungen und am späten Nachmittag warte ich gespannt auf die Bekanntschaft aus der Zeitungsannonce. Er kann leider nicht am Abend zu meiner eigentlichen Feier kommen, weil er im Rechenzentrum tätig ist, wo er oft auch am Wochenende arbeiten muss. Mein Herz pocht, als er endlich klingelt. Die Nachbarn von meiner Mutter kommen auch noch zum Sektempfang kurz herüber und der neue Mann meiner Mutter und meine Schwester mit ihrem Kind sind auch schon da. Warum muss ich immer so romantisch sein und warum bricht es mir das Herz, wenn dann nicht alles so verläuft, wie ich es mir vorgestellt habe? Meine Bekanntschaft überreicht mir eine Schachtel Mon Chéri und einen Gutschein für die Cara-Calla-Therme in Baden-Baden. Es gibt nur einen Gutschein für mich und er hat keine Karte, dabei wollte ich doch mit ihm ins Thermalbad gehen - ja und der erträumte Blumenstrauß zum runden Geburtstag bleibt natürlich ganz aus, genauer gesagt, den habe ich von meiner Mutter bekommen - ganze dreißig, weinrote Rosen! Aber es ist eben nicht sehr erfreulich, wenn ich sie nicht von einem Mann geschenkt bekomme! Abends um halb Acht trudeln endlich die ersten Gäste ein. Ich habe keinen großen Bekanntenkreis, doch sie bringen alle einen Partner mit und ich habe meine Familie auch eingeladen, dann komme ich auf 15 Personen an meiner Feier. Vom Racletteessen bekomme ich nicht so viel mit, da ich zu sehr damit beschäftigt bin, zu schauen, dass alle essens- und trinktechnisch versorgt sind. Erst beim Auspacken der Geschenke wird es für mich gemütlicher. Da habe ich dann gemerkt, dass ich nun 30 Jahre alt bin, denn ich habe eine Flasche Ramazotti und eine Flasche Batida de Coco geschenkt bekommen. In früheren Jahren hatte mir keiner Alkohol geschenkt!

I: Familiengeschichte

Die Familiengeschichte mütterlicherseits ist bei mir sehr kompliziert und turbulent. Die Eltern meiner Omi stammen beide aus Leipzig. Der Vater ist Kaufmann und Dekorateur, die Mutter Hausfrau. Meine Omi hat noch eine Schwester, die jedoch mit 21 Jahren einer schweren Krankheit erliegt. Meine Omi macht im Alter von 15 Jahren Urlaub bei der Cousine ihrer Mutter in Worms. Dieser 6-wöchige Aufenthalt wird später Omis Leben beeinflussen! Im Nachbarhaus dieser Cousine lebt nämlich ihr späterer zweiter Mann. Dieser Mann ist in Omis Clique voll integriert und beliebt, da er der Älteste ist, ein schickes Auto besitzt und den Chauffeur für alle Cliquenunternehmungen spielt. Zudem versteht er sich blendend mit Omis Vater. Da Chemnitz in der Nähe von Leipzig liegt und er dort Maschinenbau studiert, stattet er ab und zu einen Besuch bei meiner Omi ab, um mit ihrem Vater anregende Männergespräche führen zu können. Nach diesem Aufenthalt in Worms kehrt Omi wieder zurück in ihre Heimatstadt Leipzig und lernt im gleichen Jahr ihren ersten Mann kennen.

Ihr Zukünftiger hat noch zwei Brüder, die jedoch wegen Krankheit und Krieg sterben müssen. Seine Eltern besitzen eine Wollgarnfabrik, deshalb schwebt ihm eventuell eine Karakulschafzucht in Afrika vor, um dort zu leben und zu arbeiten. Im Jahre 1940 findet die Hochzeit statt. Meine Omi wird von ihrem bereits im Krieg befindlichen Mann im Jahre 1943 schwanger, doch meine Mutter konnte ihren Vater niemals kennenlernen, da er im Krieg fällt. Zur Erinnerung an meinen leiblichen Großvater habe ich einen Brief ausgesucht, den er aus dem Krieg an meine Omi geschrieben hat und seinen sanften Charakter erkennen lässt:

Im Krieg 1940

Meine Liebste, mein ganzes Glück!

