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Grau zu grau


An der Westküste der Generalsstaaten ,300 Jahre nach dem Tag der Befreiung
„Miss Davis?“ Lil blickte von dem Buch auf, das sie gerade las. Die Arzthelferin gestikulierte in Richtung Tür. „Der Doktor erwartet Sie.“ Umständlich legte Lil das Buch wieder in ihre Tasche und folgte der Arzthelferin. Sie spürte die feindseligen Blicke des überfüllten Wartezimmers in ihrem Rücken und beeilte sich, in das Behandlungszimmer zu kommen. Sie schloss die Tür hinter sich und lächelte den Mann hinter dem Schreibtisch an, nur um dann scharf die Luft einzuziehen. „Wo ist Doktor Fellinger?“ Sie hatte den alten Arzt wirklich gern gemocht, und vor allem hatte er ihr bisher ihre Geschichten über ihre… besondere Begabung geglaubt. Ein neuer Arzt bedeutete ein neues Risiko, dass er Verdacht schöpfen und sie melden würde. Das wäre nicht gut, gar nicht gut. Sie stählte sich innerlich und zwang ein freundliches Lächeln auf ihr Gesicht, von dem sie hoffte, dass es ihre unhöfliche Frage etwas abmildern würde. „Doktor Fellinger wurde vorzeitig in den Ruhestand geschickt“, erklärte der neue Arzt, „ich bin Doktor Michigan und bin jetzt zuständig für diesen Bezirk“ Er schien jünger zu sein, aber schon hatte er einen harten Glanz in den Augen und tiefe Augenringe. Als unterbezahlter Arzt in einem miesen Viertel zu arbeiten, hatte ihm schnell alle Ideale geraubt, und so tat er nur seine Arbeit. Vorzeitiger Ruhestand, das ich nicht lache!, dachte Lil, niemand wird, solange er noch arbeitsfähig ist, in den vorzeitigen Ruhestand geschickt und ich habe Doktor Fellinger erst vorgestern auf der Straße gesehen.“ Sie ließ sich äußerlich nichts von ihren Gedanken anmerken und lächelte weiter. „Ich bin sicher, sie machen einen guten Job. Ich bin hier, weil ich ein Gesundheitszeugnis für die Arbeit brauche…?“ „Ach ja, das halbjährliche Attest. Sie arbeiten wohl im öffentlichen Dienst?“ Lil nickte. Der Arzt führte schnell die Untersuchung durch. Im Gegensatz zu den feineren Arztpraxen, gab es keine technischen Geräte, die den Patienten automatisch durchcheckten. Doktor Michigan nahm sogar ein Stethoskop zur Hilfe! „Alles bestens…“, er blickte hilfesuchend in ihre Akte, „Miss Liliane Davis“. Lil wischte ihre schwitzigen Hände an der Hose ab. Gleich würde er den Eintrag sehen, der ihren „besonderen Zustand“ kenntlich machte. Sie hatte Recht. Doktor Michigans Augenbrauen zogen sich zusammen und er hielt die Akte noch mal ins Licht, als ob er sichergehen wollte. „Sie sind hier als Sonderfall gekennzeichnet…“ „Ja genau“, stimmte Lil ihm eilig zu, „ich habe schon in meiner Kindheit eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe entwickelt. Ich kann anhand kleiner Zeichen erkennen, ob ein Mensch lügt!“ Der Arzt blickte sie abwägend an. „Das ist faszinierend. Ich darf doch?“ Lil nickte eilig. „Meine Lieblingsfarbe ist Blau. Meine Frau heißt Katharina. Am Wochenende habe ich einen Kollegen getroffen.“ Lil hatte sich auf seine Worte konzentriert. Wie immer hatte sie eine Art leises Klingeln in ihrem Kopf vernommen, als ihr Gegenüber log. „Wahr, wahr, gelogen“ „Faszinierend!“, rief Doktor Michigan wieder aus, „das ist ja fast eine magische Begabung!“ Das ist korrekt, Herr Doktor, dachte Lil, doch sie musste ihn schnell von diesem gefährlichen Gedankenpfad abbringen. „Sagen sie doch so etwas nicht!“, rief sie aus. „Das ist falsch und gefährlich. Wenn ein Polizist gerade in der Nähe gewesen wäre, hätte er mich einfach so verhaftet. Wie es bereits ihr Vorgänger bei mir diagnostiziert hat, handelt es sich einfach um eine Auslegung der Körpersprache.“ „Faszinierend“, murmelte der Arzt wieder, „von so einem Fall habe ich noch nie gehört“ Wie es schien, trug er einen inneren Kampf aus: Sein wissenschaftlicher Urinstinkt, eine Anomalie zu erforschen, gegen die Wirklichkeit seines Alltags. Doktor Michigan blickte gequält umher und fällt schließlich seine Entscheidung. „Rufen Sie den nächsten Patienten herein, Meredith!“ Lil erlaubte es sich noch nicht, aufzuatmen. Erst musste sie heraus aus dieser Praxis. Der Arzt setzt schwungvoll seine Unterschrift unter ihr Attest. „Ich vertraue dann in ihrem Fall dem Urteil meines Vorgängers. Ich hoffe, ich sehe sie bald wieder!“ Lil antwortete mit irgendeiner Höflichkeit und hielt das Attest in ihren nassen Händen. Zum Glück konnte sie das Zittern unterdrücken, als sie es entgegennahm. Dann floh sie aus der Praxis.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“, fluchte Lil leise, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Das heute war zu knapp gewesen. Wenn der Arzt nur ein kleines bisschen aufmerksamer oder kritischer oder weniger gestresst gewesen wäre… sie wagte sich kaum, sich die Alternativen auszumalen. Bestimmt säße sie jetzt schon in einer netten kleinen Gitterzelle und würde auf ihre Exekution warten. In den Generalstaaten, wo sie lebte, wurden Andersartige und Begabte verfolgt und ausgelöscht und der heutige Tag hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, dass ein einziger Zufall (das Auswechseln eines Arztes) ihre gesamte Existenz gefährden würde. An diesem Abend ging sie früh ins Bett, denn sie suchte das Vergessen im Schlaf.
