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Grabulski und Herrn Böllmanns schaurige Trauer

 

 

Die Besten sterben jung, sagt man.

Stimmt nicht. Denn erstens lebe ich noch, und zweitens lebte damals meine Tante Elvira noch, obschon sie auf die Neunzig zuging.

Doch nun sah es so aus, als hätte sie keinen Bock mehr, im kommenden Winter ihre Heizdecke aus der Kommode hervorzukramen.

 

„Wenn du sie noch einmal lebend sehen willst, dann kommst du am besten so schnell du kannst her“, schlug mir meine Cousine Sabine am Telefon vor.

 

Selbstverständlich wollte ich das, war doch Tante Elvira meine einzige Seelenverwandte in dieser schrecklichen Familie. Ach, was sage ich, sie war meine einzige Seelenverwandte überhaupt.

Für uns beide schien der Begriff Misanthrop erfunden worden zu sein. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wenn ihr was gegen die Hutschnur ging, und wenn sie einer Kanalratte, so bezeichnete sie die Idioten gerne, die mit ihr die Luft teilten, ein Bein stellen konnte, dann tat sie das, trotz ihres Alters, mit erfrischender Leichtigkeit.

 

Einen Tag nach dem Anruf, parkte ich am frühen Nachmittag mein Auto in der ruhigen Seitenstraße, in der Tante Elviras imponierende Hütte stand.

Meine Laune war zwar schon etwa auf Höhe meiner Knöchel, doch ein Gedanke, der mir in diesem Moment durch den Kopf ging, gab ihr den Rest.

Garantiert würde auch Joschi Böllmann da sein, der Mann meiner verstorbenen Cousine Martina. Wobei der Begriff „Mann“ in Bezug auf Joschi stark übertrieben und extrem schmeichelhaft für diesen Gnom war. Er sah eher aus wie ein Neandertaler, der zu heiß geduscht hatte und dabei eingelaufen war.

Sein Schädel war für seinen mickrigen, ausgemergelten Körper viel zu groß. Seine Arme viel zu lang. Er konnte sich ohne zu bücken die Schuhe binden.

Was mich aber am meisten an ihm störte, waren seine ständigen Versuche, sich bei Tante Elvira lieb Kind zu machen.

Was uns alle verwunderte, war die Tatsache, dass es Tantchen scheinbar nichts ausmachte, dass dieser Zwerg ihr ständig am Rockzipfel hing. Es fiel uns nur auf, dass sie in Joschis Nähe öfter als sonst ihr stark parfümiertes, weiß umhäkeltes Taschentuch zur Nase führte.

Bei jeder Familienfeier gelang es ihm, bei Tisch direkt neben Elvira zu sitzen. Joschi überschüttete sie mit Komplimenten und füllte unaufgefordert ihren Teller und ihr Glas.

Er hing an ihr wie der Schwanz an der Kuh und war wohl ebenso wie dieser, nur mit einem scharfen Werkzeug von seinem Platz zu entfernen.

Apropos Kuhschwanz – genau wie dieses Teil am Steiß des Rindviechs zum Fliegenscheuchen genutzt wird, so eignete sich Joschi Böllmann als einigermaßen umweltfreundlicher Ersatz für Mückenspray.

Wenn wir uns im späten August zu Tante Elviras Geburtstag in ihrem Garten zum Feiern trafen, kamen alle Gäste ohne Autan aus, denn Joschi zog wie ein Haufen Scheiße alle Fliegen auf sich. Die Plagegeister waren kaum auf seiner nackten, schweinchenrosafarbenen Haut gelandet, da fielen sie auch schon tot ins Gras. Das war aber die einzige Gelegenheit, bei der wir Grund zur Freude über Joschis Anwesenheit hatten.

Objektiv betrachtet, war sein Getue ja verständlich. Ging doch das Gerücht, Tante Elvira besäße nicht nur dieses, für eine alleinstehende Person viel zu große Anwesen, sondern auch Aktien, Goldmünzen und eine nicht unerhebliche Anzahl wertvoller Schmuckstücke. Und Tante Elvira war Witwe, hatte keine Geschwister und ihre Ehe war kinderlos.