Mögen diese letzten Zeilen Dir Kraft und Mut für das weiter zu ertragende Leben geben. Wenn Dich diese Zeilen erreichen, bin ich nicht mehr mit meinem Körper unter den Lebenden, aber ich bin nicht tot, sondern ich bin Dir nur etwas vorausgegangen in die Welt, wo wir alle hergekommen sind und hingehen müssen. Ich glaube an ein höheres Weiterleben, wo wir Alle uns wiederfinden werden. Man muss sich körperlich trennen, seelisch und geistig ist das nicht möglich. So verliere nicht den Mut und die Kraft, um tapfer den schweren Weg fortzugehen, bis Gott Dich von der Erde wegnimmt. Tue Deine Pflicht dem Leben gegenüber, indem Du es bejahend weiterführst und Deiner Bestimmung nach das glückliche Gefühl der Mutterschaft Deines Geschlechtes suchst, und so eine neue Familie gründest und weiteren Menschen Heimat und Erfüllung sein kannst. Ich bin sicher, dass Du in meinen Gedankengängen und Anschauungen über Gut und Böse den richtigen Weg und die richtigen Menschen finden wirst. Ich bitte Gott inbrünstig, dass er Dich vor allen Enttäuschungen und Schlechtigkeiten der Welt bewahren möge. Und Dir weiterhin Trost geben möge, durch das große Erleben unserer gemeinsamen herrlichen Musestunden der Musik! In all den schweren Stunden wirst Du in unserer herrlichen und großen Musik (Wagner, Beethoven etc…) mit mir stille Andacht halten können. Lasse Deinen Tränen freien Lauf und glaube an Gott und vertraue ihm, so wirst Du den richtigen Weg finden und mit seiner Kraft dem Schicksal begegnen können. Zum Schluss möchte ich Dir, wie so oft, nochmals sagen, dass ich Dir so dankbar bin für all Deine reine, heilige Liebe, die mir Erfüllung, Dasein = Lebenszweck und Lebensziel gewesen ist. Ich schreibe voller Dankbarkeit für die schönen Stunden, die wir so glücklich verleben durften, aus dem Leben, ohne Angst vor dem Tode, denn ich weiß, Du wirst mein tapferes, kleines Frauchen sein. Meinen lieben alten Herrschaften steh recht tapfer bei und denke daran, dass Du meinen Nachnamen trägst. Vergiss nie unseren alten Kampfspruch "Tapfer sein Stroppi".

Dein Liebster.

Noch vor dem Krieg lernt Omis zukünftiger, zweiter Ehemann aus Worms auch eine Frau kennen und beide Paare besuchen sich des Öfteren. Die Frauen schreiben sich in den 50er-Jahren viele Briefe, bis die Wormser Ehefrau im Jahre 1950 an einer schweren Krankheit stirbt. Da der erste Mann meiner Omi im Krieg gefallen ist, heiratet meine Omi im Jahre 1952 den Witwer aus Worms, meinen Stiefopi. Sie heiraten in Leipzig, da meine Omi sonst die Möbel in der Ostzone lassen muss und ziehen nach Ludwigshafen um.

Dies ist der erste Umzug für meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt ist. Vor dieser zweiten Heirat hat meine Omi 8 Jahre lang mit meiner Mutter alleine gelebt. Meine Mutter hat nun plötzlich eine Stiefschwester von 11 Jahren, die Tochter von meinem Stiefopi. In Ludwigshafen wohnen sie in einer kleinen Mansardenwohnung und mein Stiefopi arbeitet bei einer Gießerei im Vertrieb. Daraufhin folgen insgesamt sechs weitere Umzüge in folgender Reihenfolge: innerhalb von Ludwigshafen, Allendorf bei Marburg, innerhalb von Allendorf, Trier, Saarbrücken und Eschberg bei Saarbrücken.

Meine Mutter lernt ab dem 18. Lebensjahr ihre Jugendliebe im Lions Club kennen. Im März 1967 lernt sie dann aber in Saarbrücken auf ihrer eigenen Party ihren zukünftigen Mann kennen. Meine Mutter stolpert über den Teppichboden und verstaucht sich den Fuß, worauf mein Vater dann zur Hilfe eilt. Als meine Mutter keine Getränke mehr daheim hat, gehen alle Partygäste in ein Studentenlokal, und als dieses geschlossen hat, zu meinem Vater auf sein Studentenzimmer. Da alle Pärchen sind außer meiner Mutter und meinem Vater, wird kräftig geschmust und somit schmusen Mama und Papa dann auch, was der Anfang ihrer Liebe ist.