Viel zu früh klingelte der Wecker und erinnerte Lil daran, dass heute ein ganz normaler Arbeitstag war. Sie schlich zu Kochnische und schüttete sich Milch auf ihr Müsli. Es war irgendwie ironisch, dass sie als Begabte, die von der Regierung verfolgt wurde, direkt unter den Augen des Staates arbeitete. Und das ausgerechnet in einem Gefängnis! Nicht, dass sie eine große Wahl gehabt hätte. Sobald ihre „gute Beobachtungsgabe“ bekannt wurde, hatte man sie als Verhörerin eingesetzt. Dass sie gut(wenn nicht sogar die beste) in ihrem Job war, änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihre Arbeit hasste. Manchmal gab es kleine Momente der Freude, wenn sie die Unschuld eines Gefangenen beweisen konnte, aber tagtäglich von Kriminellen umgeben zu sein, war eine freudlose Arbeit, die gerade so eine junge Frau wie Lil anwiderte. Kurze Zeit später verließ Lil ihre kleine, schäbige Sozialwohnung und schaffte es gerade noch, den Bus zu erwischen. Eine gute Stunde Fahrt lag vor ihr, denn das Staatsgefängnis lag außerhalb von Liberty City.
Obwohl Lil gerade dabei war, den sichersten Ort des ganzen Planeten zu betreten, fühlte sie sich unwohl. Sie arbeitete schon seit fünf Jahren im staatlichen Gefängnis, aber dem imposanten Eindruck konnte sie sich nicht entziehen, egal wie oft er sich ihr bot. Der riesige graue Gebäudekomplex ragte wie ein Monster, das sie verschlingen wollte, vor Lil auf. Tausende von kleinen Gitterfenstern säumten die Außenfassade und starrten sie aus dunklen Augen an. Lil merkte, dass sich ihre Schritte unwillkürlich verlangsamt hatten und ging schnell weiter auf den kleinen Mitarbeitereingang zu, dessen heller Lichtschein wie immer ihr Ziel war, auch an diesem nebligen Herbstmorgen an dem der der Asphalt nass vom leichten Nieselregen schimmerte.
Das Gefängnis war ursprünglich errichtet worden, um die politischen Gefangenen des Generals verschwinden zu lassen, doch im Laufe der Jahre wurde es ausgebaut und beherbergte nun alle Sorten von Kriminellen. Das riesige Gelände war von einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben, der unter Starkstrom stand. Zwischen dem Zaun und dem Gefängnis war nichts- nur eine glatte, asphaltierte Fläche, welche keinerlei Deckung bot und es den Wachleuten in den Türmen leichter machte, mögliche Flüchtlinge anzuvisieren, die hier wie auf dem Präsentierteller saßen, falls sie versuchen sollten das Gelände zu verlassen. Auf sechs Stockwerken waren über zehntausend Verbrecher untergebracht und noch nie in der gesamten zweihundertachtzigjährigen Geschichte war es einem gelungen zu fliehen. Das Staatsgefängnis ähnelte einer Festung und ließ sich im Ernstfall innen wie außen abriegeln. Unzählige Überwachungskameras überwachten jede einzelne Bewegung und die Wachposten waren angewiesen worden, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen.
Ein Summen lenkte Lils Aufmerksamkeit auf die Überwachungskugel, die sie umkreiste. Überwachungskugeln waren eine relativ neue Erfindung, hatten sich aber innerhalb kürzester Zeit durchgesetzt. Das Prinzip war eigentlich relativ simpel. Hinter der metallisch glänzenden, stabilen Außenhaut verbarg sich hoch entwickelte Technologie und eine kleine, aber hochauflösende Kamera. Zusammen mit einer Netzwerkverbindung ließ sich so innerhalb von Sekunden jede Person identifizieren. Mittlerweile schwebten die Kugeln an jeder Straßenecke und unterbanden so Demonstrationen und Aufstände im Keim. Hier auf dem Gelände, auf dem die höchste Sicherheitsstufe herrschte, konnte man kaum zehn Schritte gehen, ohne durchgecheckt zu werden.
Ein leises Klicken verkündete, dass die Kugel das Foto geschossen hatte. Kurze Zeit später war das Foto mit der Datenbank abgeglichen worden und das kleine Licht an der Unterseite leuchtete grün auf. Lil atmete erleichtert aus, ohne sich überhaupt bewusst zu sein, das sie den Atem angehalten hatte. Sei nicht albern, schalt sie sich in Gedanken. Sie hatte die ganze Prozedur doch schon tausendmal miterlebt. Raschen Schrittes ging Lil zu dem kleinen Eingang, der für Mitarbeiter gedacht war und nickte den beiden Wachen, die ihre Maschinengewehre lässig in einer Hand hielten, zu. Endlich im Trockenen angelangt, wurden wieder ihre Fingerabdrücke genommen und ein mürrisch dreinblickender Wachposten kontrollierte pflichtbewusst ihren Ausweis.
Endlich hatte sie alle Kontrollen hinter sich gelassen und freute sich schon auf ihr Büro und die Tasse heißen Kaffees, die sie sich gönnen würde. Lil durchquerte den kahlen, langen Flur. Zum Glück hatte sie es nicht allzu weit. Ihr Büro lag in Ebene sechs, gleich im Erdgeschoss.
Das Gefängnis hatte sechs Ebenen. Ebene eins war ganz oben und beherbergte Kleinkriminelle und andere Gelegenheitsverbrecher. Ebene zwei war für etwas schwerere Vergehen reserviert und so weiter, wohingegen Ebene sechs im Erdgeschoss den Abschaum des Landes beinhaltete- Massenmörder, Psychopathen, das schlimmste vom schlimmsten.
Genau der richtige Arbeitsplatz für eine junge Frau, dachte Lil sarkastisch. Viele ihrer Kollegen hatten es ihr sehr übel genommen, dass sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon die höchste Sicherheitsfreigabe hatte. Man munkelte, sie sei verrückt oder habe mit dem Boss geschlafen- oder beides. Wenn die wüssten! dachte Lil verzweifelt. Sie hätte ihre Karriere ohne zu zögern einem normalen Leben geopfert. Von Geburt an hatte sie eine Gabe besessen: Sie konnte spüren, ob jemand die Wahrheit sagte, oder ob er log. Natürlich hatte ihr das bei Verhören geholfen und schon bald hatte es sich herumgesprochen das Liliane Davis sich nie irrte und die wertvollsten Informationen aus den Befragten herausbekam.

