Cover

Die Krönungsfeier


(um 1700)




Es herrschte reger Betrieb innerhalb der Festungswalle auf dem Anwesen der Volpert. Die Krönungsfeier der Königsfamilie würde in zwei Monden stattfinden. Die Vorkehrungen für dieses Fest wurden seit vielen Tagen und Nächten getroffen. Am Burghof, der etwa die Größe von vier stattlichen Häusern maß, tummelten sich viele Gestalten.
Leonard erkannte am Burgwall mehrere Sklaven, die riesige und zum Teil farbenprächtige Banner aufstellten. Einige dieser Banner zeigten einen schwarzen Löwen mit hervorstehenden, spitzen Zähnen auf weißem Hintergrund. Es war das Zeichen der königlichen Familie. Zu ihr gehörte Leonard. Er war der Sohn des amtierenden Herrschers über die alte, wahre Rasse der Vampyre. Sein Vater, Cornelius Volpert III., war ein stolzer Vampyr, der immerzu nach Macht strebte. Er bewahrte die alten Traditionen und stellte sie über alles andere. Dutzende Sklaven unterstanden seinem Befehl.
Leonard stand auf einer der Zinnen des Schlosses. Dort war er oft. Zum einen lag es an der wunderbaren Aussicht über das gesamte Land, aber es war auch ein Platz, an dem man nachdenken konnte. Alles war eben, und sein Blick reichte viele hundert Meter weit in die Ferne. Das Schloss wurde auf der einen Seite von einem Meer aus dunklen Nadelbäumen umschlossen, auf der anderen Seite befand sich ein großer See. Das Anwesen seiner Familie lag etwa eine Stunde von der nächsten größeren Menschenstadt entfernt: London. Ganz selten kam es vor, dass Menschenkarawanen hier vorbeifuhren. Meist waren es dann Händler aus Bourmate, die nach London reisten, um ihre Ware zu einem überteuerten Preis zu verkaufen. Die Menschen hielten das Schloss für das Eigentum ihres Königs. Auch wussten sie, dass man besser einen großen Bogen um das Grundstück tat. Es gab viele, zum Teil wahnwitzige Erzählungen über diesen Ort.
Leonard lächelte. Es war gut, dass es diese Geschichten gab. Ansonsten würden wohl noch mehr Händler und Reisende seinen Artgenossen in die Hände fallen. Er wusste, dass viele Vampyre nur darauf wartenden. Für sie war es eine willkommene Gelegenheit ihren Durst zu stillen, ohne dabei extra in Städte oder Dörfer reisen zu müssen.
Leonard lehnte sich gegen den harten Stein. Er genoss es, wie der Frühlingswind sanft seine Haut streichelte, nur um dann weiter gen Süden zu ziehen. Wie gerne wäre er ihm gefolgt. Doch er konnte nicht von hier fort. Als Vampyr königlichen Blutes, war es seine Pflicht, hier bei seiner Familie sein Dasein zu fristen. Bald würde sein Vater einen Nachkommen für den Thron wählen. Leonard war sich sicher, dass nicht er es sein würde, für den sein Vater sich letztendlich entscheiden wird. Die Wahl wird also zwischen seiner Schwester Constantia und seinem Bruder Dominic fallen.
Ein trauriges Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Leonard war die Schande und Enttäuschung seines Blutes. Dies sagte ihm sein Vater bereits seit Jahrzehnten. Der einzige Vampyr, der zu ihm hielt, war seine Schwester, Constantia. Sie allein war ihm noch geblieben. Oftmals saß sie gemeinsam mit ihm hier auf dieser Turmspitze. Gemeinsam betrachteten sie dann den schwarzen Himmel mit seinen unzähligen Lichtern, der wie ein sanftes Tuch über ihnen lag. Doch in letzter Zeit war es immer seltener vorgekommen, dass seine Schwester Zeit für ihn hatte. Sie lieferte sich einen erbitterten Kampf mit ihrem Bruder Dominic. Beide wollten sie Thronerben werden. Doch nur einer kann über seine Rasse herrschen. So war es immer schon gewesen ... Dies veranlasste seine Geschwister wie Feinde gegeneinander zu kämpfen und Intrigen zu spinnen. Leonard wollte nichts damit zu tun haben. Das war nicht seine Welt. Er fühlte sich hier fremd. Seit er denken konnte, wollte er ausbrechen. Geboren als Vampyr, ein seelenloses, blutdürstendes Wesen, das niemals das Licht der strahlenden Sonne sehen durfte. Er war dazu verdammt in Dunkelheit zu leben. Das war sein Schicksal!