Mein Vater hat in Saarbrücken BWL studiert und geht nach München zu einer Autofirma als Systemprogrammierer. Im September 1967 verloben sich meine Eltern und zum ersten Oktober folgt meine Mutter ihm nach München, was ihr achter Umzug ist. Sie wohnen in Schwabing in der Schwindstraße. Im darauf folgenden Jahr heiraten sie und verbringen ihre Flitterwochen in Riccione. Mamas sechs Jahre anhaltende Jugendliebe hatte sich ja 12 Jahre für die Bundeswehr verpflichtet und meiner Mutter während ihrer sechs Jahre anhaltenden Beziehung nie einen Heiratsantrag gemacht. Mama und Papa sind zwei Jahre in München und Mama wird im zweiten Jahr wie geplant mit meiner Schwester schwanger.

Der neunte Umzug geht für meine Mutter dann nach Karlsruhe, wohin mein Vater beruflich freiwillig wechselt und sie wohnen in der Nähe meiner Großeltern, die inzwischen im Murgtal bei Baden-Baden ihren Alterswohnsitz gefunden haben. Die Wohnung in Karlsruhe ist 120 qm groß, ein Altbau und sehr hell und freundlich. Nach der Geburt meiner Schwester geht es 1972 für sechs Monate nach Clermont-Ferrand, danach hätten sie beruflich von der Firma aus nach Brasilien gemusst. Deshalb hat mein Vater in beiderseitigem Einverständnis gekündigt und es gibt noch einmal einen Firmenwechsel in Karlsruhe.

2: 01.05. Elsass, Fahrradausflug, alleine

Es ist der erste Mai und zugleich Sonntag. Die Sonne lacht bei knallblauem Himmel und ich bin mal wieder völlig alleine und fühle mich nicht so gut. Da ich mich auf einen verheirateten Freund eingelassen habe, bin ich wie jeden Sonntag und Feiertag in diesem Jahr auf mich gestellt, da mein Freund den Feiertag selbstverständlich mit seiner Familie und seinem Sohn verbringt. Meine Bekanntschaft aus der Zeitungsannonce hat sich in der Zwischenzeit ganz von mir verabschiedet, weil er mir verheimlicht hatte, dass er ein ungewolltes Kind hat und er für eine neue Beziehung noch nicht frei ist. Meine Probleme sind nach wie vor ungelöst, ich bewerbe mich auf jede Stellenanzeige, die annähernd auf meine Kenntnisse zugeschnitten ist. Als ich noch gearbeitet habe, war ich auf jeden Feiertag erpicht, um endlich mal einen gemütlichen Tag verbringen zu können. Nun muss ich mir jeden Morgen überlegen, wie ich meinen Tagesablauf plane, um nicht ins Grübeln zu geraten.

Deshalb entschließe ich mich spontan, mein Fahrrad zum Saisonauftakt aus der Garage zu holen und eine Fahrradtour zu machen. Meine Digitalkamera muss mit, denn sie ist dieses Jahr mein ständiger Begleiter und zwingt mich, die Natur genauer anzusehen und ich bin dadurch sinnvoll beschäftigt und vergesse dann manchmal, dass ich mich einsam fühle. Jetzt denken Sie sicherlich: was gibt es Schöneres, als an einem Feiertag mit dem Rad in die schöne Natur zu fahren? Für mich ist es ein geplanter Ausflug, um Körper und Seele fit zu halten. Ich bin das zweite Jahr arbeitslos und mir ist der gesunde Wechsel von Arbeit und Vergnügen abhanden gekommen. Für mich gibt es weder die Arbeit noch das reine Vergnügen. Es ist alles eintönig geworden und mein Bewegungsapparat läuft langsamer als früher. Ich zwinge mich, Sport zu treiben, um nicht meine Vitalität zu verlieren, die ich normalerweise habe, wenn ich gefordert werde. Aber jetzt bin ich unterfordert, mein Denken kreist die ganze Zeit in gleichen Bahnen und unterschwellig herrscht der permanente Druck, Arbeit zu finden. Diese Unterforderung führt sogar zur Aggressivität, die dadurch entsteht, dass ich nicht mehr an meine Situation denken will und ich mich aber nur durch körperliche Erschöpfung dem Denken entziehen kann. Es ist demnach kein gesundes Sporttreiben, sondern eher ein erzwungenes Sich Verausgaben!

Ich starte um 11.00 Uhr morgens vor meiner Haustüre in Michelbach und fahre über Gaggenau bis nach Kuppenheim. In Kuppenheim fahre ich durch ein wunderschönes Fleckchen Erde. Es ist eine sehr ländliche Gegend und im Hintergrund sehe ich die sanften Züge der Schwarzwaldberge. Ich blicke während der Fahrt auf satte, grasgrüne Wiesen, die aufgeteilt sind in Äcker oder Pferdekoppeln. Auch die Pferde genießen die für Anfang Mai sehr warme Frühjahrsonne. Ein Pferd fordert mich durch sein Verhalten auf, es zu fotografieren. Es wälzt sich auf der satten Wiese - ein wirklicher Augenschmaus – cyanfarbener Himmel, Frühlingswiese und ein hellbraunes, gepflegtes Pferd, dessen Fell in der Sonne samten glänzt. An einem kleinen Bach geht es weiter Richtung Rastatt. Auf dieser Strecke blicke ich die ganze Zeit über ins Bachwasser, das fröhlich in der Mittagsonne dahinplätschert. Das konsequente Begutachten wird belohnt! Auf einem dicken Ast, der im Bach halb am Ufer hängt, sitzen zwei Enten sich gegenüber. Sofort zücke ich meine Digitalkamera und nehme das Entenpaar auf! Automatisch werde ich mir in diesem Moment wieder bewusst, dass ich alleine bin. Gerade an Feiertagen wie diesen fällt es mir sehr auf, denn es sind nur Familien mit kleinen Kindern unterwegs, die mir andauernd auf Fahrrädern entgegenkommen. Ich lasse mir Zeit und versuche, die Landschaft in mich aufzusaugen und mit der Kamera für immer festzuhalten. In Rastatt komme ich am Schloss vorbei. Dort bin ich überwältigt von der Blütenpracht der Kirschbäume. Ich entdecke ein reizvolles Motiv zum Fotografieren: das geöffnete und verschnörkelte Eingangstor aus Eisen im Barockstil umrahmt die Schlossfassade, die Schlossteichwasserfontäne und die prächtigen, rosa blühenden Kirschbäume.

Langsam nähere ich meinem eigentlichen Ausflugsziel, der kostenlosen Autofähre in Plittersdorf, die über den Rhein ins Elsass führt. Dort lege ich am Rheinufer eine Pause ein, denn es ist Mittagszeit und mir ist vom Radfahren warm geworden. Ich setze mich einfach ins Gras voll mit schönen Pusteblumen und blicke auf den Rhein, der eine unheimlich beruhigende Wirkung hat. Ich beobachte vorbeifahrende Dampfer und kleine Sportboote, die hinter sich eine schneeweiße, schäumende Spur hinterlassen. Heute zum Feiertag ist die Hölle los. Vor der Autofähre wartet eine riesenlange Autoschlange, die die vielen Radfahrer vorlassen muss. Auf der Fähre inhaliere ich den frischen Fahrtwind und erinnere mich an frühere Ausflüge mit meiner Mutter, als wir gleich nach der Autofähre in den schönen mit Sand angelegten Baggersee Baden gegangen sind. Auf der elsässischen Seite fahre ich dann parallel zum Rhein Richtung Karlsruhe. Ich bin diese Strecke schon ein paar Mal gefahren. Ich komme an eine Stelle, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Das idyllische, elsässische Örtchen heißt Munchhausen und liegt an Seitenkanälen vom Rhein. Ich mache ein Foto von so einem Seitenkanal, in dem sich mindestens 40 Schwäne versammelt haben. In der Schwanenzusammenkunft ist ein kleines Fischerboot angeleint. Eine Stelle weiter sind Angler zu sehen, die ihre Campingstühle aufgestellt haben und sich von den warmen Sonnenstrahlen verwöhnen lassen. Nach diesem Örtchen kommt ein langes Stück auf einem Damm, der durch einen schmalen Streifen Wald vom Rhein getrennt ist. Hier brutzelt die Sonne richtig auf meinem Kopf und ich spüre schon meine Waden vom eisernen Strampeln in die Pedale. Nach insgesamt ca. 25 km Hinfahrt kehre ich um und mache mich auf den Heimweg, der dann bei den letzten Kilometern doch recht anstrengend wird. Deshalb kehre ich auf der Heimfahrt beim Mac Donald ein, und gönne mir ein großes, gekühltes Sprite und Pommes, um mich für die letzten Meter zu stärken. Danach mache ich in Gaggenau nochmals eine Pause und hole mir in der Eisdiele ein erfrischendes Waffeleis mit Zitrone und Joghurt, die seit Jahren meine Lieblingssorten sind. Am Abend sinke ich total erschöpft in mein Bett und kann tatsächlich für eine kurze Zeit nicht mehr an meine unglückliche Situation denken.

