Cover

Es begab sich zu einer Zeit, in der eigentlich niemand mehr im Wald umherstreifte, als eine junge Frau langsam die Spitze des Berges nahe dem Ort Wolling erklomm. Ihre wallend weiße Robe war verziert mit goldenen Ornamenten und das güldene Haar fiel ihr über die Schultern. Als sie die Spitze des Berges erreicht hatte, breitete sie die Arme aus und hob, in jeder Hand, einen Zettel in die Höhe. So stand sie nun da und wartete auf den Wind. Aber nicht auf irgendeinen Wind, nein, es musste ein bestimmter sein. Dann, als der Nordwind endlich kam, ließ sie die Zettel einfach los. „Danke mein Lieber. Du weißt was zu tun ist.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und da niemand in den Nähe stand, konnte auch niemand das Lied hören, welches ihre Lippen verließ. Ein Blitz durchzuckte den Nachthimmel und die Gestalt war verschwunden.

Wolling

James hatte alle Einkäufe, welche seine Mutter im aufgetragen hatte, erledigt. Nun musste er nur noch die schweren Taschen nach Hause bringen. Wollingen war um diese Jahreszeit einfach wunderbar anzuschauen. Überall war weihnachtlich dekoriert. Jedes Fenster hatte mindestens eine Lichterkette darin hängen und manche Einwohner hatte sogar den Vorgarten dekoriert. Für James war dies einfach Klasse. Er liebe die blinkenden Lichter und wenn seine Mutter ihn nicht vorher ermahnt hätte nicht zu trödeln, wäre er liebend gerne vor den Schaufenstern der Geschäfte stehen geblieben um so sehen, was es dort so alles gab. Aber er war schon ziemlich spät dran, so entschloss er sich schnell die Abkürzung durch den Park zu nehmen. James fürchtete sich schon etwas vor dem dunklen Park, aber vor der Standpauke seiner Mutter, die er bekommen würde, falls er noch mehr Zeit vergeuden würde, fürchtete er sich viel mehr.
Um sich selbst abzulenken, fing er an ein Weihnachtslied zu summen, welches sie erst in der Schule gelernt hatten. Zuerst war sein Summen ziemlich leise, je weiter er aber in den Park eindrang, umso lauter wurde auch das Lied, zuerst gesummt und dann gesungen. So versuchte er seine Angst zu unterdrücken, was ihm, seiner Meinung nach auch gelang. Nur noch unter der Brücke durch und dann sollten die Wohnhäuser seiner Straße eigentlich schon sichtbar sein. Gerade als er dies tun wollte, kam ein heftiger Windstoß und blies ihm herumwirbelnden Staub in die Augen, die natürlich sofort anfingen zu tränen. Als er die Einkäufe abstellen wollte, um sich die Augen zu reiben, klatschte ihm etwas ins Gesicht. Vor lauter Schreck darüber lies James natürlich die Taschen fallen, ohne darüber nachzudenken, was alles kaputt gehen könnte. Schnell streifte er sich mit den Händen über das Gesicht und entdeckte einen Zettel, den der Wind ihm entgegen geblasen hatte. Er wollte ihn schon wegwerfen, als sein Blick auf die zierliche Schrift fiel. Voller entsetzten merkte er, das der Zettel ja für ihn bestimmt war.

„An den Jungen James aus Wollingen. Unter der Brücke im Park.“

Stand als Überschrift darauf.

„Niemand sollte“

Mehr Text war nicht zu lesen.

Komisch dachte sich James und steckte den Zettel, der ja für ihn bestimmt war, in seine Jacken, hob die Taschen auf, überprüft kurz ob auch wirklich alles heil geblieben war und machte sich schleunigst auf den Weg nach Hause. Schnell rannte er unter der Brücke hindurch und wäre beinahe noch mit der Taubenfrau zusammen gerannt, was er durch einen geübten Ausfallschritt noch umgehen konnte, schrie ihr kurz eine Entschuldigung zu und bog auch schon Richtung Parkausgang ab, als der Wind erneut durch den Park streifte.

Zur selben Zeit, auf der anderen Seite der Brücke, war die Taubenmutter, so nannten alle Bewohner von Wollingen die alte Frau die sich immer um die Tauben kümmerte, gerade damit beschäftigt die restlichen Brotkrümel, welche sie gesammelt hatte an die Tauben zu verteilen, als der Wind auffachte und eine kleine Staubwolke mitten durch die Taubenmenge trieb. Komisch war nur, dass keine einzige Taube sich daran störte. Auch die Krümel bewegten sich nicht im Winde. Nur der Staub flog herum und das genau in das Gesicht der Taubenmutter. Sofort fingen ihre Augen an zu tränen. „Wo habe ich nur mein Taschentuch gelassen?“ fragte sie die Taubenmenge, die voller Erwartungen auf noch mehr Krümel nur da saßen und rucksten. „In der Tasche habe ich es, in der Tasche.“ und tatsächlich, in der Tasche hatte sie es, aber als sie es heraus holt, war dort nicht nur ein Taschentuch zu sehen, sondern auch ein Zettel.

„Der Mutter – lieb – im Park zu Wollingen“ stand darauf.

Als sie den Zettel entfaltete war auch der Rest zu lesen.

„Allein sein“

„Komisch, allein, dass bin ich doch schon lange. Seit Sie mir meine kleine Lela weggenommen haben bin ich doch alleine“ sagte sie sich und steckte, wie es ihre Art war, den Zettel zu den anderen nützlichen oder nicht nützlichen Sachen in ihre Tasche. Aber an irgendetwas sollte sie sich erinnern. Irgendetwas war doch noch zu tun. Sie hatte so ein merkwürdiges Gefühl. Ein Kribbeln im Nacken, als ob man sie beobachten würde. Aber sie kam einfach nicht darauf und so gesellte sie sich wieder zu ihren einzigen Lieblingen, die sie noch hatte. Ihren Tauben. Aber irgendwie ließ der Zettel ihr doch keine Ruhe. Immer und immer wieder wiederholte sie die Worte die darauf standen.

„Allein sein“ – „Allein sein“ – „Allein sein“

Den Junge, der unter der Brücke durchgerannt kam, bemerkte sie erst, als er um sie herum rannte und dadurch alle Taube zum aufflattern brachte. Die zugerufene Entschuldigung, ging im frisch entfachten Windwirbel unter.
„Allein sein“ rief sie ihm wütend hinterher. „Allein sein“

James hatte es geschafft. Er war zwar ziemlich außer Atem, aber er war noch rechtzeitig nach Hause gekommen. Schnell ging er durch den Flur in die Küche und brachte seiner Mutter die Einkäufe. „Hallo mein Schatz, hätte wirklich nicht gedacht, dass Du dich von den Schaufenstern losreisen kannst.“ sagte seine Mutter und streichelte ihm liebevoll durchs Haar. „Bist mein Großer. Dafür darfst Du auch schon in die gute Stube gehen und Dir den Tannenbaum ansehen, wenn Du Deinem Vater nichts verrätst.“ James konnte es nicht fassen, er durfte wirklich vor der Christmette in die Stube. Heute war wirklich sein Glückstag. „Danke Mama“ jauchzte er vor Glück und war schon auf dem Weg in die Stube. Der Tannenbaum war riesengroß, seine Spitze streifte schon fast die Decke und wie jedes Jahr war er über und über mit Lametta, Kugeln und Lichterketten geschmückt. Selbst goldene Tannenzapfen waren am Baum befestigt. Aber irgendwie gingen im die Worte der Taubenfrau nicht aus dem Sinn. Allein sein, warum nur hatte sie „allein sein“ gerufen. James setzte sich im Schneidersitz unter den Baum und schaute mit großen Kinderaugen auf die blinkenden Lichter. Ganz im Lichterspiel versunken steckte er seine Hände in die Taschen als er so wieder auf den Zettel aufmerksam wurde. Nochmals entfaltete er ihn und las ihn laut vor.

„Niemand sollte“

Wie ein Lichtblitz durchfuhr es ihn. Natürlich, dass war es. James sprang auf, rannte durch das Zimmer und war schnurstracks durch die Wohnungstür im Freien. So schnell er nur konnte rannte er den ganzen Weg zum Park. Seine Angst, vor dem dunklen Weg, war verschwunden. Selbst seine hinter ihm her rennende und schreiende Mutter hörte er nicht. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Als er den Teich endlich erreicht hatte, hielt er auch schon Ausschau nach der Taubenfrau. Dort, gleich neben der Brücke auf der Parkbank saß sie und unterhielt sich, wie immer, mit ihren Lieblingen.

„Allein sein“ sagte sie.

James lief auf sie zu. Langsam hob die Taubenfrau ihren Blick. In ihrer rechten Hand lag ein Zettel, auf den sie immer und immer wieder starrte. Wieder hob sie den Blick und gerade als James die Worte seines Zettels vorgelesen hatte „Niemand sollte“, kamen ihr die Worte „allein sein“ über die Lippen.

Wie gebannt starrten sich die Beiden an.

„Niemand sollte allein sein“ sagten sie wie im Kanon, als James Mutter schlitternd zum stehen kam. Die Augen der Taubenfrau wurden groß, mühsam stemmte sie sich von der Bank und ging mit zitternden Schritten auf James Mutter zu. „Lela, bist Du meine Lela?“ fragte sie. James Mutter konnte nur noch nicken, bevor sie sich weinend in den Armen lagen. Nur der Junge stand noch da und wiederholte die Nachricht wieder und wieder.

„Niemand sollte allein sein.“

Genau in diesem Moment, läuteten die Glocken von Wollingen und nur wer genau in diesem Moment auf die Brücke geschaut hätte, hätte dort die leuchtende Frauengestalt gesehen, die lächelnd mit dem Nordwind verschwand.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /