Ich kann heute nicht mehr sagen, warum ich mich zu der Fahrt überreden ließ. Ich war noch nicht lange Mitglied, und es war mein erster Busausflug mit dem Wanderverein.
Wie dem auch sei, es war am Samstag vor dem 3. Advent. Die gesamte Woche über hatte es geschneit und auch an jenem Tag hingen schwere, dunkelgraue Wolken am Himmel. Der Wetterbericht sagte weitere Schneefälle für den Nachmittag vorher. Das gefiel mir gar nicht, aber ich hatte die Fahrtkosten schon vor drei Monaten bezahlt – nun musste ich da durch.
Unsere Reisegruppe bestand aus zwölf Männern und Frauen, allesamt im Rentenalter. Morgens gegen halb Acht bestiegen wir den kleinen Bus, der uns zu unserem Ausflugsziel brachte, dem Naturschutzgebiet "Waldenfelser Höhe".
Das Schicksal wollte es, dass der pensionierte Sparkassen-Filialleiter Kellermann mein Sitznachbar war. Ein nerviger, angeberischer Witwer. Ich kannte ihn nur vom Wegschauen, aber bis zu unserer Ankunft, hatte sich mein Urteil über diesen Menschen verfestigt.
Kellermann redete wie ein Wasserfall. Über den teuren Umbau seiner Vorstadtvilla, über seinen Australienurlaub im vergangenen Sommer und über seine sündhaft teure digitale Spiegelreflex-Kamera, deren Vorzüge er mir in einem nicht enden wollenden Vortrag erklärte.
"Die Fotos, die ich damit mache, sind so scharf, dafür bräuchte ich nen Waffenschein, ha, ha."
Dagegen konnte ich mit meiner Smartphonekamera nicht anstinken.
Kellermann roch nach einem sicher teuren Rasierwasser und seine gebleachten Zähne strahlten aus seinem solariumgebräunten Gesicht wie der Vollmond aus tiefschwarzem Himmel.
"Ich war bereits mehrmals privat im Waldenfels“, prahlte er. "Da gibt es übrigens eine ganz interessante Stelle, von wo aus man einen herrlichen Blick in die Höllenschlucht hat. Etwas versteckt, aber ich zeig Sie Ihnen. Wir setzen uns einfach klammheimlich ab, ha, ha."
Kannst du nicht vorher einen Herzinfarkt bekommen? dachte ich, grinste aber nur stumm und nickte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, steuerte der Busfahrer den Parkplatz an, von wo aus mehrere Wanderwege abzweigten, die durch das Naturschutzgebiet führten. Fieberhaft überlegte ich, wie ich meinem unsympathischen Nebenmann elegant entkommen könnte. Aber bei einer so kleinen, übersichtlichen Gruppe wie wir es waren, schien mir eine Flucht unmöglich.
Wir stiegen aus und blieben am Bus stehen, weil Willi Becker, der Vorsitzende unseres Wanderclubs, mit den Armen wedelte, als wolle er eine Armada von Stechmücken vertreiben.
„Hört mal her Leute“ rief er. „Bevor wir uns auf den Weg machen, haben wir noch ne Viertelstunde Zeit, um einen Happen zu essen. Die nächste Pause ist dann erst oben, am Aussichtspunkt. Das wird in etwa zwei Stunden sein, wir sind ja alle nicht mehr die Jüngsten.“
Wenn jemand von uns zwei Stunden bis nach oben braucht, dachte ich, dann wirst du das nicht sein – du brauchst drei. Willi Becker stand dämlich grinsend neben der Tür des Busses und öffnete eine Flasche Weizenbier. Sein hellbrauner, speckiger Wildledermantel spannte über seinem enormen Bauch, wie ein Flitzbogen kurz vorm Schuss.
„Ich finde, er wirkt nicht gerade repräsentativ für einen Wanderclubvorsitzenden“, flüsterte mir Kellermann ins Ohr und klopfte mit einer übertriebenen Geste demonstrativ mit einer Hand auf seinen nicht vorhandenen Bauch.
