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Im Park

 

Die Bänke standen dort, wo Parkbänke üblicherweise stehen.
Nach Süden ausgerichtet, unter großen Bäumen mit weit ausladendem und Schatten spendendem Blattwerk.
Im letzten Frühjahr neu mit grüner Farbe gestrichen und mit jeweils einer polierten Messingplakette versehen, auf welcher der Name des noblen Spenders in schwarzen Buchstaben eingraviert war, standen sie nebeneinander. Ruhig und gelassen, wie ein Großelternpaar, welches mit sich und der Welt zufrieden, wohlwollend das Spiel ihrer Enkel beobachtete. Zwei herrliche Buchen in vollem Saft, befanden sich in idealer Entfernung dahinter und legten an jenem drückend heißen Sommernachmittag behutsam ihren kühlenden Schatten auf die Ruhesuchenden.

Auf dem kleinen Weiher gegenüber balgten sich einige Stockenten um die Brotkrumen, die ihnen eine junge Frau in das silbrig glänzende Wasser warf.
Ein älterer Herr, im beigefarbenen Sommeranzug, ließ sich auf seinen Spazierstock gestützt, leise seufzend, auf einer der beiden Bänke nieder. Er schien etwas kurzatmig und wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn, wobei er seinen hellen Strohhut in den Nacken schob.
Zwei kleine Jungen liefen lärmend an ihm vorbei. Der Mann sah ihnen mit einem wohlwollenden Lächeln hinterher. Dabei zog er eine Zeitung aus der Jackentasche, nahm seine Lesebrille hervor und widmete sich den Schlagzeilen.

Die junge Frau hatte alle Brotstückchen an die Enten verfüttert und setzte ihren Spaziergang fort, vorbei an den Bänken und dem alten Mann. Der schien während seiner Lektüre eingenickt zu sein. Den Kopf nach vorne, das Kinn auf der Brust, saß er da, mit geschlossenen Augen, immer noch die Zeitung mit den Händen auf den Knien haltend.

Auf dem Gehweg näherte sich ihm eine hagere Gestalt.
An diesem Nachmittag waren es gut und gerne 30° im Schatten, trotzdem trug dieser Parkbesucher einen schwarzen Mantel und einen dunklen, breitkrempigen Hut. Er ging langsam und scheinbar lautlos auf dem mit winzigen bunten Kieselsteinen ausgelegten Weg. Als er vor dem alten Mann mit der Zeitung stehenblieb, hob der seinen Kopf und blickte in dessen aschfahles, rundliches Gesicht. Der Fremde blieb etwa zwei Schritte von der Bank entfernt stehen, die Hände in den Manteltaschen vergraben.
Sein großer Hut überschattete seine dunklen Augen, als er sein Gegenüber ansprach:
„Herbert Anton Lehberg, ich bin gekommen, um dich abzuholen. Hab’ keine Angst, du bist bei mir in guten Händen.“

Der alte Herr öffnete erstaunlich unaufgeregt die Augen.
„Moment!“ kam fest und laut der Widerspruch aus seinem Mund. „Was heißt hier abholen? Wer sind Sie? Ich kenne Sie ja gar nicht. Woher wissen Sie meinen Namen?“
Er stand auf und nahm die Lesebrille ab, um den Fremden genauer zu betrachten.
Dabei fiel die Zeitung zu Boden.

