Das kleine weiße Haus stand abseits der kalten Winterstadt an hohe Schwarztannen geschmiegt. Es ging im weißen Schnee fast unter und der Rauch des kleinen Schornsteins verwehte im Wind. Wie eine Glasmurmel, die jemand auf dem Pausenhof vergessen hatte lag es herum, doch es gehörte nicht in diese Zeit und nicht an diesen Ort. Billiges Glas, umwoben von Nostalgie und Kindheitszauber, und nichts, dem ein Vorübergehender einen zweiten Blick geschenkt hätte. Vom Fenster des Hauses konnte man die Wärme durchschimmern sehen und sie hätte den Schnee geschmolzen, wenn die Wände ihr sie nicht festgehalten hätten. Im Wohnzimmer roch es nach Katzenfutter, Bratenfett und alten Möbeln. Der Boden war mit dicken, weinroten Teppichen bedeckt, die ausgetreten und dünn waren. Abstrakte, nichtssagende Muster bedeckten sie, während die kurzen Fransen sich quer und zögerlich ausbreiteten. Die Wände waren von weißer Raufasertapete bedeckt, an einigen Stellen vielleicht ein wenig bröckelig, doch dort in der Ecke hing ein handgesticktes Bild von einem trinkenden Jäger, der gerade von einem Mönch einen Humpen Bier entgegennahm. Die Stehlampe war überzogen von verschnörkelten, unechten Gold; der Schaukelstuhl in der Ecke war mit einem alten Schafsfell ausgelegt und vor dem Spiegel mit Messingrahmen stand eine barocke Kommode mit Fotos. Vor dem Fenster stand gedankenverloren eine alte Frau und blickte hinaus in die Winternacht. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe, eingerahmt von den Spitzengardinen. Auf der Fensterbank brannte noch die Kerzentreppe von Weihnachten, die sie wie jedes Jahr ans Fenster gestellt hatte. Ein einsamer Wanderer würde vielleicht in einem Schneesturm die kleinen Lichter sehen und Schutz suchen. Das wäre schön. Die alte Frau blickt noch immer hinaus in die Winternacht, Minuten oder Stunden, in dem kleinen Haus spielte die Zeit keine Rolle. Das Leben war nur noch hier drin, vielleicht war die nahe Stadt von einer Lawine überschüttet oder von Feuerregen verbrannt worden, nichts drang durch die Mauer der Dunkelheit. Vielleicht war die alte Frau die letzte auf dem Planeten und sie wusste es noch nicht und würde es nie erfahren, da sie seit dem Tod ihres Mannes das Haus nicht mehr verließ. Endlich wandte sie sich ab und schlich zu der Kommode hinüber. Ihre aufgedunsenen Füße steckten in dunkelblauen Hauspartoffeln und machten keinen Lärm, als sie über den Teppichboden strichen. Sie blickte in den Spiegel und sah sich selber an. Falten hatten sich ihren Weg in ihr Gesicht gegraben, Lachfalten und Sorgenfalten. Ihre Tränensäcke waren angeschwollen und ihre Lider waren schlaff. Wo waren ihre Augen hin verschwunden? Sie hob die Hand, um die Falten zu straffen und um zu sehen, ob sich hinter ihrer Verkleidung doch noch sie selbst verbarg, aber ließ die Hand wieder sinken, als ihr Blick auf die blauädrige und von Altersflecken entstellte Hand fiel. Ihre Verkleidung war Wirklichkeit geworden. Das lebensfrohe Mädchen, das Swing getanzt hatte war ebenso verschwunden wie ihre braunen Haare. Ein wehmütiges Lächeln bewegte alle Falten im Gesicht. Sie fühlte schon die Kälte in ihren Knochen, die nicht einmal das warme Wohnzimmer vertreiben konnte. Bald würde der Tod sie holen kommen, die löchrigen Herzwände machten es nur noch zu einer Frage der Zeit. Ihr Blick fiel auf das Bild mit der schwarzen Schärpe, das auf der Kommode stand. Joseph. Sie konnte sich erinnern, als sei es gestern gewesen. Sie hatte getanzt und dann kam er in den Saal und sah viel zu klein in dem Smoking aus, den er sich von seinem Vater geliehen hatte. Er hatte verlegen in der Ecke gestanden; später hatte er ihr anvertraut, dass es wegen seiner Segelohren gewesen sei. Sie war auf ihn zugegangen, denn alle anderen Tanzpartner waren besetzt gewesen und hatte ihm einen vielsagenden Blick zugeworfen. Verlegen hatte er sie aufgefordert und gemeinsam hatten sie bis in den Morgen hinein getanzt. Ein blubberndes Gefühl stieg in ihr auf und sie bemerkte erst nach einer Sekunde der Verwirrtheit, dass es Glück war. Die alte Frau fing an zu kichern und hörte erst auf, als ihr Atem pfeifend ging. „Komm! Lass uns tanzen!