Ich nickte stumm. Er hatte Recht, aber das musste ich ja nicht auch noch mit Worten bestätigen.
„Na, ja, im nächsten April sind ja wieder Vorstandswahlen“, raunte Kellermann und zwinkerte mir konspirativ zu. Ich tat so, als hätte ich nicht zugehört.
Im Falle eines Falles, beruhigte ich mich, muss ich zum Wandern nicht unbedingt Mitglied dieses Vereines sein. In Anbetracht eines möglichen Wahlsieges von Kellermann erst recht nicht.
Noch während ich mich fragte, ob ich diesen Angeber nun den ganzen Tag an der Backe haben würde, sah ich plötzlich Licht am Ende des Tunnels. Aus dem Augenwinkel erblickte ich eine Person auf mich und Kellermann zustreben, der ich meine Rettung voll und ganz zutraute.
Regine Schwirtz, eine attraktive Mittfünfzigerin mit ausladender Oberweite, hakte sich mit einem unschuldigen Lächeln bei Kellermann ein und drückte ihm ihre linke Brust, natürlich völlig unabsichtlich, gegen den Oberarm.
„Na, ist das nicht ein herrliches Wetterchen, um seinem Körper mal etwas Gutes zu tun?“, schnurrte sie wie ein Kätzchen.
Kellermann lächelte überrascht und hob die Augenbrauen. Doch bevor er noch etwas sagen konnte,
war die Stimme von Herrn Schwirtz zu hören: „Regine! Komm, wir wollen nicht als Letzte hier weg kommen!“
Als wir uns zu ihm umdrehten, war er auch schon bis auf einen Schritt an seine Frau heran und zog sie am Arm von Kellermann weg. „Tach, die Herren“, grunzte er, und in seinem Gesicht konnte man lesen, dass er eine solche Situation schon des Öfteren entschärfen musste. Frau Schwirtz machte eine bedauernde Geste und löste sich offensichtlich genervt von ihrem Opfer.
„Bis später“, rief sie und ich war meiner kurzen Illusion beraubt.
„Ein temperamentvolles Persönchen“, sagte Kellermann und sah den beiden nach.
„Ist nicht mein Typ“, maulte ich enttäuscht und hörte Willi Becker rufen, der gerade dabei war, die leere Weizenbierflasche in seinem Rucksack zu verstauen. „Auf Kinder, es geht los! Und denkt an die Regeln, bleibt zusammen. Nicht dass wieder jemand mit dem Taxi nach Hause muss. Nicht wahr, Herr Kellermann?“
Der Angesprochene grinste Becker lässig an, hob den Daumen und wandte sich wieder mir zu.
„So? Wie muss denn die Frau sein, die Herrn Grabulskis Typ entspricht?“
Kellermann schaute mich an. Sein Blick war herablassend und gönnerhaft.
Ich dachte kurz nach, um dann zu antworten: „Anders als der Kellermann-Typ, könnt ich mir denken. Lange, schlanke Beine, kleine, feste Titten, schwarze Haare und rund um die Uhr rattig.“
Triumphierend grinste ich ihm ins Gesicht.
„Mensch Grabulski!“, sagte er übertrieben laut.
„Wer hätte das gedacht? Da sind wir ja auf einer Linie.“ Dabei schlug er mir auf die Schulter, als hätten wir uns in der Kita die Windeln geteilt.
Eine Linie? Dann gehen wir aber in verschiedene Richtungen, dachte ich und wollte mich in die Gruppe schmuggeln, die sich nun ohne Hast auf den Weg machte.
„Langsam“, sagte er und griff nach meinem Arm. „Lassen wir der Herde einen Vorsprung. Wir wollen uns doch oben abseilen.“
Ich hob resignierend die Augenbrauen und wir stapften mit einem Abstand von etwa zehn Metern hinterher.
