Grabulski und Herrn Peilmanns letale Uneinsichtigkeit
Unsere Apotheke hat geschlossen.
Ich finde es nicht nett, das neue Jahr so zu beginnen.
Der Wahrheit halber muss ich jedoch erwähnen, dass Herr Peilmann, der Apotheker, zunächst guten Willens war, und gegen 9 Uhr seinen Laden aufgeschlossen hatte, wie immer von montags bis freitags.
Kurz darauf ist es aber zu einem Zwischenfall gekommen, der seine Frau dazu bewog, die Tür wieder abzuschließen. Die Uneinsichtigkeit ihres Ehemannes trägt daran die Hauptschuld.
Bereits geraume Zeit vor Silvester war klar, dass das alte Jahr bald zu Ende ist, und somit auch der alte Kalender nicht mehr von Nutzen sein wird. Das sah Herr Peilmann genau so, weshalb er vorausschauender Weise seiner Stammkundschaft, zu der auch ich mich zählen kann, schon Anfang Dezember kostenlos neue Kalender zur Verfügung stellte. Man konnte sogar zwischen zwei verschiedenen Ausführungen wählen. Es standen zur Auswahl ein rechteckiger Monatskalender, der in der oberen Hälfte eine schöne Blume zeigte und darunter waren die Tage des jeweiligen Monats verzeichnet. Der andere war im länglichen Format, mit dem Abdruck von Bildern naiver Maler im oberen Drittel und darunter die Tage.
Nach kurzer Überlegung entschloss ich mich für die zweite Variante, da sie mir mit dem Muster meiner Wohnzimmertapete am besten zu harmonieren schien.
Bereits am Silvesterabend hatte ich den alten Kalender mit dem neuen getauscht.
Ich weiß nicht mehr, was mich dabei plötzlich auf den Gedanken brachte, meine Hausapotheke nach Medikamenten zu durchforsten, die ich auf ärztliches Anraten nicht mehr nehmen durfte, oder deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Jedenfalls begann ich, es war wohl etwa so gegen 23Uhr30, mit dem Aussortieren.
Ich fand tatsächlich vier Medikamentenschachteln, die ich Herrn Apotheker Peilmann zum Vernichten, oder zum Weiterverkauf nach Afrika zurückbringen wollte. Man wirft ja schließlich keine Medikamente ins Klo. Als ich die vier Schachteln in eine Plastiktüte legte, fiel mir der nicht mehr aktuelle Kalender ein, den ich im vorigen Jahr von Herrn Peilmann geschenkt bekam. Also legte ich ihn zu den abgelaufenen Pillen. Denn eines ist ja wohl logisch: alles, was man von der Apotheke mit nach Hause brachte, und das nicht mehr brauchbar war, muss man auch dahin zurück bringen, damit es seiner gesetzmäßigen Weiterverwertung zugeführt werden konnte.
Noch bevor die Kirchenglocken um Mitternacht das erste Bim erschallen ließen, machten die Raketen draußen bam. Ich hing die Tüte an die Garderobe, goss mir einen Whisky ein und trank ihn auf das neue Jahr in einem Zuge aus. Das würde Doktor Milkötter zwar nicht gerade freuen wenn er es erführe, aber der weilte, wie jedes Jahr um diese Zeit, in seinem Ferienhaus auf Lanzarote und konnte mir den Buckel runter rutschen.
Heute ist der erste Arbeitstag im neuen Jahr. Jedenfalls für alle, die keinen Urlaub haben, oder wie ich Rentner sind.
Und so stand ich also pünktlich um 9 Uhr vor der Apothekentür und durfte als erster Kunde Herrn Peilmann ein frohes, neues Jahr wünschen.
Der Apotheker ist ein freundlicher Mann, Anfang fünfzig, klein und drahtig, mit keinem Gramm Fett zu viel auf den Rippen. Er begrüßte mich mit einem festen Händedruck und fragte mich lächelnd, ob ich gut ins neue Jahr gerutscht sei.
„Ja, das bin ich. Wie jedes Jahr“, sagte ich und legte meine Tüte auf seine Theke.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er, immer noch freundlich lächelnd.
Ich erklärte ihm, dass ich ein paar alte Medikamente zurückbrächte, die man ja schließlich nicht so einfach ins Klo schütten dürfe. Herr Peilmann nahm die Tüte und schaute hinein. Er kräuselte die Stirn und leerte den Inhalt der Tüte auf seine Theke. Konzentriert schob er die vier Schachteln auseinander und drehte sie so, dass er die Aufschrift lesen konnte. Dann nahm er den alten Kalender in die Hand, und schaute mich mit hochgezogenen Brauen fragend an.
„Den haben Sie wohl versehentlich da rein getan“, sagte er, und seine blaugrauen Augen lächelten mich hinter seinen blankgeputzten Brillengläsern an.
„Nein“, sagte ich. „Absichtlich.“
„Sie wollen mir den doch wohl nicht auch zurückgeben wie Ihre Medikamente, Herr Grabulski?“
„Aber natürlich. Was aus der Apotheke ist, und nicht mehr benötigt wird, muss doch auch wieder dahin zurück“, sagte ich.
„Stellen Sie sich einmal vor, Herr Grabulski, wenn mir jeder Kunde sein Altpapier zurückbrächte. Wofür gibt es denn schließlich die blaue Tonne?“
Die anschließende, immer lauter geführte Diskussion möchte ich hier nicht wiedergeben, denn es fielen viele unschöne Worte und sie gipfelte darin, dass ich Herrn Peilmann den alten Kalender heftig um die Ohren schlug.
So heftig, dass ihm seine gewiss teure, goldumrandete Brille von der Nase flog. In ein Regal, wo sie hinter einem Stapel "Gastrowohl"-Tabletten, die gegen Sodbrennen wirklich helfen, klirrend verschwand.
Das brachte den sonst so ausgeglichen wirkenden Herrn Peilmann derart in Rage, dass er hinter seiner Theke hervor sprintete, die Eingangstür aufriss, und mich mit den Worten:
„Raus hier, aber sofort!“, verabschieden wollte.
Dass der Apotheker wegen eines läppischen, alten Kalenders so unprofessionell reagierte, verschlug mir die Sprache. Und während ich noch nach Argumenten suchte, erblickte ich den stabilen Acrylständer mit den "Anginoflott"-Halsschmerzpastillen, der auf der Theke stand. Mit einer blitzschnellen Handbewegung ergriff ich ihn und platzierte ihn mit einem herzhaften Schwung auf Herrn Peilmanns brillenfreien Kopf.
Wie sich später herausstellen sollte, rührte der damit einhergehende Knacklaut nicht von dem stabilen Acryl, sondern von Herrn Peilmanns Schädeldecke. Augenblicklich knickten seine Beine ein, wie an einer Feder gezogen.
Enttäuscht und verärgert ging ich zur Theke, nahm meine leere Plastiktüte, und verließ wortlos Herrn Peilmanns Refugium.
Und ich bin mir sicher, dass ich diesen Ort im neuen Jahr nicht mehr betreten werde.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2016
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