Also alles in allem beste Voraussetzungen dafür, dass sie ihr Hab und Gut an den verbliebenen Rest ihrer Verwandtschaft vererben würde.

Andererseits hoffte ich insgeheim, dass Tante Elvira geistig so fit war, dass sie um den Grund von Joschis plumper Schleimerei wusste, und ich war mir sicher, dass ich ihr wahrer Favorit war. Schließlich konnten wir über dieselben Witze lachen und waren uns einig, dass die übrigen Familienmitglieder keinen Schuss Pulver wert waren.

 

Nun stand ich also vor der Tür ihres Hauses, um Abschied zu nehmen. Ich atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf. Keine zehn Sekunden danach öffnete Sabine, und fiel mir schluchzend um den Hals. Da wusste ich, dass ich mich verspätet hatte.

Tante Elviras Seele war bereits auf der Heimreise.

Als ich merkte, dass mir Sabine meinen Hemdkragen voll sabberte, schob ich sie mit sanftem Druck von mir.

„Vor einer halben Stunde ist sie von uns gegangen“, sagte Sabine stockend und trompetete in ihr Taschentuch.

 

An Tante Elviras Totenbett war das Gedränge überschaubar, so dass ich ungehindert einen letzten Blick auf die zarte, zerbrechliche Gestalt der Verblichenen werfen konnte.

Um das Totenbett herum standen Sabines Mann Fred, Gerlinde, Sabines jüngere Schwester, deren Angetrauter als Fernfahrer ewig unterwegs war, und vier weitere Figuren, die mir nicht bekannt waren, die sich aber später als Nachbarn vorstellten.

Störend empfand ich nur, dass Joschi am Bett kniete und Tantchens kalte Hand mit schmatzenden Küssen bedeckte. Wie immer, kannte er im Übertreiben weder Maß noch Ziel.

Nachdem ich kurz innegehalten und Tantchen gedanklich eine gute Reise gewünscht hatte, wollte ich mich abwenden, doch da sprang mir Joschi ans Hosenbein. Weil mir diese Situation peinlich war, packte ich ihn am Kragen und stellte ihn auf die Füße.

„Was sollen wir bloß ohne Tantchen machen?“, jammerte er und versuchte seinen Quadratschädel an meiner Schulter unterzubringen. Ich zerrte ihn aus dem Zimmer und über den Flur aus dem Haus.

 

Kaum standen wir im Hof, wo er sich unbeobachtet fühlte, straffte sich Joschis Körper und ein falsches Lächeln verunstaltete sein Gesicht. Er zwinkerte verschwörerisch.

 

„Was glaubst du, wie hoch wird die Erbschaft sein, so alles in allem?“

„Ich frage mich, was hat die Natur gewollt, als sie dir Leben einhauchte?“, antwortete ich und zündete mir ein Zigarillo an.

„Jetzt sülz mich bloß nicht voll, Grabulski. Du hast doch auch nichts gegen ein paar Euro mehr in der Tasche, oder?“

 

So ganz Unrecht hatte er ja nicht, dennoch kratzte Elviras Ableben schon ein wenig an meiner Seele.

„Schau dir doch die Hütte hier mal genauer an“, sagte ich. „Glaubst du, dass der alte Kasten verkäuflich ist? Der ist aus den Dreißigern. Und die letzte Renovierung ist auch schon fünfzig Jahre her.“

„Ich sag nur Grundstück in bester Lage, Schmuck, Wertpapiere. Da kommt was zusammen“, behauptete er. „Und das Beste, wir müssen nur unter vier Leuten aufteilen. Sabine, Gerlinde, du und ich.“

Bevor ich antworten konnte, bog ein dunkelgrauer Leichenwagen in die Hofeinfahrt.

 

Wir waren uns einig, bis zur Beerdigung in Elviras Haus zu logieren. Platz gab es reichlich. Beim ersten gemeinsamen Frühstück, war die Stimmung am Tisch erwartungsgemäß gedämpfter Natur. Dennoch überlegte ich, wann der beste Zeitpunkt wäre, Sabine auf ein etwaiges Testament anzusprechen.

