"Man braucht nichts im Leben zu fürchten,
man muss nur alles verstehen."
(Marie Curie)
Wer mich kannte, bevor mein Leben im April 2015 aus der Bahn geworfen wurde, der weiß, dass ich ein lebenslustiger, froher Mensch war. Eine junge Frau Ende zwanzig, die ohne Angst zu haben - oder sollte ich besser sagen, ohne darüber nachzudenken - auch mal alleine durch den Wald spazieren ging. Ich hatte Spaß daran, zu lesen, Musik zu hören oder auch mal irgendwo hin zu fahren und dort spazieren zu gehen.
Als dann jedoch die beiden Ereignisse im April passierten, da war kaum noch was von der "alten" Jenna übrig. Ich habe mich förmlich davor gedrückt, mit anderen Personen zusammen zu sein - selbst mit der eigenen Familie. Es war einfach zu anstrengend, sich immer wieder aufs Neue zu verstellen und die Maske aufzusetzen, die einigermaßen die Person wieder spiegelte, die alle kannten.
Ich weiß noch nicht, wie weit ich ins Detail gehen werde, bei dem was mir passiert ist und vielleicht schreibe ich auch nur alles auf und lösche es danach wieder ... Aber für mich ist es ein Versuch, von dem ich mir erhoffe, dass er mir beim Verarbeiten hilft und auch ein Stück dabei, wieder die "alte" zu werden ...
Es war Donnerstag, der 16. April 2015, als ich beschlossen habe, noch mal eine Runde spazieren zu gehen. Ich wollte den Kopf frei kriegen und überlegte gar nicht lange, welche Richtung ich einschlagen sollte.
Bereits wenige Minuten später war ich unterwegs und ging schnellen Schrittes den Wanderweg entlang. Da auf dieser Strecke eigentlich immer Leute unterwegs waren, dachte ich nicht großartig nach, sondern ging in Gedanken vertieft über die Höhe.
Ich glaube, wenn ich geahnt hätte, was auf mich zu kam, wäre ich an diesem Tag nicht spazieren gegangen ... Und könnte ich die Entscheidung rückgängig machen, ich würde es ohne mit der Wimper zu zucken tun.
So ging ich jedoch einfach drauf los, den Weg entlang, immer geradeaus. Irgendwann dachte ich mir dann, dass es nun reichte, und ich kehrte um.
Da die Sonne relativ warm schien (zumindest für Mitte April) - und ich, zugegebener Maßen, auch etwas außer Puste war, ließ ich mich ungefähr auf der Hälfe des Rückweges auf einer Bank nieder. Diese stand leicht abseits des Weges und der Kreuzung von Waldweg und Straße.
Total in Gedanken ließ ich meinen Blick schweifen, bis dieser plötzlich von einer Szene ein Stück weiter gefangen wurde. Zwei junge Mädels (beide so etwa zehn Jahre alt) rannten munter den Weg entlang, kurz in den Wald und wieder zurück auf die Straße. Etwas abseits stand ein Mann, der - so kam es mir vor - die Mädels beobachtete. Zunächst zauberte mir diese Szene ein kleines Lächeln auf die Lippen und ich dachte an früher, wo ich mit meiner Schwester genauso unbeirrt herum gelaufen war.
Wann genau ich gemerkt habe, dass irgendwas nicht stimmt, kann ich heute nicht mehr sagen. Da war auf einmal dieses ungute Gefühl in meinem Bauch, eine Art innerer Alarm oder so etwas ähnliches. Zuerst wusste ich gar nicht, was dieses Gefühl ausgelöst hatte, doch dann fiel mir auf, dass die ganze Zeit über nicht der Hauch einer Kommunikation zwischen den beiden Mädels und dem Mann stattfand.
Die nächsten Minuten durchlebte ich wie als wenn ich mir selbst dabei zusah. Ich stand förmlich neben mir, war mir aber gleichzeitig bewusst, dass ich genau das tat, was ich tat.
Einem Impuls folgend stand ich von der Bank auf (und ich muss in dem Moment auch meine Sonnenbrille abgezogen haben, da diese später neben mir lag) und rief den Mädels zu: "Haut ab ihr zwei! Lauft nach Hause!" Wieso die beiden meiner Aufforderung nachkamen oder ob sie sowieso nach Hause wollten, kann ich nicht sagen. Ich sah nur, dass sie wegliefen und gleichzeitig der Mann, der bis dahin noch immer am Wegrand gestanden hatte, mit schnellen Schritten auf mich zu kam.
Ich wollte selbst auch weglaufen. Alles in mir schrie mich an, meine Tasche von der Bank zu reißen, die Beine in die Hand zu nehmen und auf dem schnellsten Weg nach Hause zu rennen. Aber ich war wie gelähmt, konnte mich nicht rühren.
Nachdem seine Faust mich getroffen hat, muss ich einen Moment wie ausgeknockt gewesen sein. Das nächste, wo ich mich dran erinnere, ist, dass ich wieder auf der Bank saß und er mein Portmonee in der Hand hielt.
"Wenn du irgendjemandem was erzählst, komme ich wieder! Ich weiß jetzt, wo du wohnst." Mit diesen Worten legte er mein Portmonee wieder neben mir auf die Bank und strich mir gleichzeitig mit einer Hand von meinem Nacken abwärts über meinen Rücken bis zu meinem Po.
Normalerweise bin ich eher selten auf den Mund gefallen, aber in dem Moment war es, als wäre jedes Wort, dass ich jemals gelernt oder aufgeschnappt hatte, einfach verschwunden. Ich war so perplex, dass ich wirklich keinen Ton herausbrachte und nicht einmal die Kraft hatte, seine Hand weg zu schlagen.
Wie lange ich noch da gesessen habe auf der Bank und einfach vor mich hingestarrt hab, kann ich absolut nicht abschätzen. Irgendwie habe ich es auf jeden Fall geschafft, mich irgendwann so weit zusammen zu reißen, dass ich wieder nach Hause gegangen bin.
Anstatt das zu tun, was jeder normale Mensch gemacht hätte, nämlich die Polizei zu rufen, schloss ich die Haustür hinter mir ab, setzte mich auf die Couch und wickelte mich in eine Decke ein. Ich überlegte, was ich machen sollte, wusste mir in dem Moment aber nicht wirklich einen Rat. Egal, was ich machte, die Stimme des Typen war noch immer in meinem Ohr. "Ich weiß jetzt, wo du wohnst ..." Diese Worte klangen immer wieder in meinem Inneren wieder und verhallten für außen ungehört ...
Erst zwei Tage später brachte ich die Kraft auf, den Unbekannten bei der Polizei anzuzeigen.
***
Am darauf folgenden Montag, also gerade einmal vier Tage nach dem Vorfall beim Spaziergang, fiel mir abends auf, dass unsere Tulpen die Köpfe hängen ließen. Außerdem lagen noch mehrere alte Zeitungen im Wohnzimmer herum und so beschloss ich, auch wenn in wenigen Minuten "Wer wird Millionär?" anfangen sollte, noch schnell den Müll nach draußen zu befördern.
Gedacht - getan. Wenig später landeten die Tulpen in der Biotonne und ich trug die Vasen zurück in die Küche. Da ich die Vasen nur ausspülen und danach noch die alten Zeitungen rausbrinen wollte, ließ ich die Haustür für den Moment offen (was ich vorher auch schon oft so gemacht habe).
Nachdem auch die alten Zeitungen in der entsprechenden Tonne gelandet waren, freute ich mich auf einen gemütlichen Fernsehabend und freute mich bereits wieder darauf, wenn Daisy es sich auf meinem Bauch bequem machen würde. Zwar fiel mir auf, dass die Wohnzimmertür nur angelehnt war, ich schob den Gedanken jedoch sofort beiseite, da es auch schon mal vorkam, dass diese nahezu geschlossen war, wenn Daisy und Jule (unsere beiden Katzen) durch die Wohnung tobten.
Ich hatte gerade zwei oder drei Schritte ins Wohnzimmer gemacht, als sich plötzlich eine Hand über meinen Mund legte und ich auch schon nach hinten und in Richtung Boden gezogen wurde.
Die folgenden Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, möchte ich an dieser Stelle nicht näher beschreiben. Nur so viel: Ich wünsche diese "Erfahrung" niemandem und ich war - und bin es auch immer noch - froh, dass er seinen Schwanz in der Hose behielt und "nur" seine Finger benutzte.
Als er endlich von mir abgelassen und wieder verschwunden war, blieb ich noch eine Weile reglos auf dem Boden liegen. Wenn ich ehrlich bin, fand ich nur wieder ins Hier und Jetzt zurück, weil Daisy mich sanft mit ihrem Pfötchen anstupste, fast so, als wenn sie sagen wollte "Hey, was liegst du denn hier auf dem Boden?". Ich rappelte mich auf, zog mir das Klebeband vom Mund, ging zum Telefon und rief als erstes die Polizei und anschließend meinen Freund auf der Arbeit an.
Diese trafen gleichzeitig eine gefühlte Ewigkeit später bei uns zuhause ein. Sofort ging die Fragerei los, dass ich in dem Moment (und in Gegenwart dreier Männer) total überfordert war, irgendwelche Fakten zusammen zu kriegen, traute ich mich nicht zu sagen.
*** Fortsetzung folgt ***
Texte: Jenna Killby
Bildmaterialien: Jenna Killby
Lektorat: Jenna Killby
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2016
Alle Rechte vorbehalten