Übermüdet rannte Jakob am Montagmorgen durch das dunkle Bürogebäude. Aber wen interessierte das? Die Elektrogehilfen hatten um sechs Uhr morgens pünktlich anzutreten. Es ging sofort los mit dem ersten Auftragsstapel, der in hohem Tempo abzuarbeiten war. Der Vorarbeiter strafte jeden, der zu spät kam oder herum trödelte. Das passierte dreimal, und er war draußen. Jakob konnte sich das nicht leisten. Als Angelernter ohne richtige Ausbildung musste er um jeden Job dankbar sein. Dieser hier war gut. Er arbeitete, was das Zeug hielt, aber der Lohn war eine Katastrophe.
Nur in wenigen Büros brannte um diese Uhrzeit schon Licht. Aber Frühaufsteher gab es auch unter den Büroangestellten. Steffen Reuter und Henning Brückmann waren zwei von ihnen. Mit einem frisch gebrühten Latte Macchiato richteten sie sich in ihren bequemen Bürostühlen langsam auf die neue Woche ein. Bei ihnen kam keine Hektik am Montagmorgen auf.
„Na Steffen, wie war dein Wochenende“, erkundigte sich Henning bei seinem langjährigen Kollegen, während er genüsslich in sein frisches Rührei-Vollkorn-Brötchen biss. Herrlich, dass die Kantine ab sechs Uhr morgens ein so üppiges Frühstücksbuffet anbot.
„Das Wochenende war klasse. Schau' mal, was ich mir am Samstag zugelegt habe. Ist das nicht ein Hammerteil?“, strahlte Steffen und hielt Henning sein brandneues Smartphone unter die Nase.
„Donnerwetter, das ist ein iPhone! Da hast du dir echt was geleistet. 600 Euro hat das doch bestimmt gekostet, oder? Damit ist dein Urlaubsgeld fast weg. Aber du hast Recht. Erstens gönnt man sich sonst nichts, zweitens lebt man nur einmal und drittens will man dazu gehören, wenn man so viel arbeitet wie wir. Den ganzen Schnickschnack braucht man zwar nicht wirklich, aber so sieht halt Erfolg aus. Von unseren Kollegen hat fast jeder so ein Teil und...“ Henning nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee, um den Brötchenbissen herunterzuspülen. „Ich habe gestern mit Susa gesprochen. Das mit dem neuen Auto kriegen wir finanziell ganz gut hin, und dann, ja und dann werde ich mir nächsten Monat auch so ein Schmuckstück besorgen.“
Steffen strich liebevoll über sein neues Smartphone, legte es auf den Aktenstapel neben sich und drückte den Einschaltknopf seines Rechners. Er drückte einmal, zweimal, aber es tat sich nichts. Der Rechner blieb stumm. Henning machte es ihm nach, aber auch sein Gerät ließ sich nicht starten.
„Die Woche fängt ja gut an. Kein Strom auf den Geräten. Ich rufe direkt mal den Support an“, entschied Steffen und griff zum Telefonhörer. „Und derweil schlendern wir entspannt Richtung Kaffeeküche. Arbeiten können wir eh vorläufig nicht. Was soll's? Zur Not vertrösten wir die Kunden auf morgen.“
Fünf Minuten später hatte Jakob einen Auftrag mehr auf seinem dicken Stapel. „Besonders eilig“ stand unter Bemerkungen.
Er betrat den Gebäudeteil, der auf dem Auftragszettel angegeben war, und blickte sich suchend in dem langen Gang um. Wo war bloß das Büro dieser Morgenhektiker, die die Hotline und ihn so früh mit Eilaufträgen traktierten. Nicht nur ein früher, sondern gleich ein stressiger Start in die Woche.
Das Büro mit der Fehlermeldung war leer. Offensichtlich hatten die beiden Kollegen trotz ihrer angeblichen Eile Besseres zu tun, als auf ihn zu warten und ihm genauere Auskünfte zu geben. Aber er war es in diesem großen Laden schon gewöhnt, immer selbst nach dem Problem suchen zu müssen. Unterstützung seiner Arbeit? Fehlanzeige!
Die ersten Akten hatten die beiden aufgeschlagen, eine war noch voller Brötchenkrümel. Wenigstens das Frühstück hatten sie also schon erledigt. Aber die Rechner, ja, die waren tatsächlich tot. Jakob seufzte leise. Warum gab es so viele technische Probleme in diesem Büroklotz? Andererseits war das gut für ihn. Viel Schinderei, aber wenigstens würde er die nächsten Monate seine Miete zahlen können.
Dann fiel Jakobs Blick auf einen Gegenstand, der ihm einen Adrenalinstoß versetzte: ein nagelneues iPhone. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es lag einsam und verwaist auf dem Schreibtisch herum, unglaublich! Gestern hatte er die Werbung dafür gesehen, der Preis hatte ihn umgehauen. Es war unerschwinglich, jenseits von allem, was er für so ein Gerät würde zahlen können. Jakob nahm das Telefon in die Hand. Es einmal ansehen, einmal ganz aus der Nähe betrachten. Es hatte ein tolles Design, dazu eine brillante Auflösung. Was es sonst noch konnte, war ein Traum für einen Technikfreak wie ihn. Das Telefon weckte eine Begierde, die ihm die Luft zum Atmen nahm.
„Steck's ein“, pochte es in ihm. „Steck's einfach ein. Niemand hat dich gesehen. Du verschwindest, und es gehört dir. Den Auftrag bringst du schnell zurück und schiebst ihn in einen anderen Stapel. Niemand kommt auf die Idee, dass du schon hier gewesen bist. Und überhaupt, wie konnte man ein solch wertvolles Stück einfach achtlos herumliegen lassen? Der Typ war selbst Schuld, wenn jemand sich das herrenlose Teil unter den Nagel riss. Dieses sinnlose wichtigtuerische Geprotze in den Büros. Wäre es nicht gerecht, wenn jemand wie er auch mal so ein tolles Smartphone besitzen würde, bei all der Schufterei? Und der andere würde sich doch bestimmt ein neues leisten können.
Langsam kam Jakob wieder zu sich. Er schmiss das Iphone auf den Tisch, stieß den Bürostuhl weg, ging in die Hocke und hämmerte mit seinem Schraubenzieher auf dem Bodentank herum. Der ohrenbetäubende Krach erschreckte ihn. Gleich würde der Schreibtischtäter dieses Raumes bestimmt im Türrahmen stehen. Und ihn anschnauzen. Egal. Sollte dieser doch Zeuge sein, wie er, Jakob, seinen Traum einmal mehr niedermetzelte, ihn brutal zur Strecke brachte. Auslöschen wollte er seinen Traum, um die endlose Qual des unerfüllten Wunsches nicht mehr zu spüren. Angesichts wie vieler Versuchungen würde ihm das noch gelingen?
Nach einigen Minuten gelang es Jakob, sich vollständig zu beruhigen. Für heute wenigstens. Der Krach hörte auf. Nein, nein, so sehr er sich dieses Iphone wünschte, jetzt würde er seinen Job nicht riskieren, sich lieber nichts zu schulden kommen lassen, arbeiten und sauber bleiben. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, öffnete den Bodentank und begann die Kabel darin zu untersuchen.
Henning Brückmann kehrte als erster in seinen Büroraum zurück. Den Elektrogehilfen, der auf dem Boden kniete, sah er nicht. Sein Blick fiel sofort auf das Iphone, dass sein Kollege für jeden sichtbar auf dem Tisch hatte herumliegen lassen. „Steffen hat Nerven“, rutschte es ihm laut heraus, „lässt sein neues teures Spielzeug aus den Augen. Wenn gleich der Handwerker kommt, ist es sofort weg. Na ja, wer kann es diesen Niedriglohngruppen verdenken? Viel Arbeit und nichts übrig am Monatsende. Und gerade erst letzte Woche ist das Smartphone vom Kollegen Müller aus dem Wandschrank heraus gestohlen worden ...“
Plötzlich fuhr Henning zusammen und schwieg. Schnell nahm er das Smartphone vom Tisch und verließ fluchtartig den Raum. Zu spät hatte er Jakob entdeckt, der ohne die geringste Notiz von ihm zu nehmen, ruhig und konzentriert mit ihrem Rechnerproblem beschäftigt war. Womit auch sonst? Ihr Auftrag trug schließlich den Vermerk „Besonders eilig“ ...
Texte: Andrea Büschgens
Bildmaterialien: Andrea Büschgens
Lektorat: Neue Textfassung von "Serienmord"
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2011
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