Ich sitze in meiner Klasse und nehme eines der losen Arbeitsblätter entgegen, die mein Lehrer heute austeilt. Es ist ein pinkfarbener Zettel. Schade, ich hätte lieber einen blauen gehabt wie Paul neben mir, oder wenigstens einen gelben wie Marie, die uns beiden gegenübersitzt.
Schon vor mehr als fünfzig Jahren saßen vielleicht ein anderer kleiner Paul, ein Robert, ein Michael oder sogar ein Maximilian wie ich mit ihren Klassenkameraden im selben Raum des alten ehrwürdigen Grundschulgebäudes. Doch damals sah es hier ganz anders aus, habe ich mir erzählen lassen. Lange Schulbänke waren in Reihen angeordnet. Alle Schüler schauten gemeinsam nach vorn. Der Lehrer stand die ganze Zeit vor der Klasse und schrieb mit Kreide an die Tafel. Doch die Klassenarbeiten und vor allem die Zeugnisse waren auch damals schon eine große Zitterpartie. Daran wird sich wohl nie etwas ändern.„Wie sieht es bei dir aus, Paul?“, flüsterte dann sicherlich ein Michael seinem Banknachbarn bei der Verteilung der Hefte mit den Noten zu.„Na ja, geht so. Ich habe ein paar Dreier, aber in Sport einen Zweier, dafür stehe ich in Mathe gerade ausreichend. Aber ich bin zufrieden, meine Eltern vermutlich auch, sie nehmen es mit Humor, und du?“„Mein Zeugnis ist diesmal nicht so gut, aber besser als das von Max“, mag ihm Micha dann geantwortet haben. „Den armen Kerl hat es richtig erwischt, das wird zuhause ordentlich was setzen. Der tut mir jetzt schon gewaltig leid.“„Mir auch, aber der kriegt bestimmt noch die Kurve. Dafür hat Jürgen, der alte Streber, einen Haufen Einser bekommen. Der hat’s gut! Aber wenn wir alle zusammen halten, kommen wir gemeinsam durch, oder? Und heute Nachmittag ist der Notenkram eh vergessen, total unwichtig. Treffen wir uns wie immer zum Fußballspielen auf der Straße?“„Klar, Paul, jeder an seinem Platz, wir alle sind dabei!“, klopfte Micha ihm fröhlich auf die Schulter und zog mit dem Finger einen großen Kreis durch die Luft, womit er selbst Max zum Lachen brachte.
Kaum zu glauben, was waren das denn für Zeiten? Ich dagegen starre immer noch auf meinen Zettel und knoble tapfer an der ersten Aufgabe. Neben Paul und Marie sitzen noch drei andere hochkonzentrierte Kinder an der gleichen Tischgruppe. Davon gibt es insgesamt sechs im Klassenraum. Der Lehrer spaziert zwischen den einzelnen Gruppen hin und her, korrigiert hier, erklärt dort und tröstet auch mal zwischendurch ein Kind. Auf das Whiteboard, das an der vorderen Wand hängt, schreibt er nur ab und zu ein paar Sätze. Ich würde gerne wissen, was Marie gerade lernt, aber ich habe keine Gelegenheit, mich danach zu erkundigen. Nebenbei helfe ich nämlich noch Adrian vom Tisch links am Fenster bei einer Frage. Er ist gerade damit zu mir herüber gekommen. Ich hatte die Aufgabe schon letzten Monat, also bin ich Fachmann auf diesem Gebiet. Doch meine Erklärung kostet Zeit. Umso mehr muss ich zusehen, dass ich mit meinem eigenen Kram fertig werde. Danach warten nämlich die ganzen Aufgaben, die noch mit Hilfe unserer Tablets digital zu lösen sind. Und so ein Vormittag ist ruckzuck rum.Heute Nachmittag steht das nächste Feedbackgespräch an, ein schwieriges Wort, oder? Davor graut mir total. Der Lehrer führt eine individuelle Entwicklungsstatistik für jeden von uns. Alle drei Monate wird der Lernfortschritt gemessen und mit meinen Eltern diskutiert. Ich bin mein Dauervorbild, doch dieses Mal werde ich meine Vorgabe leider nicht erreichen. Ich weiß das, weil ich gehört habe, wie mein Lehrer das am Telefon bereits mit meiner Mutter besprochen hat. Er wollte sie auf das Unerwartete vorzubereiten. Und sie mich. Und prompt hat sie mich dabei sehr streng, aber auch mächtig traurig angeschaut.„Aber ich bin doch ganz bestimmt immer noch besser als Adrian und mindestens genauso gut wie Paul“, habe ich ihr schuldbewusst entgegengestammelt.„Wen interessieren Adrian und Paul? Es geht um dich, Max, nur um dich“, war die nur allzu bekannte Antwort meiner Mutter.„Dass du dich stetig verbesserst, darauf allein kommt es an. Schließlich wollen wir doch alle, dass du dein Ziel erreichst.“Ich bin noch viel zu klein, um diese Welt und meine Ziele wirklich zu verstehen, geschweige denn, mir ein Urteil über sie zu bilden. Ich weiß nur, dass ich wohl ganz und gar der Maßstab für mich selber bin. Wenn es gut läuft, dann werde ich zu meinem Erfolgsrezept und wenn nicht, dann wenigstens zu meiner eigenen Enttäuschung. Und ist eines dieser Urteile erst einmal gefällt, dann bleibe ich mit der Last von Sieg und Niederlage am Ende ebenso allein. Auch morgen werde ich vermutlich nicht erfahren, mit welchem Thema Marie sich im Moment gerade beschäftigt und warum das Blatt von Paul schon wieder eine andere Farbe hat als meines. Für die Fragen von Max wird noch weniger Zeit bleiben als sonst, aber das Allergemeinste ist, dass ich jedes Fußballspiel im Fernsehen in den nächsten Wochen wohl komplett vergessen kann.
Texte: © Andrea Büschgens
Bildmaterialien: © http://www.oldskoolman.de/bilder/allerlei/dies-und-das/drahtgitterzaun/drahtgitterzaun.jpg
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2014
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