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Prolog

Hallo Robert, da bist du ja schon wieder. Kannst du mich nicht vergessen, mich nicht endlich aus deinem Leben streichen? Wie oft hast du schon vor mir gestanden, mich mit deinen traurigen Augen angeschaut? Unzählige Male. Langsam werden mir die begehrlichen Blicke unerträglich.

 

 

 

Winter

Es ist Mitte Januar. Eiseskälte kriecht äußerlich an mir hoch. Zum Glück ist es in meinem Innenraum behaglich geheizt. Abends lodert der Kamin in mir. Funken sprühen, wenn wunderbar duftendes Holz neu aufgelegt wird. Ich liebe es, wenn es knistert, wenn es verbrennt, wenn sich alle darum versammeln, von ihrem Tag erzählen, spielen, lachen und auch träumen. Ich bin beinahe so glücklich, wie ich es früher mit euch war.

 

Ich sehe, wie du frierend vor mir stehst, mich mit hungrigen Augen von oben bis unten abtastest, mich spüren willst, dich einfach nicht von mir abwenden kannst. Deine Mütze hast du tief ins Gesicht gezogen, die Hände samt der dicken Fäustlinge in die Taschen deiner Winterjacke gebohrt. Gib Acht, Robert, wenn du mit Rissen in den Taschen heim kommst, wird Marla sich freuen. Näharbeiten kann sie doch auf den Tod nicht ausstehen. Zu oft hat sie dich früher dafür ausgeschimpft. Siehst du, so weit reicht mein Gedächtnis zurück.

 

An dich, an Marla und den kleinen Timo kann ich mich gut erinnern. Deine strenge und manchmal laute Stimme, wenn du deinen Bengel zurechtgewiesen hast. Ganz schön viel Unfug hat er stets getrieben. Marla hat ihn dann mit ihrer ruhigen, liebevollen Art beruhigt, und in mir kehrte wieder Frieden ein.

 

Lange ist das alles her, heute ist Timo erwachsen. Irgendwann habt ihr mich alle verlassen. Furchtbar war dieser Tag. Noch niemals vorher war mein Schmerz so groß. Auch deiner nicht.

 

Kein Zuhause mehr.

 

Viele Wochen zuvor lag Ungewissheit, Schwermut in der Luft. Eines Abends kamst du ganz spät nach Hause. Hilflos hast du dich in deinen Sessel eingegraben, schweigend. Erst nach einigen Stunden warst du bereit, Marla zu beichten, was passiert ist. Jedes Wort musste sie dir aus der Nase ziehen. Dass du ohne Job bist, mit zweiundfünfzig Jahren. Ganz deutlich konnte ich sie fühlen, die Sorge, dass es für dich jetzt nicht mehr weitergeht.

 

Kein Abend zum Feiern mehr.

 

Dann kamen die lauten Worte, die Auseinandersetzungen, die Tränen der Wut, auf die neue, langanhaltende Sprachlosigkeit folgte. Still und leise hat Marla sich in Frankfurt beworben, auf eine Stelle, von der sie immer geträumt hat. Ich habe den Brief gesehen, der eines Tages durch den Briefkastenschlitz hineingeflattert kam. „Sie können nach den Sommerferien anfangen. Wir möchten Sie herzlich als neue Schulleiterin am Frankfurter Rosen-Gymnasium begrüßen.“

 

Ihre Luftsprünge haben mir unendlich wehgetan. Lachend, singend und tanzend ist Marla umhergelaufen. Du warst gerade unterwegs, ich weiß nicht wohin. Vermutlich zu einem neuen Vorstellungsgespräch. Mit hängenden Schultern bist du heimgekehrt. Sie hat dir den Brief gezeigt. Euer Umzugstermin stand fest. Einfach so, ohne Vorwarnung.

 

Keine Wahl mehr.

 

Das einzige, was dich getröstet hat, war dein Aquarium. Liebevoll hast du es über Jahre gepflegt, in ganz Köln die schönsten Pflanzen, Tiere und Materialien dafür ausgesucht. Du hattest die buntesten Fische weit und breit, sofern ich das in meiner Unerfahrenheit zu beurteilen vermag. Zumindest so lange du es dir noch leisten konntest. Ja, das kam noch hinzu. Marla hat dir dein Budget gekürzt.

 

Kein Geld mehr.

 

Jetzt bist du wieder hierher zurückgekommen, an einem Dienstagvormittag. Du hast also immer noch keine Arbeit gefunden, in deiner neuen Stadt.

 

Keine Perspektive mehr.

