Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.
Es spielten Sternenhände vier -
Die Mondfrau sang im Boote-
Nun tanzen die Ratten im Geklirr.
Zerbrochen ist die Klaviatür
Ich beweine die blaue Tote.
Ach liebe Engel öffnet mir -
Ich aß vom bitteren Brote-
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.
Das autobiographische Gedicht „Mein blaues Klavier“ geschrieben von Else Lasker-Schüler und veröffentlicht im Jahre 1937 hat mehrere Bedeutungsebenen. Einerseits geht es um die Kindheit der Dichterin und andererseits um ihre Gefühle in Bezug auf die damalige Weltlage.
Das Gedicht ist in fünf Strophen aufgeteilt.
Strophe eins, zwei und vier bestehen aus zwei Versen, Strophe drei aus drei Versen und die letzte Strophe hat vier Verse. Es gibt einen Kreuzreim (abab) und einen Wechsel von männlicher und weiblicher Kadenz. Das Metrum ist der Jambus und eine Dissonanz ist inhaltlich passend in der siebten Zeile platziert. Alles in allem hat das Gedicht eine eher harmonische Form. So entsteht ein Kontrast zwischen dem emotionalen Inhalt des Gedichtes und der eher konservativen „Verpackung“. Ich denke, dass Else Lasker-Schüler durch die unauffällige Form die Aufmerksamkeit des Lesers einzig und allein auf den Inhalt lenken möchte, dem sie persönlich mehr Bedeutung beimisst.
In der ersten Strophe erzählt das Lyrische Ich von einem blauen Klavier, das es zu Hause stehen hat und doch kann es keine Note spielen. Deutlich wird hierbei die Wortwahl: das Klavier steht „zu Hause“, was bedeutet, dass das Lyrische Ich gerade nicht zu Hause ist, wenn nicht sogar weit entfernt von der Heimat. Das könnte einerseits auf das verlorene Elternhaus Else Lasker-Schülers hindeuten, andererseits natürlich auch auf ihre Lage im Exil.
Die Farbe Blau ist ein Symbol für die Sehnsucht, das Unendliche und das Göttliche. Dadurch wird klar, dass das „blaue Klavier“ eine abstraktere Bedeutung hat. Else Lasker-Schüler war eine Expressionistin, daher wird das „blaue Klavier“ als Chiffre wohl eine verrätselte Bedeutung haben, die nur die Dichterin kennt und die den Leser im Unklaren lässt. Die Zeile „und ich kenne doch keine Note“ bedeutet, dass Lasker-Schüler keinen Zugang mehr zu dem Klavier findet, was ihre derzeitige unglückliche Lage betont und deutlich macht, dass es keinen Weg zurück mehr gibt- weder in die glückliche Kindheit, noch in ihr Heimatland.
Strophe zwei besagt, dass das Klavier „im Dunkel der Kellertür“ steht, seitdem die Welt „verrohte“. Dabei wird nicht nur klar, dass das blaue Klavier mit etwas Positivem assoziiert wird, sondern auch als etwas Kostbares vor der Welt verborgen werden muss. Zum einen kann man daraus lesen, dass Else Lasker-Schüler ihre glückliche, heile Kinderwelt tief in sich begraben hat, um sie vor dem Erwachsenwerden und der Realität zu bewahren. Zum anderen könnte die „verrohte“ Welt auch Bezug auf die nationalsozialistische Herrschaft nehmen, in der Gewalt und Manipulation alle humanistischen und zivilisatorischen Werte verschwinden lassen.
In der nächsten Strophe gibt es einen starken Kontrast zwischen Vergangenem, Positivem („es spielten Sternenhände vier“, „die Mondfrau sang im Boote“) und Gegenwärtigem, Schlechten („nun tanzen die Ratten im Geklirr“). Die ersten beiden Zeilen sind stark biographisch: die vier „Sternenhände“ beziehen sich auf das gemeinsame Klavierspielen mit der Mutter und als „Mondfrau“ beschreibt die Autorin (wie auch schon in früheren Gedichten) ihre frühverstorbene Mutter. Beide Begriffe sind Neologismen, was auf die Einzigartigkeit und Persönlichkeit der Erfahrung hindeutet.
Die tanzenden Ratten hingegen sind eine Metapher für den Sieg der Nazi-Herrschaft. Ratten werden seit jeher mit negativen Dingen assoziiert: Sie sind schmutzig, „kriecherisch“ (da klein), ernähren sich von Abfall, übertragen Krankheiten und sind Schädlinge. Die Tatsache, dass sie tanzen, bedeutet zum einen das Feiern des Triumphes und zum anderen die Entfesselung primitivster Bedürfnisse. Es wird also klar, dass Else Lasker-Schüler die „Ratten“, also die Nazis, als etwas Abstoßendes, Schädliches, Widerliches und vielleicht auch Widernatürliches (denn welche Ratten tanzen schon?) ansieht. Das Wort „Geklirr“ ist normalerweise der Beiklang von Zerstörung und die Dissonanz betont dies auch noch (ein Bezug auf die Reichskristallnacht ist naheliegend, aber falsch, da das Gedicht 1937 veröffentlicht wurde und die Novemberpogrome in die Nacht des 9. auf den 10. November 1938 fielen). Möglich wäre ein Bezug auf Waffengeklirr, und die Dichterin kritisiert die Gewaltbereitschaft und den Kriegsfanatismus, oder eine Anspielung auf eine heile Welt, die mit Geklirr in Scherben zerbricht(sowohl auf ihre Kindheit, als auch auf die Politik bezogen).
