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„Meinen Koffer, Edward, nimm' bitte meinen Koffer mit an Bord. Pass' auf, dass er nicht abhanden kommt. Darin befindet meine gesamte Garderobe nebst meinem Schmuck. Nicht auszudenken, wenn er verloren ginge. Dann könnte ich mich gleich auf dem Absatz herum drehen und mich wieder in die Stadt zurückfahren lassen. Oh je, ich bin schon so aufgeregt. Mein Gott, dieses Schiff, sieh' nur, dieses wundervolle Schiff. Edwaaaaaaard, nun komm’ doch endlich.“

Seit sie im Hafen von Southampton aus dem Wagen gestiegen und sich auf den kurzen Weg zur Gangway gemacht hatten, redete Catherine Elisabeth pausenlos in diesem ungeduldigen Befehlston auf ihren Mann ein. Dabei lief sie mindestens fünf Meter im Sturmschritt vor ihm her, um ja zu den ersten zu gehören, die die Titanic bestiegen. Wie gut nur, dass Edward mit seinen 70 Jahren schon etwas schwerhörig war. Verzweifelt mühte er sich mit dem riesigen Schrankkoffer ab und versuchte gleichzeitig, den Anschluss an seine Frau nicht zu verlieren. Randvoll hatte Catherine Elisabeth das lederne Ungetüm mit Garderobe, Accessoires und Schmuck für die Überfahrt gepackt. Mein Gott, wo blieben denn bloß die Gepäckhelfer, die sie direkt bei der Ankunft im Hafen hätten erwarten sollen?

Als Catherine Elisabeth den ersten Fuß auf die Gangway gesetzt hatte, gelang es ihr gerade noch, das kleine rosa Hütchen, das sich mit letzter Kraft in ihren blonden Locken festkrallte, davon abzubringen, Kontakt mit dem Meer aufzunehmen. Die Reise fing ja schon gut an; aber konnte der Wind nicht warten, bis sie an Bord war? Und genau diesen windigen Moment nutzte eine deutlich jüngere und ganz und gar unverschämte Dame aus, um sich gekonnt an ihr vorbei zu drängeln. Zumindest versuchte sie es. Aber die voreilige Mitreisende hatte die Wendigkeit von Catherine Elisabeth unterschätzt. Mit ihren 64 Jahren war sie noch immer in der Lage, jeden Zweikampf zu gewinnen, der sie an ihr begehrtes Ziel brachte. Und genau das war diese Schiffsfahrt: der Gipfel all ihrer Träume, der Höhepunkt ihres Lebens. Ellbogen raus, ein vernichtender Blick nach rechts zu ihrer Konkurrentin, Sieg!

Wie lange hatte Catherine Elisabeth auf Edward eingeredet, mit diesem wunderbaren und einzigartigen Schiff von Southampton nach New York zurück zu fahren. Eines der anderen Passagierschiffe, die sie schon Dutzendmal auf ihren Überfahrten benutzt und die einfach nichts Besonderes zu bieten hatten, kam diesmal nicht in Frage. Nein, nein und nochmals nein! Davon hatte sie genug.

Einmal in ihrem Leben sollte es eine Jungfernfahrt mit dem großartigsten und modernsten Schiff der Welt sein, das ihr alle Annehmlichkeiten bot, von denen sie in ihrer amerikanischen Heimatstadt Milwaukee schon so viel gehört hatte. Majestätisch und elegant würde es sie von England, wo ihre Tochter lebte, nach New York zurückbringen. Welche Vorfreude hatte allein die Vorstellung von der Schiffspassage in ihr ausgelöst. Feuer und Flamme war sie allein durch die Zeitungsartikel gewesen, die über den Bau der Titanic und des Schwesternschiffes Olympic berichtet hatten. Die Olympic war schon früher fertiggestellt worden, aber leider ausgebucht! Wie ärgerlich war sie auf Edward gewesen, dass er sich nicht rechtzeitig um ein Ticket gekümmert hatte. Typisch!

Aber so blieben ihr noch weitere zehn Monate, in denen sie sich im Geiste durch eine Cabine de Luxe schweben, sich morgens im Negligé auf dem Promenadendeck frühstücken und mit einem Gläschen edelsten Champagner anstoßen sah. Am Mittag und am Abend würden die raffiniertesten Gerichte in einem imposanten Speisesaal auf sie beide warten, untermalt von exquisiten musikalischen Darbietungen. Mein Gott, wie sehr würde sie jede Minute in dieser einzigartigen Atmosphäre genießen und davon für den Rest ihres Lebens zehren.

