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Prolog

Prolog

 

 

Ich ging eine dunkle Straße lang. Es regnete stark und ich rutsche fast vom Bordstein, als ich die Straße überqueren wollte. Ich wusste genau wohin ich wollte und hatte das Ziel direkt im Blick auch wenn meine Beine es nicht so nahmen. Meine Beine hatten das ganz natürliche Ziel, wegzugehen, wegzulaufen oder noch viel natürlicher: zu rennen! Es drohte Gefahr und sie drohte nicht nur, sie würde ganz sicher kommen, ohne Wenn und Aber. Ich durfte nicht weggehen, dass würde ich mir nicht verzeihen, denn so eine fantastische Gelegenheit würde ich nie wieder bekommen und sie würde auch sicher nie weniger gefährlicher werden. Sicher nicht!

Kapitel 1

 

Kapitel 1

 

 

Ich saß in der langweiligsten Erfindung der gesamten Menschheit. Schule. Ich starrte aus den schönen alten Fenstern des großen Altbaugebäudes: Ich sah wie sich die Bäume in der leichten Brise wiegten. Es erinnerte mich an etwas, an das ich mich nicht erinnern konnte. Es war beruhigend.

Der Sinn des Lebens? Woher sollte man das wissen? Hatte nicht jeder seinen eigenen ‘’Sinn des Lebens’’? Oder gab es tatsächlich einen wirklichen Sinn des Lebens, der auf alle zutraf, ohne Ausnahme. Aber selbst wenn es so war, bezweifelte ich stark, dass Mr. Selen ihn kannte. Also hatte ich keinen Grund zuzuhören, ich konzentrierte mich weiter auf die Außenwelt des Klassenzimmers. Zum Glück war in ein paar Minuten, die komischerweise in der Schule wie Stunden wirkten, Schluss. Ich wusste schon genau, was ich tun würde. Das gleiche wie jeden Tag, außer an Tagen, in denen man gezwungen war etwas Sinnloses zu tun. Wie gestern, denn ich hatte gestern versucht den Schulstoff eines ganzen Monats für eine blöde Arbeit zu lernen, die wir heute hätten schreiben sollen. Aber da der so kluge Mr. Selen nur deshalb die Arbeit angekündigt hatte, damit wir zum Abschluss des Themas noch mal alles schön lernten, um heute mit einem völlig anderem Thema zu beginnen, hatte  ich meine Zeit ganz umsonst geopfert. Er hielt es nicht für nötig eine Arbeit zu schreiben, weil er meinte, dass wir es wegen seiner Täuschung sowieso alle konnten und er hielt das neue Thema passender für eine Arbeit. Toll! Wie schön!

Die Äste tanzten im Takt des Windes und ich lieferte ihnen das bewundernde Publikum.

‘’…Lebens? Lea! Lea?’’

Ich zuckte zusammen. Ups. Mist! Typisch für mich!

‘’Sie schläft.’’, sagte ein zu freundlicher ‘’Klassenkamerad’’.

Ich öffnete langsam und vorsichtig die Augen, um in Mr. Selens immer näher kommendes Gesicht zu blicken.

‘’Tatsächlich’’, stellte er zu spät fest.

Na Toll.

‘’Nach deiner kleinen Muse kannst du uns doch sicher erzählen, was der Sinn des Lebens ist, nicht wahr? , fragte er mit einem falschen Grinsen.

‘’Sicher’’, sagte ich leise und setzte mich wieder ordentlich auf meinen Stuhl.

‘’Es ist…’’

‘’Ahhh. Ich sehe schon.’’, unterbrach er mich und blickte mich milde lächelnd mit gespieltem Bedauern an.

Ich verstand nicht und sah ihn fragend an, während die ganze Klasse sich zu uns umwandte, als lieferten wir ihnen ein spannendes Programm, wie ein Racling oder so. Tzz..

Hatten sie nicht was Sinnvolleres zu tun, zum Beispiel über den Sinn des Lebens nachzudenken?

‘’Wie kommt das?’’, fragte mich Mr. Selen nun.

Musste ich das verstehen?

‘’Ähm, was meinen sie, bitte?’’

‘’Ich rede von deiner Einstellung!’’

Und erst jetzt merkte ich, dass er auf den Zettel vor mir sah.

Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste es immer noch nicht. Und da sah ich meine schläfrige Schrift auf dem Zettel, die auf die Frage: ’’Was ist dein Sinn des Lebens?’’, antwortete und die erklärte, dass…

Mr. Selen unterbrach meine Gedanken, indem er der Klasse meine Ansicht mitteilte. Wie nett er doch war, was er alles tat um die Klasse aufzuheitern.

Er zitierte, ablesend von meinem Zettel, obwohl dort nicht viel abzulesen war: ‘’Nichts. Ich habe und brauche keinen Sinn des Lebens.’’

Mist! Ich hatte gar nicht, vertieft in meiner Müdigkeit, gemerkt, dass ich etwas aufgeschrieben habe. Na Toll. Hätte ich nicht wenigstens ein wenig unehrlicher antworten können? Natürlich nicht.

Die ganze Klasse lachte, manche guckten mich verhasst an. Was hatten die bloß?

‘’Ich meinte …, dass … ähm …’’

‘’Ich verstehe schon. Du brauchst es nicht zu erklären, es ist sehr  vielsagend. Und ich schenke dir heute noch zwei Stunden, um darüber fünf Seiten aufzuschreiben, die du morgen der Klasse vorstellen wirst. Für deine Unaufmerksamkeit.’’, fügte er hinzu.

Es war meine Schuld, aber war es tatsächlich erlaubt mich so bloßzustellen? Durfte man nicht seine eigenen Ansichten haben. Glaubte er, ich meinte es nicht wirklich so?

Ich nickte.

Er ging wieder nach vorn, mit meinem Zettel in der Hand.

Er berichtete von seinem Sinn des Lebens, ich war wieder so versunken in den Rhythmus der Bäume, dass ich nur Wörter wie Familie, Freunde und Arbeit verstand. Dann sah ich aus dem Blickwinkel, wie er bei seiner tollen Rede, meinen Zettel, zu einer Kugel zerknüllt, in hohem Bogen in den Papierkorb warf. Das passte sehr schön zu meiner Ansicht. Mein Sinn des Lebens war Nichts, wie in einem Papierkorb viele Zettel sind, man aber doch kein Wort lesen konnte.

Ich ging nach Hause, nachdem ich die zwei Nachsitzstunden hinter mir hatte. Ich seufzte. Das Leben war anstrengend. Warum war es nicht leicht? Wäre es zu viel verlangt mir ein bisschen Glück zu vergönnen, während andere kaum atmen konnten vor lauter Glück. Mein Blick wurde trotzig. Ich mochte diese Menschen nicht, die alles hatten und es auch wussten. Vielleicht würde ich mich ja selber hassen, wenn ich Glück hätte. Nein, das wäre merkwürdig, wenn ich mich hassen würde, wenn ich glücklich wäre. Ich hasste einfach, die, die es waren. Hasste ich mich nicht jetzt schon? Mein Lehrer hatte wahrscheinlich Recht, als er mich so bedauernd angesehen hatte. Ich hatte es mir seiner Meinung nach und manchmal auch meiner Meinung nach selbst zu zuschreiben. Aber er kannte mein Leben nicht. Eigentlich gab es da auch nicht viel zu kennen, dass würde er merken, wenn er es kennen würde. Aber genau das war der Punkt. Es gab nichts. Nichts. Als ich früher darüber nachgedacht hatte, liefen mir gleich Tränen übers Gesicht. Jetzt seufzte ich nur noch und irgendwann würde man mir nicht mehr ansehen, dass ich über etwas Trauriges nachdachte. Aber der Schmerz würde bleiben. Erbarmungslos. Auch wenn sich die Außenhülle änderte, würde es innen nichts ausrichten. Es saß fest. Zu fest und zu tief. Ich seufzte wieder und ging weiter durch den farblosen Park. Der hatte auch schon mal bessere Zeiten erlebt. Als ich ein Kind war und bei meinen Pflegeeltern gelebt hatte, war ich durch den grünen Park gegangen, wenn mir etwas nicht gepasst hatte, wie zum Beispiel zum hundertsten Mal nach Amerika reisen, um ihre Verwandten zu besuchen. Sollten sie doch hinfahren so oft sie wollten, ich wollte hierbleiben. Merkwürdigerweise, obwohl ich immer schlecht von diesem kleinen düsteren Ort in England dachte, war er mir doch der liebste der Welt. Jetzt war ich 18 und ich lebte seit einiger Zeit allein. Meine Pflegeeltern hatten zugestimmt. Sie hielten es auch für besser. Umso älter ich geworden war, umso weniger hatten sie mich verstanden. Ich hatte mich auch immer weniger verstanden, bis ich es gar nicht mehr tat. Aber sie hatte ich immer verstanden, so wie alle anderen Leute. Einseitig. Ich mochte sie, so war es nicht, ich war ihnen bis heute dankbar, dass sie mich aus diesem schrecklichen Heim geholt hatten. Und sie waren nett, wie es immer noch war, sie besuchten mich und riefen an, aber mit der Zeit wurde es weniger, weil sie merkten, dass ich das Telefon oft nicht abhob, oder den Stecker für eine Woche oder länger zog. Und manchmal ging ich nicht an die Tür, weil ich so versunken war und ich keine Spur Lust auf ihre besorgten Reden hatte, die mit der Zeit zum Glück gleichgültiger wurden. Es war gut so. Besser. Manchmal bekam ich ein schlechtes Gewissen, dass mich sie anriefen ließ. Aber es verschwand wieder schnell, als sie mich einluden und ich absagte, da ich so viel für die Schule zu tun hatte, was stimmte, mich aber nicht weiter interessierte. Ich hatte besseres zu tun. Mir kam es so vor, als ob mich keiner verstand, aber ich alle viel zu gut verstand, sodass sie für mich so langweilig wirkten, dass ich keine Lust hatte mit ihnen zu reden. Nicht mal mit denen meines Alters. Meine Eltern meinten früher immer, es sei die Pubertät, doch irgendwann glaubten sie es selbst nicht mehr. Ich hatte nie Freunde. Ich wollte auch keine. Ich war ein Außenseiter. Eine Einzelgängerin. Manchmal fragte ich mich, ob ich für immer allein sein würde. Aber dann schüttelte ich den Gedanken schnell ab, sodass ich nicht darauf antworten konnte, weil ich die Antwort genau wusste. Ich war anders.

