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Barbesuch



Es war noch früh am Abend, als Sam die Bar betrat. Der Name der Bar spielte keine Rolle für ihn. Hautpsache er konnte hier für einen Moment abschalten und die vergangenen Monate zumindest für eine Weile vergessen.
Er bewegte sich schnell auf den Tresen zu. Obwohl die Bar nur schwach beleuchtet war, fühlte er sich beobachtet. Er beschleunigte seine Schritte. Ein seltsam aussehender Mann, der alleine an einem Tisch saß, musterte ihn schräg von der Seite. Sam warf ihm nur kurz einen Blick zu, ehe er sich dem Barkeeper zuwandte. Er war groß gewachsen und hatte einen auffällig langen Bart. Aus irgend einem Grund kam er Sam vertraut vor. Als dieser ihm dann auch noch zunickte, wurde Sam leicht mulmig zumute. Kannte er diesen Mann? Diese Bar? War er hier womöglich schon einmal gewesen? Er versuchte sich zu erinnern ...
"Was darf's sein?" Mit der Frage riss der Barkeeper ihn aus seinen Gedanken.
"Whisky, Singlemalt", antworte Sam ohne groß darüber nachgedacht zu haben.
Der Whisky schmeckte leicht nussig und hatte ein sanftes Honigaroma. Auch das kam ihm seltsam vertraut vor. Wieder regte sich ein Strom von Gedanken in seinem Kopf. Doch Sam war nicht in der Stimmung schmerzliche Erinnerungen ans Licht rücken zu lassen.
"Noch einen." Er würde heute reichlich von dem Zeug brauchen.
Der Abend zog sich kriechend und unspektakulär dahin. Ganz so, wie Sam es wollte. Gäste kamen und verschwanden bald wieder. Er selbst bestellte einen Drink nach dem anderen, und der Barkeeper erfüllte ihm all seine Wünsche.
Der Alkohol machte seinem Ruf alle Ehre. Sam fühlte sich wie betäubt durch die hochprozentige Flüssigkeit. All die Erinnerungen an seine Wehrzeit, die ihn tagein, tagaus quälten, wurden von dem Alkohol ertränkt. Und doch konnte er nicht gänzlich vergessen. Egal, wieviel er von dem guten Whisky trank, an eine Sache würde er sich selbst dann noch schmerzlich erinnern: Das Bild eines abgemagerten alten Mannes, der mit flehendem Gesichtsausdruck vor ihm kniete und stumme Worte einer fremden Sprache murmelte.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Sam zuckte zusammen und verschüttete versehentlich den Rest seines Glases. Die helle Flüssigkeit rann langsam den Tresen hinab.
"Ich wollte dich nicht erschrecken." Es war eine Frau, anfang 30 vielleicht. Sam machte sich nichts vor, denn er wusste, dass er ungepflegt und schäbig auf andere wirken musste. Entweder war sie also eine Nutte oder eine Angestellte in der Bar, die ihn nun darauf hinweisen wollte, dass es Zeit war zu gehen.
"Henry meinte, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen." Sie sagte das ganz nüchtern, während sie dem Barkeeper, der gerade den Tresen säuberte, einen Blick zuwarf.
Eine Prostituierte also.
Sam zuckte lediglich mit den Schultern. Ihm war nicht nach Reden zumute, also nickte er ihr nach kurzer Überlegung nur zu, und sagte damit alles, was es zu sagen gab. Sie führte ihn eine lange Holztreppe nach oben, in ein abgedunkeltes Zimmer mit nur einem großen Bett. Für einen Moment hielt Sam inne. Wieder dieses Gefühl, als ob er diesen Raum und diese Situation bereits kannte. Wieder verdrängte er es.
Sie war schön und bemühte sich wirklich ihm zu gefallen, was selten der Fall war. Gerne hätte auch er ihr gefallen, doch nach nicht einmal zwei Minuten war der Spaß schon zu Ende. Sam schämte sich. Er konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
"Ist schon gut", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Wir haben die ganze Nacht ..."
Sie stieg aus dem Bett und entschuldigte sich für einen Moment. Sam sah ihr hinterher, aber in Wirklichkeit war sein Blick auf etwas anderes gerichtet. Etwas, das vor langer Zeit geschehen war ... Wieder blitzte das Bild des knieenden Mannes vor seinem inneren Auge auf. Verzweifelt versuchte Sam an etwas anderes zu denken – aber vergeblich. Er sah sich nach einer Flasche Alkohol um, doch fand er keine in dem Raum. Panik überkam ihm. Er wusste, was nun folgte. Das Bild in seinem Kopf wurde schärfer, die Worte, die gesprochen wurden, lauter, sogar der Gestank, der in jenem verarmten Stadtteil, in dem er damals stationiert war, kam wieder auf.
Jetzt sah sich Sam selbst. Er war ein Beobachter seiner eigenen Vergangenheit, und was er sah, ließ ihn Tränen in seine Augen treiben. Er sah einen unerfahrenen, dummen Soldaten vor sich, der eine Waffe auf einen hilflosen Bürger richtete. Hinter seinem alten Selbst standen weitere Soldaten, die ebenfalls Waffen in ihren Händen hielten, einander Befehle zuriefen und andere Zivilisten in Schach hielten.
Sam war nun wie vertieft in seine Erinnerung. Von weit her vernahm er eine zarte Stimme; er ignorierte sie. Was er jedoch nicht ignorieren konnte, war die Szene in seinem Kopf, die sich nun zum vielleicht tausendsten Male abspielte. Er sah sich selbst mit der Waffe in der Hand. Er sah den armen, alten Mann. Er wusste was geschehen würde, und dennoch war es so schmerzlich wie eh und je. Der alte Mann murmelte weiter vor sich hin, doch jetzt griff er in seine Jackentasche. Sein vergangenes Ich brüllte dem Mann entgegen.
Was genau er in diesem Moment vor so langer Zeit gesagt hatte, wusste Sam heute nicht mehr. "Bewegen Sie sich nicht!" oder "Nehmen Sie ihre Hände aus der Tasche!". Vielleicht hatte er ihn auch auf irgendeine Art und Weise beleidigt. Doch der Mann hatte ihn nicht verstanden.
Er zog etwas aus seiner Tasche und streckte seinen Arm nach Sam aus ... Es gab einen Knall. Dann Schreie. Dann ...
"... Blut. Überall Blut. Erschossen. Ich-", flüsterte Sam ohne es zu bemerken. Er sah die Leiche in seinem Kopf. Sie zuckte noch kurz mit den Armen, dann lag sie still da. Der schneebedeckte Boden war durchtränkt mit roter Farbe. Die Faust des nun toten Mannes öffnete sich. Eine Art Talisman mit eingravierten Bild fiel in die Lache aus Blut. Langsam wurden die Gesichter der jungen Familie von dunkler Flüssigkeit bedeckt ...
Sam sah auf. Er befand sich in einem abgedunkelten Raum. Er saß auf einem Bett. Wie war er hierher gekommen? Eine schöne Frau, die an eine Tür lehnte, blickte ihn angsterfüllt an. Wo war er? Was war geschehen? Er wollte die Frau fragen, doch ihr ängstlicher Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Hatte er ihr was angetan?
Er musste von hier verschwinden.
Schnell zog er sich an, stand auf, verließ das Zimmer. Er sah sich kein einziges Mal um, als er eine Treppe nach unten ging. Er kam in einen Raum voller Leute, in dem schwach Musik erklang. Am Thresen nickte ihm der Barkeeper kurz zu. Sam überlegte, ob er ihn kannte. Nein ... dann verließ er die Bar schnellen Schrittes, nicht jedoch ohne dabei mehrfach fremde Leute anzurempeln. Ein anderer Gast, der alleine an einem Tisch saß, rief ihm noch etwas hinterher, doch da war Sam schon durch die Tür verschwunden.
Draußen angekommen sah er nach oben. Es begann zu schneien. Die Schneeflocken riefen erneut Erinnerungen hervor. Sam rannte davon. Weg von dieser Bar und in der vergeblichen Hoffnung, er könne so auch seiner Vergangenheit entkommen.

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Tag der Veröffentlichung: 25.08.2010

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