Im Gegensatz zu seinen Artgenossen, beneidete er die Menschen. Sie waren bei weitem nicht so stark wie die Vampyre und lebten nur für kurze Zeit. Doch waren sie frei. Sie konnten das helle Tageslicht genießen, genauso wie das des Mondes und der Sterne. Wie gern würde er mit ihnen tauschen ... Stattdessen wurde er gezwungen, ihren Lebenssaft zu trinken.
Damals, vor schier unendlicher langer Zeit, als er noch ein kleiner Junge war, hatte er noch ohne Fragen zu stellen, das Blut getrunken, das man ihm gab. Erst mit zunehmendem Alter, als er gesehen hatte, wie ein Mensch blutrünstig getötet wurde, war ihm der Appetit nach menschlichem Blut vergangen. Dies war auch die Zeit, in der sein Vater den Stolz auf ihn verloren hatte. Seitdem hat sich Leonard nur noch von Tierblut ernährt. Es war bei weitem nicht so wohlschmeckend und kräftigend wie das eines Menschen. Aber wenigstens hatte er keine Gewissensbisse mehr. Dafür war er nun schwächer als die anderen Vampyre. Seine Schwester hatte oft mit ihm darüber diskutiert und gesprochen:
„Sieh mal. Die Menschen stehen über den Tieren. Sie jagen, töten und essen diese. Unsere Rasse steht über der der Menschen. Also ist es unser Recht, denn wir tun nur das mit dem Mensch, was er selbst mit dem Tier macht. So ist nun mal die ewige Rangordnung. Sie sind unsere Nahrung, so wie die Tiere es für die Menschen sind.“ Es war einleuchtend. Dennoch war es falsch.
Leonard fuhr sich durch sein Haar. Es hatte keinen Sinn länger darüber nachzudenken. Auf der einen Seite sehnte er sich nach dem Blut der Menschen, das ihm seine alte Stärke zurückgeben würde. Doch auf der anderen Seite ekelte er sich davor. Nein, er würde seinem Drang nicht nachgeben!
Leonard erhob sich. Unter ihm war in etwa zwanzig Fuß das Ziegelsteindach des Schlosses. Leichfüßig sprang er vom Turm hinab. Wenig später landete er taumelnd darauf. Beinahe wäre er auf die Schnauze gefallen. Verflucht! Das konnte er auch schon einmal besser ...
Als er sich wieder im Inneren des Schlosses befand, ging er gemächlich mehrere graue Gänge entlang. An den dunklen Wänden waren im Abstand von etwa zehn Metern Fackeln befestigt, die schwaches Licht gaben. Daneben hingen meist Gemälde von seiner Familie. Es waren Portraits von ehemaligen Herrschern, die kokett lächelten und stolz ihre spitzen Zähne preisgaben. Als er weiterging, verschwanden die Gesichter seiner Ahnen. Stattdessen sah man jetzt Bilder, die blutige Schlachten aufzeigten. Leonard kannte die meisten bereits und warf nur kurze, angewiderte Blicke auf ein paar einzelne. So zum Beispiel missfielen ihm viele Bilder, auf denen Menschenopfer gezeigt wurden. Auch die Zeichnungen über die alte Feindschaft der Vampyre und der Wolfsrasse waren zum Teil grausam anzusehen. Meist war darauf ein riesiges Wolfswesen abgebildet, das von Vampyren niedergestreckt wurde. Leonard durchfuhr ein leises Kribbeln. Es lag wohl in der Natur seiner Rasse, dass er Werwölfe verabscheute. Zwar kannte er keine Furcht, doch alleine der Gedanke an diese Bestien ließ ihn frösteln.