Ich merkte, dass ich mich, während ich nachgedacht hatte, auf eine weiße verschlungene Bank gesetzt hatte. Wenn ich in Gedanken war, vergaß ich alles um mich herum und machte Dinge, die ich erst merkte, wenn ich wieder zu mir kam. Ich sah einen alten Baum an. Dann merkte ich, dass jemand neben mir saß. Ruckartig drehte ich mich um. Es war ein junger Mann. Er starrte mich an, als er merkte, dass ich ihn ansah, lächelte er. Ich lächelte nicht zurück. Ich schätzte ihn ein, wie ich es bei mir unbekannten Personen immer machte. Er hatte blonde Haare, die sich kurz um seinen Kopf wellten. Seine Augen waren grau und sahen alt in diesem jungen Gesicht aus. Er sah eigentlich attraktiv aus und schien nach meinem Empfinden auch sympathisch. Er hatte seine Tasche an die Bank gelehnt, die mit Büchern überfüllt war. Ein Student. Ja, das passte.

‘’Hi, gehst du dort auf die Schule?’’, er deutete auf das bräunliche große Gebäude und lächelte dabei unentwegt weiter. Vorhersehbar. Wie immer. Warum ließen mich die Leute nie in Ruhe? Wenn sie mich kannten, hassten sie mich, doch wenn sie mich nicht kannten, wollten sie mich immer kennenlernen. Hatte ich eine ungewollte Anziehungskraft an mir? Ich hatte schon versucht meinen eigentlichen eigenwilligen Modestil in einen unscheinbaren zu verwandeln, doch das nutzte nichts, wie mir jetzt wieder bewiesen wurde.

Ich nickte und sah dabei auf meinen schwarzen Rock. Ich wollte ihn nicht weiter ansehen. Er war langweilig. Es deprimierte mich. Genau wie bei jedem anderen. Aber das unfaire war, dass mich etwas immer daran hielt, mich zu benehmen, obwohl ich ihnen am liebsten immer die Meinung gesagt hätte und sie somit verscheucht hätte. Ich blieb immer gleichgültig.

‘’Schön.’’, sagte er.

Ja schön. Wollte er mich nicht noch etwas fragen? Irgendetwas so wichtiges und bedeutendes, dass man es einfach fragen musste, zum Beispiel in welchem Jahrgang ich war, ob er mich nicht schon mal auf Bennys Party gesehen hatte, oder wie alt ich war?

‘’Sag mal, habe ich dich vielleicht schon mal bei Kevin gesehen? Ich meine auf seiner Party letzte Woche … vielleicht?

Ich schüttelte den Kopf, dann stand ich auf und sah ihn noch mal kurz an, er sah enttäuscht aus, aber auch verwundert. Wahrscheinlich war ich die erste, bei der es noch nicht geklappt hatte. Armer Kerl!

‘’Ich muss weg.’’, sagte ich leise und ging dabei schon weiter.

Ich hörte wie er hinter mir aufsprang.

‘’Warte!’’

Ich blieb stehen, weil es sich gehörte und er wartete darauf, dass ich mich umdrehte, doch ich tat es nicht.

Nach einer Weile sprach er weiter.

‘’Wie ist dein Name?’’

‘’Ich weiß es nicht.’’

Ich seufzte und ging weiter ohne mich einmal umzudrehen.

Als ich bei meinen Wohnort ankam wurde es langsam dunkel. Ich hätte mit dem Bus fahren sollen, die Schule war weit entfernt, aber ich musste nachdenken. Wie immer. Ich wollte noch nicht reingehen. Es war immer so gleich. Ich hoffte immer auf etwas, dass nie passierte und ich wusste dabei noch nicht einmal auf was ich hoffte. Vielleicht auf irgendetwas was alles aufklären würde. Weshalb ich so anders war. Aber anscheinend war ich doch nicht so anders. Ich hoffte. Wie fast alle anderen auch. Vielleicht weil ich mich den Leuten doch angepasst hatte oder weil ich mich so wenig angepasst hatte, dass ich das Gefühl nicht abstellen konnte, dass es an etwas lag. Etwas, das ich nicht wusste und mit meinem Glück auch nie erfahren würde. Ich wollte nicht rein gehen. Die Dunkelheit zog mich an. Ich hatte das Bedürfnis durch die immer leerer und dunkler werdenden Straßen zu gehen. Doch ich tat es nicht. Ich hatte heute noch nichts gegessen. Ich vergaß es oft, aber irgendwann erinnerte mich mein schmerzender Magen daran. Ich schloss die schwere Tür auf und begegnete dabei gleich meinen grimmigen Vermieter, der höchst wahrscheinlich jemanden rausgeworfen hatte, bei ihm ging das ganz schnell, wie ich schon öfters mitbekommen hatte. Bei mir hatte er auch schon zweimal geklopft und nach der Miete gefragt, obwohl ich erst zwei, drei Tage überfällig gewesen war. Bei uns im Haus wechselten manche Wohnungen die Personen wie Kleidung. Zum Glück hatte ich schon gezahlt. Ich hatte keine Lust mit ihm über die Moral oder ähnliches zu reden. Wir grüßten uns und gingen weiter. Als ich meine Wohnungstür im obersten Stock, dem 17ten, geöffnet hatte, blieb ich stehen und betrachtete meine Wohnung. Ich war ziemlich stolz. Meine Pflegeeltern halfen mir zwar sie zu finanzieren, doch den größten Teil zahlte ich, denn ich hatte einen Nebenjob in der Bibliothek in der Stadt, ganz nah meines Wohnorts, vier mal die Woche, und einen in einer alten Eisdiele, zwei mal die Woche. Und das neben der Schule, doch ich wollte die Schule noch nicht aufgeben, denn ich wollte nicht für immer in einer Bibliothek oder Eisdiele arbeiten. Langweilig. Ich wusste noch nicht, was ich werden wollte und blieb deshalb solange in der Schule, obwohl ich es hasste, aber besser als sein ganzes Leben lang seinen Beruf zu hassen. Ich ging in meine leere, aber trotzdem unordentliche Wohnung. In der Küche sah ich mehrere leere Fastfood-Schachteln auf dem Küchenbord. Ich seufzte, bald musste ich mir Neue besorgen. Ich ging nur ein mal im Monat einkaufen, ich kaufte soviel, wie es mir mein Geld zuließ, sodass ich nicht so oft in den Laden gehen musste, ich mochte es nicht gerade, zwischen den ganzen Leuten, die ich nicht mochte und die mich wahrscheinlich genauso wenig mochten. Ich nahm mir eine neue Schachtel aus dem kleinen grünen Küchenschrank und machte es warm. Ich stopfte mir die Nudeln ohne Genuss schnell in den Mund und kaute kaum,  bis ich mich verschluckte und die doppelte Zeit, die ich durch das schnelle Essen gewonnen hatte, verhustete und so verlor. Ich verdrehte die Augen. Ich hatte es eilig. Ich wollte so schnell wie möglich in eine andere, meine Welt,  versinken. Nachdem ich mich verschluckt hatte, aß ich nicht weiter, ich hatte keine Lust mehr. Ich ließ es einfach liegen und ging in mein Lieblingszimmer. Mein Schlafzimmer, darin stand ein Bett, ein Schrank und mehrere Kommoden und dort lag ein weißer Teppich aus. Ich ging auf meinen Lieblingsplatz zu, der blanken silbernen Fensterbank und setzte mich darauf. Ich sah sofort den Mond. Kein Vollmond. Nur eine ganz dünne Sichel. Ich starrte den Mond an und versank. Dabei fragte ich mich wie so oft, wer meine Eltern waren. Warum ich als Baby in dem düsteren Park gefunden wurde und was mein wirklicher Name war. Lea war nicht mein wirklicher Name. Den hatten mir die Leute im Heim gegeben. Aber warum glaubte ich überhaupt einen anderen, wirklichen Namen zu haben? Ich wurde allein in einem Park gefunden. Warum und zu welchem Zweck hätte mir jemand einen Namen geben sollen und ihn dann nicht mal in einen nicht existierenden Brief geschrieben und diesen hinzu gelegt? Einfach so, dachte ich mir. Ich wollte einfach weiter daran glauben, obwohl ich es bezweifelte. Es fing plötzlich an stark zu regnen und ich konnte nur noch verschwommene Formen erkennen. Dann merkte ich, dass es kühl wurde und mich umstreiften sachte mehrere kühle, doch zarte Windstöße. Ich hatte was vergessen! Ich wusste genau, was ich vergessen hatte, denn ich vergaß es oft. Oder war es ungewollte Absicht, meine Haustür offen zu lassen? Als ob ich auf jemanden wartete, der nie kommen würde, aber ich ließ doch die Tür für ihn offen. Ich sah in das dunkle Treppenhaus. Man konnte nichts erkennen. Nicht mal angedeutete Formen. Der Mond schien diesmal nicht durch die Fenster dieser Seite des Treppenhauses. Ich schloss die Tür langsam, vorsichtig. Dann ging ich zurück und setzte mich wieder auf die Fensterbank. Diesmal versank ich nicht gleich wie sonst immer. Ich fühlte mich auf einmal anders, aufgeregt. Es erschreckte mich. So etwas war mir nicht bekannt. Ich fühlte mich nie aufgeregt, immer nur gleichgültig. Ich wusste nicht weshalb ich dieses Gefühl sofort zuordnen konnte, vielleicht weil ich es oft bei anderen beobachtete. Wie zum Beispiel bei dem jungen Mann, der, nachdem ich ihm wahrheitsgemäß sagte, ich wisse nicht wie ich hieße, ziemlich aufgeregt aussah.