II: ab 1975, Karlsruher Zeit

In Karlsruhe erblicke ich das Licht der Welt. Wir wohnen in der Weststadt von Karlsruhe und sehr zentral. Da meine Mutter aufgrund ihrer Augen nicht Autofahren darf, achten meine Eltern bei der Wohnlage darauf, dass öffentliche Verkehrsmittel in der Nähe sind und in diesem Bereich ist Karlsruhe optimal, da die Stadt über ein gutes Straßenbahnnetz verfügt. Es sind nur Kleinigkeiten, an die ich mich in dieser Zeit erinnern kann, denn wir leben dort, bis ich vier Jahre alt bin. Unsere Wohnung ist eine Altbauwohnung mit ganz hohen Decken. Deshalb kann meine Mutter an Weihnachten eine große Edelblautanne im Wohnzimmer aufstellen und schmückt sie edel mit Kugeln, Lametta und Strohsternen. An das Gäste-WC kann ich mich erinnern. Wenn ich die Tür aufmache, schaue ich in einen ganz langen Gang und am Ende befindet sich das WC.

In der Karlsruher Zeit hat sich ein Ereignis zugetragen, das bös hätte ausgehen können: ich krabbele auf dem Boden und spiele und meine Mutter ist irgendwie im Haushalt beschäftigt. Meine Mutter schaut nach mir und sieht, dass ich auf etwas Orangefarbenem kaue. Sie denkt sich, ich kaue auf einer Karotte, doch dann entdeckt sie bei genauerem Hinschauen ein Auge, das sie anguckt. Oh je, das ist keine Karotte, sondern ein Goldfisch! Total entsetzt nimmt mir meine Mutter den Fisch weg und steckt mir den Finger in den Hals, damit ich erbreche. Sie hat Angst, dass ich eine Fischvergiftung haben könnte. Aber Sie können sich beruhigen, der Fisch hat mir nichts anhaben können, nur dass unser Aquarium nun einen Fisch weniger hat.

An die Küche kann ich mich sehr gut erinnern. Es ist eine wunderschöne Massivholzküche, die meine Eltern Rot gestrichen haben. Sie hat Kaufmannschubladen für Zucker, Mehl etc. und es gibt eine gemütliche Eckbank mit Stauraum unter den Sitzen. Die Küchenwand ist dunkelblau gestrichen und sieht wunderschön zu der roten Küche aus!

Wir haben einen kleinen Garten und in der Hofzufahrt ist eine Steinmauer, auf der ich manchmal sitze und mit meiner Freundin oder meiner Schwester spiele. Ansonsten bin ich ein recht braves Kind und sehr tierlieb.

Meine Großeltern haben einen Airedale Terrier, der manchmal bei uns zu Besuch ist. Er ist mein ständiger Begleiter und ich strapaziere ihn manchmal sehr. Das Schlimmste muss das an seine Schnauze fassen sein, was ich wohl sehr gerne mache oder wenn ich mich auf ihn draufsetzen will. Auf jedem Foto ist er an meiner Seite zu sehen und will mich beschützen.

Meine Mutter nennt mich von klein an Bärle oder Bärchen, abgeleitet von Eisbär, weil ich so weißblonde Haare wie ein Eisbär habe. Vielleicht bin ich tatsächlich mit den Eisbären verwandt? Bei einem Zoobesuch in Karlsruhe habe ich vor dem Eisbärengehege in die Hände geklatscht und daraufhin haben die Eisbären auch in ihre Vorderpfoten geklatscht! An den Wochenenden gehen unsere Eltern mit uns Kindern viel spazieren entlang der Alb, einem Fluss, der durch Karlsruhe fließt. Oder wir fahren nach Gernsbach ins Haus meiner Großeltern, wo die Landschaft zum Spazieren noch schöner ist.

An Spielsachen mangelt es nicht in meiner Kindheit. Es gibt eine Holzeisenbahn, einen Fisher Price-Zirkuswagen, einen Holzbollerwagen für meine Puppen, ein Kasperletheater, ein Puppenhaus im Bauernstil, ein Kaufmannsladen, eine von meinem Vater selbst gebastelte Holzwiege für Puppen, ein kuscheliges Schaukelpferd und vieles mehr. Die einzige Sorge meiner Mutter ist, dass ich viel zu wenig esse. Doch wahrscheinlich ernähre ich mich von Luft und Liebe, an der es in meiner Kindheit wirklich nicht mangelt. Mein Vater ist in der EDV tätig und verdient sehr gut. Er bringt immer die gelochten EDV-Blätter für uns Kinder zum Bekritzeln mit nach Hause.

3: 05.05. standesamtliche Hochzeit meiner Schwester

Heute ist für meine Schwester der größte Tag in ihrem Leben. Sie heiratet standesamtlich, nachdem sie ihren Mann vierzehn Jahre lang kennt. Dieser Tag stellt mein seelisches Gleichgewicht auf die Probe. Aber eigentlich muss ich mir keinen Stress machen, denn die Hochzeit meiner Schwester hat ganze 14 Jahre auf sich warten lassen. Ich darf mir nicht immer so Druck machen und vor allem darf ich mich nicht mit meiner Schwester vergleichen!

Da es nicht sehr warm ist, ziehe ich eine braune, glänzende Polyesterhose und ein olivegrünes Jackett an und stecke meine Digitalkamera ein. Danach fahre ich aufs Standesamt im nahe gelegenen, kleinen Wohnort meiner Schwester. Die standesamtliche Zeremonie verläuft sehr nüchtern und unromantisch. Der Standesbeamte hält seine Standardrede. Er vergisst, dass meine Schwester und ihr Mann sich bereits 14 Jahre kennen, denn er weist daraufhin, dass nun die Zeit des Kennenlernens und die Bewährung im Alltag beginnt! Entsetzlich und ernüchternd finde ich es, dass der Standesbeamte darauf aufmerksam macht, dass im selben Raum auch die Scheidungen stattfinden. Soll ich da Geschmack bekommen aufs Heiraten?

Nach der standesamtlichen Heirat gibt es im Vorraum einen Sektempfang, wo ich einige Fotos von den Gästen und dem Brautpaar mit ihrer kleinen Tochter mache. Die Trauzeugen sind sehr nett und haben selber zwei Vorschulkinder. Da wir so gut wie keine Verwandtschaft haben, sind die Trauzeugen mit ihrer herzlichen Art sehr willkommen. Zum Schluss wird noch ein Brautpaarfoto mit Tochter für die örtliche Zeitung gemacht, denn schließlich ist der Bräutigam Förster und im Ort überall bekannt.

Der Himmel hat sich leider noch nicht aufgehellt, dabei geht es nun zur Feier des Tages auf die Burg Windeck im Rebland, deren Lokal bei guter Sicht einen Weitblick auf das Rebland mit seinen Weinbergen und das Rheintal bis zu den Vogesen bietet. Bei der Tischordnung bin ich der einzige Single! Na ja, daran habe ich mich bereits gewöhnt. Im Hinterkopf habe ich meinen verheirateten Freund und denke an diesem Tag, wie schön es wäre, wenn er nicht verheiratet wäre und mich heute hätte begleiten können! Der Tisch ist festlich geschmückt. Die Tischdecke und die Servietten sind weiß und die Blumendekoration mit roten, kleinen Rosensträußchen und einzelnen, roten Rosenblättern heben sich wunderschön vom Weiß ab. Meine Aufgabe besteht darin, die einzelnen Speisegänge abzufotografieren. Mit meiner Canondigitalkamera kann ich tolle Bilder mit Ansicht von oben auf den Teller erstellen. Als Vorspeise gibt es Salat von gebratenem Gemüse mit Balsamico Vinaigrette und Gartenkräutern. Es folgt ein Zanderfilet mit Champagnersauce und Blattspinat. Als Hauptgericht gibt es geschmorte Lammstelze mit Ratatouille Gemüse und gebratener Polenta und als Nachtisch Kirsch-Clafoutis mit Mascarpone-Eis und Zibärtleschaum. Das Essen ist reichlich und bei der Lammstelze kämpfe ich bereits, denn ich bin noch nie bei Fleisch ein großer Esser gewesen! Nach dem Essen geht es auf die Dachterrasse, um Fotos vom Brautpaar zu machen. Leider ist die Sicht unverändert schlecht, aber immerhin regnet es nicht! Das Motiv ist sehr romantisch, denn sie stellen sich neben einer nostalgischen Straßenlaterne auf! Die Frischluft tut gut, denn das 4-Gänge-Menü war sehr anstrengend.