Er war froh, als er endlich die Eingangshalle erreichte. Als er durch die Tür trat, fielen ihm sofort die vielen Gestalten auf, die unten vor dem großen Marmortor beieinander standen und leise tuschelten. Leonard wusste, wer sie waren. Er konnte seine verächtliche Miene nicht ganz verbergen. Mit erhobenem Haupt ging er die Treppe, die mit rotem Samtteppich ausgelegt war, hinunter. Das Flüstern der kleinen Gruppe erstarb und als sie ihn erkannten, grinste einer von ihnen. Leonard erkannte ihn sofort an seiner großen Gestalt und den schwarzen, langen Haaren, die zu einem langen Pferdeschwanz elegant zusammengebunden waren. Seine äußerliche Vollkommenheit täuschte. Giscard Fetherston war einer der grausamsten Vampyre, die Leonard kannte. Leider stand er seinem Vater zu nahe. Dies gab ihm scheinbar seine unermessliche Arroganz.
„Leonard. Es war unsere Hoffnung, dich hier anzutreffen.“, sagte Fetherston mit öliger Stimme, als Leonard bereits seine Hand am Türknauf hatte, um den Raum zu wechseln. Leise seufzte er und drehte sich zu der Gruppe um. Alle musterten sie ihn. Die einen verbargen ihre Abneigung kaum. Es war verboten, sich einem Königsmitglied respektlos gegenüber zu verhalten. Doch war es so, dass keiner der alten Rasse, Leonard je mit viel Respekt behandelt hatte, auch wenn er auf dem Papier über ihnen stand.
„Giscard. Ich wünschte, ich könnte das selbe behaupten. Ich will euch nichts vormachen, aber ich muss noch viele Vorkehrungen treffen.“, sagte Leonard bemüht abfällig. Fetherston jedoch schien seinen Unterton zu ignorieren.
„Davon bin ich überzeugt. Warum fängst du nicht gleich damit an, die Nahrung für das Festmahl auszusuchen?“
Giscards Grinsen war kalt. Leonard schien sich verhört zu haben. Für einen Moment sah er Fetherston überrascht an. Wie konnte dieser Mistkerl es wagen, ihn so zu beleidigen! Die Wahl der Nahrung war die Arbeit der Sklaven und Diener. Leonard ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte seine Entrüstung und seinen Zorn nur schwer im Zaum halten.
„Ich habe von deiner Ernennung gehört, Fetherston. Es freut mich wirklich für dich. Endlich hat man dir einen Grafsitz mit Sklaven anvertraut. Vielleicht hält dich das nun davon ab, das Blut von wehrlosen Kindern zu trinken.“ Leonard legte so viel Abneigung und Spott wie möglich in seine Worte. „Dein neuer Rang aber gibt dir noch lange nicht das Recht, mich zu beleidigen oder mir Befehle zu erteilen. Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Ich bin keiner deiner Sklaven.“
Eigentlich hätte Leonard ihn von hier hinauswerfen sollen. Schließlich war er von königlicher Abstammung. Auch wenn Leonard selbst nicht viel darauf gab, wusste er, dass es für die Vampyre von großer Bedeutung war. Er drehte sich um und wollte von hier verschwinden. Doch Fetherston war noch nicht fertig.
