Kennen Sie auch das Gefühl, ständig alten Ballast mit sich herum zuschleppen?
Es gibt viele Dinge, die einem so wichtig sind, dass man sich einfach nicht von ihnen verabschieden kann. Ein alter Sessel vielleicht, ein altes Radio, eine kitschige Erinnerung an eine Jugendliebe – oder eine Arbeit, die man seit langem unerledigt mit sich herum trägt, wie seinen eigenen Schatten. Von der man aber weiß, oder wissen sollte, dass es einem dabei ergehen wird, wie dem ollen Sisyphus – Sie wissen, der mit dem Stein.
Genau so einen unglücklichen Steineschieber lernte ich eines Tages in einem Krankenhaus kennen.
Ich war nicht scharf drauf, aber das Schicksal erlaubte sich wieder mal einen seiner bekloppten Scherze.
Ein stechender Schmerz im rechten Unterbauch, den ich weder mit Aspirin, Kräuterschnaps, Wärmflasche, oder sturem Ignorieren zur Ruhe bringen konnte, trieb mich zum Hausarzt. Und der gab Blinddarm-Alarm.
Keine drei Stunden später war mein Zimmer im Städtischen Krankenhaus gebucht.
Noch bevor die schwarzhaarige Nachtschwester den obersten Knopf ihres Kittels über ihrem prallen Dekolletee geschlossen hatte, lag ich auf dem OP-Tisch.
Den Rest der Nacht, und beinahe den kompletten folgenden Tag verpennte ich.
Alles easy, mein Junge, sagte ich mir. Ruh dich aus und betrachte die Sache als Urlaub, sponsered by AOK.
Meine Genesung verlief hervorragend, und ich fühlte mich gut – jedenfalls solange der beknackte Späthippie, der mit mir das Krankenzimmer teilte, nicht da war. Denn wenn er anwesend war, hatte er entweder seinen viel zu lauten Kopfhörer auf seinem pissgelben Pferdeschwanz, oder er versuchte mir ein Ohr zu drücken mit irrsinnigen Geschichten seiner permanent vom Rausch beseelten Jugendzeit.
Ich hatte aber eher das Gefühl, dass der Typ weder Kindheit noch Jugend hatte. Vermutlich kam er schon so, im wahrsten Sinne des Wortes fixundfertig zur Welt.
Er wurde wahrscheinlich von Außerirdischen absichtlich hier vergessen, als die bei einem kurzen Tankstopp in Sturm gepeitschter Nacht die Erde besuchten.
Zu seinem und meinem Glück wurde er drei Tage nach meiner OP auf eine andere Station verlegt. In der Nacht davor, stand ich kurz neben seinem Bett mit meinem Kopfkissen in der Hand, um ihn so lange dran schnuppern zu lassen, bis er nicht mehr zuckte.
Hatte es mir aber anders überlegt, als die Tür aufging, und sich die herrlichen Rundungen der Nachtschwester ins Zimmer schoben.
Das Nachbarbett blieb erfreulicherweise leer, bis einen Tag vor meiner Entlassung.
Die darauf folgenden vierundzwanzig Stunden erwiesen sich als die gefährlichsten meines Lebens.
Ich saß noch beim Frühstück an dem kleinen Tisch meines Krankenzimmers, als ein neuer Patient samt Bett herein geschoben wurde. Sein rechter Unterarm lag eingegipst in einer Entlastungsschiene. Nach dem verkniffenen Gesicht zu urteilen, das er zur Schau stellte, hatte er Schmerzen.
„So, Herr Grabulski“, sagte der Pfleger, als er die Bremsen des Bettes arretierte.
„Das ist Herr Kleinmann. Herrn Kleinmann, das ist ihr Zimmernachbar, Herr Grabulski.“
Als mein Name gefallen war, beobachtet ich, wie Kleinmann seine Augen aufriss und mich anstarrte, als wüchsen mir Hörner aus der Stirn. Ich konnte mit seiner Reaktion nichts anfangen, biss in mein Marmeladenbrötchen, und schaute in meine Zeitung.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mich der Neuzugang immer noch anstarrte.
Der Pfleger verließ den Raum, nachdem er die Tasche des Neuen im Schrank verstaut hatte. Es drängte sich mir der Gedanke auf, dass Kleinmann etwas auf dem Herzen hatte, aber mein Bedürfnis die Kummerkastentante zu spielen, tendierte gegen Null.
Kleinmann lag zugedeckt bis unters Kinn in seinem Bett, und hinter seiner getönten Goldrandbrille fixierten mich seine kleinen, dunklen Augen. Ich konnte es beinahe körperlich fühlen, wie es in seinem, von weißblonder Minipli umrahmten Kopf arbeitete.
„So sieht man sich wieder“, hörte ich ihn plötzlich sagen.
„Wieso wieder? Kennen wir uns?“ Ob ich wollte, oder nicht, er hatte mich neugierig gemacht.