Sie hatte ein medizinisches Gutachten erstellen lassen, das ihr eine außergewöhnlich gute Beobachtungsgabe bescheinigte, um den Verdacht, sie sei übersinnlich begabt schon im Ansatz zu unterbinden. Schließlich war es gefährlich, sogar lebensgefährlich solchermaßen ANDERS zu sein. Seit dem Tag der großen Offenbarung wurden alle andersartigen Wesen verfolgt und getötet. Die Ereignisse vor knapp dreihundert Jahren hatten das Land erschüttert und für immer verändert. Albtraumhafte Wesen, deren Existenz man immer als Hirngespinst abgetan hatte waren an die Öffentlichkeit getreten und drohten, die Herrschaft über die Menschen an sich zu reißen. Der General hatte den Widerstand der Menschen mobilisiert und Einigkeit wieder hergestellt. In diesen schwierigen Zeiten hatte er sich an die Spitze des Staates gestellt und sorgte nun für die Sicherheit der Bevölkerung. Über ihn, den General, war sehr wenig bekannt, aber Lil nahm wie viele andere einfach an, dass der Titel immer weiter gegeben wurde. Nie wurden genaue Nachforschungen angestellt, da die Personen, die zu viele Fragen stellten schnell verschwanden.
Die wirklichen Kreaturen der Dunkelheit waren natürlich stark genug um der Verfolgung zu entgehen, also hatte die Säuberungswelle vor allem die kleinen Hellseher und Hexen getroffen, harmlose Taschenspieler, die sich billiger Tricks bedienten.

Endlich hatte Lil den schier endlos langen Flur hinter sich gebracht und öffnete die Tür zu ihrem Büro, die seltsamerweise nur angelehnt war. Sie erstarrte auf der Türschwelle. Es war schon jemand im Raum und erwartete sie. Mr. Smith! Heute musste ihr Pechtag sein. Ihr Vorgesetzter hatte sie noch niemals zuvor in ihrem Büro aufgesucht. War irgendetwas passiert? Ein Adrenalin stoß vertrieb alle Müdigkeit und Lils nächste Worte waren vorsichtig, abwägend:
„Mr Smith! Es ist ja eine... Überraschung Sie hier zu sehen” Mr Smith schob seine Hornbrille auf seiner Nase zurecht. Sein Äußeres war genau wie sein Name unauffällig und langweilig. Kaum zu glauben, dass sie hier einem der gefährlichsten Männer des ganzen Landes gegenüberstand. Und doch musste er nur seine Unterschrift unter irgendein Dokument setzen und Lil würde unauffällig verschwinden, ohne dass jemand Fragen stellte.
Mr Smith erhob sich von ihrem abgewetzten Schreibtischstuhl, auf dem er sich niedergelassen hatte.“Miss Davis. Schlechtes Wetter, nicht wahr?” Er musterte mit kalten Augen Lils nassen Mantel und die Regentropfen, die sich in ihrem Haar verfangen hatten. Lil versuchte, nicht allzu misstrauisch zu erscheinen. Als ob er sie hier in ihrem bescheidenen kleinen Büro aufgesucht hätte, um mit ihr über das Wetter zu plaudern. „Was verschafft mir die Ehre ihres Besuches?” Lil streckte ihre Sinne aus, bereit zu spüren, ob er die Wahrheit sagte. Seine Mundwinkel hoben sich kurz, doch seine Mine wurde kein bisschen freundlicher. „Nun ja, Miss Davis, ich will es kurz machen.” Er sprach mit emotionsloser Stimme, als ob er etwas vorlesen würde. “Sie sind die Beste auf Ebene sechs. Es gab keinen Gefangenen, den Sie nicht knacken konnten.“ Er legte eine Kunstpause ein, wohl um das ganze dramatischer erscheinen zu lassen. Vergebliche Mühe, seine Stimme klang immer noch so kalt wie eine Maschine. „Sie werden befördert. Es gibt da einen sehr hartnäckigen Fall auf Ebene Sieben.”

