„Grabulski! Du sollst sofort zur Ackermann!“
Meier schrie gegen den Lärm der Verpackungsmaschinen an.
„Mann!“, schrie ich zurück. „Was will die denn von mir?“
„Musst du sie selber fragen. Vielleicht will sie deinen Weihnachtsurlaub verlängern.“
Meier grinste schief und war auch schon um die Ecke mit seinem Stapler.
Das fehlte mir gerade noch, dachte ich, dass sie mir an meinem Urlaub herum schnippelt.
Ich klopfte an, sie rief: „Herein!“
Im Büro der Personalchefin duftete es nach frisch gebrühtem Kaffee.
Auf ihrem aufgeräumten Schreibtisch stand eine halbvolle Tasse.
Stumm zeigte sie auf den Gästestuhl, griff nach einem Ordner und schlug ihn auf.
Das ist nicht der Urlaubsplaner, dachte ich, und wusste sofort, dass etwas Unerfreuliches im Busch war.
Bedächtig schob sie ihre Brille zurecht. Ihr hohlwangiges Gesicht verriet keine Regung.
„Herr Grabulski“, begann sie.
Aha, dachte ich, Kaffee kriegste keinen.
„Wie Ihnen sicherlich zu Ohren gekommen ist, sind unsere Kapazitäten seit mehr als einem Jahr nicht ausgelastet.“
Ach, du Scheiße... Ich ahnte Böses.
„Da sich die Lage in absehbarer Zeit nicht zum Positiven ändern wird, haben wir uns nach reiflicher Überlegung und in Absprache mit dem Betriebsrat, schweren Herzens dazu durchgerungen, Ihren Arbeitsvertrag zu kündigen.“
„Aber...wieso...“, stotterte ich.
„Es ist ja auch so, dass Sie, nach dem bedauerlichen Tod Ihrer Gemahlin, gesundheitlich angeschlagen und bis heute anscheinend noch nicht ganz wieder auf der Höhe sind.“
„Aber...“
„Schauen Sie, Sie haben alleine im letzten Halbjahr vier Krankenscheine gehabt, mit insgesamt sechzig Fehltagen. Sie müssen auch uns verstehen, denn die Kosten...“
Ich sprang auf und rannte aus dem Büro. Ich wollte nur noch raus aus diesem Saftladen.
Das wars dann also. Einfach rausgeschmissen, nachdem ich mir jahrelang im Schichtdienst den Arsch für die aufgerissen hatte.
Ich fuhr zu meinem Hausarzt und ließ mich krank schreiben. Als ich nach Hause kam, griff ich in den Briefkasten. Und wenns mal knallt, dann richtig. Meine Bank beschwerte sich, dass sie mehrfach Überweisungen stornieren musste, da mein Dispo ständig auf Oberkante Unterlippe stand. Nun war die Kacke also richtig am Dampfen, und das wenige Wochen vor Weihnachten.
Ich startete die Kaffeemaschine und setzte mich mit der Zeitung an den Küchentisch.
In den Stellenanzeigen fokussierte sich mein Blick auf diese Anzeige:
Sind sie ein Mann? Brauchen Sie Geld? Haben Sie Zeit? Dann lesen Sie weiter!
Und ich las. Es wurden Männer gesucht, die in der Adventszeit den Weihnachtsmann spielten. Auf Betriebsfeiern, bei Vereinsfesten, in Altenheimen und für Familien.
Ich überlegte nicht lange und rief bei der Agentur an. In wenigen Tagen war der 1. Advent und irgendwie musste ja Geld ins Haus.
Einen Tag später hatte ich den Job und ein Weihnachtsmannkostüm mit allem Pipapo. Leider stellten sie kein Auto zur Verfügung – aber man kann ja nicht alles haben.
Zwei Wochen lang lief alles bestens. Ein bisschen „Ho Ho Ho“, Geschenke aus dem Sack und Abmarsch.
Dann aber verschlechterte sich das Wetter und auch meine Laune. Seit Tagen schneite es, als wäre es im nächsten Jahr verboten, und die Temperaturen stiegen auch tagsüber nicht über den Gefrierpunkt. Dazu kam, dass meine Einsatzorte teils mehr als fünfzig Kilometer von zu Hause weg lagen.