„Sie kennen mich nicht. Noch nicht. Aber ich Sie umso besser.“ Ein bösartiges Grinsen zeigte sich auf seinem mondförmigen, glatten Gesicht.
„Na ja“, antwortete ich. „Wenn Sie Ihr Geheimnis lüften wollen, müssen Sie sich beeilen. Ich bin begnadigt und darf morgen nach Hause.“
„Geheimnis trifft es auf den Punkt. Ich habe ein kleines, Sie aber haben viele düstere Geheimnisse.“ Er hatte mir seinen Oberkörper zugewandt und sich auf seinen gesunden Ellbogen gestützt.
„Ach, das wüsst ich aber“, sagte ich und mir schwante, dass etwas Unangenehmes im Busch war. „Was ist denn mit Ihrem Arm?“, fragte ich, um ihm zu vermitteln, dass mich sein obskures Geschwätz nicht interessierte.
„Sie können ruhig das Thema wechseln, das nützt Ihnen nichts. Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Bin gestern Abend in meiner Wohnung über die Katze gestürzt und hab mir das Handgelenk gebrochen. Wurde noch in der Nacht operiert. Genügt das?“
„Genügt völlig“, sagte ich und ging zur Tür. „Zu dumm um geradeaus zu gehen, aber fremde Leute anfixen.“ Ich machte einen Spaziergang. Musste nachdenken.
Das war jetzt ungeschickt von dir, schalt ich mich. Es wäre klüger, du wüsstest, was er weiß.
Als ich wieder im Zimmer war, schlief Lockenköpfchen. Ich überlegte, ob ich in seinen Sachen nachschauen sollte, um heraus zukriegen, wer er war. Aber das Risiko überrascht zu werden, erschien mir zu groß. Beim besten Willen, ich konnte mich nicht an seine Visage erinnern.
Das Mittagessen wurde hereingetragen und Kleinmann wurde wieder munter.
„Und Sie haben in der Küche wegen meiner Allergie Bescheid gesagt, ja?“, wandte er sich an die Schwester.
„Aber selbstverständlich, Herr Kleinmann. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass irgendwas von Ihrem Essen mit Erdnüssen kontaminiert sein könnte. Das ist hundert Prozent sicher. Guten Appetit allerseits.“
Dieses Mal war ich es, der die Augen aufriss. Erdnussallergie, aha!, dachte ich. Es ist immer von Vorteil, über die Schwächen seines Gegners Bescheid zu wissen.
„Was genau meinten Sie denn heute morgen mit Ihrer kryptischen Ansage“, fragte ich und kaute genüsslich auf meinem Putenschnitzel.
„Das werd ich Ihnen sagen. Ich bin beruflich für mehrere Versicherungen tätig“, begann Kleinmann. „Die werden immer nervös, wenn sie größere Summen für das Auszahlen von Lebensversicherungen hinblättern müssen. Vor allem bei Leuten, die kerngesund waren und plötzlich und unerwartet dahinscheiden.“
„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Ich denke, sehr viel. Denn immer wieder stieß ich bei meinen Recherchen auf den Namen Grabulski. Daraufhin schaute ich mir Sie über eine längere Zeit genauer an.“
„Und?“
„Ich nenne nur die Namen Peilmann, Ackermann, Kellermann. Na, klingelt da was?“
„Bei mir nicht. Wenn Sie ein Klingeln hören, sollten Sie zum HNO. Könnte Tinnitus sein.“
„Es ist doch merkwürdig, dass Sie mit all diesen Verstorbenen in irgendeiner Art und Weise bekannt, oder sogar benachbart waren. Finden Sie nicht?“
„Nein. Peilmann war Apotheker, und ich war sicher nicht sein einziger Kunde.
Die Ackermann war Personalchefin und hatte vielen Kollegen auf die Füße getreten. Kellermann war Filialleiter einer Bank. Auch da war ich nicht der einzige Kunde.
Sie verrennen sich da in etwas, Kleinmann.“
„Es waren ja noch einige andere, bei deren Ableben Sie zumindest in der Nähe waren. Auch wenn Sie sich noch so cool und clever geben, Grabulski, ich habe Sie auf dem Radar. Und wenn ich hier wieder raus bin, mache ich den Sack zu. Dann ist für Sie Schicht im Schacht.“
„Ihnen ist die Narkose nicht bekommen“, sagte ich und ging runter in die Kantine.
Ich brauchte Nervennahrung.
Gegen drei Uhr am nächsten Morgen machte die Nachtschwester einen solchen Lärm, dass ich in einer Sekunde hell wach war. Sie schrie nach ihrer Kollegin Bettina und drückte wie verrückt mit beiden Händen auf Kleinmanns Brustkorb herum.
Dessen Gesicht erschien mir stark geschwollen, bläulich verfärbt und völlig leblos.
Anaphylaktischer Schock konstatierte ich.
War vielleicht doch ein wenig Erdnussstaub ins Abendessen geraten.
Man kann eben niemandem mehr vertrauen.
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2016
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