 

Halt, jetzt sehe ich dich davon gehen. Warum flüchtest du so eiligen Schrittes? Robert, hast du Angst vor mir? Aber nein, jetzt verstehe ich, da kommt sie, meine neue Familie. Du willst ihr nicht begegnen, nicht wahr?

 

Keine Erklärung mehr.

 

Schade, ich wäre gerne noch weiter mit dir ins Plaudern gekommen. Wenn ich doch nur endlich herausbekäme, was dich beständig zu mir treibt. Vielleicht erzählst du es mir ein anderes Mal. Ich bin neugierig.

 

Jetzt freue ich mich erst einmal auf Matti und Johanna. Sie werden mich gleich wieder in Unordnung bringen, während ihre Mutter einen wunderbaren Kuchen backt, der mein Inneres mit köstlich warmem Apfelduft durchzieht.

 

 

Frühling

Da bist du wieder, Robert. Fast hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dich noch einmal zu sehen. Sicher bist du nach deinem letzten Besuch in der Kälte krank geworden, hast das Bett gehütet.

 

Keine Widerstandskraft mehr.

 

Oder achtet Marla immer noch so streng auf euer Geld? „Was willst du mit einer Fahrkarte nach Köln – so eine Geldverschwendung!“ Ich kann es mir vorstellen. Sie verdient sicher viel mehr in Frankfurt. Aber ja, sie hat die Sparsamkeit verinnerlicht, da ist wohl nichts zu machen.

 

Keine Freiheit mehr.

 

Drei Monate ohne deinen Anblick, das ist mir wirklich neu. Und schau doch, die Steine im Treppenaufgang haben sich gelockert. Das tut mir weh. Neulich wäre Matti beim Hinauslaufen beinahe ganz schwer gestürzt. Der Vorgarten sieht trostlos und verwildert aus. Das bin ich von dir nicht gewöhnt! Kompliment, Robert, du hast mich wirklich gut gepflegt. Daran denke ich gerne zurück.

 

Keine liebevolle Hand mehr.

 

Heute bin ich alleine, habe ein wenig Langeweile. So komm näher, komm ganz nah an mich heran. Sag es mir, was treibt dich schon wieder her?

 

Du siehst blass aus. Tiefe Falten graben sich durch dein Gesicht. Dicke Tränensäcke hängen unter deinen Augen, grau und schütter ist dein Haar.

 

Kein Wohlbefinden mehr.

 

Mach langsam das Tor auf, so ist es gut. Geh ruhig einmal um mich herum. Robert? Robert, was machst du denn jetzt?

 

Du hast bemerkt, dass das Kellerfenster aufsteht? Jürgen, der Vater von Matti und Johanna, hat vergessen, es zu schließen. Robert? Was soll das werden? Mein Gott, warum drückst du das Fenster mit aller Kraft auf?

 

So helft mir doch. Nein, das will ich nicht. Das kannst du nicht mit mir machen! Du kannst doch nicht einfach in mich hineinsteigen. Das ist Unrecht. Robert, sag mir auf der Stelle, warum du mir das antust? So rede doch.

 

Kein Respekt mehr.

 

Ich bin unruhig, kann die Situation nicht einschätzen, warum geistert dieser Mann hier unten herum? Was sucht er? Dass er mich aus der Ferne kummervoll und traurig beobachtet, das kann ich verstehen, aber dass er nun … Aber da, endlich, ich höre ein Auto und die fröhlichen Stimmen von Matti und Johanna. Sie kommen heim. Was nur, wenn sie … aber da ... ja, ich glaube, Robert hat sie auch gehört. Er nimmt denselben Weg durch das Fenster zurück, klettert hinaus, versteckt sich noch einen Moment im Garten.

 

Kein Weiterkommen mehr.

 

Ich kann aufatmen. Es ist noch mal gut gegangen. Fast hätten sie ihn erwischt. Wenn ich doch nur endlich wüsste, was er immer noch hier sucht.

 

 

Sommer

Diese Hitze, der Sommer kommt so früh und heftig in diesem Jahr. Alle lassen unsere Türen auf, damit es besser durchzieht. Das mag ich nicht, aber sie sagen, dass sonst keiner in mir mehr Luft bekäme. Nun ja, ich akzeptiere es, denn ich möchte gut mit meiner neuen Familie auskommen. Sie ist meine Zukunft.

 

Als Robert noch hier war, gab es das nicht. Er war zu empfindlich, hätte sich sofort einen Schnupfen geholt. Wie komme ich nur schon wieder auf Robert?

 

Draußen geht jemand entlang, der genauso aussieht wie er. Ich reiße ganz fest meine nicht vorhandenen Augen auf. Er IST Robert. Heute kommt er mich in Shorts besuchen, einem albernen T-Shirt und abgetragenen Sandalen. Die Haare sind zu lang, ganz ungepflegt. Meine Güte, was ist nur aus ihm geworden.

 

Keine angenehme Erscheinung mehr.

 

Er hat entdeckt, dass alle Türen offenstehen. Jürgen und seine Frau sind bei den Nachbarn. Matti und Johanna tollen im Garten herum.

 

Und jetzt, Robert? Du streichst an unserem Zaun entlang, spähst durch die Hecke und lachst in dich hinein. Ich halte den Atem an. Vor allem, wenn ich an deinen letzten unheimlichen Besuch denke.

 

Du öffnest langsam das Gartentor. Du schaust dich um wie ein Dieb, der jeden Moment seine Entdeckung fürchtet. Du huschst auf die Eingangstür zu. Und dann bist du schon wieder in mir drin. Ich winde mich, es ist mir unangenehm. Du kennst dich aus.

 

Keine Skrupel mehr.

 

Was willst du von mir? Deine Miene ist finster. Du beißt die Zähne zusammen, als hättest du einen Plan, den du heute unbedingt vollenden willst.

 

Keine Angst mehr.

 

Vorsichtig schleichst du die Kellertreppe hinunter. Der Keller, das war früher mal dein Reich. Dein riesiges Aquarium mit den wunderschönen Fischen hast du dort unten gepflegt.

 

Matti und Johannas Eltern haben jede Menge Krempel dort unten gelagert. Immer wieder stöhne ich heimlich über meinen vollen Bauch. Kein Vergleich mit deiner peniblen Ordnung.

 

Du stehst mitten in einem leblosen, vollgestopften Kellerraum. Du reibst dir die Augen, gehst ein Stück nach rechts, zeigst mit dem Finger auf die Ecke, an der einst das Becken gestanden hat. Du vermisst es, oder Robert?

 

Keine Leidenschaft mehr.

 

Und jetzt? Was machst du da? Warum räumst du die Fahrräder zur Seite? Bist du verrückt geworden? Willst du sie mitnehmen? Aber das macht doch keinen Sinn. Und jetzt arbeitest du dich bis zum Regal durch. Dein Regal, was du vor zwanzig Jahren an dieser Stelle aufgebaut hast. Aber nein, es kann doch nicht sein, dass du ein altes Regal brauchst. Mach dich noch nicht lächerlich. Mit dem sperrigen Ding kannst du nicht zurück nach Frankfurt fahren. Das weiß ja sogar ich, obwohl ich mich niemals von der Stelle bewege.

Jetzt muss ich mich zusammenreißen und ganz genau hinschauen, was hier vor sich geht. Du wühlst weiter und weiter im Regal herum. Wo nach suchst du, Robert, wo nach?

 

Kein Zurück mehr.

 

Ich bin aufgeregt, weiß nicht, was ich machen soll. Warum kommt meine Familie jetzt nicht ins Haus? Robert, beeil dich, lange kann es nicht mehr dauern. Aber jetzt, jetzt sehe ich, dass du etwas gefunden hast. Dein Freudenschrei dringt zu mir durch. Sei leise, verdammt noch mal. Etwas Braunes, Sperriges hast du in der Hand. Was ist es? Dreh dich herum, ja, so ist es gut, ich kann es sehen. Es ist eine Wurzel, eine Aquarienwurzel. Und dafür der ganze Aufwand?

 

Keine Suche mehr.

 

Jetzt steht der Mann tatsächlich im Keller und weint, mit seiner alten Moorkienwurzel in der Hand. Ich erkenne sie wieder. Lange hat Robert im Torfgebiet gegraben, bis er tief im Moor auf ein Exemplar stieß, das seiner Idealvorstellung entsprach. Das war kurz bevor der Brief für Marla kam. Diese Wurzel würde sich nicht zersetzen, nein, sie würde unverweslich sein. Daran glaubte er. Es war ein Festakt für ihn, sie ins Becken einzubringen. In der darauffolgenden Zeit verband sich sein Wesen untrennbar mit ihr, wenn er sie durch die Scheibe hindurch streichelte. Sie wurde ein Teil von ihm, gab seinem stummen Blick Halt. Je näher der Umzugstermin rückte, desto mehr. Das konnte ich täglich sehen. Ebenso wie das Unverständnis in Marlas Gesicht. Manchmal fasste er die Wurzel ganz vorsichtig an, um sie ein wenig im Kies zurechtzurücken. Aber das war selten; denn er hatte bereits beim Einsetzen die perfekte Position gefunden, sie fest verankert in seinem Becken, seinem Heim, in mir. Kein Wels durfte je an ihr raspeln. Zu weh hätte ihm das getan. Beim Umzug blieb sie zurück, ohne Wasser, ganz lose in einer Ecke des Kellers. Er ging weg, allein, mit Marla.

 

Vorher ist Robert tagelang durch das Haus gelaufen, um fast alles einzupacken. Doch die Auflösung seines Beckens, ein Drama! Wie einen Schlosshund habe ich ihn heulen hören, als er das Wasser abgelassen, die Fische in den großen Bottich gesetzt hat, mit dem sein Freund Bernd freudestrahlend abzog.

 

Kein Trost mehr.

 

Seine restliche Ausrüstung wurde sorgfältig verpackt. Ich habe gesehen, wie sie unter Roberts strenger Aufsicht in den Umzugswagen geladen wurde. Und ausgerechnet die Wurzel, ausgerechnet seine Wurzel soll zurückgeblieben sein?

 

Ja, seine Wurzel blieb hier.

 

Warum, das vermag ich nicht mehr zu sagen. Zunächst lag sie schwer und feucht in meinem Bauch. Dann vergaß ich sie. Er nicht.

 

Robert, warum greifst du nach der Motorsäge? Bist du jetzt ganz verrückt geworden? Mach’ Schluss mit dem Krach, den hört man doch bis draußen.

 

Keine Hemmung mehr.

 

Zur Hilfe! Jetzt dreht der Mann völlig durch. Er sägt die Wurzel kurz und klein. Jede Verästelung einzeln, es staubt, die zersägten Teile fallen auf den Boden. So viel Dreck und Zerstörung in meinem Inneren, so helft mir doch!

 

„He, was tun Sie da, hören Sie sofort damit auf! Wie kommen Sie überhaupt hier rein?“ Gott sei Dank! Jürgen hat die Geräusche der Motorsäge gehört und stürmt heran. Er zieht den Stecker. Die beiden Männer schauen sich fassungslos an.

 

Robert hält nur noch die kläglichen Überreste davon in der Hand, was eigentlich im Bruchwald schon gestorben war. Dann schmeißt er sie weg, legt die Motorsäge aus der Hand, stößt Jürgen unsanft zur Seite, läuft mit leerem Gesicht die Kellertreppe hinauf und aus dem Haus.

 

Keine Wurzel mehr.

 

Ich muss das Chaos in meinem Bauch erst einmal verdauen.

 

 

Herbst

Ein bleicher, abgemagerter Mann kommt auf mich zu. Scheu nähert er sich dem Gartentor, wagt aber nicht, es zu berühren oder gar die Klinke herunterzudrücken. Er tastet mich mit seinen Augen von oben bis unten sanft ab. Besonders lange bleiben seine in tiefen Höhlen liegenden Augen am Kellerfenster hängen. Er knickt einen Zweig von der Hecke ab, bricht die Äste in kleine Stücke und verstreut sie andächtig über den Zaun hinweg im Garten. Nach wenigen Minuten verschwindet er.

 

Kein Blick mehr.

 

 

Winter

Stille um mich herum. Die Familie macht dieses Jahr einen ausgiebigen Skiurlaub. Vorher hat Jürgen den Keller gründlich ausgemistet. Nichts erinnert mehr an die Zustände, die dort noch im Sommer geherrscht haben. Die Regale wurden erneuert, alle Werkzeuge eingeräumt. Und die Wurzelreste? Nein, die sind dort auch nicht mehr zu finden. Ich bin froh, dass meine Familie mich endlich von dem alten Kram getrennt hat. Auch den letzten Winkel von mir haben nun Matti, Johanna und ihre Eltern eingenommen.

 

 

Epilog

Stabil und ruhend stehe ich auf meinem Fundament, fest verankert in Grund und Boden. Innerlich bin ich erleichtert und zugleich ausgefüllt. Im Kamin wird totes Holz verbrannt. Es duftet. Weitsicht ist mir nicht gegeben, aber auch in meiner Nähe kann ich ihn nicht mehr ausmachen. Er hat mich schon lange nicht mehr besucht. Wer? Ihr wisst doch - Robert.

 

Keine Verbindung mehr.

 

Feierabend.

Impressum

Texte: Andrea Büschgens
Bildmaterialien: Andrea Büschgens
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2014

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