Als sie ihrem Mann eines Abends wie eine schmeichelnde Katze mit gurrender Stimme noch einmal sehr nachdrücklich ihren Wunsch für die Überfahrt mit dem Luxusdampfer unterbreitet hatte, Edward dann aber die Preisliste in den Händen hielt, wurde der gestandene Geschäftsmann im Transportwesen leichenblass. Sicher, sie hatten ein wirklich gutes Auskommen, denn seine Geschäfte hatten zeitlebens floriert. Aber war die Schiffspassage in einer der Salon-Suiten zuzüglich der ganzen Extraaufwände an Bord nicht doch eine sehr übertriebene Ausgabe? Konnte seine Gattin sich nicht wie in den Jahren zuvor mit der Überfahrt auf einem normalen Schiff begnügen?

Aber Edward kannte seine verwöhnte Catherine Elisabeth. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und er ihr diesen Herzenswunsch versagte, würde er die nächsten Jahre in der Hölle verbringen. So gab er nach zähem Ringen auf und fügte sich ergeben in sein Schicksal.

„Edward, komm' schon, was trödelst du denn so hinter mir her?“, drehte sich Catherine Elisabeth noch einmal energisch um. Zum Glück waren inzwischen zwei Gepäckträger die Gangway hinunter gespurtet und hatten Edward von seiner Last befreit.

„Die Leute nach uns möchten auch mal irgendwann an Bord“, setzte sie mit einem triumphierenden Blick auf die Dame hinzu, die versucht hatte, sie zu überholen. Jetzt ließ diese Edward auch schön vorbei, ja, so gehörte sich das! Sicherlich hatte ihre schlicht gekleidete Konkurrentin bestimmt keine der Salon-Suiten gebucht. Und das hieß, dass sie sich auch an Bord würde daran gewöhnen müssen, erst nach ihnen an die Reihe zu kommen. Wenn Catherine Elisabeth sich da mal nicht täuschte.

„Herr Kapitän, ich begrüße sie“, rief Catherine Elisabeth aus einiger Entfernung und heftig winkend dem stämmigen Kerl zu, der gemeinsam mit Steward Bill die eintreffenden Passagiere der 1. Klasse persönlich in Empfang nahm.

„Das ist aber ein riesiges und beeindruckendes Schiff, mit dem sie uns nach New York hinüber bringen. Mein Gott, welch Glanz, welch eine Verantwortung...“

Wild mit ihren Händen gestikulierend und ihr Handtäschchen schwenkend – hoffentlich musste er es nicht gleich aus dem Wasser fischen - stand die zierliche Catherine Elisabeth schließlich vor ihm und blickte ihn mit ihren jugendlich strahlenden Augen an.

Kapitän John Smith räusperte sich, zog die Stirn in Falten und verdrehte leicht die Augen. Das ging ja schon gut los, dachte er im Stillen bei sich. Schon wieder hatten sie so ein schwieriges Exemplar erwischt, das eine der Salon-Suiten bevölkern würde: die ältliche, überdrehte Ehefrau eines vermögenden, aber knausrigen Geschäftsmannes, die sich nach einem Leben zwischen Damenkränzchen und Modenschauen mal eine Luxusüberfahrt gönnte; vermutlich weil sie davon gehört hatte, wie viele berühmte Persönlichkeiten bei der Jungfernfahrt mit ihr an Bord gehen würden. Im Schlepptau der unscheinbare und mickrige Ehemann. Im Vergleich zu seiner Frau, die in einen teuren Fuchspelz gehüllt war, war das Männchen mit einem geradezu unauffälligen Anzug bekleidet und lief wie ein Lakai hinter ihr her. Lediglich an den diamant-besetzten Manschettenknöpfen und dem auffälligen Siegelring erkannte der altgediente Kapitän sofort dessen Zugehörigkeit zu den Vermögenden.

Im Grunde war Kapitän Smith diese Art von Menschen verhasst. Oft musste er sich in seiner aufbrausenden und kantigen Art zurückhalten, um die verzogenen und egoistischen Dämchen nicht vor den Kopf zu stoßen. Nie würde er selbst sich freiwillig mit solchen Leuten umgeben. Aber wenn man ein so wunderbares Schiff wie die Titanic steuern wollte, ja, dann musste man sich halt mit diesem Schicksal abfinden.

„Bill, darf ich Ihnen die reizende Dame anvertrauen, Mrs. Crosby, nicht wahr?“, wandte er sich mit einem verschmitzten Lächeln, hinter dem er sein derbes Wesen noch ganz entspannt verbarg, an den Steward.

„Ich gehe davon aus, dass sie sich an Bord prächtig unterhalten werden, zwinkerte er Catherine Elisabeth zu.

„Wir haben die weltbekannte Sopranistin Bertha Mayné an Bord. Begleitet wird sie am Piano von Marie Grice Young, der Musiklehrerin der amerikanischen Präsidententochter. Schon heute Abend werden Ihnen die beiden eine erste Kostprobe ihres Könnens präsentieren. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie hingerissen sein werden von deren musikalischen Qualitäten. Aber davon wird Ihnen Bill auf dem Weg zu Ihrem Deck noch ein wenig mehr erzählen. Er begleitet sie jetzt beide persönlich dort hin.“

Catherine Elisabeth konnte kaum ihre Hand aus der des Kapitäns lösen. Sie klebte förmlich an dessen Lippen und hätte ihn gerne noch mit tausend weiteren Fragen bombardiert. Aber mit einem Ruck zog Kapitän Smith seine Hand zurück, um auch Edward willkommen zu heißen. Obwohl von seinem Gepäck befreit, war dieser völlig außer Atem. Die Schweißperlen auf der Stirn ihres Mannes quittierte Catherine Elisabeth mit einem strafenden Blick. Was für einen ersten Eindruck bekam der Kapitän denn in diesem Zustand von ihm? So alt war Edward doch auch noch nicht, dass er sich mit dem bisschen Gepäck und Anstieg dermaßen verausgabt hatte. Lange hielt sie sich aber nicht mit diesen Gedanken auf; es brannte ihr auf der Seele, Bill mit ihrem wichtigsten Anliegen vertraut zu machen.

„Sagen Sie, Herr Steward, können Sie uns denn freundlicherweise mitteilen, wo genau unsere Kabine liegt? Wie sie wissen, handelt es sich ja um eine Cabine de Luxe, um eine der großen Salon-Suiten. Ich bin so aufgeregt, sie endlich zu betreten und mich häuslich in meinem Gemach einzurichten. Wie eine Prinzessin umgeben von einem großen Hofstaat werde ich mich dabei fühlen.“

Dabei tänzelte Catherine Elisabeth mit kerzengeradem Rücken und feierlich erhobenem Haupt neben Bill durch den Schiffsgang. Edward keuchte hinter ihnen her, konnte aber ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Zu komisch sah seine Gattin in diesem Moment mit ihrem Prinzessinnengehabe in dem weiten Pelzmantel mit dem verrutschten Hütchen auf einem vor Aufregung hochroten Kopf aus; neben ihr schritt in weiß geschniegelter Uniform, groß, elegant und breit gebaut der Steward und strahlte dabei wahre Autorität und Vornehmheit aus.

„Aber noch viel wichtiger wäre es mir zu wissen, ob sie weit von den Kabinen der Musiker entfernt liegt“, fuhr Catherine Elisabeth ungerührt fort. Wissen, Sie, ich liebe Opern über alles. Na ja, mein Edward hat ja meistens keine große Lust, mich dorthin zu begleiten, aber in unseren Kreisen ist das Interesse für die hohe Kunst der Musik ein unbedingtes Muss, ein uuuuuuuunbedingtes.

„Und Leute trifft man da. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele interessante Menschen mir mit den Jahren über den Weg gelaufen sind. Und die Künstler, nein, also die Künstler sollte man bei jeder sich bietenden Gelegenheit persönlich kennenlernen, ja, einen ganz anderen Eindruck bekommt man dann gleich von ihrer Musik...“.

Catherine Elisabeth konnte gar nicht mehr aufhören, sich über dieses Thema zu ereifern.

Edward zupfte sie sanft am Ärmel und deutete auf Bill.

„Lass' unseren Steward doch auch mal zu Wort kommen“, wies er seine Frau charmant zurecht.

Er kannte ihren Redefluss ja schließlich schon seit 40 Jahren.

„Wenn du ohne Punkt und Komma auf ihn einredest“, kann er dir ja gar nicht die freudige Mitteilung machen, dass wir selbstverständlich eine Salon-Suite in der Nähe der Musiker beziehen und all deine Wünsche in Erfüllung gehen werden.“

Ein kurzer prüfenden Blick zur Seite, dann ließ er mit einer geschickten Handbewegung so unauffällig, als hätte er bereits ein Leben lang Übung darin, eine 20-Pfundnote in der Jackentasche von Bill verschwinden. An der wunschgemäßen Zuteilung der Cabine de Luxe in richtiger Lage sollte nun kein Zweifel mehr bestehen. Catherine Elisabeth wäre glücklich und die Kreuzfahrt würde hoffentlich auch für ihn erholsam werden...

Zwei Stunden später hatte Catherine Elisabeth sich in ihrer Traumkabine eingerichtet. Sie hatte unzählige Male den Salon, das Schlaf- und das Ankleidezimmer durchschritten. Ihre Augen wanderten über jedes Detail der kunstvoll zusammengestellten Einrichtung. Eine Schiffskabine im Empire-Stil, was hätte sie sich je Großartigeres vorstellen können? Wundervolle Stoffbehänge zierten die Wände, die Mahagonikommoden waren mit vergoldeten Beschlägen belegt, darunter machten sich Löwenfüße breit. Zärtlich strich Catherine Elisabeth über die feinen samtigen Bezüge der Stühle. Und erst die Aussicht, die sie von ihrem eigenen Promenadendeck aus genießen konnte. Es war, als läge ihr das Meer und mit ihm die ganze Welt zu Füßen.

Keine zehn Minuten später erschütterte ein gellender Schrei aus einer der Salon-Suiten das Schiff. Bill, der gerade mit der Einweisung weiterer Passagiere in ihre Gemächer beschäftigt war, zuckte zusammen, eilte aber sogleich zur Kabine des Ehepaares Crosby, woher der Schrei gekommen war, und klopfte höflich an die Tür.

„Etwas nicht in Ordnung, gnädige Frau? Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Catherine Elisabeth riss die Tür auf und baute sich wie ein Racheengel vor ihm auf. Das rosa Hütchen lag einsam und verlassen auf einem Sessel.

„Was glauben Sie, weshalb wir für diese Überfahrt eine Cabine de Luxe gebucht haben?“, fuhr sie sich wutschnaubend durch ihre wirre Lockenpracht.

Edward stand verlegen neben dem Sekretär. Ihm war der Auftritt seiner Frau offensichtlich sehr peinlich. Bill schwieg. Er konnte sich kaum vorstellen, welches Problem denn so groß sein konnte, dass es einen solchen Wutausbruch rechtfertigte. Catherine Elisabeth zerrte den Steward in die Kabine hinein und hielt ihm ein weißes Handtuch direkt vor die Nase. „Sehen Sie ihn, diesen Fleck hier? Und dann riechen Sie einmal an diesem Handtuch. Eine Unverschämtheit, es ist eine bodenlose Unverschämtheit, uns solche Wäsche zuzumuten. Meinen Traum, wollen Sie mir etwa meinen Traum von einer perfekten Reise auf der Titanic mit dieser Schlamperei zerstören? Der Fleck ist ja schon schlimm genug, aber dieser Geruch nach Flieder, nein, den kann ich nicht ertragen. Flieder, der widerlichste Gestank, den ich mir in meinem ganzen Leben vorstellen kann. Ich erwarte, dass sie mir umgehend neue Wäsche bringen, um-ge-hend, haben Sie gehört? Und dass so etwas nie wieder vorkommt. Beschweren werde ich mich sonst, beim Kapitän persönlich.“

Zitternd vor Wut drückte sie Bill das weiße Handtuch in den Arm, auf dem der Steward immer noch mühsam versuchte, den Fleck, ja wenn man diesen winzigen Punkt denn überhaupt so nennen konnte, auszumachen. Gut, ein kleiner Faux-Pas, der nicht vorkommen sollte, aber den Fliederduft fand er persönlich sehr angenehm. Nicht jeder Passagier war gleichermaßen seefest, auch nicht in der Luxusklasse, und an manchen Tagen war die wohlriechende Fliedernote der Wäsche der einzige Trost für die geplagten Nasen der Bediensteten.

„Der Kapitän wird sich freuen, wenn er mit solchen Problemen belästigt wird“, murmelte er in sich hinein, nachdem Catherine Elisabeth die Salve ihrer Erregung und ihres Ekels auf ihn abgeschossen hatte und endlich bereit war, Luft zu holen.

„Gerade auf der Jungfernfahrt wird er sich wohl um Wichtigeres kümmern müssen.“

Nach außen aber ließ Bill sich nichts anmerken. Über Jahre hatte er auf den großen Schiffen gelernt, in schwierigen Situationen gegenüber den Passagieren ruhig und freundlich zu bleiben.

„Ich werde sofort für einen Austausch der Wäsche sorgen, in wenigen Minuten werden sie neue erhalten - garantiert ohne Fliederduft.“

Catherine Elisabeth lächelte ihren Mann überlegen und selbstzufrieden an. Er hätte es sich bestimmt nicht getraut, so nachdrücklich wie sie auf diese unverzeihliche Schlamperei in der Luxusklasse hinzuweisen.

„Siehst du, Edward, wenigstens auf unseren Steward kann man sich verlassen, wenn hier schon keine Rücksicht auf meine Befindlichkeiten genommen wird. Kaum zu glauben, dass so etwas selbst auf der Titanic passieren kann.“

Nach wenigen Minuten war Bill mit neuer Wäsche zurück. Ob sie dem strengen Blick von Catherine Elisabeth und vor allem ihrer Nasenprobe standhalten würde? Ausgiebig beschnüffelte Catherine Elisabeth die Handtücher. Kein Fliedergeruch auszumachen. Dann eilte sie damit ans Kabinenfenster, um sie dort bei besserem Licht genauestens auf Flecken zu inspizieren.

Bill ging auf Edward zu, der jetzt direkt neben der Kabinentür stand, die Augen auf den Boden gesenkt, die Hände in den Hosentaschen. Verlegen und unruhig wippte er hin und her.

„Nehmen Sie's gelassen, Mr. Crosby. Ihre gute Frau wird sich schon wieder beruhigen. Und wenn nicht, und Sie halten es hier in der Kabine nicht mehr aus, dann führen Sie Ihre Frau ins Café Parisien und lassen sie mit französischen Köstlichkeiten stilecht verwöhnen. Das wird sowohl ihre Nerven beruhigen als auch die Nase ihrer Frau mit feineren Düften umschmeicheln - hoffe ich zumindest“, brachte er den Satz noch schnell zu Ende.

„Aber wenn es klappt, das verspreche ich Ihnen hoch und heilig, wird sie alles andere um sich herum vergessen. Und Sie können in Ruhe unseren hervorragenden Whiskey genießen. Das wird Ihnen gut tun.

Ach übrigens“, fügte Bill augenzwinkernd hinzu, „ich habe Ihr großzügiges Trinkgeld dort bereits als Guthaben vermerken lassen. Ich habe nämlich gerade erfahren, dass der Kapitän wünscht, dass ich mich ab sofort um Deck C kümmere. Sie wissen ja, wir haben neben den Sängern und Musikern noch viele andere berühmte Gäste hier an Bord, darunter auch die von mir tief verehrte Schauspielerin Mrs. Dorothy Gibson, eine sehr feine Person. Ihre Frau, nun ja, sie hat ja bereits auf der Gangway Bekanntschaft mit der Dame gemacht.“

Bill drehte sich ein wenig zur Seite. Musste er bei der Erinnerung an die kleine Drängelei auf der Gangway, die er von oben beobachtet hatte, etwa ein verschämtes und seiner Würde so gar nicht angemessenes Grinsen verbergen? Dann kehrte sein verständnisvoller und gutmütiger Blick rasch zu Edward zurück.

„Da ich Ihnen ab sofort leider nicht mehr zu Diensten sein kann, verbietet es mir meine Ehre, Ihr großzügiges Trinkgeld zu behalten.“

Edward stand da, wie vor den Kopf geschlagen. Steward Bill schien sehr viel Anstand und eine große Menschenkenntnis zu besitzen. Oder war es die jahrelange Erfahrung mit einer gewissen Art von weiblichen Passagieren an Bord, dass er sich so gut in seine Lage versetzen konnte? Vielleicht hatte er auch einfach nur Mitleid mit ihm, aber so genau wollte Edward das eigentlich gar nicht wissen.

Bill wandte seinen Blick noch einmal in Richtung Kabinenfenster. Catherine Elisabeth hatte die Handtücher beiseite gelegt und summte unbekümmert vor sich hin. Sie schien keine weiteren Klagen zu haben. Der Steward nickte Edward freundlich zu und verließ korrekten Schrittes die Kabine.

Vier Tage später kollidierte die Titanic südöstlich von Neufundland mit einem Eisberg und sank. Wie recht doch Bill mit seinem Kommentar zu den wirklich dringenden Aufgaben des Kapitäns bei der Jungfernfahrt gehabt hatte. Aber welch ein schwerer Schicksalsschlag für Catherine Elisabeth und ihren Lebenstraum! Das Ehepaar Crosby überlebte die Katastrophe, aber Edwards Guthaben im Café Parisien war zu diesem Zeitpunkt schon lange verbraucht.

 

Impressum

Texte: Andrea Büschgens
Bildmaterialien: www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012

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