Es gibt Leute, da fragt man sich, was hat die Natur da eigentlich gewollt?
Wieso macht die Fortentwicklung des Menschen bei dem einen oder anderen eine Pause?
Jeden Tag werden in Deutschland gefährliche oder die Gesundheit beeinträchtigende Dinge von den Herstellern zurückgerufen – mit hohem Aufwand und noch höheren Kosten. Für diese, von Anstand, Respekt und Intelligenz im Stich gelassenen Evolutionspannen jedoch, startet niemand eine Rückrufaktion. Sie dürfen frei und unbehelligt herumlaufen, ihrer Umwelt und sich selbst Schaden zufügen.
Und: wieso treffe ausgerechnet ich alle Nase lang auf so ein Exemplar?
Steht auf meiner Stirn: Du Chef, ich nix?
Diese Fragen werde ich wohl dereinst unbeantwortet mit in die Grube nehmen.
Ich hielt es für angebracht, nach dem unerfreulichen Zusammentreffen mit dem Versicherungsschnüffler Kleinmann, wieder den Wohnsitz zu wechseln und studierte im Netz und in diversen Tageszeitungen die entsprechenden Anzeigen.
Bisher hatte ich immer versucht, ein ruhiges, abgelegenes Einfamilienhaus zu ergattern, aber diesmal wollte ich meine Taktik ändern. Hört und liest man doch des Öfteren, dass in Mehrfamilienhäusern Anonymität und Gleichgültigkeit herrscht. Es wohnen viele Mieter unter einem Dach, aber es kommt häufiger vor, dass eine vergessene Oma wochenlang, und von ihrer Umgebung unbemerkt, tot in ihren vier Wänden vor sich hin verwest.
Keiner kümmert sich um den Anderen. Das wäre genau das Richtige für mich. So sollte es sein. Ich wollte es einfach mal ausprobieren. Vielleicht war mir ja das Glück des In-Ruhe-gelassen-werdens in einem dieser großen, anonymen Wohnblocks hold.
Und tatsächlich fand ich eines Tages ein Inserat, das mir Hoffnung machte.
Sechs Wohnungen auf drei Etagen, ein Hausmeister, der sich um alles kümmert, und sogar ein Aufzug war vorhanden. Der Mietpreis war okay, eine Bushaltestelle praktisch vor der Haustür und bezahlbare Garagen in der Nähe.
Telefonisch verabredete ich mit der Wohnungsbaugesellschaft einen Besichtigungstermin. Bei diesem Gespräch erfuhr ich, dass noch nicht alle Wohnungen in dem Neubau vermietet waren. Die beiden obersten, im dritten Stock, waren noch frei. Die unteren waren bereits von meistens älteren Herrschaften angemietet.
Oben ist immer gut, dachte ich, da trampelt dir auch keiner auf dem Kopf herum.
Mein Termin war am Freitagnachmittag. Man sagte mir, dass der Hausmeister, ein gewisser Herr Heumann, gegen 17 Uhr vor Ort sein würde.
Da ich kein Freund von Überraschungen bin, parkte ich bereits um 16 Uhr meinen Wagen in der einzigen Parklücke weit und breit, genau vor der Eingangstür des Hauses mit der Nummer 16 in der Ringstraße. Es war das mittlere von dreien, bis auf die unterschiedliche Farbe der Fassade, vollkommen identisch aussehenden Häusern. Jedes augenscheinlich ebenso breit, wie hoch und tief. Drei Flachdachboxen, geeignet für die artgerechte Haltung von Menschen. Schön, dachte ich zufrieden, anonymer geht’s kaum.
Gerade als ich auf den Eingang zusteuerte, kam ein älterer Herr mit Mantel, Hut und Gehstock heraus. Ich grüßte freundlich, und bevor die Tür wieder zuschlagen konnte, huschte ich hinein. Es konnte ja nicht schaden, wenn ich mich schon mal ohne den Hausmeister ein wenig umschaute.
Die Häuser wurden laut Wohnungsbaugesellschaft erst vor vier Monaten fertiggestellt.
Im Innern roch es noch nach neuer Farbe. Der Eingangsbereich war hell und sauber.
So ist's recht, freute ich mich. Doch als ich auf den Aufzug zuging, sah ich, dass da ein Zettel an der Aufzugtür hing. Das kann doch jetzt nicht wahr sein, dachte ich nichts Gutes ahnend und las:
Fahrstuhl defeckt! Bitte Treppe benuzen. Wirt in kürze reparirt, stand da mit rotem Filzstift auf weißem DIN-A 4-Papier.
Meine gute Laune war dahin. Gerade mal seit vier Monaten in Betrieb und schon an technischem Versagen krepiert. Aber welcher Idiot hatte das geschrieben? In neun Wörter fünf Fehler gezaubert! Wenn der Schreiber einer der Aufzug-Monteure war, wunderte mich das frühe Dahinscheiden des Personentransporters nicht.
Ich überlegte, ob ich mit meinem Handy die Hausverwaltung anrufen und meinem Ärger Luft machen sollte. In diesem Moment öffnete eine betagte Dame mit einer Einkaufstüte in der Hand die Haustür. „Ist seit heute Morgen kaputt“, sagte sie. „Die Wohnungsbaugesellschaft verspricht aber, dass er morgen repariert wird. Zu wem wollen Sie denn?“
„Ich will mir die oberen Wohnungen anschauen“, antwortete ich. „Vielleicht werde ich ihr neuer Nachbar.“
„Oh, schön. Ist Herr Heumann nicht da? Das ist der Hausmeister. Der kann Ihnen alles zeigen.“
„Herr Heumann kommt gleich“, sagte ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr.