Eines späten Abends war ich auf der Heimfahrt von einem Weiler im Nirgendwo. Die Familie, bei der ich meinen Job machte, war so begeistert von meinem Auftritt, dass ich mit Kind und Kegel, Opa, Oma, Tanten, Onkel, Hund und Katz zu Fotos gezwungen wurde.
Endlich stieg ich mit entsprechend mieser Laune im kompletten Kostüm, mit Polyesterbart, Perücke und Mütze in mein arschkaltes Vehikel. Es waren zehn Grad unter null. Der Wind, der über die völlig verschneiten Felder links und rechts der Straße pfiff, trieb Schneefahnen vor sich her. Die schmale Landstraße glitzerte verdächtig im Scheinwerferlicht. Schneller als dreißig war nicht drin. Mir kam schon seit ner halben Stunde niemand mehr entgegen. Hinter mir und vor mir Dunkelheit und Stille. Wer riskierte in so einer Nacht am Arsch der Welt auch schon gern sein Leben mit Autofahren.
Doch plötzlich. In der Ferne blinkte es am rechten Straßenrand, und beim Näherkommen erkannte ich, dass da jemand eine Panne hatte. Ich bremste vorsichtig ab und hielt an. Trotz Verärgerung ist man ja schließlich auch Mensch. Als ich auf das Pannenauto zuging, öffnete sich dessen Fahrertür und ich kam auf dem glatten Asphalt ins Schlingern. Vera Ackermann!
Da standen ihre mageren, hundertsiebzig Zentimeter wie ein Gespenst in dunkler Nacht. Die blinkenden Warnleuchten der beiden Autos unterstrichen diese Wahrnehmung eindrucksvoll.
„Oh, und ich dachte schon, ich müsste die ganze Nacht im Wagen verbringen“, flötete sie. An ihren blondierten Haaren zerrte der Wind.
Ich bemerkte, dass sie in ihrem silbernen, dünnen Jäckchen über dem knöchellangen Kleid, zitterte wie ein Aal.
Und ich bemerkte noch etwas: sie erkannte mich nicht. Und das fand ich zutiefst beruhigend.
„Der Weihnachtsmann wirds schon richten“, sagte ich mit weihnachtsmännisch tiefer Stimme. „Lassen Sie mal sehen.“
In meinem Kopf war ein böses Stimmchen der Meinung, dass Rache schöner ist als Blutwurst.
Ich drehte den Zündschlüssel und das Display im Armaturenbrett verriet, warum sie hier stand.
„Der Tank ist leer“, brummte ich.
„Oh, was machen wir denn da?“, piepste die Monroe für Arme.
„Wo müssen Sie denn hin?“
„Nach Tussendorf. Da wohne ich.“
Ich weiß, du Schnepfe, dachte ich. Der Plan für meine Retourkutsche nahm in meinem Kopf Gestalt an.
„Da haben Sie ja Glück. Das ist auch meine Richtung. Kommen Sie, verschließen Sie Ihr Auto. Machen wir, dass wir hier wegkommen. Sie erfrieren ja.“
„Das ist überaus freundlich“, gackerte sie „Ich hole nur kurz meine Handtasche.“
Hol dich der Teufel, dachte ich und hielt ihr ganz gentlemanlike meine Beifahrertür auf. Wir fuhren los, und ich drehte freundlich, wie es meine Art ist, die Heizung etwas höher.
„Dass mich heute der Nikolaus in seinem Schlitten mitnehmen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagte sie und hielt die Handtasche auf ihrem Schoß mit beiden Händen fest.
„Der Weihnachtsmann“, korrigierte ich sie und dachte, du traust mir wohl nicht. Und das solltest du auch nicht. Nur ist mir deine Handtasche so egal wie dir mein Leben.
Sie überhörte meinen Einwand und erzählte, dass sie von der Weihnachtsfeier ihrer Firma komme und mal wieder viel zu viel gegessen habe.
Noch nicht einmal dazu habt ihr mich eingeladen, ihr Penner, dachte ich und legte gedanklich in meinem Rachepuzzle das letzte Steinchen ins letzte Loch.
„Da kann ich Ihnen helfen. Schauen Sie mal ins Handschuhfach. Da finden Sie eine kleine Flasche selbst gebrannten Kräuterschnaps von meinem Schwiegervater. Der hilft garantiert bei Verdauungsproblemen, und macht warm von innen heraus.“
Sie nahm meinen Vorschlag an und entkorkte zögernd das Fläschchen.
„Ach, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Vera Ackermann ist mein Name.“
„Angenehm“, log ich. „Nennen Sie mich einfach Nick, ha ha.“
„Hallo Nick“, sagte sie und trank. Zuerst vorsichtig, dann nahm sie zwei große Schlucke hintereinander.
Ja, dachte ich zufrieden. Schmecken tut die Brühe, aber wehe wenn die Wirkung eintritt.
Vor Jahren bekam ich das Zeug von meinem Schwiegervater geschenkt. Es dauerte noch keine dreißig Minuten nachdem ich Tage danach ein Gläschen davon intus hatte, als ich für ne Stunde nicht mehr von der Toilette kam. Ich hatte den Inhalt der restlichen Flaschen erfolgreich dazu benutzt, den verstopften Ausguss am Spülbecken frei zu bekommen. Nur diese eine, die ich für den Notfall ins Handschuhfach gelegt hatte, bevor mir die Wirkung des Gesöffs bekannt war, hatte ich vergessen zu entsorgen. Und damit erwies sich das Schicksal mal wieder schlauer als ich, wofür ich ihm in diesem Moment sehr dankbar war. Ich grinste hinter meinem Plastikbart und begriff, dass das Gefühl, das sich in mir ausbreitete, das wahrhaft weihnachtliche sein musste.
Als ich bemerkte, dass sich meine Begleitung mit der Hand über die Stirn wischte, sagte ich fürsorglich:
„Soll ich die Heizung etwas niedriger stellen?“
„Ja, das wäre nett. Ich glaube, der Schnaps wirkt bereits.“
„Da habe ich nicht zu viel versprochen“, antwortete ich und drehte die Heizung ab.
Die nächsten Minuten, während wir uns im Schneckentempo auf eine größere Ansammlung von Bäumen zu beiden Straßenseiten zu bewegten, schwiegen wir. Das einzige Geräusch, das neben dem Brummen des Motors zu hören war, rührte aus der Darmmotorik der Frau Ackermann. Sie begann plötzlich nervös auf ihrem Sitz hin und her zu rutschen, was mir signalisierte, dass mein Plan genial war.
Die Straße führte nun durch das Wäldchen, als sie mir ihre Hand auf den Arm legte.
„Bitte“, kam es gequält aus ihrem Mund. „Halten Sie doch kurz hier an. Ich muss dringend raus. Ihr Schnaps...oh...bitte...schnell!“
„Aber natürlich“, sagte ich so mitfühlend wie ich konnte.
Da hatte sie ihre Handtasche bereits vor ihren Füßen abgestellt und den Sicherheitsgurt gelöst. Noch bevor der Wagen völlig zum Stillstand gekommen war, hatte sie die Tür aufgerissen und war raus gesprungen. Sie versuchte, auf die Bäume zuzulaufen, als ihr Schritt ins Leere ging und sie mit einem Aufschrei auf ihre viel zu stark geschminkte Fresse fiel. Kein Problem, denn der hohe Schnee zwischen Straße und Waldrand wirkte wie ein Polster. Sie war auch wie der Blitz wieder auf ihren dünnen Beinchen und verschwand im Dunkel zwischen den Bäumen.
Ohne zu zögern gab ich Gas und fuhr zufrieden nach Hause.
Zwei Tage darauf rief mich mein Exkollege Meier an:
„Stell dir vor, Grabulski, ein Spaziergänger hat die Ackermann auf der Landstraße kurz vor Tussendorf erfroren aufgefunden.“
„Das wundert mich nicht“, antwortete ich. „Sie war ja schon immer ein eiskalter Drachen.“
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2016
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