Die roten Lichter des Zuges verschwanden aus der Halle. Nur ein Reisender war auf dem Bahnsteig zurückgeblieben. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte dem Zug sehnsüchtig nach, als ob er unsicher war, am richtigen Ort ausgestiegen zu sein. Langsam drehte er sich um und blickte auf das erleuchtete Bahnhofsschild. PADERBORN stand dort in klaren Lettern. Kein Zweifel, er war tatsächlich in Paderborn angekommen.
Martin Wittkopp zog kräftig an seiner Zigarette und blies den Rauch stoßweise aus. Die Dunstwolke ließ die Buchstaben vor seinen Augen verschwimmen. Zum Glück war der Bahnhof leer. Sonst hätte man ihn sofort verächtlich in den Raucherbereich verwiesen. Er schüttelte den Kopf. Vor dreißig Jahren lagen überall Zigarettenstummel herum. Damals hatte er seine Kippe dazu geschnippt, bevor er mitten in der Nacht in den letzten Zug stieg, ohne nachzusehen, wohin er fuhr. Rauchen und dann weg waren die einzigen Gedanken, die in seinem Kopf noch Platz gefunden hatten. Und heute war er mit dem letzten Zug von irgendwo her zurückgekommen. Dazwischen hatte er diesen Ort kein einziges Mal betreten.
Plötzlich knallte eine Hand unsanft auf seine Schulter und riss ihn herum. Der Mann, der ihm ins Gesicht starrte, musste sich blitzschnell angeschlichen haben. Stahlgraue wässrige Augen, die von unzähligen Falten und Furchen umgeben waren, bohrten sich tief in sein Gesicht. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, musterte Martin Wittkopp sein Gegenüber genauer. An die Stelle der blonden Lockenmähne und des unverbrauchten Jugendgesichtes waren Haarausfall und die Spuren eines zügellosen Lebens getreten.
„Ich wusste, dass du wiederkommst, Qualmteufel“, sagte Bing.
Seine Bierfahne drang in Martins Nase.
„Und ich wusste genau, dass du mit diesem Zug kommen würdest, die letzte Möglichkeit. Deshalb habe ich dich hier erwartet“, setzte er hinzu.
„Und woher wusstest du das?“, entgegnete ihm Martin. Er ging einen Schritt zurück und schüttelte Bings lästige Hand von seiner Schulter ab. Er konnte ihn nicht riechen. Daran hatten auch dreißig Jahre nichts geändert. Ein Wunder, dass er überhaupt noch auf den Beinen stand.
„Weil ich mir sicher war, dass du meinetwegen auf nichts verzichten würdest.“
Bings faltiges Gesicht brachte ein hämisches Grinsen zustande.
„Du bist hier, also habe ich Recht, oder?“
Martin zuckte mit den Schultern.
„Lebt der Alte noch?“
„Leben kann man das nicht mehr nennen, aber er atmet noch, wenn du das meinst.“
„Bring mich zu ihm.“
Eine Viertelstunde später hielt Bings Rostlaube auf dem alten Gutshof. Zögerlich stieg Martin aus.
Das Wohnhaus ist heruntergekommen, war trotz Dunkelheit seine erste Wahrnehmung.
Bing schob ihn durch die Eingangstür und weiter den Flur entlang Richtung Schlafzimmer. Martin nahm den Geruch auf, den er in seinen jungen Lebensjahren mit dem Begriff „Zuhause“ verbunden hatte. Er war ihm immer noch vertraut, doch als Bing die Schlafzimmertür öffnete und er seinen Vater im Bett entdeckte, stieß ihn die Mischung aus modrigem Holz und deftigem Essen so stark ab, dass ihm übel wurde. Martin zwang sich, hineinzugehen. Sein Vater hielt die Augen geschlossen. Nur die pfeifenden Atemzüge verrieten, dass er noch am Leben war. Der Anblick der Hände blieb Martin erspart.
„In den letzten Monaten ist er friedlich geworden. Er macht nicht allzu viel Arbeit, den Rest erledigt ein Pfleger“, klärte ihn Bing auf. Er war kurz in die Küche abgebogen, um sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen.
„Erwarte nicht, dass er mit dir spricht. Ich glaube nicht einmal, dass er dich noch erkennt. Dreißig Jahre in der Hölle sind lang.“
Bing nahm einen Schluck aus der Flasche und rülpste laut. „Aber nicht lang genug, um aufzugeben.“
Die Verbitterung in seiner Stimme drang Martin durch Mark und Bein. Er wusste genau, wovon der ungehobelte Hüne sprach.
Martin schloss die Schlafzimmertür und wandte sich ihm zu. „Lass uns einen Moment in die Küche gehen. Weißt du Näheres wegen morgen?“
„Morgen, morgen, dieses elende Morgen. Dreißig Jahre warte ich auf diesen Tag, Jahre, die für mich sinnlos waren. Dann ist es endlich so weit, du tauchst wie aus dem Nebel wieder hier auf, und zu allem Überfluss lebt der Alte immer noch. Schlimmer könnte es kaum sein.“
Martin überlegte, was er Bing, der eigentlich Georg hieß, antworten sollte. Wie verzweifelt er gewesen war, bevor er damals mit dem Nachtzug die Flucht ergriff? Dass er mit seinem Leben nichts anfangen konnte, nirgends sesshaft wurde? Aber das erschien ihm überflüssig. Den Rest des Abends verbrachten beide schweigend in dem muffigen Gutshaus.
Am nächsten Morgen fuhren sie ebenso stumm nach Paderborn zu dem Anwalt, in dessen einst junge Hände der Alte das Schicksal der Familie gelegt hatte. Er war ein guter Bekannter der Familie Wittkopp. Martin und Bing nahmen verlegen auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch Platz. Anwalt Herbert Fichtel hatte einige Dokumente vor sich liegen und musterte seine beiden Klienten. Bing senkte den Kopf, doch Martin gelang es, eine aufrechte Haltung zu bewahren. Herbert Fichtel eröffnete seinen Vortrag.
„Als euer Vater 1983 zum ersten Mal bei mir war, um die Nachfolge für seinen Hof zu regeln, ging es eurer Familie bestens. Er war sehr glücklich mit seiner Frau und seinen drei prächtigen Jungs. Und das, obwohl ihr beide ihm viel Kummer gemacht habt mit euren ewigen Streitereien. Zwei jugendliche Hitzköpfe wie Feuer und Wasser, stimmt’s?“
Martin erstarrte. Ein gewaltiger Schauder durchfuhr seinen Körper. Ihm wurde mit einem Mal so schwindlig, dass er mit beiden Händen die Seitenlehnen des Stuhles umklammerte. Neben ihm krampfte sich Bings Körper zusammen, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
„Dann kam die Katastrophe, das Feuer in der Küche des Gutshofes. Es hat lange gedauert, bis sich herumgesprochen hat, was passiert war. Dass du, Martin, dein Feuerzeug hast herumliegen lassen. Der kleine Michael hat es gefunden, damit herumgespielt und die Küche in Brand gesetzt. Während deine Mutter verzweifelt versucht hat, den Fünfjährigen zu retten, hat Bing in der Scheune seinen Rausch ausgeschlafen. Geschrien hat sie nach ihm, aber so voll wie er war, hat er nichts gehört.“
Herbert Fichtel schaute Martin noch eindringlicher an.
„Dein Vater tat alles, um seine Frau und den Kleinen zu retten. Keine Chance. Die Brandwunden an den Händen haben ihn zum Krüppel werden lassen. In seiner Trauer und Wut hat er euch beide dafür verantwortlich gemacht, den scheiß-leichtsinnigen Raucher und den scheiß-jugendlichen Säufer. Dann warst du verschwunden, einfach weg.“
Nun wandte er sich an Bing.
