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Die gefrorene Zeit

 

Vor nicht allzu langer Zeit, in einem nicht allzu fernen Land regierte ein junger König.
Eines Tages beschloss er, nachdem er lange nachgedacht hatte, einen Weg zu finden, die Zeit anzuhalten. Denn er war zu der Erkenntnis gelangt, dass er, wenn ihm dies gelänge, ewig jung und stark bliebe. Seine Reichtümer blieben so für immer in seinem Besitz, und sein Volk könnte auf ewig in Frieden und Wohlstand leben.
Nebenbei, so stellte er sich vor, erlangte er durch diese Tat Berühmtheit auf der ganzen Welt, und untertänigste Bewunderung und größter Ruhm wäre ihm sicher, da noch niemand jemals zuvor eine solch kühne Tat vollbracht hatte.
Es gab dabei nur ein Problem: Er hatte keine Ahnung, wie er dies anstellen sollte.
Also vergrub er seinen Kopf tagein tagaus in seinen weißen feingliedrigen Händen und dachte nach.
Eines Morgens, nachdem es eine Woche lang geregnet hatte und er wider Erwarten von den wärmenden Strahlen einer lieblichen Frühlingssonne geweckt wurde, kam ihm eine Idee: Er ließ alle weisen Männer und Frauen seines Landes zu sich rufen und beauftragte sie, ihm so schnell wie möglich, die Lösung seines Zeitproblems zu liefern. Denn wer sonst, wenn nicht sie, wären in der Lage dazu, den Weg zu seinem Ziel zu finden?
Bis zur Erfüllung ihres Auftrages, durften sie das Schloss nicht verlassen.

Nach langen Tagen und Nächten des Grübelns und Diskutierens, hatten die Doktoren und Professoren die Lösung gefunden und taten sie dem König kund.
Der Älteste trat vor: "Majestät, die Lösung Ihres Problems besteht darin, mit einem Schlage die Zeiger aller Uhren in Ihrem Reiche anzuhalten. Somit wird die Zeit gezwungen, ebenfalls stehen zu bleiben. Es darf aber auch nicht eine einzige Uhr übersehen werden. Auch die Ihre muss angehalten werden".
Der König war begeistert und sandte sofort Reiter in alle Dörfer und Städte seines Reiches aus, um alle Uhren zu beschlagnahmen und anschließend zu zerstören.
Da die großen Uhren an den Kirchtürmen und Rathäusern in der Eile nicht abmontiert werden konnten, ließ er alle Kirchen und Rathäuser anzünden, damit alle Uhren verbrennen sollten.
Als alle Uhren zerstört waren, und er seine eigene zum Stillstand gebracht hatte, war er sicher, die Zeit besiegt zu haben.

Es zogen mehrere Jahre ins Land, bis der König begriff, dass die vermeintliche Lösung seiner Gelehrten falsch war, und die Zeit unbeirrt weiter lief, als wäre nichts geschehen.
Jeden Abend ging die Sonne unter und tauchte am Ende der Nacht im Osten wieder auf. Die Jahreszeiten kamen und gingen. Gerade so wie immer. Als ihm bewusst war, dass seine Gelehrten versagt hatten, übermannte ihn der Zorn.
Er ließ sie gefangen nehmen und köpfen.

Von seiner Idee, die Zeit zu besiegen, konnte er aber nicht lassen. Doch alle klugen Köpfe seines Landes waren tot, und so fragte er in seiner Not seinen Hofnarren, ob dieser eine Lösung wüsste, denn der Hofnarr war im ganzen Land für seinen Scharfsinn und seine Gerissenheit bekannt. Und auch dieses Mal, ließ dieser seinen König nicht im Stich und gab ihm folgenden Rat:
"Majestät", flüsterte er mit heiserer Stimme, damit keiner der Wachen ein Wort mithören konnte. "Ich habe viele Stunden in den Archiven und Bibliotheken des Schlosses verbracht und alle klugen Bücher der Weisen und Magier gelesen. Dabei entdeckte ich, dass es nur einen Weg gibt, der zur Erfüllung Ihres Wunsches führt, denn die Zeit und das Wasser sind ein und dasselbe Ding.“
Der König staunte: "Was willst du damit sagen, erkläre dich".
Der Hofnarr fuhr fort. "Wasser zerrinnt uns zwischen den Fingern, wenn wir es halten wollen, genau wie die Zeit. Trotzdem kennen wir eine Möglichkeit, es zu fassen.“
Er rückte so nahe an seinen König heran, wie es niemals jemand, außer der Königin, gewagt hätte, und flüsterte in das königliche Ohr: „Wasser kann man nur fassen, wenn es gefroren ist. Das ist das Geheimnis".
Der König verstand immer noch nicht und forderte eine verständliche Erklärung.
"Ihr wisst, mein König, dass mir viele Dinge zwischen Himmel und Hölle bekannt sind, und mein Wissen Euch oftmals genützt hat", machte sich der Hofnarr wichtig.
"Spann mich nicht auf die Folter. Nenn mir endlich die Lösung". Der König war voller Ungeduld.
"Es gibt zwei Arten, das Problem zu lösen, Majestät. Die erste wäre: Lösch die Sonne aus, und lass die Zeit erfrieren. Das hat den Vorteil, dass Eure Majestät hier im Lande bleiben kann, wenn die Zeit stillsteht. Das hat aber den Nachteil, dass all Eure Feinde und die ganze Welt den gleichen Nutzen davon haben wie Ihr.“
An dieser Stelle machte der Hofnarr eine Pause und blickte sich prüfend um, ob auch ja niemand lauschen konnte. Dann atmete er tief ein und blickte seinem König fest in die Augen.
„Die zweite Möglichkeit ist die: Ihr zieht mit all Euren Schätzen und den Menschen, die Ihr in Eurem dann ewigen Leben um Euch haben wollt, zum Nordpol, wo alles Wasser, und somit alle Zeit gefroren ist. Denn nur dort hättet Ihr allein und niemand sonst den Nutzen der gefrorenen Zeit. Das ist das Geheimnis. Ihr habt die Wahl, mein König".