Ursprünglich wollten wir nach dem Festessen einen kleinen Spaziergang machen, aber die Mutter meines Schwagers ist schon über 80 Jahre alt und nicht mehr rüstig. Aus diesem Grunde fährt die ganze Hochzeitsmannschaft zurück ins Heim des Brautpaars. Meine Schwester und ihr Mann haben ein eigenes Haus, das sie mühsam gebaut haben. Es ist ein Schwarzwald-Holzhaus und ein erfüllter Traum von meinem Schwager als Förster. Er liebt schon seines Berufes wegen Holz über alles und hat das Haus innen komplett mit Holz verkleidet. Nun kommt der gemütliche Teil des Tages. Es ist nur noch der engste Familienkreis da und wir genießen das Kaffeetrinken. Ich gehe mit dem Hund meiner Mutter alleine Gassi, denn ich möchte nach dem ganzen Trubel gerne mir die Füße vertreten und frische Luft schnappen. Es ist gewittrig und die Sonne quält sich durch die Wolken. Das Haus meiner Schwester liegt unterhalb von einem Weinberg und ich habe einen wunderschönen Blick ins Tal einer herrlichen Nordschwarzwaldlandschaft. Die voll in Blüte stehenden Obstbäume muss ich auf meinem Spaziergang unbedingt fotografieren, denn sie sind zu schön und ich freue mich bei ihrem Anblick immer mehr auf den Sommer! Mir geht der große Tag meiner Schwester durch den Kopf. Sie ist nun in festen Händen und weiß, wo ihr Platz ist. Wenn ich das doch auch bald sagen könnte!

Zurück im Heim meiner Schwester mache ich ein paar Fotos von meiner kleinen Nichte, die ein Jahr und drei Monate alt ist. Sie ist genau das Gegenteil von mir - braune Haare, gebräunte Haut und große, grau-braune Kulleraugen. Sie sieht reizend aus in ihrer Festtagskleidung, einer weißen Rüschchenbluse und einem roten Röckchen. Sie ist im Krabbelalter und ich muss ihr andauernd hinterher rennen und sie abfangen. Für sie war der Tag sehr lang und deshalb wird sie nun quengelig. Am Abend telefoniere ich noch mit meinem verheirateten Freund und berichte ihm ausführlich vom Tag. Es tut mir gut, mit ihm über diesen Festtag zu reden, wo ich doch am liebsten den Tag mit ihm gemeinsam erlebt hätte. Wenn ich nur einen Tag nicht seine Stimme am Telefon höre, werde ich traurig und vermisse ihn. Ja, ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann ist absolut nicht einfach und zehrt an den Nerven!

III: Augsburger Zeit, Wandern, Baggerseen, Geburtstage

Meine Kindheit in Augsburg ist eine rundum glückliche Zeit für mich. Wir wohnen in einem Reihenhaus in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle. Mein Kinderzimmer ist ein Kinderparadies. Ich habe ein rotes Baldachinbett, das unten drunter zwei Spielecken besitzt und Kopf- und Fußende sind mit einer Schultafel verkleidet. Ich habe einen Bettbezug, der mich an einen Fliegenpilz erinnert, weil er rot mit weißen Tupfen ist. In der Spielnische unterm Hochbett sind meine Puppen versteckt. Da das Kinderzimmer nicht so groß ist, hat meine Mutter das ausgebaute Dachzimmer als Spielbereich eingerichtet. Dort ist ein Puppenhaus aufgestellt. Zudem gibt es mehrere Spielkisten mit Playmobil, LEGO und Barbiepuppen. Für die Barbiepuppen haben meine Schwester und ich eine Pferdekutsche mit zwei Pferden, Palmen, eine Hollywoodschaukel, Gartenmöbel, afghanische Windhunde, ein rosa Mofa, eine Katze und Unmengen an Barbiekleidung. Ganze Nachmittage ziehe ich mich ins Dachzimmer zurück und tauche in meine Spielwelt ein.