„Natürlich kann ich dir keine Befehle erteilen. Doch der Herrscher vermag dies. Und er wünscht, dass du die Nahrungswahl triffst. Am besten tust du das sofort, vielleicht lässt er mir noch weitere Aufgaben für dich ausrichten ... Leonard, Königssohn.“
Das war zu viel! Blanker Zorn überkam Leonard. Er fuhr herum und sah in Giscard Fetherstons verhasstes Gesicht. Leonard ignorierte die übrigen Vampyre, denen blankes Entsetzen im Gesicht stand. Fetherstons Grinsen war noch immer nicht verflogen.
„Wie kannst du es wagen! Königliches Blut fließt durch meine Adern ...“, sagte Leonard entrüstet.
„Königliches Blut vielleicht, doch sehe ich nichts ehrwürdiges in deinen Worten oder Taten ...“
Leonard stürzte auf ihn zu. Er hatte ja gewusst, was sie von ihm dachten, doch dass nun tatsächlich jemand es gewagt hatte, dies laut auszusprechen, war zuviel. Leonard fuhr seine Klauen aus und wollte Fetherston mit seiner Rechten den Kopf einschlagen. Der jedoch war scheinbar auf seinen Angriff vorbereitet und wich ihm mühelos aus. Nur schwach vernahm er das entsetzte Keuchen der anderen Vampyre, die die Kämpfenden beobachteten.
Die beiden Kontrahenten umkreisten einander. Leonard wartete darauf, dass Fetherston ihn angriff. Als dies nicht geschah, sprang Leonard mit all seiner Kraft in die Richtung seines Gegners, um seinerseits in die Offensive zu gehen. Er täuschte einen Tiefschlag an, nur um dann mit seinen Klauen erneut sein Gesicht zu attackieren. Verfehlt!
Fetherston war verschwunden. Hektisch blickte sich Leonard um. Als er seinen Kopf wand, spürte er einen sengenden Schmerz in seiner Brust. Es riss ihn gleichzeitig von den Beinen und warf ihn zurück gegen die Wand. Hart prallte er mit dem Kopf voraus gegen das kalte Gestein. Blut quoll aus seiner Wunde hervor und ihm wurde schwarz vor Augen. Er war einfach zu schwach. Wie erniedrigend ... Fetherston würde ihn brüskieren bis an sein Lebensende. Langsam öffnete Leonard seine Augen. Vor ihm stand jemand. Das war sicher Fetherston! Doch als die Gestalt sprach, war es nicht die Stimme seines verhassten Feindes. Leonards Augen weiteten sich vor Scham.
„Du bist eine Enttäuschung. Schwach wie ein Einfacher ... Geh, und erwähle die Festopfer!“
Ohne jemanden anzuschauen, verschwand Leonard aus dem großen, runden Saal. In seinem Kopf ratterte es. Nie zuvor hatte ihn jemand so respektlos behandelt wie Fetherston es vorhin getan hat. Er war ein Schwächling. Er wusste es bereits. Doch das aus dem Munde seines Vaters zu hören war nochmals um einiges härter. Er achtete gar nicht darauf, wohin er ging. Seine Füße trugen ihn wie von selbst. Ohne es richtig zu realisieren, stand er schon im Kellerverlies. An dem Ort, wo sein Vater die Menschenopfer gefangen hielt. Diese waren seit ein paar Tagen hier. Frisch aus der Stadt ... Leonard roch ihre Angst und er hörte ihr Wimmern.
Er war schwach ... er brauchte das Blut. Wenn er erst einmal wieder stark wäre, dann würde er diesen Fetherston aufschlitzen wie einen billigen Fisch! Nur dieses eine Mal, dachte Leonard und ging auf und ab vor den Gefängnistüren. Noch immer vor Wut, blieb er vor einer Zellentür stehen und betrachtete die zierliche Gestalt, die in der Ecke hockte. Sie hatte die Füße angezogen und ihre Arme darum gelegt. Das rotbraune Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Ihr Blut war am stärksten, das konnte Leonard riechen. Sie würde ihn wieder so stark machen, wie er zuletzt vor dreißig Jahren war. Seine Augen leuchteten rot und sein weißes Gesicht war verzerrt zu einer gierigen Maske, als er in die Zelle eintrat.


Die Grafenkinder




Getrieben vom Gedanken daran, seine alte Stärke wiederzuerlangen, öffnete Leonard das rostige Schloss der Verliestür. Seine Hände zitterten. Doch es war nicht aufgrund von Angst. Es war vielmehr eine längst vergessene Erregung, die jeden Winkel seines Körpers einnahm und seinen Verstand benebelte. In wenigen Momenten würde wieder warmes Blut durch seine Kehle fließen. Das allein konnte seinen Durst stillen. Die zierliche Gestalt mit den rotbraunen Haaren drückte sich mit aller Macht gegen den harten Fels hinter ihr. So als ob sie noch Hoffnung hätte.
„Dummes Ding“, kam es aus seinem Mund. Er lachte laut auf, als er ihr klägliches Wimmern vernahm. Irgendetwas, tief in seinem Innern, regte sich für einen winzigen Moment, doch schon einen Augenschlag später war es, als ob es nie da gewesen wäre.
Es war so einfach!
Langsam, fast schon possierlich, ging er zweite Schritte auf sie zu. Sie hatte ihr Gesicht unter einem ihrer Arme verborgen. „Es wird schnell gehen ... ich verspreche es dir.“ Leonards Stimme war plötzlich sehr eindringlich und freundlich, doch seine Augen blinzelten kühl auf sie herab und ein freudiges Lächeln schlang sich um seinen Mund.
Er beugte sich zu ihr hinab. Sie hatte aufgehört zu weinen. Aus irgendeinem Grund gefiel das Leonard gar nicht. Schlagartig überkam ihn sogar ein kurzer Anflug von Zorn, der sich auch auf seinem Antlitz widerspiegelte. Doch keine Sekunde später blickte er sie erneut gierig und lüstern an.
Seine rechte Hand wanderte wie von selbst zu ihren langen Haaren. Genüsslich streifte er ihr das schmutzige Haar aus dem Gesicht. Sie erschauderte leicht, doch Leonard wusste, dass er in diesem Moment eine beruhigende Wirkung auf sein Opfer hatte. Wie verkehrt das doch war. Er musste für einen Augenblick grinsen. Welch Mächte seine Rasse doch besaß!
Jetzt war ihr Antlitz so sichtbar wie ihr Hals. Starrend und dürstend war sein Blick auf ihre Kehle gerichtet. Er erkannte die pulsierende Ader unter der weißen Haut, die unaufhörlich warmes Blut pumpte. Unbewusst öffnete sich sein Mund einen Spalt weit und gab seine spitzen Zähne preis.
In seinem Kopf ratterte es. Ein Bild flammte in seinem Kopf auf, nur um ungesehen wieder zu verblassen. Sein Gehör nahm schwach das Schlagen ihres Herzens wahr. Er ignorierte es. Sein Kopf glitt sachte auf die begehrte Stelle ihres Körpers zu.
Aus den Augenwinkeln sah er ihr Gesicht zum ersten Mal aufflimmern. Irgendetwas war seltsam ... zögernd hielt er inne in seiner Bewegung. Langsam wanderte sein Blick aufwärts zu ihren Zügen. Ein leises Stöhnen drang aus seinem Maul hervor, als er ihr Gesicht ganz deutlich sah. Ihre Nase schien gebrochen zu sein, die Lippen waren aufgeschlagen und – Leonard sprang erschrocken auf – ihre Augen waren voller Blut und stark zugeschwollen.
Das Rattern war verschwunden.
Langsam erwachte er, wie aus einem bitterschwarzen Traum.