Nach diesen Worten wurde der König sehr nachdenklich und schickte seinen Hofnarren weg, um allein zu sein. Seine Entscheidung musste diesmal wohl durchdacht sein.

Der Hofnarr stolzierte erhobenen Hauptes und mit zufriedener Miene aus dem königlichen Gemach. Er wusste, dass sich der König für einen seiner beiden Vorschläge entscheiden würde. Danach, so freute sich der Hofnarr, danach beginnt meine große Zeit. Und die wird ganz und gar nicht gefroren sein.

Nach einer schlaflosen Nacht gab der König am nächsten Morgen den Befehl, eine riesige Kanone bauen zu lassen, die größte, die die Welt je gesehen hat.
Es erschien ihm angebracht, zunächst im Lande zu bleiben und die Sonne auszulöschen. Dass seine Feinde danach ebenfalls ewig leben würden, erschien ihm als das kleinere Übel.
Als nach vielen, vielen Wochen die mächtigste Kanone, die die Welt je gesehen hatte, auf die Sonne gerichtet wurde, versammelten sich Tausende seiner Untertanen um das Schloss, um das Spektakel mit eigenen Augen verfolgen zu können.
Der Oberkanonier, der mit dieser epochalen Aufgabe, der Zerstörung der Sonne, betraut wurde, wartete mit dem Abschuss, bis der glutrote Ball am Abend nur noch ein Haar breit vom Ende der Welt entfernt war.

„Denn in diesem Moment hat die Sonne den größten Umfang“, erklärte er seinem König. „Dann ist es am einfachsten, sie zu treffen.“

Der König vertraute seinem Oberkanonier und mit einem gewaltigen Knall, der die Grundmauern des solide gebauten Schlosses erzittern ließ, wurde eine riesige Kugel, die größte, die die Welt je gesehen hatte, in Richtung Sonne abgefeuert. Die Untertanen brachen nach einer Schrecksekunde in unbeschreiblichen Jubel aus, ließen ihren König hochleben und feierten die ganze Nacht, denn in dem Moment, als die Kugel das mächtige Rohr verließ, verlöschte das Licht der Sonne am Horizont.

Doch als sie am Morgen auf der anderen Seite des Festplatzes wieder aufging, ließ der König den Oberkanonier in Ketten legen und in den Turm sperren.

Nun blieb dem König nur noch die Möglichkeit, sich mit all seinen Schätzen und seiner Familie am Nordpol nieder zu lassen, wenn er sein Ziel noch erreichen wollte.
Der Regent des Nachbarlandes im Westen machte ihm die Entscheidung leichter. Denn die riesige Kanonenkugel fiel in dessen Reich wieder zur Erde und zerstörte dabei mit einem Schlage ein ganzes Dorf. Daraufhin erklärte er seinem Nachbarn den Krieg. Somit hatte unser König noch einen Grund mehr das Land zu verlassen.
Mit einem Tross von vierzig Wagen, beladen mit Gold und Geschmeide, und eskortiert von unzähligen, bis an die Zähne bewaffneten Reitern, machten sich der König und seine Familie auf die lange Reise.

Ob er je am Nordpol ankam, ist nicht überliefert. Aber seit jenem Tag, schien in dem Reich ohne König die Zeit tatsächlich still zu stehen.
Alle Gelehrten und klugen Köpfe waren hingerichtet. Alle Schulen und alle Universitäten waren aus diesem Grunde geschlossen worden. Alle Kirchen waren niedergebrannt. Ebenso alle Rathäuser. Der König hatte alles Geld und Gold mitgenommen, so dass man keinen Stein und keinen Ziegel hätte kaufen können, um Neues zu bauen. Und das Wenige, was noch übrig geblieben war, hatten die Soldaten des Nachbarreiches dem Erdboden gleich gemacht.

Der Hofnarr aber, der sich nach der Abreise des Königs versteckt hielt, bis die feindlichen Soldaten das zerstörte Land wieder verlassen hatten, zog daraufhin durch die verbrannten Dörfer. Dort stellte er sich auf die Marktplätze und verkündete in mitreißenden Reden, dass er das Land wieder aufbauen, und zu altem Glanze führen werde, wenn die Menschen ihn zum neuen König wählten.
Die armen, hungernden und ungebildeten Leute glaubten seinen Worten und fanden allmählich wieder Hoffnung.
Und nach einem Jahr voller Hunger, Elend und Tod wurde der gerissene Hofnarr tatsächlich zum neuen König gekrönt.

Nicht nur im Märchen, auch in der Gegenwart unserer realen Welt, sind es doch nur die Narren, die davon profitieren, wenn irgendwo auf der Welt die Zeit stehen bleibt.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2016

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