In den großen Ferien muss ich immer stapelweise Kleidung probieren, da ich die Jüngste bin und noch zwei ältere Stiefcousinen habe. Von ihnen, von meiner Schwester und ihrer Freundin muss ich in den großen Sommerferien die verwachsene Kleidung anprobieren. Ich finde das nervig und unangenehm, weil ich gar nicht so viele Kleidung will und brauche. Doch meine Mutter liebt Klamotten über alles und es muss farblich alles zueinander passen! Als ob so etwas ein Kind von 10 Jahren interessiert! Weder bei Kleidung noch bei Spielzeug kann ich mich beklagen, ich werde in diesen Bereichen sehr verwöhnt.

An Fasching dreht meine Mutter immer hohl, weil wir Kinder jeden Abend anders kostümiert in die verschiedenen Sportarten gehen wollen. Sie stellt die Kostüme selbst zusammen. Ich war schon Katze, Pippi Langstrumpf, Pirat, Prinzessin, Kaktus, Hexe, Clown, Mickey Mouse, Moor und Indianer. Die Wochenenden sind nie langweilig. Meine Eltern sind nicht konsumorientiert. Sie gehen mit uns Kindern viel raus in die Natur zum Wandern oder Schwimmen am Baggersee. Es gibt einen See, der ein Paradies für Surfer ist. Dort spazieren wir meistens sonntags. Manchmal beobachten wir, wie die Surfer übers Wasser flitzen. Ich selber nehme meinen gelben Käfer, ein ferngesteuertes Auto, mit und lasse es auf dem geteerten Weg fahren. Ich musste unbedingt so ein Auto haben, denn ich habe es mir bei Hobbybastlern abgeguckt, die am See ihre aufgemotzten Rennautos fahren lassen. Dieser See ist zu jeder Jahreszeit ein Genuss: im Sommer, wenn die Segel der Surfer in der Sonne in allen Farben leuchten, im Winter, wenn der See gefroren ist und am Ufer sich Enten und Schwäne tummeln. Im Winter haben wir altes Brot zum Füttern der Vögel dabei.

Anfang Mai wagen wir es bereits, an den Baggersee zu fahren. Wir haben einen Lieblingssee, der im Wasser mehrere, kleine Inseln aufweist. Ab und zu nehmen wir unser Schlauchboot mit, so können wir herrlich die Inselwelt per Schlauchboot abklappern. Solche Badetage liebe ich sehr. Obwohl ich normalerweise kein großer Esser bin, freue ich mich am See wie wahnsinnig auf die Mittagszeit, wenn meine Mutter die Tiefkühlbox öffnet und das Mittagessen an die Familie austeilt. Wahrscheinlich ist es die frische Luft, die mich so hungrig macht. Meine Mutter verteilt Rohkost wie Gurke, Paprika oder Tomate, selbst gemachten Kartoffelsalat und Rippchen oder Wienerle. Zum Trinken gibt es Apfelsaftschorle für uns Kinder und ein Radler für die Eltern. Manchmal dürfen wir uns noch ein Eis holen oder es gibt noch Kekse am Nachmittag. Wir Kinder halten uns mehr oder weniger am Seeufer auf und bauen Häfen mit den Kieselsteinen und lassen unsere Playmobilboote darin fahren. Je nach Lust und Laune machen wir Wettschwimmen bis zu einer kleinen Insel, die nur wenige Meter vom Ufer entfernt ist oder wir spielen Frisbee, Federball oder lassen uns auf der Luftmatratze auf dem Wasser treiben. In den 80er-Jahren ist die Natur noch unberührt, es gibt noch keine überquellende Mülleimer, es wird kein Badeeintritt verlangt und die Badegäste können unbekümmert grillen, ohne dass sich jemand über den Rauch beschwert.

An manchen Wochenenden fahren wir in das Alpenvorland zum Wandern. Ich habe eine Kindergartenfreundin und mit deren Eltern und zwei Jahre jüngeren Schwester unternehmen wir gemeinsam Bergtouren und verbinden sie mit Schloss oder Burgbesichtigungen. Bei paar Ausflügen sind wir sogar drei Familien. Je mehr Kinder, umso mehr macht das Wandern Spaß! Auch auf diesen

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3680-1

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