“ In dem Haus gab es schon lange kein Grammophon mehr und auch kein Radio. Der alte Fernseher stand in der Ecke und glotzte stumpfsinnig blind umher. Die alte Frau fing an zu singen, erst mit eingerosteter Stimme und dann immer flüssiger und lauter. Sie sang ihr Lieblingslied von damals, der Text etwas holprig, aber die Melodie unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingeprägt. Ihre eine Pantoffel fing an zu zucken, dann die andere. Die aufgedunsenen Füße bewegten sich in kleinen Schritten über den Teppichboden. Schluss mit der Stille! Sie stampfte mit dem Fuß auf, direkt im Takt mit der Musik. Sollte das Feuer doch die Eiseskälte vertreiben. Da war ja auch Joseph, der alte Schlawiner. Wolltest dich wohl drücken, was? Ach sei nicht so schüchtern, du bist in deinen Anzug doch prima hineingewachsen. Komm her, Tanzen ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nie! Die junge Frau nahm Josephs Hand. Sie sang nun mit krächzender Stimme, aber wen schert schon so etwas? Ihr Tanz war wie Gehopse, ihr dicker Hintern schwabbelte und die Schritte waren zu klein, aber sie tanzte mit einer Inbrunst, die sie wie eine Göttin erscheinen ließ. Sie warf die Arme in die Luft und wagte einen kleinen Sprung. Ein verführerischer Schwung mit den Hüften und sie warf Joseph einen Luftkuss zu, dem die Segelohren rot anliefen. Ein übermütiges Lachen strömte von ihren Lippen wie ein klarer Gebirgsbach. Weiter höher schneller und noch eine Drehung das ist FreudeFreude Freude! Sie tanzte und tanzte und wünschte sich, es würde nie aufhören. Doch die Tanzfläche leerte sich und es wurde noch ein letztes wehmütiges Lied gespielt. Sie nahm Josephs Arm und der führte sie am Kanalufer entlang nach Hause. Die beiden waren immer noch betrunken vom Tanzen gewesen und stießen sich gegenseitig an und lachten wie verrückt. Unter der Laterne kurz vor ihrer Haustür kicherte sie immer noch und hatte nicht gemerkt, dass Joseph ernst geworden war. Er beugte sich schnell vor und drückte ihr einen feuchten Schmatzer auf die Wange, nur um dann zurückzufahren. Schockiert stand er da im fahlgelben Laternenlicht und drehte sich dann um und lief weg. Sie blickte ihm mit leuchtenden Augen nach und schwebte den Weg in das Haus ihrer Eltern. Ihr Vater saß noch in der Küche mit der Zeitung, er wollte warten, bis sie nach Hause kam. Sie gab ihr bestes, ihre Mundwinkel unten zu behalten. Ihre Mutter hätte sie nicht täuschen können, aber die war zum Glück schon ins Bett gegangen. Vater drückte ihr noch einen Gutenachtkuss auf die Stirn und sie ging mit schnellen Schritten, so schnell wie sie nur konnte ohne zu rennen, in ihr Zimmer. Sie schrie vor Glück in ihr Kissen und dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl, in dem ihr ihre Mutter schon immer Geschichten vorgelesen hatte, bis sie zu alt war. Unruhig schaukelte sie hin und her, immer noch den Widerhall des letzten Liedes im Ohr, dass sie leise mitsummte. Vielleicht würde sie ihn morgen wiedersehen, bei dem Gang zur Kirche. Natürlich würde sie nur unauffällig zu ihm rüberschielen und er sich noch wegen gestern Abend schämen, aber sie trotzdem voller Verlangen anblicken und vielleicht, vielleicht… Der Schlaf umarmte die junge Frau und küsste sanft ihre Gedanken weg.
Schon bald würde der Elektriker kommen und die alte Frau in ihrem Lehnstuhl entdecken, wo sie kalt und bleich schlief. Vielleicht würde er sich wundern, weshalb ihr geblümtes Kleid etwas verrutscht war und ein dunkelblauer Pantoffel in der Ecke unter dem gestickten Bild mit dem trinkenden Jäger lag- vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Er würde ihren Sohn verständigen, der aus Amerika anreisen würde und ihr einen billigen Sarg kaufen würde und sie würde neben Joseph begraben werden. Ihr Sohn würde trauern, aber nicht lange, denn sie war schon alt gewesen und in den letzten Jahren war der Kontakt ohnehin abgebrochen und dann würde sie in ihrem schäbigen Sarg unter der Erde verrotten und die Würmer würden sie auffressen, Stück für Stück. Doch noch trennte die Dunkelheit und der Schnee das kleine weiße Haus vom der Wirklichkeit, eine kleine billige Glasmurmel, in der sich das Licht bunt brach. Noch sitzt die Frau im Lehnstuhl, der schon zu schaukeln aufgehört hat und hat ein glückliches Lächeln auf dem toten Gesicht.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2012
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