„So viele Fragen auf einmal? entgegnete der Angesprochene lächelnd mit einem sanften Unterton. Er schaute dem verdutzten Herrn Lehberg in die Augen.
„Weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Lehberg schüttelte heftig seinen Kopf, als sei er bei einer Lüge ertappt worden und setzte sich mit verschränkten Armen wieder auf die Bank. Er war so erregt, dass er am ganzen Leib zitterte.
Der fremde nickte: „Doch, Herbert, du weißt es genau. So hast du dir doch mein Aussehen immer vorgestellt, erinnerst du dich?“
Er ging auf Lehberg zu und legte diesem beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Es ist Zeit zu gehen, Herbert“, flüsterte er eindringlich.
Lehberg schüttelte wieder seinen Kopf und presste seine Arme fester um seinen Oberkörper.
„Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt?“, fragte er mit bebender Stimme. „Der Arzt sagte doch, ich sei wieder auf dem Damm, und wenn ich mich schone, könnte ich die Achtzig locker erreichen.“
Eine Träne lief über seine Wange. Der Fremde steckte seine Hand wieder in die Manteltasche, tat einen Schritt zurück und schaute seufzend zum blauen Himmel:
„Warum? Warum jetzt? Warum ich? Es sind immer die gleichen Fragen. Und ich muss immer die gleiche Antwort geben: Ich weiß es auch nicht. Ich kenne nur den Namen, den Ort, das Datum und die Uhrzeit, mehr nicht. Ich bin nur der Abholer und Begleiter bis zur nächsten Station.“ Er zuckte mit den Schultern und blickte Lehberg wieder in die Augen. „Nach dem „Warum“ musst du dich erkundigen, wenn du angekommen bist.“
Lehberg erwiderte trotzig den intensiven Blick des Fremden, stand auf und ging auf ihn zu.
„So einfach ist das also für dich“, fuhr er diesen mit lauter Stimme an. „Du weißt, dass ich immer gekämpft habe im Leben. Auch wenn’s mir noch so dreckig ging, ich habe mich nie unterbuttern lassen. Und ich habe nicht vor, mich jetzt zu ändern.“
Er ging erhobenen Hauptes, ohne eine Antwort abzuwarten zum Ufer des Weihers.
„Nun mach’ es uns doch nicht so schwer, Herbert“, versuchte der Fremde zu beschwichtigen. Er ging ihm nach und stellte sich neben ihn. Lehberg hatte ein paar Kiesel aufgehoben und warf sie nacheinander in die sonnenglänzenden Wellen. Mit einem Ruck drehte er sich zu seinem Begleiter um und hielt ihm seinen ausgestreckten rechten Zeigefinger unter die lange, spitze Nase.
„Ich mach’ es uns nicht schwer“, zischte er. „Ich mach' es dir schwer!“
Er wandte sich wieder dem Wasser zu und warf noch einen Stein.

„Herbert, du strapazierst meine Geduld!“ Die Stimme des Fremden klang jetzt deutlich härter. “Du warst doch Zeit deines Lebens ein Mann der Vernunft. Warum bist du jetzt, da alle Qualen ein Ende haben, so störrisch? Deine Chancen dich zu wehren sind gleich Null. Dein Abgang ist beschlossene Sache und du wirst drüben erwartet. Also finde dich damit ab und komm!“

Ohne sich nach dem Fremden umzudrehen fragte Lehberg mit betont unbekümmerter Stimme, als hätte er dessen Worte gar nicht gehört:
„Sag mal, schwitzt du mit Mantel und Hut nicht sehr? Es ist doch drückend heiß heute.“

„Was soll denn diese Frage jetzt wieder?“ entgegnete der Fremde irritiert. Und nach einer kleinen Pause: „Ich kann dich beruhigen, ich schwitze nicht. Ich empfinde weder Kälte noch Hitze. Das wäre bei meiner Aufgabe nur hinderlich, da ich zu jeder Jahreszeit in jeder Ecke dieses Planeten tätig bin.“ Er nahm seine Hände aus den Taschen und legte sie auf dem Rücken ineinander.

Lehberg nickte nur stumm und warf noch einen Stein.

Der Fremde beobachtete ihn und fuhr fort: „Außerdem war es doch deine Idee, dass ich hier mit schwarzem Mantel und Hut erscheine, wie du dich erinnern wirst.“

„Ja, richtig“, entgegnete Lehberg ruhig. Er drehte sich um und betrachtete den Mann vom Hut bis zu den Schuhen eingehend.
„Aber“, bemerkte er. „Eine Kleinigkeit fehlt noch.“

„Was genau meinst du?“ fragte der Mann und blickte unsicher an sich herunter.

„Ich meine dein Werkzeug...dieses Ding.“ Der alte Herr schnippte mit den Fingern und suchte nach dem passenden Wort.