Else Lasker-Schüler stellt die Nazis also als niedere Tiere dar, die inmitten von Zerstörung wahnhaft „tanzen“.
In der folgenden Strophe ist wieder von dem Klavier die Rede: die „Klaviatür“ ist zerbrochen und das Lyrische Ich beweint die „blaue Tote“. Bei dem Wort „Klaviatür“ ist nicht klar, ob es sich um die Klaviertür oder die Klaviatur handelt. Das Wort durchbricht auch leicht das Reimschema; man hat das Gefühl, dass dem Wort Gewalt angetan wurde. Ich denke, dabei soll die „Zerbrochenheit“ klarer zum Ausdruck kommen und der Neologismus ist im sonst eher harmonischen Gedicht so platziert, dass er wie ein Stolperstein wirkt. Vermutlich kann der Leser so den Schock Lasker-Schülers angesichts des beschädigten Klaviers nachempfinden. Zudem wird das Klavier als „blaue Tote“ personifiziert, was klar macht, dass es endgültig verloren ist. Die Tatsache, dass das Lyrische Ich das Klavier beweint, betont noch einmal die emotionale Bindung mit dem Objekt, und die Bedeutung, die es im Leben der Dichterin einnimmt. Was auch immer das „blaue Klavier“ sein mag, klar wird, dass es nicht nur beschädigt, sondern auch unwiederbringlich verloren ist.
In der letzten Strophe steigert sich schließlich die Verzweiflung des Lyrischen Ichs und es fleht „Engel“ an, ihm „wider dem Verbote“ die „Himmelstür“ zu öffnen.
Schon der Appell in der ersten Zeile („Ach liebe Engel“)beschreibt den inbrünstigen Wunsch der Dichterin aus ihrer gegenwärtigen Lage zu fliehen und macht den Eindruck eines Gebetes.
Die nächste Zeile („Ich aß vom bitteren Brote“) enthält nicht nur den Hinweis auf vergangenes Leid, sondern höchstwahrscheinlich auch eine Anspielung auf die Bibel. Das Volk der Juden floh aus Ägypten und begab sich auf die Suche nach dem Gelobten Land. In der Eile des Aufbruches blieb keine Zeit, das Brot aufgehen zu lassen- es blieb „sauer“ oder eben auch „bitter“. Nur allzu leicht kann die jüdische Else Lasker-Schüler in ihrer Exillage Parallelen zu dem Exodus ziehen: auch sie floh aus dem Land der Unterdrücker, irrt seitdem in fremden Ländern umher und ist auf der Suche nach dem „Paradies“, dem Gelobten Land, das hinter der „Himmelstür“ liegt. Ich finde nur die letzte Zeile schwierig zu verstehen: „wider“ welchem „Verbote“? Der einzige, der den Engeln befehlen kann, ist Gott- aber warum sollte er der Dichterin den Einzug ins „Paradies“ verwehren? Möglich wäre es, dass Else Lasker-Schüler sich selbst als Verdammte ansieht und obwohl sie weiß, dass es sinnlos ist, auf Erlösung hofft, die nie kommen wird.
Selbst ohne die Autorin, ihre Geschichte oder den Hintergrund des Gedichtes zu kennen, wird als Hauptmotiv das Gefühl der Sehnsucht deutlich: Sehnsucht nach der Heimat („zu Hause“), nach der Vergangenheit (Kontrast „Sternenhände“ und „Mondfrau“ zu den „Ratten“), dem heilen blauen Klavier und Sehnsucht nach dem Paradies („Himmelstür“) und Erlösung. Die Sehnsucht steigert sich in der letzten Strophe fast zur Verzweiflung, die Stimmung ist mit den Händen zu greifen und es wird klar, weshalb das Gedicht der Erlebnislyrik zuzuordnen ist.
In größerem Zusammenhang betrachtet, bietet das Werk tiefen Einblick in die Psyche Else Lasker-Schülers. Die Dichterin wurde schwer vom Verlust ihrer Mutter und damit auch ihrer Kindheit getroffen, was vor allem in Strophe drei deutlich wird. Als sie dann ihre Heimat verlassen musste, mag sie das Gefühl gehabt haben, dass sich ihr Verlust wiederholt: in beiden Fällen verlor sie etwas Wichtiges, Natürliches, welches nun unwiederbringlich verloren und beschädigt ist. Angesichts des doppelten Schicksalsschlages steigert sich Else Lasker-Schülers Sehnsucht zu einem verzweifelten Flehen nach Erlösung und vielleicht werden einem für einen kurzen Moment die gequälten Gefühle einer Exilantin bewusst, die ihre Herkunft verloren hat.
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2012
Alle Rechte vorbehalten