„Zum Glück muss ich nur in den Ersten“, sagte die alte Dame lächelnd und stieg die Treppe hoch.
„Glück braucht der Mensch“, sagte ich und ging gemächlich hinter ihr her.
Schnaufend und schwitzend kam ich in der dritten Etage an und sah mich um.
Von den Fenstern an beiden Enden des Flures aus, hatte man auf der einen Seite einen angenehmen Blick auf den nahen Wald. Und auf der anderen Seite auf das neu entstandene Wohngebiet mit vielen gerade fertigstellten Einfamilienhäusern und noch im Bau befindlichen Gebäuden.
Da ich hier oben alleine war und wusste, dass die beiden Wohnungen dieser Etage noch unvermietet waren, drückte ich eine Türklinke nach der anderen herunter.
Aber ich musste mich gedulden, die Türen waren verschlossen.
Da fiel mein Blick auf die Fahrstuhltür. Und wieder sah ich einen Zettel darauf kleben.
Ich war nicht überrascht, darauf denselben Schwachsinn zu lesen, wie auf dem Zettel im Eingangsbereich. Derselbe Text, dieselbe Handschrift, dieselben Fehler.
Da stieg wieder die Wut über so viel Doofheit in mir hoch. Ich riss dieses Zeugnis von Ignoranz und Dummheit von der matt glänzenden Metalltür und steckte es ein.
Vielleicht, so überlegte ich, würde ich morgen noch mal herkommen und den Täter unter den Aufzugmonteuren ausfindig machen können.
Ein Stapfen unterbrach meine Gedanken. Noch heftiger schnaufend als ich kam ein Mann in Arbeitsschuhen, grauem Kittel und Schiebermütze die letzten Treppenstufen zu mir hoch.
Ah, der Hausmeister Heumann, dachte ich. Lächelnd ging ich auf ihn zu und wollte mich vorstellen, als mich sein wütender Blick innehalten ließ.
„Gehört Ihnen der blaue Polo vor der Haustür?“, sagte er mit schnarrender Stimme und für meinen Geschmack einen Tick zu laut. Seine Hände hatte er in den Taschen seines Kittels vergraben. Er schaute mich an, als hätte er mich dabei ertappt, wie ich ihm seinen Schlüsselbund geklaut habe.
Der Typ war etwa in meinem Alter, von kräftiger Statur und einen halben Kopf größer als ich. Unter seiner Nase trug er einen dicken Schnauzer, dessen Enden ein grotesk zuckendes Eigenleben zu führen schienen.
Bei soviel entgegengebrachter Warmherzigkeit schaltete ich automatisch in den „Wenn-du-Ärger-willst-kannst-du-ihn-haben-Modus“.
„Was gefällt Ihnen daran nicht. Die Farbe, oder die Marke?“
„Sind Sie blind, oder was?“, schnaubte er. „Da steht ein Schild: „Behinderten-Parkplatz. Parken nur mit Sonderausweis der Hausverwaltung.“
„Muss ich wohl übersehen haben“, sagte ich und steckte meine Hände demonstrativ in meine Hosentaschen.
„Fahren Sie sofort ihre Karre da weg, sonst muss ich sie auf Ihre Kosten abschleppen lassen.“ Und um seine Worte zu unterstreichen, zog er ein Handy aus dem Kittel.
„Geht das nicht auch ein bisschen freundlicher?“, sagte ich und machte keine Anstalten seinem Befehl zu folgen.
„Ich habe hier die Verantwortung und das Sagen. Ich bin nicht hier, um freundlich zu sein.“
Sein Kinn zitterte, und sein Gesicht wurde so rot wie seine Zunge.
„Schade, dass Sie so spät geboren sind“, sagte ich und grinste ihn provozierend an. „Unter Adolf hätten Sie garantiert einen prima Blockwart abgegeben.“
„Das reicht!“, brüllte er. „Ich rufe jetzt den Abschlepper. Bis der da ist, blockiere ich deine Karre. Und wenn du mir in die Quere kommst, kriegst du eins auf die Fresse!“
Ich fand, dass ich ihn mit einem freundlichen Tritt in seine Glocken davon überzeugen könnte, dass man mit einem Grabulski nicht so umspringen kann. Aber noch bevor ich einen Schritt auf ihn zu machen konnte, hatte er sich von mir abgewandt und ging, mit zitternden Finger auf seinem Handy eine Nummer wählend, auf den Fahrstuhl zu.
Der ist doch defekt, wollte ich noch sagen, aber da hatte er schon den Knopf gedrückt.
Sein Kurzzeitgedächtnis hatte ihn wohl in seiner Erregung im Stich gelassen. Aber für den Stress war er ja selbst verantwortlich.
Gut, dachte ich, er wird schon merken, dass er die Treppe nehmen muss. Vielleicht kühlt ihn ja das Laufen etwas ab.
Mit dem Handy am Ohr, stand er an der Fahrstuhltür und schaute zu mir rüber.
Es war nicht zu übersehen, dass er gleich platzen würde, wenn sich nicht noch ein Überdruckventil öffnete.
Zu meiner Überraschung teilte sich in diesem Moment die Tür des Aufzuges und diese Ausgeburt der Höflichkeit tat einen Schritt hinein.
Eine Woche später las ich wieder ein Inserat der Wohnungsbaugesellschaft:
Hausmeister gesucht.
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Tag der Veröffentlichung: 26.02.2016
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