Seine Gedanken füllten sich allmählich und erst nach einigen Sekunden konnte er begreifen, was er fast getan hätte. Er fasste sich an die Haare, zerrte kräftig daran und schüttelte sich. Beinahe musste er sich übergeben. Leonard kniete am Boden. Das Mädchen. Ihr ... ihr wurden die Augen fast ausgestochen und man musste sie schlimm gefoltert haben. Jetzt erst fielen Leonard all die Schnitte, Kratzer und Brandflecken auf ihren Armen und Beinen auf . Des weiteren schien ihr Arm gebrochen zu sein, denn er hing schlaff an ihrem Körper herab. Sie saß in einer Lache aus Blut. Ihrem Eigenen. Viel musste sie bereits verloren haben.
Das Mädchen stöhnte auf. Unverständliche Laute kamen über ihre zitternden Lippen. Ihr Gesicht war gezeichnet von getrocknetem Blut, das aus ihren Augen geflossen war. Es war ein grotesker Anblick. Leonard saß einfach nur da und starrte sie verständnislos an. Warum hatte man ihr das angetan? Warum wurde sie gefoltert? Sie war Nahrung für seine Rasse. Es gab keinen Grund für eine derartige Folter. Als er sie näher musterte, kam es ihm fast so vor als wurde sie nur so zum Spaß geschlagen und misshandelt.
Genau in diesem Moment hörte er ein Geräusch hinter sich. Blitzschnell und voller Zorn sprang er auf und rannte aus der Zelle in den Kerkergang. Rechts und links von ihm nahm er mit einem Mal die Anwesenheit mehrerer Gestalten wahr. Leonard wusste, wer sie waren. Und er wusste jetzt auch, dass sie schon die ganze Zeit hier waren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er verschärfte seinen Blick, um im Dunkel besser sehen zu können. Kleine Schatten bewegten sich auf ihn zu. Ganz wie er vermutet hatte.
Eine schwächliche Kerzenbeleuchtung an der Decke gab ihre kleinen, spitzen Gesichter preis. Grafenkinder. Fünf an der Zahl. Es würde Leonard nicht wundern, wenn sie alle für den Zustand des Mädchens verantwortlich waren.
Leonard versuchte sich kühl und ruhig zu geben, auch wenn seine Stimme vor Wut sicher zittern musste.
„Wart ihr das?“, war alles was er hervorbrachte.
Die Kinder sahen kurz in die Zelle, wo das misshandelte Mädchen zusammengekauert lag.
Zwei von ihnen mussten bei ihrem Anblick grinsen, die anderen drei blickten ausdruckslos – ohne Gefühl oder Reue – wie blasse Marionetten in einer pechschwarzen Welt.
„Ja, gefällt es Euch?“, antwortete unvermittelt ein Junge von kleinem Wuchs, der die Bande scheinbar anführte. Neben ihm standen zwei weitere Knaben und zwei Mädchen. Man hätte sie für Märchenprinzen und -Prinzessinnen halten können, so rein und unschuldig war ihre äußere Erscheinung, die einzig und allein durch die kalten und feuerroten Augen getrübt wurde. Diese gewährten einen Einblick in ihre teuflischen Seelen. Leonard gab sich alle Mühe seine wahren Gefühle durch nichts zu zeigen.
„Nein ... nein, das kann ich nicht behaupten.“, sagte er schließlich. „Aus welchem Grund habt ihr das getan?
Keine Antwort. Leonard hatte keinen Lidschlag lang mit einer gerechnet ...
Stattdessen sahen sie ihn alle verständnislos an. Keiner begriff die Schrecklichkeit ihrer Tat. Für sie war es eine Normalität, die bereits in diesem jungen Alter zu ihrem Alltag dazugehörte.
„Wie meint Ihr das, Prinz?“ Wieder war es der kleine Junge, der sprach. In seinem Blick lag plötzlich Misstrauen und eine gewisse Spur von Wachsamkeit.
Am liebsten wäre Leonard auf sie gestürzt und hätte sie alle der Reihe nach verprügelt – oder gleich ganz vernichtet. Doch es waren Kinder ... Sie traf nur zum Teil die Schuld. Es waren ihre Eltern, die man auslöschen sollte. Die Grafen. Arrogante und selbstverherrlichende Monster.