„Du bist dagegen auf dem Hof geblieben. Trotzdem hast du nichts auf die Reihe gekriegt. Kein Wunder, dass es mit dem Gut bergab ging.“
Herbert Fichtel legte eine Pause ein. Auf Martin wirkten die Worte des Anwalts wie ein Donnerschlag, der ihn auf die Erde schleuderte und sein Gesicht in den Schlamm drückte. In den Schlamm der Katastrophe, die vor dreißig Jahren die Familie erfasst und die besten Jahre seines Lebens in einen Schleier von Trauer, Wut, Verzweiflung und Entfremdung gehüllt hat. Nun riss ihm der Anwalt diesen Schleier mit einem Ruck herunter und konfrontierte ihn zum zweiten Mal brutal und hilflos mit seiner Vergangenheit. Natürlich auch Bing, aber das war ihm egal.
„Euch beiden war bekannt, dass die Nachfolgeregelung für den Hof am siebzigsten Geburtstag eures Vaters in Kraft treten sollte, eine alte Familientradition. Das ist eine lange Zeit für zwei hoffnungslose Söhne. Doch jetzt werde ich euch seine Entscheidung mitteilen. Er hat sie vor einem Jahr das einzige Mal geändert.“
Bis zu diesem Moment saß Martin immer noch kerzengerade auf seinem Stuhl und starrte am Gesicht des Anwalts vorbei in die Ferne. Während Fichtels letzter Satz Bing dazu veranlasste, den Kopf resigniert zwischen die Hände zu nehmen, holte er Martin schockartig in den Raum zurück. Er presste seinen Rücken fest gegen die Lehne und konzentrierte sich angestrengt auf das, was er zu erwarten glaubte.
Herbert Fichtel machte es kurz.
„Den Hof wird dein Sohn übernehmen, Martin. Das hat dein Vater vor einem Jahr festgelegt. Du, Bing, kannst auf dem Gut wohnen bleiben und arbeiten. Mehr ist nicht drin. Das bedeutet: die Brüder Wittkopp werden den Betrieb weder gemeinsam noch einzeln übernehmen.“
Eine Minute lang herrschte Totenstille.
„Mein Sohn?“, stieß Martin mit ungläubigem Blick hervor. „Ich habe einen Sohn?“
„Als ob du das nicht gewusst hättest. Niemand ist sich je sicher gewesen, weswegen du damals eigentlich abgehauen bist. Ob es an den Vorwürfen deines Vaters nach dem tragischen Unfall lag oder weil du deiner Sabine ein Kind angedreht hast, für das du zu feige warst, die Verantwortung zu übernehmen. Oder beides? Dass sie in anderen Umständen war, hat doch jeder gesehen. Aus dem Jungen ist inzwischen ein tüchtiger Landwirt geworden. Da dein Vater nicht mehr an deine Rückkehr geglaubt hat, entschied er sich vor einem Jahr für ihn statt für dich. Pech gehabt, aber fair, oder?“
Der Anwalt wartete auf eine Reaktion. Vergebens. Dann fuhr er fort.
„Nun zu dir, Bing. Du bist zwar nie weg vom Hof, hast dir aber weder eine Frau gesucht, noch eine Familie gegründet. Dein bequemes Säuferleben ist eine Sackgasse. Martin hat seinem Vater die Vergangenheit genommen und du ihm keine Zukunft gegeben.“
Während die Ausführungen des Anwaltes den verstörten Bing kaum noch zu erreichen schienen, stand Martin leichenblass auf. Er kannte das Gefühl, dem, was um ihn herum passierte, nicht gewachsen zu sein. Wie vor dreißig Jahren. Der Alte hatte ihm stumm, aber noch zu Lebzeiten ein zweites Mal deutlich gemacht, dass er versagt habe, ein Nichtsnutz sei. Doch es gab diesen Sohn. Orientierungslos verließ er die Kanzlei. Wie in Trance und unaufhörlich rauchend irrte er durch die Straßen von Paderborn. Erschöpft kam er vor Einbruch der Dunkelheit am Bahnhof an. Heute würde ihm kein Nachtzug zu einer Flucht mit unbekanntem Ziel aus seinem Leben verhelfen. Nein, ab heute war er selbst am Zug.
Texte: Andrea Büschgens
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2013
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