„Sagen Sie“, begann er nach einer halben Minute Klappehalten. „Sie sind doch damals auch auf tragische Weise Witwer geworden.“
Und als ich nicht gleich antwortete: „Ist Ihre Frau nicht damals auf der Kreuzfahrt von Bord gesprungen?“
Was willst du hören?, dachte ich. Sollte ich sagen, dass ich darüber nicht reden will, überlegte ich, entschloss mich aber, mich an meine Aussage bei der Polizei zu erinnern.
„Nein, sie ist wohl nicht gesprungen, um elend in der Donau zu ertrinken. Sie hatte den ganzen Tag über schon reichlich dem Alkohol zugesprochen“, erklärte ich. „Ich ebenfalls, deshalb ging ich früh zu Bett. Sie hatte, so die Rekonstruktion der Polizei, nachdem ich eingeschlafen war, in unserer Kabine noch fast eine ganze Flasche Wein alleine getrunken und ist dann nach oben an Deck, wo sie ohne Einfluss von außen über die Reling gestürzt war.“
„Das muss am andern Morgen ja ein Riesenschock für Sie gewesen sein“, sagte Kellermann und sah mich an. Seine Miene zeigte mitfühlende Bestürzung, aber in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er mir nicht glaubte.
„Das war es, gewiss“, antwortete ich und überlegte, was ihm Grund zum zweifeln geben könnte.
„Wie lange ist das jetzt her?“, fragte er.
„Nächsten Sommer vier Jahre.“
„Ja, die Zeit vergeht“, sagte er und reckte seinen Schädel, als suche er jemanden in der Gruppe, die sich immer noch ein gutes Stück vor uns ihren Weg durch den verschneiten Winterwald bahnte.
„Da vorne, nach der nächsten Biegung führt rechts ein Trampelpfad duch die Tannen. Da setzen wir uns ab. Dann sind es noch zehn Minuten bis zum Rand der Höllenschlucht. Einen traumhaften Blick haben wir von dort und können die gesamte Schlucht überblicken. Die Stelle ist zwar nicht gesichert, aber wir werden sensationelle Fotos machen können, sag ich Ihnen.“
„Ah, gut“, sagte ich. Mir ging sein Blick von vorhin nicht aus dem Kopf. Weiß er was? Reimt er sich nur was zusammen? Warum will er mich unbedingt von der Gruppe trennen? Ich sollte auf der Hut sein.
Zwanzig Minuten später standen wir am Rand der Höllenschlucht. Kellermann hatte Recht. Es bot sich uns ein grandioser Blick über die gesamte Schlucht, deren Grund geschätzte siebzig Meter senkrecht unter uns lag. Ohne Absperrung, ohne Geländer. Er hielt seine Digitalkamera mit einem verzückten Lächeln vor sein Gesicht und schoss Foto auf Foto. Ich tat das gleiche mit meinem Smartphone. Aber meine Gedanken waren woanders.
„Bleiben Sie mal kurz da stehen“, sagte ich und ging ein paar Schritte von der Schlucht weg.
„Ich mache ein, zwei Fotos. Zur Erinnerung.“
„Okay, wenn Sie meinen“, sagte er und drehte sich in meine Richtung. Sein abschätziges Lächeln beim Blick auf mein Handy störte mich nun nicht mehr.
„Ich mache auch von Ihnen ein paar“, sagte er und fummelte an seiner Kamera herum, nachdem ich mein Handy in die Manteltasche gesteckt hatte.
Ich ging auf ihn zu und hörte überraschenderweise keinen Laut von ihm, als er in der nächsten Sekunde wie ein Stein in die Schlucht hinab fiel.
Es schneite so arg, dass man den Waldrand nur noch erahnen konnte, als mich die ausgelassen lachende und plappernde Gruppe beim Bus auf dem Parkplatz erreichte.
„Hat jemand den Herrn Kellermann gesehen?“, fragte ich mit gespielter Sorge in die Menge.
„Wenn er nicht in fünf Minuten hier ist, fahren wir ohne ihn nach Hause“, antwortete der Becker Willi verärgert. „Es hätte mich auch gewundert, wenn er sich heute mal an die Regeln gehalten hätte.“
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2016
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