Sie waren nur Kinder ...
„Ich meine-“ Leonards Stimme war nun so leise geworden, das ein Mensch ihn wohl nicht mehr verstanden hätte. „Warum habt ihr sie gefoltert? Aus reinem Vergnügen?“
Wieder diese ahnungslosen und teils misstrauischen Blicke. Mit stechenden Augen musterten sie Leonard.
„Es hat uns angesprochen, Prinz.“, sagte der kleine Anführer. „Wir mussten es bestrafen. Aber seid unbesorgt. Wir haben darauf geachtet, dass es überlebt. Das tun wir immer. Seht Ihr? Es rührt sich noch. Der Geschmack hat sich bestimmt nicht verändert.“
In Leonards Innerem brodelte es. Verständnislosigkeit wandelte sich in Verzweiflung, nur um dann all seinem Zorn zu weichen. Er wollte laut losschreien und toben, doch was hätte es gebracht? Sie verstanden es einfach nicht ... sie waren verzogene kleine Bälger ... Kinder ... nein! Sie waren Vampyre, und bereits genauso blutrünstig und morddurstend wie ihre Erzeuger. So wie die ganze verdammte Rasse. So wie auch Leonard selbst – tief in seinem Innern.
Leonard kehrte ihnen den Rücken zu und betrachtete den langen Kerkergang mit seinen zahlreichen Löchern, die sich hier unten befanden. Zögerlich ging er los und warf jeweils kurze Blicke in die einzelnen Zellen. Gleich in der Zelle neben dem Mädchen war ein Mann, der fast am Ende seiner Kräfte angelangt war und sich im Überlebenskampf quälte. Er schien seit Wochen keine anständige Mahlzeit mehr gegessen zu haben, denn seine Knochen waren bereits deutlich unter der zusammengeschrumpelten Haut erkennbar. Exkremente sammelten sich überall in seiner schmutzigen Unterkunft. Der Mann lag alle Gliedmaßen von sich gestreckt auf dem eiskalten Boden.
„Der sichere Tod hat schon einen Arm um ihn geschlungen und den anderen zum Gruß erhoben.“, flüsterte Leonard. Er erkannte – wie schon bei dem Mädchen – etliche Brandwunden und Misshandlungskennzeichen an dessen Körper.
„Wir mussten dieses auch zurechtweisen, Prinz. Es wollte bisweilen einfach keine Ruhe geben. Aber wie ihr seht, atmet es noch und schmeckt gar...“
Es war hoffnungslos ...
„Verschwindet von hier. Ich will keinen mehr von euch in den Verließen sehen.“ Leonard sprach seine Worte ohne jeden Klang, ohne jedes Gefühl, ohne jede Hoffnung.
„Aber Prinz! Unsere Eltern haben es uns erlaubt. Außerdem sind wir noch lange nicht mit allen fertig! Versteht ...“
„Wenn ich einen von euch nochmals dabei beobachten muss, wie er einen Menschen quält, werde ich persönlich dafür sorgen, dass das selbe auch euch widerfährt.“
Leonard war sich der Auswirkung seiner Worte bewusst. Er hatte damit seine Rasse hintergegangen und sich auf die Seite der Menschen begeben. So würden es die Artgenossen deuten. Somit verwunderte ihn die Reaktion der Grafenkinder nicht. Sprachlos sahen sie Leonard, den Königssohn, an. Die einen schienen zornig, die anderen einfach nur so geschockt, dass sie kein Wort hervorbrachten.
„Kommt.“, befahl ihr Anführer schließlich und warf Leonard einen letzten alles sagenden Blick zu. („Das werdet Ihr noch bereuen.“)
„Ach, übrigens. In der letzten Zellen sitzt ein seltsames Wesen. Aber da ihr uns ja fortschickt, müsst Ihr wohl selbst sehen, wie Ihr mit ihm zurechtkommt. Alsbald, Prinz.“
Die kleinen Schatten verschwanden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /