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Das Mädchen auf dem Dach

Lisa Tilmann kam an jenem drückend heißen Augustabend völlig erschöpft nach Hause. Mit Schweißperlen auf der Stirn trug sie ihr Fahrrad die drei Stufen zum Abstellraum hinunter, der für Räder unter dem Treppenaufgang des vierstöckigen Wohnhauses reserviert war. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper und ihre kurzen, rotbraunen Haare waren ebenso nass wie ihre Füße in den roten Sneakers.

Der Supermarkt, in dem Lisa arbeitete, war nur rund drei Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, und auf Ihrem Nachhauseweg gab es keine Steigung, trotzdem konnte sie sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so geschwitzt hatte.

Aber sie hatte schon am Morgen beim Aufstehen so ein komisches Gefühl.

Eine seltsame Art der Spannung lag in der Luft. Spätestens heute Nachmittag, wird es ein Gewitter geben, befand sie und hoffte, dass die kommende Nacht etwas Abkühlung bringen würde. Nun war es aber schon zwanzig Minuten nach acht, und am diesig blauen Himmel, war weit und breit keine Gewitterwolke zu sehen.


Lisa wohnte allein im vierten Stock, direkt unterm Dachboden. Während sie die Treppe hinauf ging, dachte sie mit Schaudern daran, dass sie in ihrer Wohnung eine backofenähnliche Atmosphäre erwarten würde. Als sie die Wohnungstür aufschloss und in die Diele trat, wurde ihre Erwartung zur Gewissheit.

Obwohl die beiden Fenster zur Hofseite des Hauses gekippt, und die Rollläden heruntergelassen waren, war die Luft in ihren vier Wänden stickig und roch nach altem Staub.

Sie stellte ihre Tasche ab und machte erst einmal Durchzug. Vor der Küche war ein kleiner Balkon. Sie öffnete die Flügeltür und trat hinaus. Die Abendsonne legte ein sanftes, sandfarbenes Licht auf die Dächer der Stadt.
Lisa liebte diese friedlichen Sommerabende, wenn das hektische Leben zur Ruhe kam, der Straßenverkehr allmählich an Lautstärke verlor und vom Lachen und Lärmen der Kinder in den schattigen Hinterhöfen abgelöst wurde.

Der Wind, der hier oben leichteres Spiel hatte, als unten in den verwinkelten Straßen, streichelte sie mit warmer Hand. Sie löste sich von ihrem geliebten Ausblick auf die Stadt und freute sich auf eine kühlende Dusche.


Die Erfrischung war nur von kurzer Dauer, denn obwohl sie lediglich mit einem hauchdünnen Top und Bermudas bekleidet war, bildeten sich auf ihren Armen winzige Schweißperlen, als sie sich einen Salat zum Abendessen zubereitete.

Sie schloss das Fenster zur Straße in ihrem Wohnzimmer, die Fenster zum Hof ließ sie offen. Die Temperatur war langsam erträglicher geworden, doch sie wollte nicht im Durchzug sitzen und eine Erkältung riskieren. Mit ihrem gefüllten Teller setzte sie sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein.

Sie musste kurz eingenickt sein. Die große Wanduhr zeigte bereits halb elf.

Lisa gähnte, streckte sich und schaute sich noch die Wettervorhersage an, bevor sie zu Bett ging. Der Wettermann sagte leider nichts von einem kühlenden Gewitter, jedenfalls nicht für die kommende Vollmondnacht. Es würde nur eine lockere Bewölkung geben mit wenig Abkühlung, weil eine Südwestströmung weiterhin feuchtwarme Luftmassen ins Land schaufelte. Gewitter wurden erst für den nächsten Nachmittag erwartet.


Vollmond, auch das noch, brummelte Lisa, als sie den Fernseher ausschaltete.

Sie nahm den leeren Salatteller, löschte das Licht und ging in die Küche, wo sie ihn zum Frühstücksgeschirr vom Vormittag in die Spüle stellte.

Abwaschen kann ich auch morgen noch, dachte sie. Die verschwitzten Sneakers stellte sie die Nacht über zum Lüften auf dem Balkon. Danach verschwand sie im Bad.

Später blickte sie vom Schlafzimmerfenster aus in den Nachthimmel, über den nur vereinzelt, wie dunkle Schatten, ein paar Wolken zogen. Der volle Mond war noch ein kleiner, rötlich-gelber Ball hinter dem Dunst des Horizontes. Sie brachte das Fenster in Kippstellung und ließ den Rollladen bis zur Hälfte herunter.

Ganz herunterlassen wollte sie ihn trotz des Vollmondlichtes nicht, da sie sonst im Bett das Gefühl bekäme, ersticken zu müssen. Nur mit Slip und einem T-Shirt bekleidet ging sie zu Bett und zog das dünne Laken, das ihr als Zudecke diente, über die Beine bis zum Bauch. Noch war es dunkel im Zimmer, doch in ein, zwei Stunden würde sich das ändern. Mit der Frage, ob sie die halbe Nacht wieder kein Auge zu bekommen würde, war sie eingeschlafen.

Lisa wurde wach, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das nun real war, oder nur ein Traum. Das Grün der Leuchtziffern ihres Weckers tanzte vor ihren Augen. 1 Uhr 17. Es war inzwischen kein bisschen abgekühlt. Im Gegenteil, so muss sich ein Brot fühlen, kurz bevor der Bäcker die Ofenklappe wieder aufmachte.

Nur ein Fuß war noch vom Laken bedeckt, der Rest des Tuches war aus dem Bett gerutscht. Unter ihrem Kinn und unter ihren Brüsten stand der Schweiß.

Gerade als sie überlegte aufzustehen, um sich mit kaltem Wasser ein wenig Linderung zu verschaffen, hörte sie wieder diese tiefe Stimme mit dem angenehmen Timbre, die ihren Namen rief. Gleichzeitig war von oben ein leises Poltern zu vernehmen, als wäre jemand gegen einen Stuhl gestoßen.

Aber das konnte gar nicht sein. Über ihr war der Dachboden. Dort wohnte niemand. Außer Staub und Spinnweben gab es dort auch nichts, wogegen jemand hätte stoßen können. Während sie noch über eine Alternative nachdachte, rumpelte es erneut, und sie hätte schwören können, dass ein Mann ihren Namen gerufen hatte.

Sie fühlte sich jetzt hellwach, und da sie keine ängstliche Natur war, wollte sie dieser merkwürdigen Sache sofort auf den Grund gehen.


Im Bad zog sie ihre Jogginghose an, nahm ihre roten Sneakers vom Balkon und schlüpfte hinein. Sie ersparte sich das Zubinden. Die Schnürsenkel stopfte sie einfach seitlich in die Schuhe. Dann schlich sie sich aus ihrer Wohnung und ging leise bis zum Ende des Flures, wo sich in der Decke die Luke zum Dachboden befand.

Lisa musste sich ein wenig strecken, um die Öffnungskette greifen zu können.

Vorsichtig zog sie daran, die Luke schwenkte nach unten und die Metallleiter sank quietschend und ruckelnd vor ihre Füße. Bevor sie hinauf ging, lauschte sie ins Treppenhaus – doch alles war ruhig. Niemand im Haus schien sich gestört zu fühlen. Als ihr Fuß die erste Stufe berührte, kamen von oben erneut Geräusche.

Diesmal glaubte sie Schritte gehört zu haben.


Als Angst würde sie das ungewohnte Gefühl, das sie in diesem Moment überkam, nicht bezeichnen, aber ihr Puls legte an Tempo zu. Doch mutig und voller Neugier kletterte sie an der herabhängenden Leiter hoch. Ein angenehm kühler, betörend duftender Hauch erreichte ihre Nase. Sie zog sich an den Rändern der Luke hoch und schlüpfte mit pochendem Herzen auf den Dachboden. Der niedrige, nach oben spitz zulaufende Raum war in ein diffuses, türkisfarbenes Licht getaucht.


Lisa war wie in Trance, als sich langsam eine Gestalt, wie aus einem Nebel heraus auf sie zu bewegte. Furcht jedoch empfand sie immer noch nicht. Im Gegenteil, sie fühlte sich tief in ihrem Inneren zu dem Unbekannten hingezogen.

Ein Lächeln lag auf ihren zarten, jugendlichen Zügen, als sie seine Stimme hörte: „Lisa, meine geliebte Jungfrau.“

Die fremde Gestalt kam langsam auf sie zu.

Sie sah nicht den Dämon, der er war, nackt, einen Kopf kleiner als sie. Seine grünlich schimmernde, schuppige Haut war von tiefen Narben entstellt. In ihren Augen war er in diesem Augenblick der Prinz aus ihren Träumen. Der Ritter und Held, der sie auf sein stolzes Ross hinaufzog und mit ihr in den Sonnenuntergang ritt.


Das Wesen umarmte sie mit seinen muskulösen Armen, deren Oberfläche von warzigen Furchen durchzogen war, und sie küssten sich voller Leidenschaft.

Ohne von ihr zu lassen, zog er sie unter eines der Dachfenster, welches durch Ruß und Staub getrübt, nur einen Schimmer des Vollmondlichtes hindurch ließ.

Er öffnete den Riegel des Dachfensters und ließ es herunterklappen. Einander an den Händen haltend, schwebten beide Körper durch den eigentlich viel zu engen Durchlass hinaus in die schmeichelnde Atmosphäre dieser magischen Nacht.

Sanft legte er Lisa auf die Ziegel. Deren unebene Form und die Neigung des Daches waren für das Mädchen nicht vorhanden. Sie war völlig dem Zauber dieses Nachtwesens erlegen, und glaubte sich auf weichem Moos gebettet, mitten in einem lichtdurchfluteten Wald.
Mit flinken Klauen entkleidete er das Mädchen, ohne dass es ihm Widerstand entgegen gebracht hätte. Lisa schloss lächelnd ihre Augen und öffnete ihren Schoß.
„Lisa, meine schöne Jungfrau. Heute Nacht gehörst du mir“, raunte ihr der Dämon ins Ohr.

Als Lisa am Morgen erwachte, fröstelte sie. Das Laken lag vollständig auf dem Boden. Trotz Vollmond und tropischer Nachttemperaturen fühlte sie sich ausgeschlafen und voller Energie. Da sich ihre Blase meldete, stand sie auf und ging zur Toilette.

Bilder eines Traumes der letzten Nacht stiegen in ihr auf und sie musste lächeln.

Der große, gut aussehende Typ hatte nicht lange gefackelt und sie hatten sich auf einer kleinen, moosbewachsenen Waldlichtung geliebt. Wieder und wieder hatte er sie, wie in einem Rausch, von einem Höhepunkt zum nächsten getrieben.


Lisa seufzte. Ja, ein schöner Traum. Aber diesen Helden gab es in ihrem wirklichen Leben nicht – noch nicht. Für einen One-night-stand war sie sich zu schade, und außerdem war sie viel zu wählerisch, um sich Hals über Kopf mit einem der Männer aus ihrem Umfeld einzulassen.
Später, als sie geduscht und angezogen war, wollte sie ihre Sneakers vom Balkon holen. Doch sie waren verschwunden.

Die Schuhe, die ein paar Meter über ihr auf dem Dach lagen, hätten ihr sagen können, dass Träume nicht immer nur Schäume sind.

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2016

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