Doch wieso machte ich mir Gedanken um Takt und Etikette, wenn Joschi Böllmann in der Nähe war?

„Du, sag mal, Sabine. Hast du schon einen Überblick darüber, was uns Elvira hinterlassen hat?“ Joschi schaute unbekümmert in die Runde.

 

Ein unbeteiligter Beobachter hätte in diesem Augenblick vielleicht ahnen können, dass Joschis kindlich unbekümmerte Frage sein Leben, und das aller Anwesenden verändern würde.

Ich weiß nicht sicher zu sagen, ob die Entrüstung meiner Verwandten lediglich gespielt war, oder ob sie wirklich so empfanden. Aber mir stieg beim Blick auf diese kleine Ratte namens Böllmann die Galle hoch. Als Sensibelchen kann man mich wirklich nicht bezeichnen, aber nun ließ dieser heuchlerische, verunglückte Zellhaufen in mir ein Rachefünkchen entstehen, welches eine kleine Kreativitätsexplosion von destruktiver Natur auslöste. Oder war es umgekehrt?

 

Am Abend vor der Beerdigung, teilte uns Sabine mit, dass Tante Elvira ein Testament beim Notar hinterlegt hatte. Und bevor Joschi fragen konnte, erklärte sie:

„Das Haus selbst ist in einer stark renovierungsbedürftigen Verfassung, und ein Käufer muss ganz schön investieren. Von wirklichem Wert ist eigentlich nur das Grundstück. Vor fünf Jahren hatte Elvira einen großen Teil ihres Schmuckes und der Münzen verkauft, um die kaputte Heizung erneuern zu können. Einen Kredit dafür aufzunehmen, lehnte sie strikt ab. Über den Wert der Aktien und der sonstigen Papiere weiß ich nichts, außer, dass es welche gibt. Aber die liegen ja bei der Bank.“

 

Damit wollte sich Joschi nicht zufrieden geben: „Aber es sind doch hundert Pro noch Schmuckstücke übrig und bestimmt auch noch Münzen. Zeig mal her! Wo sind die denn? Versteckst du die, oder was?“

 

Fred, Sabines Mann, war des Sprechens zwar mächtig, machte aber nicht oft Gebrauch davon, wofür ich ihm dankbar war. Aber an jenem Abend sprach er Wahres.

„Es reicht! Noch ein Wort, und ich werfe dich aus dem Fenster!“, brach es aus ihm heraus.

Freds Idee mit dem Fenster, fand ich, hätten wir schon früher umsetzen sollen.

Joschi sprang herum wie einst der Rumpelstilz und verließ fluchend das Haus. Uns war klar, dass er jetzt in der nächsten Kneipe seine letzten Groschen in Sprit umtauschen würde.

Es wurde Zeit für mich, zu handeln. Morgen war Beerdigung.

Als alle schliefen, schlich ich mich aus dem Haus und fuhr meinen Wagen direkt vor die Haustür. Zurück im Zimmer, stellte ich den Wecker. Danach schlief ich sofort ein.

Gegen halb vier Uhr am Morgen stand ich auf und fand Joschi schnarchend, mit erbärmlich stinkender Fahne in seinem Bett. Wir unternahmen mit meinem Wagen einen kleinen Ausflug zum Friedhof.

Joschi zeigte nicht viel Interesse, leistete aber auch keinen nennenswerten Widerstand.

 

Tante Elviras Bestattung war leise und würdevoll.

Obgleich es nicht seiner zur Schau gestellten Trauer entsprach, störte es niemanden ernsthaft, dass Joschi Böllmann mal wieder aus der Reihe tanzte, und nicht zur Beerdigung erschienen war.

Die vier Sargträger ächzten unter ihrer Last in der milden Nachmittagssonne.

Schwitzend und keuchend, und vielleicht einen Tick schneller als üblich, ließen sie endlich den matt glänzenden und gefährlich schwankenden Schrein in die feuchte Grube hinab.

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Tag der Veröffentlichung: 04.02.2016

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