 

Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

 

 

Mir gefiel das neue Gefühl. Es machte mich lebendiger. Ich fühlte mich nicht mehr so trüb, wie noch vor ein paar Sekunden. Ich sah wieder hinaus, gespannt, denn ich ahnte etwas. Und es bewahrheitete sich. 17 Stockwerke unter mir, nicht vor der schweren Eingangstür, sondern ein paar Meter weiter links, direkt unter meinem Fenster, stand jemand und sah zu mir hoch. Mich durchfuhr ein Kribbeln, das lange anhielt. Ich konnte diesen Jemand nicht richtig erkennen, es war zu dunkel und regnete viel zu stark. Außerdem war ich zu weit oben, um ihn richtig zu sehen. Ich sah nur eine verschwommene dunkle Form. Ich hörte wie der Regen laut gegen das Fenster prallte, gegen das mein Gesicht gelehnt war. Aber noch viel lauter, hörte sich für mich der Regen an, der von der dunklen Gestalt abprallte. Obwohl ich die Gestalt nicht richtig sehen konnte, konnte ich wiederum deutlich sehen, dass sein Gesicht genau auf mich gerichtet war. Seine Augen folgten mir. Ungehindert durch den starken Regen, analysierten sie jede meiner Bewegungen. Ich wusste nicht warum es mir ganz klar bewusst war, ich wusste einfach, dass ich es wusste. Nicht mehr und nicht weniger. Und mit genau derselben sicheren Gewissheit, war mir auch klar, dass dieser Jemand anders war. Ja anders! Vielleicht … vielleicht wie ich? Aber was war überhaupt dieses ‘’anders’’? Ich hatte nicht länger Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Sonst würde ich vielleicht meine Chance verpassen. Und das musste ich mit allen Mitteln verhindern. Ich spürte einen starken Drang, es war das pure Gegenteil, von den Drängen, die ich normaler Weise täglich spürte. Den Drängen, die mich dazu zwingen wollten wegzulaufen, die Anderen ganz weit hinter sich zu lassen. Ohne sie noch mal hören oder sehen zu müssen. Es war genau umgekehrt. Ein unbekanntes Gefühl. Unbekanntes Verlangen. Am liebsten hätte ich das Fenster aufgerissen und wäre hinunter gesprungen. Doch ich musste mich ein wenig beruhigen, auch wenn es nahezu unmöglich schien, durch die ganzen beängstigenden, neuen Empfindungen, die sich merkwürdig miteinander vermischten und wieder neue Gefühle bildeten. Es war ein so lebendiges Gefühl. Ich war am Leben. Ich spürte es zum ersten Mal. Leben. Seltsam. Schwerer als gleichgültig. Unvergleichlich härter. Aber ich spürte auch, dass es sich lohnte. Ich wusste es. Vorfreude überkam mich. Was würde ich gleich sehen? Wen? Würde sich etwas aufklären? Euphorie durchströmte mich, als ich die Tür komplett aufriss und die Treppen hinunterstürmte. Ich raste so schnell, dass es mir unmöglich schien hinzufallen. Ich nahm immer mehrere Stufen hintereinander. Mehrmals rissen Leute, als ich schon ein paar Stockwerke unter ihnen war, die Türen auf und brüllten herum. Als ich beinahe das Erdgeschoss erreicht hatte, nahm ich bestimmt drei verschiedene Stimmen gleichzeitig war. Das ganze Haus bebte vor wütenden, lauten  und anklagenden Stimmen. Doch mir fiel es nicht wirklich auf, ich konzentrierte mich nur auf mein Ziel.

Als ich unten angekommen war, erschrak ich. Denn merkwürdiger Weise flog die schwere Tür plötzlich auf, als hätte sie das Gewicht einer Feder. Zum Glück stand ich noch nicht in der Reichweite. Ich sah nur die Holztür direkt vor meinem Gesicht. Ich umkreiste die offene Tür und rannte durch den nun offenen Durchgang, noch bevor die Tür wieder zurückraste. Atemlos blieb ich stehen und sah mich um. Der Regen plätscherte auf mich, als schütteten alle Leute, die sich im Haus gerade über mich aufregten, Wasser aus riesigen Eimern über mich. Es regnete wie noch nie. Ich konnte kaum sehen. Es war schon sehr beschwerlich, die Augen offen zu halten. Wo war er geblieben? Ich sah in alle Richtungen, doch ich konnte ihn nicht ausmachen. War er weg? Das konnte nicht sein. So schnell!? Er war wie vom Erdboden verschluckt. Meine Hoffnung. War meine Hoffnung nur eine Täuschung meiner Sehnsucht gewesen? Reine Einbildung? Nein! Nein … Das konnte nicht sein … Nein … Das durfte nicht sein! NEIN! Er war hier! Er MUSSTE noch hier sein! Ich hatte ihn genau gesehen und er mich genauso. Wusste er es? Dass ich ihn bemerkt hatte? War er vielleicht geflüchtet? Er hatte mit Sicherheit gesehen, dass ich ihn gesehen hatte. Er hatte alles gesehen. Alles … es war mir klar. Warum war er auf einmal weg? Warum rannte meine Hoffnung vor mir weg? Mein Lichtblick war verschwunden und so wie es jetzt aussah, für immer und ewig. Aber warum war er überhaupt hier gewesen? Um gleich wieder zu gehen, nachdem er mich gesehen hatte? Das konnte doch einfach nicht sein. Irgendetwas … musste … er … doch gewollt haben. Irgendwas. Diese Fragen rauschten alle durcheinander durch meinen Kopf und keine der Fragen fand eine klare Antwort. Dann lenkte mich etwas ab. Ein Glitzern. Ich sah es im starken Regen. Es leuchtete und  reflektierte sich in den prasselnden Regentropfen. Ich ging darauf zu. Direkt unter meinem Fenster schien es zu liegen. Genau dort, wo er gestanden hatte. Ich kniete mich hin. Der Regen prallte auf meinen Rücken wie Peitschenhiebe. Doch ich bekam, berauscht durch die Neugierde und wiederkehrende Hoffnung, kaum etwas davon mit. Es lag auf dem kahlen, kalten Boden. Dort passte es nicht hin, ganz und gar nicht. Es sah königlich aus. Der Regen prallte darauf ab und das Echo des Regens war ein klares, klirrendes Geräusch auf dem so schönen Amulett. Ich nahm es vorsichtig in meine Hand, es war reich verziert. Die Rückseite war zwar völlig blank, doch die Vorderseite war geradezu überhäuft mit ineinander verschlungenen Ranken, die völlig durcheinander waren, aber sich gleichzeitig elegant übers Amulett schwangen. Ich versuchte es zu öffnen, aber merkte schnell, dass es keine Rille dafür gab, man konnte es nicht öffnen. Ich strich leicht mit den Fingern darüber, im Zentrum des Amuletts spürte ich eine Anhebung unter den Ranken. Während  ich  überlegte, wozu dort eine Anhebung war, fiel es mir aus der Hand. Ich stürzte mich auf den Boden und fing an zu suchen. Ich wurde hysterisch, ich wollte es sofort wieder haben, denn es gab mir ein wohlwollendes Gefühl. Ich glaubte, dass es mir weiterhelfen konnte und vielleicht eine Aussicht darauf war, besser in dieser Welt klarzukommen. Jedenfalls hatte derjenige, der es hier hinterlassen hatte, so ein Gefühl in mir ausgelöst. Ich fühlte schreckliches Bedauern, das sich in stechenden Schmerz verwandelt hatte, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich dachte daran, dass ich denjenigen, den ich nicht kannte und der mir die Hoffnung verliehen hatte, dass ich nicht allein war, verpasst hatte. Der Regen prasselte mit einer unvergleichlichen Geschwindigkeit vom Himmel, dass es auf meinen Händen, die ihm schutzlos ausgesetzt waren, schmerzte. Aber mein Wille wurde dadurch nicht gebrochen, im Gegenteil es verstärkte ihn noch. Denn es fühlte sich für mich so an, als ob alles in der Welt dagegen war, dass ich Hoffnung hatte. Plötzlich spürte ich das Amulett direkt unter meiner suchenden Hand. Ich griff mit Erleichterung danach und nahm es um, indem ich es mir über den Kopf zog, als ich spürte wie mich dieselbe Welle der unbeschreiblich vielen und verschiedenen Gefühlen überkam. Vielleicht war es nicht ganz dieselbe. Ich wusste es nicht. Ich war wieder zu verwirrt. Die Hoffnung, die in meinen Kopf wieder die Überhand gewonnen hatte, ließ mich das Amulett kurzzeitig vergessen und brachte meinen Körper zum Aufstehen. Meine Augen sahen sich um. Der Regen formte alles in unklare, verwischte Formen. Doch ich hörte ein neues Geräusch unter dem dröhnenden Klang des Regens. Ein Klackern. Schritte. Er kam zurück! Meine Hoffnung bauschte sich in meinem Kopf auf und verteilte sich in meinem ganzen Körper. Sie verwandelte sich in Gewissheit. Ich ging dem Klang der Schritte nach. Plötzlich strich mir in der windstillen Nacht ein zarter Hauch in Gesicht. Ich atmete ein. Es roch anders. Es roch gut, wohltuend, sanft  und irgendwie blumig. So etwas hatte ich noch nie gerochen. Ich stellte mir ungewollt vor ich wäre auf einer Blumenwiese und der Duft jeder einzelnen Blume strömte zu mir und ich atmete ein. Nur war es noch klarer und sanfter. Ein zarter Duft mit einer eisigen Spur. Blumen im Winter, die ihren Duft aber nicht verloren. Der Duft meiner Hoffnung. Ich hatte meine Augen geschlossen, als mir der Duft ins Gesicht wehte. Ich hatte alles vergessen. Er war so berauschend, obwohl er so zart war. Schnell öffnete ich meine Augen und sah etwas direkt vor mir. Zu nah um es zu erkennen. Langsam registrierte ich, dass es ein Mensch war. Ich konnte nur flackernd etwas in der schwarzen Nacht erkennen, da die alte und einzige Laterne in der Umgebung, mit knackenden Geräuschen inklusive, vor sich hin flackerte. So, dass ich immer nur im Takt der Laterne etwas sehen konnte. Ich konzentrierte mich auf die Person vor mir. Er hatte einen offen getragenen, langen grauen Mantel an. Eine alte, an manchen Stellen kaputte, schwarze Jeans. Sein weißes  langes  Hemd, fiel im locker über die Jeans. Eine Hand hielt er in seiner Hosentasche, die andere locker an seinem Körper. Er war sehr groß. Ich, mit meinen 1,75 Metern, kam ihm gerade bis zum Hals. Von ihm gingen diese ganzen merkwürdigen Wellen der Gefühle aus. Ich spürte sie jetzt ganz stark. Sie durchdrangen mich. Ich konnte kaum denken. Ich machte mich gefasst darauf, aufzuschauen. Ich hatte Panik ihm ins Gesicht zu sehen. Wen würde ich sehen? Kennen konnte ich ihn nicht. Ich kannte keinen mir so ungleichgültigen Menschen. Menschen. Er war anders. War er also wirklich ein Mensch? Ich schaute ruckartig und plötzlich von seinen dunkelbraunen Lederstiefeln auf, um in sein Gesicht zu blicken. Die Panik war nicht grundlos. Seine dunkelblauen Augen bohrten sich in meine. Ich konnte mich nicht widersetzen. Ich starrte zurück. Seine Augen hatten etwas geheimnisvolles und verborgenes. Etwas durchdringendes, aber auch sanftes. Ich fühlte mich hilflos. Sein Starren hörte auf und ein arrogantes, triumphierendes Grinsen erschien auf seinen Lippen. Erst jetzt konnte ich sein ganzes Gesicht sehen. Locker fielen ihm Strähnen seines dunkelbraunen Haares ins Gesicht. Er hatte eine durchschnittliche Hautfarbe, wie sie alle in England haben, vielleicht etwas dunkler, aber man konnte es im flackernden Neonlicht, die die einzige Helligkeitsquelle in der dunklen Nacht war, nicht so gut erkennen. Eine seiner dunklen Augenbrauen hatte er nach oben gezogen. Er hatte hohe Wangenknochen. Sein Gesicht strahlte Charme aber gleichzeitig auch ausgeprägte Überheblichkeit aus. Ich musste zugeben, dass er auch allen Grund dazu hatte, er sah ziemlich gut aus. Ich hatte noch nie einen besser aussehenden Mann gesehen und das würde höchst wahrscheinlich auch so bleiben. Dann öffnete er plötzlich seinen Mund und er sagte bestimmend:

‘’Geh nach oben. Ich sehe keinen Anlass für dich hier draußen zu verweilen.’’

Als er sprach verstärkte sich der Duft meiner Hoffnung und ich fühlte mich hypnotisiert. Der Klang seiner Stimme verstärkte diesen Effekt noch. Sie klang dunkel, sanft und verführerisch. Er starrte mich unverblümt an, während ich ihn genauso anstarrte. Ich wollte so viel sagen, aber mir fiel nichts ein. Es war ein Kreislauf. Alles drehte sich. Die Fragen kreisten sich in meinem Kopf, doch ich bekam keine zu fassen, ich war zu weit entfernt, um danach greifen zu können. Plötzlich schwebte mir eine simple Frage in den Sinn, deren Antwort für den Moment mehr als genug beantworten würde. Ich stotterte leise:

‘’Ww … Wer … bist … ’’

Meine Stimme verzagte. Mein Herz schlug plötzlich zu schnell. Ich hörte seine Antwort, deren Frage ich noch nicht mal ganz ausgesprochen hatte, die Worte, die er mit seiner dunklen Stimme aussprach:

‘’Das ist nicht … ‘’

Dann breitete sich eine unbekannte Kraft in meinen ganzen Körper aus, die alles andere ausschaltete. Ich spürte einen starken Ruck und dann fühlte es sich an, als ob etwas in meinem Körper in Gang geraten würde. Meine Augen verdrehten sich, ich sah noch den erschrockenen Blick des Mannes, der so ungewöhnlich, verglichen mit seinem, noch eben gerade, gleichgültigen, überheblichen Blick, aussah, dann wurde mir völlig schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder erwachte, spürte ich einen unebenen Grund. Ich öffnete meine Augen, und das, was ich zu sehen bekam, erschütterte mich so sehr, dass ich zusammenzuckte. Der unbekannte Mann war ins Treppenhaus gegangen und ging nun die Treppen nach oben, doch das mich so erschütternde daran war, dass er mich trug. Er hielt mich in seinen Armen! Der Geruch, den ich einatmete, vernebelte meine Sinne. Er blieb stehen und sah mich prüfend an.

‘’Es geht dir besser.’’

Verwirrt nickte ich langsam.                                                               

‘’Aber trotz dessen trage ich dich besser nach oben.”

Ich schloss meine Augen, um wenigstens etwas zur Besinnung zu kommen. Laut hörte ich, wie der Regen unserer Klamotten und Haaren auf die Treppen prallte. Als wir oben ankamen, setze er mich auf meinen Füssen ab. Er drehte sich um, ging auf eine Tür, zwei neben meiner, zu und schloss sie auf. Er machte die Tür auf und blickte in die Wohnung.

„Geh rein“, verlangte er gelangweilt, während er nachdenklich durch den Wohnungseingang vor ihm starrte.

Er blieb regungslos vor der Tür stehen und es sah so aus, als ob er wartete bis ich in meiner Wohnung war. Instinktiv griff meine rechte Hand in meine Hosentasche und ich schloss auf. Ich spürte in meiner linken Hand das Amulett. Ich hatte es die ganze Zeit festgehalten. Ich ging rein. Ich war jetzt zu allem unfähig. Ich fühlte mich gefühllos und gedankenlos, ich fühlte nichts. Ich schaffte es nicht bis in mein Schlafzimmer und setzte mich auf den Boden im Flur. Ich schaute auf den Boden, aber ich sah ihn nicht. Es fühlte sich wie die Ruhe nach dem Sturm an. Ich hatte noch nie so viel zum Nachdenken gehabt. Doch jetzt konnte und wollte ich nicht nachdenken, ich würde es auf so bald wie möglich verschieben. Nur nicht in diesem Moment. Es schien dafür unmöglich. In meinem Kopf und meinem ganzen Körper herrschte Stille. Tote, betäubte Stille. Ich legte mich hin und schlief noch mitten in der Bewegung ein.

 

Kapitel 3

 

Kapitel 3

 

 

Als ich aufwachte, spürte ich sofort stechende Schmerzen. Rückenschmerzen. Ich hatte auch nicht gerade in einer vorteilhaften Lage gelegen. Ich saß eigentlich noch, nur, dass mein Gesicht den Boden berührte. Ich streckte mich und hörte die Knochen knacken. Dann spürte ich auf meinem Dekollete das Amulett. In dem Licht des hellen Sonnenaufgangs, das durch die Fenster der anderen Zimmer schien und durch die offenen Türen zu mir gelangte, konnte ich es viel besser sehen. Es war sehr detailreich und altmodisch. Ganz plötzlich fiel mir ein, was, nachdem ich das Amulett gefunden hatte, geschehen war. Wer war dieser Mann und was wollte er? Warum hatte er mir dieses Amulett dort hingelegt. Und wohnte er jetzt hier? Während ich mich wusch und anzog, kamen mir Milliarden von Fragen in den Sinn. Ich seufzte als mir bewusst wurde, dass jetzt Schule war. Sollte ich überhaupt hingehen? Ich hatte meine Gedanken sowieso ganz woanders. Naja, das war ja auch eigentlich an jedem Schultag so. Aber ich hatte meine Gedanken an etwas bestimmtes geheftet, wovon sie nicht weggerissen werden konnten. Ich hatte meine Gedanken an ‘’Ihn’’ geheftet. Ungewollt oder Gewollt, auf jeden Fall Zwanghaft. So wie man sich in der Not an einen Rettungsring klammert. Er war mein Rettungsring. Ich musste noch herausfinden, warum es so war. Nur mein Instinkt wusste es, aber er verriet mir die Gründe nicht. Trotzig stieß ich die Tür zu stark auf, sodass ich schon dachte, dass die Tür, als sie ohrenbetäubend gegen die Wand schlug, mit Leichtigkeit aus den Angeln fliegen würde, und dann sah ich schon meinen Vermieter mit aufgeschlagener Hand und einem fiesen Grinsen im Gesicht. Ich schüttelte den Gedanken ab und sah die Tür nur noch leicht schwanken. Erleichtert atmete ich auf, ich hätte jetzt sicher kein Geld für eine neue Tür, oder deren Reparatur übrig. Ich ging hinaus und sah gleich darauf instinktiv zur rechten Seite. Zwei Türen neben meiner. Sie kam mir verdächtig vor, denn sie schien so unwissend und unschuldig wie immer. Ich befreite mich von den ganzen Tür - Fantasien und lief die Treppen hinunter. Unwillig schleppte ich meine schwere Schultasche mit mir. Ich musste hingehen. Ich hatte keinen Schimmer Lust darauf, dass der besorgte Mr. Selen dem Direktor von meinem verdächtigen Fehlen berichtete, und dass dieser dann bei mir anrief. Das hatte ich alles schon vor Jahren öfter erlebt, nur dass meine Pflegeeltern dann ans Telefon gingen und mich besorgt ansahen, und mit mir darüber sprachen, weshalb ich nicht zur Schule gehen wollte. Ich war dazu verpflichtet ihnen zu sagen, dass ich mich beim Schulweg immer in den Park stahl und da auch die gesamte Schulzeit blieb. Aber ich erzählte ihnen nicht, dass ich mich in meine geheime Welt begab. Eine Welt die niemand kannte. Meine erträumte, erfundene Welt. Mein Fluchtort. Das würde ich niemanden erzählen, hatte ich damals gedacht, denn sie würden es nicht verstehen und es ging sie nichts an, und so war es noch. Es war MEINE Welt. Ich musste also hingehen. Nur so ließen sich unangenehme Gespräche mit dem Direktor ersparen. Und in der Schulzeit könnte ich mir überlegen, wie ich ihn das nächste mal ansprechen würde, was meine erste Frage sein würde. Ich würde die Zeit nutzen, soviel stand fest. Als ich nach draußen ging, erschrak ich für einen kurzen Moment, denn alles sah so anders aus als ich es noch von vorhin in Erinnerung hatte. Es war eine andere Welt. Viele Menschen tummelten sich auf der Straße und Autos ließen die kleinen Pfützen nie zur Ruhe kommen. Und mein Bus … fuhr gerade weg. Haha … ja es war wirklich eine andere Welt, aber eine mir sehr bekannte. Ich würde zu spät kommen. Wie so oft. Zu oft. Nein! Ich wollte nicht wieder Nachsitzen! Meine Nerven würden es nicht nochmals durchstehen. Und es war schon der späteste Bus gewesen, den ich nehmen könnte. Der nächste kam in einer viertel Stunde. Ein kleines schwarzes Auto fuhr an den Bordstein vor mir und bespritzte mich mit der großen Pfütze, die sich dort gesammelt hatte. Ich wurde spritznass. Oh, mein Glückstag also! Ich lächelte demonstrativ, als mich die Leute neugierig ansahen und meine Reaktion abwarteten, während ich mir meine feuchten Haare aus dem Gesicht strich und versuchte eine Person in dem Auto auszumachen. Die Fahrertür ging auf, ein Mann stieg aus und sah mich sogleich entschuldigend Lächelnd und peinlich berührt an. Genervt sah ich ihn an, diesen Jungen, der mich auch gestern im Park genervt hatte. War das seine Berufung? ‘’Ähm … das … es … es tut mir sehr … sehr Leid!’’, sagte er stotternd, während er rot angelaufen war. Ich verdrehte die Augen. ‘’Du sahst so … so entmutigt und hilfebedürftig aus, versteh’ mich nicht falsch, ich …’’ ‘’Ah danke, ich weiß selbst, dass ich klitschnass nicht gerade toll aussehe.’’, sagte ich ihm ruhig. ‘’Das … das meine ich nicht. Du hast den Bus verpasst, oder?’’, lenkte er vom Thema ab. ‘’Ja.’’ ‘’Ich habe angehalten, weil ich dich zur Schule bringen wollte.’’ Als ich verstand, seufzte ich. Was wollte der bloß von mir. Merkte der etwa nicht, dass er mich nicht interessierte. ‘’Nein danke, ich habe meinen Bus nicht verpasst.’’ ‘’Doch hast du, du fährst sonst immer mit diesem Bus. Ähh, ich ähm … sehe es manchmal, wenn ich zur Universität hier vorbei fahre.’’ Was für ein Stalker. Doch plötzlich kam mir unwillkürlich Mr. Selens schadenfreudiges Gesicht in den Sinn, das mir weitere Stunden Nachsitzen verdonnerte. Missgelaunt nickte ich. Er strahlte und ging um das Auto, um mir die Tür zu öffnen, doch als ich registrierte was er tun wollte, machte ich schnell selbst die Tür auf und setzte mich ins kleine Auto. Er fuhr schnell. Er bemühte sich wirklich, dass ich noch rechtzeitig zur Schule kommen würde. Irgendwie fühlte ich so was wie Dankbarkeit in mir aufkeimen. Aber nur ganz bisschen, denn ich empfand zu sehr, die alles überdeckende, sterile Gleichgültigkeit, wie gegenüber allen Menschen, außer … Auf einmal fiel mir auf, dass uns ein Wagen folgte. Denn, obwohl der hilfsbereite Mann so schnell fuhr, blieb der Wagen uns immer dicht auf der Spur. Ein schönes, teures Auto. Als eine Ampel rot anzeigte, zog der junge Mann neben mir seine braune Jacke aus und reichte sie mir. ‘’Dir ist bestimmt kalt in den nassen Sachen.’’ ‘’Ich komm schon klar.’’ ‘’Nein, zieh sie doch an, ich will nicht, dass du dich erkältest.’’ Damit er mich nicht weiter nerven würde, zog ich sie an. Ich konnte niemanden in dem dunklen Auto hinter uns erkennen. Als er vor der Schule anhielt lächelte er mich an und sagte: ‘’Ich glaube du kommst noch rechtzeitig.’’ Es stimmte, viele Leute spazierten noch gemächlich in das Gebäude. ‘’Wie heißt du eigentlich? Gestern sagtest du …’’ ‘’Lea.’’ Ich öffnete die Tür. Er hatte mir geholfen. Ich würde nicht nachsitzen müssen. Jedenfalls bis jetzt. Deshalb zwang ich mich noch etwas nettes zu sagen. Ich kramte in meinem Gehirn nach irgendetwas nettem, während ich das kleine schwarze Auto betrachtete. ‘’Schönes Auto.’’ Es hörte sich gezwungen an, genauso wie mein Lächeln aussah. Aber es war nett und er bemerkte es gar nicht. Er sah stolz aus und murmelte, während er beschwichtigend seine Hand hob: ‘’Danke.’’ Aha, also sein ganzer Stolz. Dann hatte ich ihm also genau die richtige Nettigkeit gesagt. Wie ungewöhnlich passend! Ich stieg aus und bedankte mich. Er rief mir noch hastig ‘’Wiedersehen!’’ zu. Als ich mich umdrehte, merkte ich, dass ich das Auto, dass uns verfolgt hatte, vergessen hatte. Aber während ich den schmalen Weg ins Schulgebäude ging, bemerkte ich plötzlich den schwarz glänzenden Porsche. Der Verfolger war hier?! Das Auto hatte ich hier noch nie vorher gesehen. Nicht, dass ich mir immer alle Autos ansehen würde, aber so ein Auto wäre mir sicherlich zwischen den ganzen drittklassigen Wagen aufgefallen. Ich blieb wie angewachsen stehen und starrte das Auto an. Ich war mir sicher, dass es uns verfolgt hatte. Es war offensichtlich. Oder litt ich unter Paranoia . Nein … NEIN! Die Glocke läutete, ich erwachte aus meiner Starre und sah die Leute um mich herum, leise tuschelnd, während sie mich ohne Hemmungen, im gehen, anglotzten. Ich verdrehte auffällig die Augen und schüttelte dabei den Kopf. Die waren schlimmer als jede Tratschtante. Langsam wurde es in meiner Umgebung leerer und ich signierte, dass es spät war. Ich veraß das Auto und lief in die Schule. Ich stürmte durch die Gänge und kam schwer atmend im Klassenraum an, aber rechtzeitig. Ich grinste über den Sieg gegen die Zeit, während ich mich an meinen Platz setzte. In dem Moment kam Mr. Selen durch die Tür und vergewisserte sich sofort, ob er mir wieder eine Strafarbeit geben durfte, als er mich dann auf meinem Platz sitzen sah, sah ich eine Spur von Missmut in seinem Gesicht, dann grinste er und sagte laut und ermuntert: ‘’Na … Lea, machst du vielleicht eine Ermunterungs- Kur, indem du zur Schule läufst?’’ Mein Lächeln ließ sich mit diesem Spruch bestimmt nicht töten. Ich lächelte desinteressiert weiter. Dann plötzlich unerwartet kam mir ‘’Er’’ wieder in den Sinn. Ich reagierte unerwartet stark. Ich bekam keine Luft mehr und versuchte krampfhaft zu atmen. Ich erstickte! Meine Hände drückten sich gegen den Tisch, instinktiv versuchte ich den Schmerz wegzudrücken oder zu erdrücken. Er war stark. Er schnürte mir die Atemwege zu und hämmerte rücksichtslos in meiner Brust. Mein Körper schlug sich abwechselnd immer wieder nach vorn und nach hinten. Es war, als würde etwas in mir an einen Band weggezogen, mit Gewalt. Ich sah die erschrockenen Blicke der Klasse. Insgesamt, hielt der Schmerz erst seit ungefähr 5 Sekunden an, aber ich fühlte die Ewigkeit, in der ich nicht wusste, dass es ein Ende gab. Ich sah die Leute auf mich zueilen, dann verdrehten sich meine Augen. Plötzlich wurde losgelassen. Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen, wie ein Häufchen Elend. Meine Hände glitten vom Tisch. Ich spürte Hände. Ich ließ die Augen geschlossen. Ich wollte ihre besorgten und allzu neugierigen Blicke nicht sehen. Ich spürte sie wie eine Glühbirne, die direkt in meine geschlossenen Augen schien. Der Schmerz war verschwunden, so plötzlich er aufgetreten war, so plötzlich war er verschwunden. Ich fühlte mich wie zuvor, vielleicht ein Hauch ausgelaugter, doch das wurde durch die Erleichterung und Befreiung wieder gut gemacht, sodass ich mich eigentlich sogar besser fühlte. Ich fühlte wie sich meine Lippen, die den Vorgaben meiner Instinkte folgten, weit verzogen und meine Zähne entblößten. Ein Lächeln. Es fühlte sich nicht wie ein Lächeln an und es war auch keines, es formte sich nur nach den Vorgaben. Meine Augen waren noch immer geschlossen:

>>Es geht mir gut:<< Ich öffnete meine Augen. Mein Mund verzog sich noch weiter. Es tat schon weh, aber sie sollten verschwinden. >> Nur ein kleiner Schwächeanfall! <<

Manche seufzten, manche, die an ihren Plätzen sitzen geblieben waren, drehten sich um und tuschelten mit ihren Nachbarn. Sie ließen mich langsam los. Mr. Selens Gesicht, war genau über meinem, er hatte die Hände auf den Tisch gestemmt und sah mich mit gerunzelter Stirn durchdringend an. Um mich standen immer noch ca. fünf Leute, die anderen waren gegangen. Mr. Selen sah die Umstehenden an, dann wieder mich, er kam noch näher. >>Nimmst du Tabletten<< Zwei von den Umstehenden gingen, und fingen auch an zu tuscheln, er sah sie missbilligend an. >>Ich meine natürlich, ob du welche brauchst, hast du irgendeine Krankheit … oder vielleicht Asthma?<< Ich sah ihn kurz an, dann verneinte ich es mit einer Kopfbewegung.  Ich rutsche gerade wieder ordentlich auf den Stuhl, als ich schrilles Lachen hörte, ich sah nach vorn, dort war eine kleine Ansammlung entstanden, ich sah wie sie mich höhnisch ansahen und dabei falsch grinsten. Ein paar tuschelten noch, ich hörte wie eine bestimmend >>Ich habe doch schon gleich gewusst, dass sie nicht ganz normal ist<< sagte, und sie erhielt einstimmiges Nicken, inklusive Gegrinse. Drei Mädchen lachten noch so schrill, dass es in den Ohren schmerzte, wegen einer Aussage, die ich anscheinend bedauerlicherweise nicht mitbekommen hatte. Ich seufzte nicht mal mehr. Mr. Selens Gesichtsausdruck wurde wütend, als er es mitbekam, er hatte sich gerade umgedreht, und wollte, wie es aussah, gerade mit einem tiefen Atemzug beginnen, sich zudem zu äußern, als die Tür, wie ein Blitz aufgeschossen wurde. Ich hörte ein Klackern und sah ihn. Mein Herz überschlug sich. Wieder diese merkwürdigen Empfindungen. Aufregung breitete sich in meinem Körper aus. Zum Glück musste ich meinen höchst wahrscheinlich peinlichen Gesichtsausdruck, voller Euphorie, nicht sehen, dachte ich einen winzigen Moment. Dann überflutete es die gleichgültigen Gedanken, und ließ nur noch die blanke Aufregung blinken. Der Mann, dem ich letzte Nacht begegnet war stand in der Tür.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Kapitel 4

 

 

Alles war still. Nur seine Stimme durchdrang mit ausgeprägtem Charme, aber auch mit einer Spur Schärfe die gesamte Klasse. Er grinste, aber seine Augen waren kalt. Er strich sich durch seine Haare. Überheblich.Er sah aus wie gestern. Fast.

>>Ein Glück, das Geschrei hat aufgehört! Ich habe mir noch keine Kopfschmerztabletten besorgt.<<

Die Mädchen wurden rot. Mr. Selen lachte, wie auch ein paar andere. Ich sah ihn von unten nach oben an. Ich schätzte den Mann nicht ein, das ging nicht. Ich sah ihn nur an. Ja er sah aus wie gestern, aber wiederum auch ganz anders. Seine durchlöcherte Jeans hatte er durch eine ordentliche, saubere Schwarze ersetzt. Das weiße schlabberige Hemd, das er weit offen getragen hatte, war einem zugeknöpften, perfekt sitzenden, gewichen.  Seine dunklen Haare fielen ihm nicht mehr so sehr ins Gesicht. Seine Haut war dunkler, als ich es in Erinnerung hatte, doch vergangene Nacht, hatte ich es nicht richtig erkennen können. Sie war von einem sonnengebräunten hellem Goldton. Nur seine Haltung war identisch: Eine Hand hielt er in der Hosentasche, die andere lässig am Körper. Und sein kühler Blick, der jedoch nicht mehr ganz so kühl und abweisend war, wie gestern. Er runzelte die Stirn, als konzentrierte er sich. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Manche starrten ihm mit offenem Mund an. Ich zum Glück nicht, denn ich war so konzentriert, dass ich mir auf die Lippen biss. Ich war noch nie so aufmerksam. Außer gestern Nacht, als ich am Fenster saß und ihn zum ersten mal gesehen hatte. Er drehte sich um, nachdem ihm jemand auf die Schulter geklopft hatte. Es war der Direktor, er schüttelte ihm die Hand und sie unterhielten sich für einen Augenblick. Als er gegangen war, war sein Gesicht noch immer nach draußen gerichtet, langsam drehte er den Kopf, um dann ein strahlendes Gesicht zu zeigen. Der pure Gegensatz zu eben. Wollte der uns reinlegen, der Direktor konnte nicht die Ursache dafür sein, dass beschrieb ihn mehr als genug. Manche wunderten sich, manche strahlten ihn naiv an. Ich runzelte meine Stirn. Ich verstand es nicht. Nichts. Was war hier los? Nicht mal diesen Gedankengang konnte ich weiterführen, da meine Gedanken sich auf ihn fixiert hatten. Auf jedes Detail seiner Erscheinung. Mr. Selen klopfte mir mit einem aufmunternden Lächeln, kameradschaftlich auf die Schulter. Ungewöhnlich. Dann klatschte er seine Hände zusammen und rief: >>Das ist Chaise, ein Austauschschüler.<<

Meine Augen weiteten sich. Das konnte ich nicht glauben.  Austauschschüler? Er sah älter aus, als die Leute in der Klasse, und von einer ganz anderen Spate. Nicht wie ein Schüler. Nicht im geringsten. Merkwürdig. Er lächelte arrogant und sah durch die Klasse. Seine Arroganz ließ sich wohl nicht so einfach wegkaschieren.

>>Er wird einen Monat lang bleiben<<

Der erste Gedanke, der mir kam, war, er wird gehen. Er war kurz, doch durchfuhr mich wie ein langes Schwert. Nein!

Mr. Selen schüttelte ihm die Hand und wies dann mit seiner Hand nach vorn. >>Möchtest du dich vorstellen?<<

>>Aber sicher!<< Er ging weiter, bis er genau in der Mitte stand und fing an zu reden. Er spielte mit seinem Charme. Er war gar nicht mehr so wie gestern. Seine Stimme war nicht mehr so ernst und abweisend. Eigentlich hatte ich ihn ja auch gar nicht richtig kennen gelernt, er hatte mich nur hoch getragen. Als ich daran dachte kam mir ein warmes Gefühl, obwohl es eigentlich nass gewesen war. Ich lächelte, sofort, wunderte ich mich, ich hatte noch nie wirklich gelächelt und es auch so gemeint. Ich fasste an meine Lippen und Verwunderung trat mir ins Gesicht.

>>Guten Morgen! Ich bin geradewegs aus Frankreich hierher geflogen. Ich habe mich für einen Austausch nach England beworben und netterweise sofort eine Annahme erhalten. Nun werde ich einen Monat lang das Klassenzimmer mit euch teilen. Ich freue mich darauf England kennen zu lernen … und auch euch<<, er zwinkerte. Er war wirklich anders. Und er sprach anders. Es passte nicht so ganz zu ihm, eigentlich gar nicht. Aber vielleicht würde er mir jetzt sagen, wer er war.

>>Setz dich doch<< Mr. Selen lächelte und wies auf den einzig freien Platz in der letzten Reihe. Ich saß in der vierten Reihe am Fenster. Er in der hintersten, an der gegenüberliegenden Wand. Weit entfernt. Zu weit. Einen Augenblick sah ich wie gewohnt aus dem Fenster, aber es war nur noch eine alte Angewohnheit. Instinktiv schwenkte mein Kopf zum einzig Interessanten. Ich erschrak, als er fast neben mir lang ging und mich mit einem Blick durchbohrte, dem dem gestrigen aufs genauste glich und diesem, den er uns vorgestellt hatte, zum ungenausten. Ernst und nachdenklich. Sein Kopf drehte sich wieder nach vorn und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht mehr sehen, als er an meinem Platz vorbei schlenderte. Als er seinen Platz erreicht hatte und sich setzte war sein Blick wieder so sorglos wie soeben. Ich merkte plötzlich, dass ich mich über den Stuhl in die genau entgegengesetzte Richtung gelehnt hatte. Viele sahen mich an. Ich ignorierte sie und drehte mich äußerlich gleichgültig, wenn auch innerlich widerwillig, um.

Der Unterricht begann. Ich konzentrierte mich auf die Frage, wann ich ihn wieder ansehen konnte. Jetzt?! Ich hatte so lange auf die Erlösung gewartet. Manchmal hatte ich am Fenster gesessen und gedacht, die Erlösung würde niemals eintreffen, ich habe sogar von Zeit zu Zeit daran gezweifelt, dass sie überhaupt existierte. Das Zweifeln war Schmerz. Den einzigen Schmerz, den ich früher gefühlt hatte. Eine dunkle Farbe aus dem ganzen Spektrum, doch jetzt hatte sich das ganze Spektrum der Gefühle offenbart und mich atemlos zwischen den Farben schwanken lassen. Denn meine Ungewissheit war zur Gewissheit geworden und das war alles was ich mir erhofft hatte. Aber um so mehr Hoffnungen sich erfüllen, umso mehr treten wiederum auf, mit der Hoffnung, dass sie sich genauso  erfüllen, damit sie einen erfüllen können. Meine allgemeine Hoffnung war jetzt, alles über ihn zu erfahren. Und ein Teil dieser Hoffnung war, ihn wieder anzusehen, wieso sollte ich es nicht tun, ich hatte lange genug gewartet. Ich drehte mich um, während ich mir in Gedanken noch zustimmte. Dann, bevor ich ihn sehen konnte, wurde mir schwarz vor Augen. Es war schlimmer als das letzte mal. Die Schmerzen waren noch unerträglicher. Funken schossen durch meinen gesamten Körper, ich spürte einen harten Ruck und hörte im Inneren einen Knacks, mein Körper beugte sich und gab dem Schmerz nach. Alles wurde steif nur mein Oberkörper machte zuckende Bewegungen. Mir war Speiübel, ich schnellte hoch und lief so schnell ich konnte los. Meine Gedanken kreisten und  mir war schwindelig. Ich spürte, dass ich viele Dinge umschmiss, aber mir war es egal, ich musste einfach schnell hier raus. Nicht mal mehr an ihn konnte ich denken.

Auf der Toilette angekommen, übergab ich mich mehrmals. Ich war auf den Boden gesunken und lehnte neben der abgeschlossenen weißen Tür. Ich atmete schwer und mein Körper zitterte. Meine Haare klebten an meinem Gesicht und meinen Armen. Es klingelte. Auf einmal hörte ich seine Stimme, die von draußen gedämpft an mein Ohr drang. >>… krümmt sich seltsam. Ich habe so etwas in der Art noch nie gesehen. Wie-<< Er unterbrach seine Stimme. Er musste mit jemandem reden, aber ich hörte den anderen nicht. Wahrscheinlich sprach er über Handy. Aber was mich überaus mehr interessierte, war, dass er über mich sprach. Aber mit wem? Und warum? Seine Schritte entfernten sich immer weiter, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Dann überkam es mich wieder und ich übergab mich nochmals, oder würgte eher, denn ich hatte heute noch nichts gegessen, über der Kloschüssel. Nicht einmal aufstehen, musste ich, nur meinen Kopf in die Richtung der Kloschüssel drehen. Dann sackte mein Kopf wieder kraftlos gegen die Tür. Meine derzeitige Lage wunderte mich, denn ich war noch nie zuvor krank gewesen.

Plötzlich klopfte es an der Tür. An genau meiner Kabine. Ich sagte nichts. Ich machte jetzt bestimmt nicht die Tür auf. Komisch, dass ich niemanden durch die Tür kommen gehört hatte, aber vielleicht war ich zu sehr anderweitig beschäftigt gewesen. Bitte, hatte Mr. Selen niemanden geschickt, um nach mir zu sehen. Und wer hätte sich da schon freiwillig gemeldet.

Mir ging es so schlecht, ich musste mich zwar gerade nicht übergeben, doch ich fühlte mich überaus schlecht und kraftlos. Mein Kopf lehnte an der Tür, meine beiden Hände auf den Boden neben meinem verschwitzten Körper. Ich hatte nicht einmal die Kraft ohne Halt zu sitzen, geschweige denn mich zu bewegen und den Türknauf über mir zu öffnen. Es klopfte noch einmal, diesmal energischer. Was für eine blöde Kuh wollte mich jetzt wieder nerven. Nicht einmal wenn ich krank war, nahmen sie Rücksicht, aber ich hätte nichts anderes erwartet.

>>Verschwinde! Ich komme nicht zum Unterricht. <<

>>Ich breche die Tür auf, wenn du sie nicht sofort öffnest! <<

Ich erschrak. Es war seine Stimme. Er versuchte so leise zu sprechen, wie es ihm möglich war, doch man merkte der warnenden Stimme an, dass dies nicht der wahre Ton war, sondern nur zum Schein eingesetzt wurde, um nicht alle anzulocken.

Ich blieb stumm. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

>>Ich sage es nicht noch einmal! <<, wisperte er leise und bedrohlich. Plötzlich lief mir ein Schauer über den Rücken, seine drohende Stimme, machte mir Angst. Ich sah auf meine Arme, alle Härchen standen ab.

Ich wollte ihm gerade, so unangenehm mir es auch war, erklären, dass ich mich nicht bewegen konnte, als er plötzlich die Tür einschlug. Es war ein krachendes Geräusch. Ich erschrak so sehr, dass ich mich vor Angst, in die andere Ecke quetschte. Ich hielt die Hände schützend über meinen Kopf. Sie würden mir nicht helfen. Die Tür würde auf mich fallen, doch, als sie nicht wie erwartet auf mich fiel. Öffneten sich meine Augen einen Spalt. Da war keine Tür mehr. Dafür lehnte er gegen den Türrahmen, und sah mit verschränkten Armen auf mich herunter. Seine Miene war undurchdringlich und völlig ernst. Er sah aus wie gestern. Langsam sanken meine Arme vom Kopf. Schweigend sah er mich weiter an. Ich fragte mich wieso er nichts sagte, er war doch gekommen, und dann fragte ich mich, wie doof ich wohl aussah, ängstlich ans Klo gequetscht. Ich rückte ein Stück nach vorne. Dann spürte ich wieder dieses Übelkeitsgefühl, drehte meinen Kopf wieder in Richtung Klo, und würgte. Dann versuchte ich so wütend zu gucken, wie ich in dieser Situation konnte, und drehte mich um. Wenn er mich immer noch ansah, war er unverschämt! Mit einer Spur Belustigung sah er mich an. Was für ein dreister Kerl! So neugierig ich auch war, und wie sehr ich ihn auch bewunderte, was erlaubte der sich? Ich atmete tief ein, um Kraft zu sammeln.

>>Hau ab! <<

>>Allzu freundlich. Ein Danke hätte schon genügt! <<

Ich drehte mich wieder um, der sollte mich nicht so sehen.

>>Danke<<

>>Etwas spät, aber-<<

>>-, dass du jetzt gehst! <<

Er schwieg, dann nahm er meine Hand.

>>Komm, steh auf! <<

Hysterisch antwortete ich: >>Sehr lustig, wenn ich das könnte, hätte ich mich schon längst davon gemacht! <<

Sofort darauf, bückte er sich weiter zu mir runter und hob mich hoch. Er zog ab und stellte mich dann vor dem Waschbecken ab, damit ich mich waschen konnte, er hielt mich mit einer Hand fest, mit der anderen hob er die Toilettentür, die er gegen die Kabine, neben der nun Kaputten, gelehnt hatte, wieder in ihre ursprüngliche Lage, sodass es fast aussah wie vorher. Ich musste zugeben, dass er nicht gerade schwach war. Als ich mich fertig gewaschen hatte, hielt ich kurz inne, während meine beiden Hände sich gegen das Waschbecken stützten, und sein Arm, den er um meinen Bauch hielt, mich auf den Beinen hielt. Mein Kopf war gesenkt auf das  Waschbecken gerichtet, ich hob ihn langsam, um durch den Spiegel, direkt in sein Gesicht zu blicken.

>>Mit wem hast du telefoniert? Und warum?<<

Er schien kurz verwundert, dann antwortete er: >>Mit einem Bekanntem, einem Arzt<<

>>Aus England<<, konterte ich seiner schlagfertigen Ausrede.

>>Nein, aber da ich ihn auf Englisch gegrüßt hatte, hat er- wieso willst du über solch belanglose Dinge sprechen, ich denk-<<

>>Du hast über mich gesprochen! <<

>>Woher weißt du das? Aber ja, ich habe über dich gesprochen, … da ich solche Erscheinungen noch nie zuvor gesehen habe und ich dachte er kenne sich vielleicht damit aus. <<

>>Erscheinungen? Und woher solltest du das auch wissen, ich bezweifele stark, dass du Arzt bist. <<

>>Alle wundern sich<<

Ich musste zugeben, es war wahrscheinlich nicht so gewöhnlich. Die Schmerzen, die ich bekam, die meinen Oberkörper zu zuckenden Bewegungen zwangen und den Rest erstarren ließen.

>>Aber warum kümmert dich das? Wie es mir geht, meine ich. Hat dich Mr. Selen geschickt? <<

>>Ins Mädchenklo? Nein …, er hat ein Mädchen gebeten nach dir zu sehen, sie meinte, es ginge dir wieder gut, und du würdest gleich kommen. Ich bin gekommen, weil ich es mir gedacht habe<<

>>Meine Unbeliebtheit ist wohl ziemlich offensichtlich<<

Er zuckte lächelnd die Schultern.

Er war wieder so  täuschend anders. Als er in die Toilette gekommen war, war er wieder wie gestern gewesen. Es war merkwürdig, wie er sich benahm, als würde er sein wahres Ich verstecken.

>>Aber ich will es auch so<<

Nachdenklich sah er mich an. Ich sah ihn immer noch durch den Spiegel an.

>>Ich gehe selber! <<, meckerte ich, als er mich wieder hochheben wollte. Ich sah sein genervtes Gesicht im Spiegel, so war es wieder richtig.

Kapitel 5

 

 Kapitel 5

 

 

Wir sprachen kein Wort, während wir zur Klasse gingen. Ich wusste nicht, was ich sagen könnte. Er starrte nur geradeaus und kniff seine Lippen dabei zusammen, er schien nachzudenken. Als wir vor der Klasse ankamen, hatte es schon geklingelt, aber nur weil ich so langsam gegangen war, doch ich konnte nicht anders, es war so schwer wenn man sich schlecht fühlte und noch dazu versuchte  es zu unterdrücken. Er war die ganze Zeit eher hinter mir gegangen, jetzt ging er nach vorn, um mir die Tür zu öffnen. Verwundert blickte ich ihn an. >>Dank->>

Wütend über meine peinliche falsche Annahme, zog ich die Augenbraun zusammen. Er hatte sie weitläufig geöffnet, um selber als erstes reinzumarschieren. >>Blödmann<<, flüsterte ich. Aber trotzdem komisch, von anderen Leuten hätte ich so was nie erwartet, warum erwartete ich es also bei ihm? Was sollte das alles?

Unerwartete schnellte eine Hand aus der Klasse und zog mich hinein. Ich stolperte zu schnell ins Klassenzimmer. In meinen Kopf ruckelte alles, ich sah alles unklar.

>>Wo warst du? War dir übel? <<, hörte ich seine verärgerte Stimme flackernd.

>>Jetzt ja!<<

Ich spürte Blicke auf mir.

Mr. Selen kam zu mir. Er legte eine Hand auf meine Schulter. >>Geht es dir schlecht? Möchtest du lieber nach Hause? <<

Ich fühlte mich so schlecht, ich konnte nicht einmal mehr antworten. Das, was ich sah flackerte und wurde dunkler. Die Sonne ging unter. Auf einmal spürte ich seine Hand an meinen Arm. Ich wurde wacher.

>>Hmm …, ja sie möchte lieber nach Hause gehen. Ich glaube sie hat eine Magenverstimmung. Ich bringe sie sofort nach Hause. <<

Mr. Selen nickte dann sagte er mit Betonung: >>Sie sollte zum Arzt! <<

Sein Griff wurde fester.

>>Ja<<

>>Gut, ich verlasse mich auf dich Chaise, danke für deine Bemühung<<

>>Sicher<<

>>Aber Moment, meinte Susan nicht, dass es ihr wieder gut ginge<<

Ich schaffte es noch zu lächeln.

Mr. Selen drehte sich zu ihr.

>>Wir sprechen uns noch<<, sagte er wütend.

Susans Stimme kam stotternd, doch auch mit versuchter Empörung hervor: >>Ich … aber … aber, ich habe sie nicht gefunden. << >>Ja<<, stimmte sie sich noch mal selbst zu.

>>Aha<<, antwortete Mr. Selen, alle wussten, dass sie log, aber er hatte keine Lust sich darauf einzulassen.

Chaise’ ernste Stimme gewann wieder die Aufmerksamkeit: >>Mr. Selen<<

>>Oh ja, natürlich, ihr könnt gehen. <<

>>Ach, aber noch eines. Lea, ich hoffe du hattest nichts dagegen, dass Chaise’ deinen Aufsatz vorgelesen hat. Ich hatte ihn ja noch und er war wirklich gut und ich wollte mit dem Thema abschließen. Susan sagte ja du erlaubtest es. <<

>>Ist okay<<, mehr konnte ich nicht mehr hervorbringen.

>>Wir gehen<<

Er ließ mich los, holte unsere Taschen und schon hielt er mich wieder.

Er riss die Tür auf und ich hörte Mr. Selen uns noch hinterher rufen: >>Gute Besserung<<

Die Tür knallte zu.

Mit einem Mal lag ich wieder in seinen Armen.

>>Hier ist keiner, ich weiß, dass es dir Unangenehm ist.  Doch ich sehe wie es dir geht. <<

Er eilte zum Auto. Als er mir die Beifahrertür öffnete, erinnerte ich mich plötzlich.

Er hatte mich schon ins Auto gesetzt, als ich schrie: >>Waaas? <<

Er ignorierte es und knallte die Tür zu. Empört sah ich ihn durch die Fensterscheibe an. Hochnäsig ging er weiter. Er warf die Taschen auf die Rückbank und setzte sich.

>>Ich weiß<<

>>Du gibst es also zu<<, rief ich verwundert.

>>Klar<<

Er knallte die Tür zu.

Sein Blick verriet mir, dass er mich für dumm hielt.

>>Es ist ein schönes Auto, ich weiß, aber deshalb so eine Show zu machen! <<

Er schüttelte den Kopf.

>>Huh, ich glaube es nicht! <<, schrie ich.

>>Hast du vor dich dumm zu stellen? Du weißt genau wovon ich spreche! <<

Jetzt hatte er sich voll und ganz zu mir gedreht.

>>Du scheinst ja total genesen zu sein<<

>>Heute Morgen! Du hast mich verfolgt!!<<

Er verdrehte die Augen und drehte sich wieder um, um loszufahren.

Ihn schien es gar nicht zu interessieren.

>>Ich bin nur zur Schule gefahren<<

>>Nein! Ich habe es gemerkt. <<

>>Wenn du meinst, ich habe kein Bedarf dieses Thema fortzusetzen. <<

Es schien ihn zu nerven.

>>Nervt es dich, dass ich es herausgefunden habe? <<

>>Nein, mich nervt, dass du über jeden Kleinkram reden willst. Es gibt weitaus wichtigeres! <<

>>Sag mir doch einfach weshalb<<

Er schwieg. Feigling!

Ich gab nach. >>Was gibt es denn so wichtiges? <<

Er schien noch genervter, ich glaubte es nicht, jetzt sagte ich schon was er wollte und dann das.

Gleichgültig sprach er: >>Zu wichtig für dich<<

>>Deswegen sagst du mir also, dass es wichtigeres gibt, um mir das zu sagen! <<

>>Nein, damit du still bist, ich muss nachdenken<<

Ich erwiderte nichts, ich merkte, dass er es völlig ernst meinte.

Immer wieder sah ich ihn von der Seite an, manchmal blickte er einfach nur ernst drein, doch manchmal runzelte er so sehr seine Stirn, dass ich mich wunderte worüber er wohl nachdachte.

Nach einiger Zeit sagte er lachend: >>Sehr aufschlussreich und Interessant, dein Aufsatz<<

Verwundert, angesprochen zu werden, drehte ich verwirrt meinen Kopf.

Ich zog meine Augenbrauen zusammen und sah ihn nachdenklich an.

Kurz sah er mich an, dann wieder auf die Straße.

>>Was? <<, fragte er.

>>Ich habe das geschrieben, was von mir erwartet und gewollt wurde. Mr. Selen wollte es so. <<

Er runzelte die Stirn.

>>Was willst du damit sagen? <<

>>Er ist nicht wahr<<

>>Verstehe, es ist dir peinlich. Aber alle in der Klasse waren positiv erstaunt. Ich denke, sie denken eigentlich anders über dich. <<

>>Die Arbeit in der Eisdiele und in der Bibliothek, die Freunde, die ich nicht habe, die Pflegeeltern, die ich kaum noch sehe, weil ich sie nicht sehen will, die Eltern die ich nicht kenne, sind meine Erfüllung und mein Sinn des Lebens.<<

Er sah mich an.

>>Was? <<, fragte er überrascht.

Wieder sah er auf die Straße.

>>Aber im Aufsatz stand, dass du dich oft mit deinen Pflegeeltern triffst und mit deinen Freunden so oft es geht ausgehst und …, dass du nicht wüsstest, was du ohne diese ganzen Menschen machen würdest. <<

>>Ja, das steht da. Und der Satz, dass ich nicht wüsste, was ich ohne sie machen sollte, stimmt voll und ganz, im Gegensatz zu dem Rest. Der Rest ist nicht wahr. <<

Ich sah aus dem Fenster, mir wurde wieder klar wie ich lebte.

Ich seufzte.

Er schien verwirrt.

>>Also ist alles unwahr, bis auf den einen Satz? <<

>>Ja<<

>>Aber das ergibt keinen Sinn! <<

Ich seufzte wieder.

>>Deine Freunde, die du nicht hast, und die Arbeit, die du nicht magst, wie deine Pflegefamilie, mit der du auch nicht so klarkommst. Wie kann es sein, dass du schreibst, dass du nicht wüsstest, was du ohne sie machen würdest, wenn du … sie gar nicht hast, jedenfalls nicht so wie beschrieben? Das … verstehe ich nicht<<

Ich sah nach draußen, aber ich sah nichts von dem.

>>Scheint dich ja zu interessieren<<

>>Ja<<, sagte er trocken, nun war sein Ton frei von der Überheblichkeit, wie sein Gesicht. Er meinte es ernst.

>>Ich habe das alles in Wirklichkeit nicht … und ich schrieb, ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen sollte.

Damit meinte ich eigentlich, dass ich es nicht weiß. Ich habe beschrieben, was der Fall ist.

Ich habe niemanden. Nicht wirklich. Keiner, der zu mir steht. Und ich habe niemanden, zu dem ich stehe. Es geht nicht. Es erscheint mir hier alles so gleichgültig, so unwichtig. Wie die Menschen … alles läuft an mir vorbei, ich laufe vorbei. Vielleicht könnte ich mich nach ihrem Geschmack verstellen, aber das will ich nicht. So kann ich auch nicht glücklich sein. Es wäre eine Lüge. Glück ist für mich eine Lüge. Es wird immer so bleiben, weil ich mich nicht verändern kann, verstehst du? <<

Meine ganzen verborgenen Emotionen sprudelten aus mir heraus, als ob es normal wäre, aber ich war noch niemandem gegenüber so offen gewesen.

Wir schwiegen.

>>Also hast du … keinen Sinn im Leben? <<

Er sagte es so ernst, er nahm mich ernst. Nicht wie alle anderen. Ich nickte. Mehr konnte ich nicht. Mein Gesicht war auf das Seitenfenster gerichtet. Mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich wollte es stoppen, aber ich bekam es nicht hin. Alle Traurigkeit machte sich nun äußerlich bemerkbar.

Er schwieg wieder.

Meine Tränen verstärkten sich, ich konnte nichts machen, sie liefen nur so über mein Gesicht. 

Plötzlich bog er in eine mir unbekannte Gasse und stellte das Radio laut an.

Ich drückte es aus.

>>Wo willst du hin? <<

Er sah mich an, sein Blick wurde nachdenklicher, als er wieder auf die Straße sah, wurde mir erst klar, dass mein Gesicht tränenverschmiert war.

Ich stellte das Radio wieder an und verstärkte die Lautstärke.

Das ganze Auto dröhnte, es fühlte sich gut an. So konnte ich entspannen.

Mir fuhr ein starker Wind ins Gesicht und ich öffnete die Augen. Chaise stand vor mir, die Hand auf die offene Autotür gelegt.

>>Gut geschlafen?<<

Ich sah ihn böse an, bevor ich mich umschaute.

Dann sagte ich langsam: >>Wo sind wir? <<

>>Steh erst einmal auf<<

Er reichte mir seine Hand und zog mich hoch.

>>Wenn es mir schlecht geht, verschwinde ich immer an windstarke Orte, das tut gut, insgeheim hoffe ich aber dennoch immer, dass der Wind mir einfach meine derzeitigen Probleme für einen kurzen Augenblick wegbläst. Das klappt nie ganz. Aber vielleicht bei dir.<<

Ich lächelte sarkastisch.

>>Soll das ein Witz sein? <<

>>Komm! <<

Er hatte mich zu einem Strand gefahren. Es musste Stunden gedauert haben hierherzukommen, jedenfalls wusste ich nichts von einem Strand.

Ich folgte ihm missmutig. Was sollte das?

Wir gingen eine Weile ohne zu reden.

Abrupt blieb er stehen.

>>Hier ist es gut. Atme tief ein und schließe deine Augen. <<, rief er laut gegen den Wind.

Er schob mich nach vorn, sodass ich direkt vor dem Meer stand. Ich runzelte meine Stirn und sah ihn an. Meine Haare fegten durch mein Gesicht, sodass ich ihn kaum sehen konnte.

Er hatte seine Augen geschlossen.

Widerwillig sah ich nach vorn und schloss meine Augen ebenfalls.

Der kalte Wind in meinem Gesicht, wie er um meinen ganzen Körper wehte, das alles tat so gut, es war befreiend.

Langsam verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Ich wollte, dass es nie aufhörte. Noch nie hatte ich mich so frei gefühlt. Ich wusste nichts. Stand nur da und spürte den Wind, hörte das tobende Rauschen des Wassers, das meine tobenden Gefühle mit sich zu reißen schien und sie mit sich in die Tiefen des Meeres verschlang.

Langsam spürte ich immer deutlicher, ein Rucken an meinem Arm. Ich wurde wieder in die Realität gezogen und hörte immer deutlicher, wie Chaise meinen Namen rief.

Ich drehte mich zu ihm um.

>>Geht’s dir gut? Du hast nicht reagiert, als-<<

>>Danke<< Ich lächelte.

>>Hat es geholfen? <<

Ich nickte.

>>Ich hoffe nur, das es noch ein bisschen nachwirkt<<

Es dämmerte, als wir über die, unter unseren Füßen knackenden Ästen, am Strand entlang wanderten.

Bei der Rückfahrt hielt er plötzlich vor einer, mit Neonlichtern versehenen Bar an, in die lachende Menschen hinein liefen. Es war ziemlich überfüllt.

>>Lust auf eine kleine Aufwärmung<<

>>Klar! <<

In der Bar war es stickig vom Rauch der Zigaretten. Ich konnte kaum etwas erkennen, doch Chaise führte mich zielstrebig zu einem kleinen Tisch. Ich setzte mich, während er an die Theke ging, um uns etwas zu bestellen.

Die rostige Türglocke kündigte dumpf einen neuen Kunden an.

Ich hörte laut in meinem Kopf, die widerhallenden Schritte, konzentrierte mich darauf. Das Klackern kam immer näher, dann verstummte es.

Aufgeregt sah ich mich um. Ich war total durcheinander. Was war los?

Das Stechen in meiner Brust flammte wieder auf, es war jedoch nicht so schlimm wie vorhin. Doch alles schien sich zu drehen. Ich versuchte mich zu konzentrieren.

Plötzlich spürte ich in meinem Blickwinkel ein Stechen, Augen waren auf mich gerichtet, in Zeitlupentempo drehte ich meinen Kopf, in die Richtung des Blickes. Dumpf hörte ich wieder die Türglocke.

>>Fort<< flüsterte ich frustriert, obwohl ich den Grund nicht einordnen konnte.

Der Schmerz flaute ab.

Chaise stand etwas entfernt, als er näher kam, fragte er: >>Fort? Was ist geschehen? <<

Meine Stirn war gerunzelt. >>Ich weiß nicht, eben war jemand gekommen … wegen mir! Denke ich. Es war merkwürdig, ich sah ihn nicht, aber ich kannte ihn, irgendwie… und auf einmal war er fort. <<

Chaise setzte sich. Er dachte angestrengt nach.

>>Vielleicht war es keine so gute Idee hierherzukommen<<, murmelte er nach einiger Zeit.

 

 

 

 

 

 

Als wir vor der Haustür hielten, dachte ich über den Tag nach.

Er öffnete die Tür. Doch ich zog ihn zurück.

>>Warte!<<

Verwirrt sah er mich an.

>>Was ist dein Sinn des Lebens? Hast du einen? <<

Erst sah er mir undurchdringlich in die Augen, und überlegte wahrscheinlich, ob er die Wahrheit sagen sollte, dann senkte er den Blick.

>>Eine Zeitlang hatte ich viele, so wie die Leute hier, Freunde, Familie, Arbeit, aber dann … hatte ich irgendwann nur noch den einen-<<, seine Stimme versagte und seine Augen nahmen den Blick eines Raubtieres an.

Ich überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte, aber ein stand fest: Es war die Wahrheit.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 29.10.2015

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