„Du meinst die Sense?“ der Fremde verzog das faltige Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. „Nein, nein. Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er schüttelte den Kopf und begann entnervt auf dem Rasen zwischen dem Weiher und dem Spazierweg hin und her zu gehen. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich, wie im tiefsten Mittelalter, mit diesem furchterregenden Instrument meine Kundschaft erschrecke?“

„Wieso nicht?“ entgegnete Lehberg und lief nun seinerseits hin und her, immer einen Schritt hinter dem Mantelträger her. „Du hast selbst gesagt, so habe ich es jedenfalls verstanden, dass du deinen Kunden, wie du sie nennst, immer so erscheinst, wie deren Fantasie sich einen Kerl wie dich vorstellt.“

„Ja, ja, schon, aber...“

„Na, also! Wo ist deine Sense?“ unterbrach in Lehberg forsch. „In meiner Vorstellung trägst du eine Sense, sonst bist du nicht vollständig. Ich kann dich so nicht akzeptieren. Tut mir leid.“ Lehberg hob bedauernd die Arme und legte den Kopf schief.

„Jetzt will ich dir mal etwas sagen“, erhob der Fremde seine Stimme. Er stoppte sein Gerenne und ging auf Lehberg zu, der schon wieder am Ufer stand und versuchte, Steine auf der Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. „Mir sind in meiner Laufbahn schon viele seltsame, und vermeintlich clevere Kunden untergekommen, aber dass jemand an meinem Aussehen herum mäkelt und mich als unvollständig bezeichnet, das schlägt dem Fass den Boden aus.“ Er rang sichtlich nach Fassung.

Lehberg grinste.

„Dass ich jedem Kunden so begegne, wie er glaubt, dass ich aussehen muss, ist keine Verpflichtung meinerseits, das möchte ich einmal klarstellen. Das ist reine Gefälligkeit von mir, verstehst du? Und wenn ich als weiße Kugel oder als grünes Pferd auftreten würde, so änderte dies nichts an meinem Auftrag und an der Tatsache, dass deine Zeit auf dieser Welt abgelaufen ist und du mir unverzüglich folgen musst. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Er atmete tief durch und wippte, den Kopf hoch erhoben, auf den Zehenspitzen, wie ein Lehrer, der seinem renitenten Schüler eine Standpauke hält.

Lehberg drehte sich mit ernster Miene zu dem Fremden um. „Und jetzt hörst du mir einmal zu. Wenn du es noch nicht weißt, dann sag ich es dir jetzt.“ Er stand auf Atemlänge vor dem Fremden und tippte während er sprach mit dem rechten Zeigefinger auf dessen Mantelrevers. „Du hast ein äußerst wichtiges Gesetz verletzt, mein schwarzer Freund. Man nennt es das Gewohnheitsrecht. Du weißt, ich war bis vor sechs Jahren Anwalt, und könnte dir die passenden Paragrafen aufzählen, gegen die du verstoßen hast, aber das will ich dir ersparen. Auf unseren Fall bezogen heißt das, du holst seit ewigen Zeiten deine Kunden immer in der Erscheinung ab, die der Vorstellung des jeweiligen Kunden entspricht. Das bedeutet, dass daraus ein Gewohnheitsrecht für die Betroffenen entstanden ist. Und ob es dir Spaß macht oder nicht, aus deiner Gefälligkeit ist eine Verpflichtung geworden. Und wenn du bei mir auftauchst und gegen dieses Recht verstößt, indem du ein elementares Teil deiner Erscheinung einfach weglässt, dann entbindet mich dieser Verstoß automatisch von der Verpflichtung dir zu folgen. So will es das Gesetz! Ende der Diskussion!“ Lehberg ließ den verdutzten Fremden stehen und setzte sich wieder auf seine Bank, nahm die Zeitung vom Boden, schob seine Lesebrille auf die Nase und begann zu lesen, als ginge ihn der Fremde gar nichts an.

Die Sanitäter schoben die Bahre in den Krankenwagen.
An Herbert Lehbergs Arm war eine Infusion angebracht.
Der Notarzt setzte sich neben ihn und kontrollierte das EKG.

„Noch mal davon gekommen“, sagte er leise zu seinem Kollegen. Der gab dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt.

Einige Schaulustige standen um das Fahrzeug herum.
Ein Mann mit großem Hut und schwarzen Mantel war nicht dabei.

 

 

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von Pixabay

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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2016

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