Lil braucht eine Weile, um sich zu fassen. Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem! „Es gibt eine Ebene Sieben?” Hörte sie sich selbst mit entgeisterter Stimme fragen.
„In der Tat. Und Sie werden mich sogleich dorthin begleiten. Nur machen sie sich vorher noch fertig. Aber beeilen Sie sich, ich hab noch anderes zu tun.” Ohne auf ihre Antwort zu warten, verließ er das kleine Büro und ließ Lil allein.
Die sank erst mal auf den Stuhl. Am liebsten wäre sie aus diesem Irrenhaus gestürmt. Ebene Sieben? Mr Smith hatte sie doch nicht mehr alle! Doch ihre Gabe hatte ihr bestätigt, dass jedes einzelne Wort wahr gewesen war. Und ihre Gabe hatte noch nie versagt. Also schön Lil, find dich damit ab, sprach sie sich in Gedanken Mut zu. Was für Möglichkeiten hatte sie? Vermutlich würde Mr Smith sie nicht mehr gehen lassen, jetzt wo sie etwas von der Existenz einer Ebene Sieben wusste. Er würde ihr Todesurteil wahrscheinlich genauso ungerührt unterzeichnen, wie er sich eine Tasse Kaffee einschüttete. Gut, eine Weigerung kam also nicht in Frage, und Alternativen hatte sie auch keine.

Ihr blieb keine Wahl, sie musste ihm folgen. Und dafür musste sie sich erst mal ihre Dienstkleidung anziehen. Schnell schlüpfte sie aus ihrem nassen Mantel und ihrer restlichen Kleidung. Lil öffnete den extra für diesen Zweck vorgesehenen Spind und schlüpfte in Arbeitskleidung. Graue Hose, graue Bluse. Die Gefängnisleitung hatte definitiv nicht Schönheit im Sinn gehabt, als sie diese Kleidung auswählte, aber Lil war noch nie eitel gewesen- so etwas verlernte man schnell wenn man in einem Kinderheim aufwuchs, in dem es aus Kostengründen einheitliche Kleidung gab.
Schnell band Lil sich noch ihre langen blonden Haare hoch. Leise fluchte sie, als eine große Strähne sich wieder löste. Eigentlich mochte sie ihre Haare ja, aber sie hatten einfach ihren eigenen Willen. Lil tastete mit einer Hand suchend umher und fand tatsächlich auch ein zweites Haargummi. Eilig fixierte sie ihren Zopf und warf einen prüfenden Blick in den winzigen Spiegel, der an der Wand hing. Ja, so musste es gehen. Lil war nicht gerade eine Schönheit, soweit sie das beurteilen konnte. Das einzig was sie wirklich gerne mochte, waren ihre himmelsgrauen Augen. Ihre Nase war ein Stück zu lang und ihre Unterlippe zu voll, als das ihr Gesicht als schön gelten könnte.
Nichts von ihrem Äußeren hielt die Menschen dazu an, zweimal hinzusehen. Sie war weder groß noch klein, nicht hager, aber auch nicht kurvig und sie würde ohne Probleme in einer Menschenmasse untertauchen können, sollte es nötig sein.

Selbst hier bei ihrer Arbeit wurde sie weitestgehend von den anderen ignoriert und war froh, ihr Mittagessen immer unbehelligt von den anderen auf ihrem Stammplatz , dem kleinen Ecktisch in der Nische, einnehmen zu können . Neue Mitarbeiter übersahen sie meist oder guckten überrascht, wenn sie versuchten das Gehörte über ihre schillernde Karriere und ihre äußere Erscheinung in Einklang zu bringen. Sie erwarteten wohl, dass sie permanent von einflussreichen Freunden umgeben war. Nicht, dass Lil ein Bedürfnis nach Freunden gehabt hätte- ihr Geheimnis war sicherer, wenn sie alle auf Abstand hielt. Manchmal versetzte es ihr einen kleinen Stich, wenn sie daran dachte, wie es wohl wäre, sich restlos jemandem anzuvertrauen. Vielleicht wäre es leichter, wenn dieser unglückselige Autounfall ihr nicht ihre Mutter geraubt hätte…

Ein leises Räuspern vor der Tür riss Lil aus ihren Gedanken. Hastig stopfte sie ihre Kleidung in den Spind und klaubte die Sachen zusammen, die wichtig waren. Die vermutlich wichtig waren. Woher sollte sie das schon wissen? Lil war noch nie in der Ebene 7 gewesen, sie hatte verdammt noch mal erst vor einer Viertelstunde von ihrer Existenz erfahren! Nach allem was sie wusste, war es möglich dass die Regierung dort unten Aliens gefangen hielt. Ob ich wohl Kugelschreiber und Block brauche, wenn ich Außerirdische verhöre? Fragte sie sich mit einem Anflug von Galgenhumor. Der Gedanke war so widersinnig, dass er Lil zum Schmunzeln brachte. Sie lächelte immer noch, als sie Mr Smith durch ein Labyrinth von Gängen folgte, die allesamt gleich aussahen. Nach fünf Jahren hatte sie eigentlich gedacht, sie würde sich gut auskennen, doch das alte Gebäude war immer für eine Überraschung gut und Lil ertappte sich dabei, dass sie zunehmend die Orientierung verlor.

Lil strauchelte leicht, als Mr Smith abrupt anhielt. Er kramte kurz in seiner Aktentasche, drehte sich zu ihr um und zog dann ein kleines, mattschwarzes Kärtchen hervor. Auffordernd hielt er es ihr hin und zögernd nahm Lil es ihm ab. Es sah aus wie ihr Ausweis für Ebene Sechs, bloß das auf dieser Karte links oben tatsächlich in kleinen Buchstaben Ebene Sieben eingraviert worden war! Immer noch etwas fassungslos, dass sie den Beweis für die Existenz der geheimnisvollen Ebene in der Hand hielt, steckte sich Lil den Ausweis an die graue Bluse. Er fühlt sich fremd dort an, wie ein Gewicht, dass sie herunterziehen wollte. Mr Smith ließ ihre offenkundige Verwirrtheit unkommentiert und ging weiter sodass Lil sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten.

Endlich hielt er an. Sie standen vor einer Reihe von Aufzügen, die Lil noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Anscheinend war dies ein wenig genutzter Gebäudeteil und der stechende Geruch nach Chemikalien ließ sie vermuten, dass in den angrenzenden Räumen die Putzfrauen ihre Utensilien aufbewahrten. Mr Smith schob eine kleine Klappe zur Seite, die ein Tastenfeld und einen Sensor offenbarte. Routiniert legte er seine Hand auf den Scanner und ein grünes Licht blinkte auf. Er drehte sich zu Lil und guckte sie mit seinen kalten Augen an.
„Alles was dort unten geschieht, unterliegt strengster Geheimhaltung. Wenn auch nur ein Wort an die Außenwelt dringt, dann...” Er musste die Drohung nicht zu Ende sprechen, Lil konnte sich den Rest schon selber zusammenreimen.
„Natürlich Sir. Kein Wort”. Solchermaßen beruhigt bedeutete er ihr, in den Fahrstuhl zu steigen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrat Lil den Fahrstuhl. Auf Ebene Sechs hatte sie es schon mit den schlimmsten Verbrechern, die sie sich vorstellen konnte, zu tun gehabt. Seelenlose Bestien, die ihr ohne Zögern und nur zum Vergnügen die Kehle durchschneiden würden. Wen oder was konnte Ebene Sieben beherbergen, das noch schlimmer war? Die Fahrstuhltüren schlossen sich mit einem Zischen und Lil war, als wäre es der Klang des Schicksals.

Ebene Sieben


Die Fahrstuhltüren öffneten sich und gaben den Blick auf einen langen Flur frei. Enttäuscht sah Lil sich um. Ihre Fantasie war wohl ein wenig mit ihr durchgegangen; sie hatte mit mittelalterlichen Verliesen gerechnet und mit schwer bewaffneten Soldaten, nicht mit weißen Wänden und cremefarbenem Teppich. Es sah haargenau so aus wie auf den anderen Ebenen, nur dem auf diesem Stockwerk die Fenster fehlten und eine brummende Klimaanlage für einen gleichmäßigen Luftstrom sorgte, der ihr kühl über die Haut strich. Das Bild, das Lil vermittelt wurde war vertraut und von geradezu absurder Normalität. Wahrscheinlich waren selbst die Toilettenräume an der gleichen Stelle zu finden. Ob es wohl auch Räume gab, die ihrem Büro entsprachen?
Mr Smith ging zielstrebig den Gang hinunter und sein dunkelgrauer maßgeschneiderter Anzug hob sich wie ein dunkler Fleck von dem Weiß ab. Lil heftete ihre Augen fest auf seinen Rücken und diesmal versuchte sie gar nicht erst die Orientierung zu behalten. Wie schon zuvor hatte sie hatte das Zeitgefühl verloren. Ihr kam es vor, als wäre das Gewirr der weißen Gänge endlos. Nach fünf Minuten -oder einer halben Stunde?- blieb Mr Smith stehen. Lil war so überrascht, dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre, konnte aber gerade noch rechtzeitig bremsen. Er deutete wortlos auf eine kleine Tür, die Lil fast übersehen hätte, weil sie genau wie die Wände weiß angestrichen war.
Sie traten ein und standen in einem kleinen Raum. In der Mitte thronte ein runder Tisch, um den locker ein paar Stühle gruppiert waren. Dicht an die hintere Wand gedrängt stand ein großes Pult übersät mit Monitoren, Headsets und Computern. Wieder erschien ihr das ganze beunruhigend vertraut, denn der Anblick hatte sich ihr schon oft geboten. Dies hier war ein Konferenzraum, wo man das Verhör vor- und nachbereitete. Zu jedem Konferenzraum gehörte auch ein Verhörzimmer, in dem der Gefangene befragt wurde. Am Pult würde später ein Techniker sitzen, der jedes Wort und Husten im Verhörraum aufzeichnete.
Unter normalen Umständen wurde ihr auch ein Assistent gestellt, aber dies hier waren keine normalen Umstände und anscheinend wollte Mr Smith so wenig Menschen wie möglich in die Sache involvieren. Lil war die beste und sie wurde erst nach geschlagenen zwei Wochen hinzugezogen, anscheinend war diese Sache wirklich top secret. Fehlte nur noch der bewaffnete Aufpasser, der sie begleiten würde...Wie auf Kommando betraten ein, nein zwei Männer den Raum. Beide waren groß -mindestens zwei Meter-, braun gebrannt und hatten Narben im Gesicht. Nicht nur das Äußere, sondern auch die gespannt-entspannte Art, mit der sie ihre Waffen hielten schrie förmlich nach Elitekämpfer. Alles in allem sahen sie wirklich gefährlich aus und waren es wahrscheinlich auch.
Umso besser, dann musste Lil sich keine Sorgen um ihre Sicherheit machen. Sie zuckte zusammen, als Mr Smith eine Akte auf den Tisch legte. In der oberen Ecke stand wieder 'Ebene Sieben' geschrieben. Langsam schlug Lil das Dokument auf. Jetzt würde sie also ihren Gefangenen kennen lernen. Wie schlimm es wohl war? Lil tippte auf einen Psychopathen, und zwar einen gemeingefährlichen, da die Wachen sonst nicht so schwer bewaffnet wären. Doch was war das? Hektisch blätterte sie die Akte durch. Wo sonst ein Foto, Größe, Gewicht und Alter standen, war...nichts! Ein leeres Blatt Papier. Und die anderen Seiten genauso! Das war keine Akte, das war einfach nur ein Stapel weißes Papier! Ungläubig blickte sie zu Mr Smith. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Sie hätte es für einen schlechten Scherz gehalten, aber Mr Smith war nicht der Typ, der Scherze machte.
„Vor vierzehn Tagen gelang es uns, einen wichtigen Gefangenen zu nehmen. Einen sehr wichtigen Gefangenen. Der General selbst hat schon sein Interesse an ihm bekundet. Kein Wunder, es ist ja auch der erste Vampir, den wir je lebend fangen konnten.”
“Der General? ” Lil konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme dabei piepsig klang. Wo war sie da nur hineingeraten? Der General, Oberhaupt der Armee und der Regierung, zeigte doch sonst nie Interesse an irgendwas. Obwohl er die gesamt Regierungsgewalt inne hatte, war er nie in der Öffentlichkeit zu sehen, sodass es tausende von Gerüchten gab. Ein paar Leute dichteten ihm Unsterblichkeit an. Einige bezweifelten sogar, dass es ihn überhaupt gab, doch die verschwanden dann eines Nachts und waren nie wieder gesehen. Und jetzt war dieser mysteriöse Mann an einem Vampir in Ebene Sieben interessiert. Und Lil musste ihm Informationen liefern. Sie verfluchte ihre Gabe im Allgemeinen und diesen Tag im ganz Besonderen. Erst dann drang der zweite Teil des Satzes in ihr Bewusstsein. Der geheimnisvolle Gefangene über den sie nicht mehr wusste, als das was in der Akte stand (also überhaupt nichts) war ein Vampir! Ausgerechnet! Die Existenz solcher Wesen war seit dem Tag der Offenbarung zwar bekannt und die Propaganda des Generals schürte die Angst der Bevölkerung vor den blutrünstigen Monstern, aber gleich würde Lil einem leibhaftigen Exemplar gegenüberstehen! Im Heim wurde ihnen einmal als erzieherische Maßnahme ein Film, gedreht von einem Expeditionsteam gezeigt. Die Expedition hatte sich hinter die Landesgrenzen gewagt und war bei Einbruch der Nacht von einem Rudel Vampire angefallen worden. Die Kamera fiel zu Boden und filmte das Gemetzel. Von den Vampiren selber war zwar nichts zu sehen, aber die Schreie und das Blut hatten der sechsjährigen Lil wochenlang Albträume beschert.
Mr Smith deutete Lils Gesichtsausdruck offenbar falsch denn, er fing wieder an zu sprechen, und in seiner emotionslosen Stimme schwang sogar ein Hauch von Gereiztheit mit.
„Denken Sie, es macht mir Spaß, ein kleines Mädchen um Hilfe zu fragen? Seit zwei Wochen versuchen wir Informationen von diesem Vampir zu bekommen, doch alle unsere üblichen Methoden haben versagt.”
Übliche Methoden- damit meinte Mr Smith bestimmt Folter. Wie sollte Lil etwas aus diesem...Vampir(sie zwang sich, das Wort zu denken) herausbekommen, was noch nicht mal Mr Smiths 'übliche Methoden' in zwei Wochen geschafft hatte? Ihr Todesurteil war ja sowas von unterschrieben!
„In zwei Tagen kommt der General zu Besuch, und er will Ergebnisse sehen, also beeilen Sie sich besser.” War das wirklich ein Schweißtropfen, der da Mr Smiths Stirn herablief? Es musste wirklich, wirklich ernst sein. Das erste Mal, seit Lil ihn kannte, wirkte Mr Smith nicht gleichgültig. Er schien fast schon ängstlich, und seine sorgsam angelegte Bürokratenfassade geriet ein wenig ins Wanken. Offenbar merkte er es selbst, denn seine Aura wurde noch eine Spur frostiger, als er betont gleichgültig sagte:
„Ich muss gehen, es gibt noch anderes zu tun. Ich erwarte Ergebnisse!”. Doch seine Schritte, als er den Raum verließ, waren ein wenig zu hastig, verrieten ihn.

Kaum war er verschwunden sank Lil auf einen der Stühle und versuchte sich zu sammeln. Wenn sie überleben wollte, brauchte sie einen klaren Kopf. Gewaltsam schob sie ihre ganze Todesangst in einen hinteren Winkel ihres Kopfes. Erst mal logisch vorgehen, sagte sie sich. Mr Smiths Instruktionen waren doch recht vage. Vielleicht wussten die Wachen mehr, Mr Smith hatte sie schließlich nicht gebeten den Raum zu verlassen, als die Sprache auf den Vampir kam.
„Vampire, hmm?“ Die angesprochene Wache nickte nur knapp, blickte aber weiterhin stoisch in die Ferne. Na schön, dann eben auf die harte Tour. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen militärisch-knappen Tonfall zu geben und verzichtete auf alle Höflichkeitsfloskeln.
„Welche Eigenschaften zeichnen einen Vampir aus?” Sie war beeindruckt, wie fest ihre Stimme klang. Die Wache verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, antwortete aber dennoch ohne zu Zögern.
„Vampire sind Bluttrinker. Geschöpfe der Nacht. Vertragen kein helles Sonnenlicht. Unglaublich schnell und stark, kaum zu besiegen. Ihre Schwäche ist Silber.” Lil musterte den Mann forschend, doch mehr schien er nicht sagen zu wollen. Mit dem Gesagten konnte sie nicht viel anfangen, das gleiche stand auch in der Broschüre, welche das Ministerium für Innere Sicherheit regelmäßig verteilen ließ. Dort war angegeben, dass bei einer „Konfrontation mit einem Vampir“ man sich „im Haus verschanzen und die Behörden informieren“ solle und dass „die Zuständigen sofortige Hilfsmaßnahmen einleiten werden“. Schade bloß, wenn man selber zuständig war.
Na gut, dann musste es eben so gehen. „Bringen Sie mich zu dem Gefangenen.” Wortlos standen die beiden Wachen auf und führten Lil zu einer Tür. Zu ihrem Erstaunen ging es nicht in das angrenzende Verhörzimmer, der massiven Tür nach zu urteilen sollte sie den Vampir direkt in seiner Zelle verhören. Ungewöhnliche Gefangene, ungewöhnliche Maßnahmen.

„Klopfen Sie an die Tür, wenn sie wieder raus wollen oder Probleme haben“, sprach die zweite Wache nun zum ersten Mal. Lil nickte kurz, da sie befürchtete ihre Stimme würde ihre Unsicherheit verraten. Dann musste sie also allein dem Monster begegnen. Auch wenn die Soldaten den Charme von eiskalten Killermaschinen verspürten, wäre es Lil lieber gewesen sie in ihrem Rücken zu wissen, wenn sie der Bestie begegnen würde. Ihr Mund war trocken und ihre Füße konnte sie auch nicht mehr spüren. So viel dann also zu Gelassenheit. Die Wache legte seine Finger an einen Sensor und mit einem hydraulischen Zischen schwang die armdicke Tür auf. Lils ganzer Körper weigerte sich, den erstaunlich dunklen Raum zu betreten, doch ihr Verstand zwang sie, vorwärtszugehen. Ein Schritt. Zwei Schritte. Dann hatte sie die Schwelle überquert und stand im Raum. Die Tür fiel mit einem Knall der Endgültigkeit wieder ins Schloss.

Anscheinend waren die Stockwerke doch nicht identisch. Dieser Raum, diese Zelle, war groß, so groß dass die Ecken von Schatten verschluckt wurden. An der hohen Decke hing eine einsame Neonlampe, die flackernd ihr kaltes Licht verbreitete. Direkt darunter war ein massiver Stuhl am Boden festgeschraubt. Auf diesem Stuhl saß ein Mann-oder vielmehr ein Vampir- dessen Kopf auf die Brust gesunken war. Er hatte kein Hemd an, sodass Lil freien Blick auf seinen muskulösen Oberkörper hatte. Seltsame Tätowierungen bedeckten jeden Zentimeter der Haut, konnten aber nicht von der braunen Masse getrockneten Blutes ablenken. Das Blut stammt vermutlich von den Folterungen, die er über sich ergehen lassen musste, doch seltsamerweise konnte sie aus der Entfernung keine offenen Wunden erkennen. Beim nächsten Flackern der Lampe sah sie ein Aufblitzen, was ihre Aufmerksamkeit zu den Ketten lenkte, mit denen der Vampir an Handgelenken und Fußknöcheln an den Stuhl gefesselt. Silber!
Bei dem Geräusch von Lils hallenden Schritten war etwas Regung in den Vampir gekommen. Langsam hob er den Kopf und blickt ihr in die Augen.

Das Verhör


Lils Herz setzte einen Schlag aus. Ihr erster, komplett verrückter und widersinniger Gedanke war der Wunsch, etwas Schöneres als ihre Uniform anzuhaben. Jetzt bloß nicht ablenken lassen! Sie befand sich in einem Verhör, ihr Leben hing am seidenen Faden und das Wesen vor ihr war noch nicht mal menschlich, warum fand sie ihn dann anziehend? Sie hatte mit einem Monster gerechnet, dass sie mit rotglühenden Augen und ausgefahrenen Fangzähnen töten wollte, wie damals in dem Film. Aber das hier… Die Propaganda des Generals kannte sich definitiv nicht mit Vampiren aus. Das Exemplar vor ihrer Nase war von atemberaubender Attraktivität. Er war nicht schön im klassischen Sinne, doch seine bloße Präsenz zog sie in ihren Bann. Er hatte ein markantes Kinn, das ein leichter Bartschatten verdeckte. Seine Nase war anscheinend schon einmal gebrochen und dann schief zusammengewachsen, denn sie hatte einen leichten Knick in der Mitte. Doch das alles nahm Lil nur am Rande wahr, denn ihr Blick wurde unaufhaltsam zu den grünen Augen gezogen, die ihr mit hypnotisierendem Blick bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnte. . Er starrte sie an, und sie starrte zurück. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie das Blickduell beendete, indem sie die Augen niederschlug und errötete. Obwohl sein Gesicht von Erschöpfung und Schmerz gezeichnet war, sah er immer noch besser aus als jeder Mann, dem sie je über den Weg gelaufen war
„Schickt der General jetzt ein kleines Mädchen um seine Arbeit zu machen?” Er hatte eine heisere, melodische Stimme, die Lil Gänsehaut verursachte. Lil öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Errötend schloss sie ihn wieder. So viel zum souveränen ersten Eindruck.
„Und sprachlos ist sie auch noch”. Jetzt hatte die Stimme eindeutig einen sarkastischen Unterton. Das reichte, um Lil aus ihrer Schock starre zu holen. Ihr war heute wiederholt mit dem Tod gedroht worden, sie war mit ihren Nerven am Ende und gerade hatte jemand sie zum zweiten Mal an diesem verfluchten Tag als kleines Mädchen bezeichnet! Entschlossen kratzte sie ihren ganzen Mut zusammen, straffte sich und reckte ihr Kinn kämpferisch in die Höhe. „Ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin zweiundzwanzig und die beste Verhörerin in diesem Gefängnis!”
„Da bin ich jetzt aber gespannt” kam eine ironische Stimme vom Stuhl her. Trotz der Fesseln und seines angeschlagenen Zustandes schien er noch viel Selbstbewusstsein zu haben. Schnaubend streckte Lil ihre mentalen Fühler aus. Gleich würde sie diesem arroganten Mistkerl auf den Zahn fühlen. Sie tastete sich immer weiter und weiter vor. Normalerweise würde ihre Gabe ihr jetzt ein grobes Bild von der Stimmungslage der Person geben und ihr sagen, ob er log. Aber hier...sie konnte nichts spüren! Panik stieg in ihrer Kehle auf und sie warf sich mit aller Kraft gegen seine mentalen Schutzmauern. Nein, nein, nein! Ihre Gabe hatte sie noch nie im Stich gelassen! Warum musste sie das ausgerechnet jetzt tun? Sie versuchte es wieder und wieder, aber seine Schutzschilde waren undurchdringlich.

Der Vampir hatte interessiert ihr Mienenspiel vom Unglauben über Wut zur blanken Panik beobachtet. Er bekam anscheinend nichts von ihren verzweifelten Angriffen auf seine Schutzschilde mit. „Zweiundzwanzig? Ich bin fünfhundert Jahre alt, kleines Mädchen“, sagte er mir spöttischer Stimme. Lil versuchte sich zu sammeln. Sie wusste nicht genau wie, aber irgendwie war dieser Vampir immun gegen ihre Gabe. Das war schlecht, denn sie musste Mr Smith Ergebnisse liefern, sonst würde ihre Leiche morgen früh an irgendeinem Flussufer angespült werden. Vielleicht konnte sie ihn ja auf die altmodische Art zum Reden bringen? Er hatte ihr gerade sein Alter verraten. Konnte sie noch mehr von ihm in Erfahrung bringen? Die Chance war winzig klein, aber sie musste es versuchen. Lil setzte ihr bestes Pokerface auf. “Wie ist ihr Name?” Nicht schlecht Lil, deine Stimme klingt schon fast sicher und kalt.
Der Vampir fing an zu lächeln. “Sie haben Mut, das gefällt mir. Ich glaube, ich werde mich tatsächlich mit Ihnen unterhalten. Wissen Sie, nach zwei Wochen in diesem Loch sterbe ich fast vor Langeweile. Übrigens, den Innenarchitekten würde ich feuern lassen. Zum Glück bin ich in einer Viertelstunde hier weg.” Was sagte er da? Er saß in Silberketten auf einem Stuhl und sprach beiläufig von Flucht, so als würde er über das Wetter plaudern? Er wollte sie wahrscheinlich nur verwirren. Das musste es sein. Wenn sie es doch bloß überprüfen könnte, aber er war ja auf eine seltsame Art immun.

Aber immerhin er hatte gesprochen, das war doch schon mal etwas. Jetzt musste sie ihn nur noch am Reden halten. „Ich werde Ihnen meinen Namen verraten”, fuhr er fort, “aber nur, wenn Sie mir etwas im Gegenzug von sich erzählen.”
Lil fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr blieb ja keine Wahl. „Was wollen sie wissen?”
„Wie heißen sie?” „Lil.” Er zog eine Augenbraue hoch. „Eine Abkürzung nehmen ich an. Was ist dein vollständiger Name?” „Liliane Davis”, sagte Lil widerstrebend. Wie sehr sie ihren Vornamen doch hasste. Liliane, das war der Name, den die Ärzte ihr gegeben hatten. „Hübsch” sagte er, und ein wohliger Schauer überlief sie. Rasch unterdrückte Lil ihre Reaktion. Wieso brachte er sie nur so aus dem Gleichgewicht? Er hatte doch nur ihren Namen gesagt. Ihr Körper hatte definitiv seinen eigenen Willen. „Jetzt bin ich dran. Wie ist Ihr Name?”. Auch wenn er sie duzte, sie würde es ganz bestimmt nicht tun. Professionelle Distanz, ermahnte sie sich in Gedanken. Er zögerte einen Moment. “Ich heiße Valentin” Er konnte das Blaue vom Himmel herunter lügen, aber irgendwie glaubte sie, dass er die Wahrheit sprach. Lil wiederholte seinen Namen in ihren Gedanken. Valentin- dieser Name passte so gar nicht zu seinen Muskeln und Tätowierungen.
„Und jetzt, da du meinen Namen weißt, muss ich dich leider töten.” Er lachte kurz auf, aber es klang nicht fröhlich, sondern bitter. „Spaß beiseite, ich muss dich sowieso töten, auch wenn du meinen Namen nicht wüsstest. Unsere Unterhaltung ist ja ganz nett, aber ich habe doch nicht zwei Wochen geschwiegen, nur um beim Anblick eines hübschen Gesichts weich zu werden. In dieser Angelegenheit habe ich wirklich keine Wahl. Bedank dich bei deinem Vorgesetzten oder dem General, oder wem auch immer. Dein Tod war schon entschieden, als du durch diese Tür kamst.”
Lil schluckte. Das war mal ein Themenwechsel.
Außerdem bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Obwohl er nicht der erste Gefangene war, der ihr mit dem Tod drohte, obwohl er gefesselt auf einem Stuhl saß, konnte ein kleiner Teil nicht anders als ihm zu glauben. Dieser kleine Teil schrie nun in heller Panik auf und ihr Herzschlag beschleunigte sich etwas.
„Warum?” Sie musste ihm diese Frage einfach stellen. Er lächelte traurig. “Die Frage kann ich wohl noch beantworten. Ich habe mich gefangen nehmen lassen, damit ich hier eingesperrt werde. Es war der einzige Weg, Ebene Sieben zu betreten. Weißt du, das hier ist der sicherste Ort des ganzen Planeten. Meine Auftraggeber hoffen, dass der General hier etwas versteckt hält. Etwas, was zu seinem Untergang führen könnte. Es tut mir wirklich leid, dass du dazwischen geraten bist. Ich töte eigentlich keine Frauen.”
Jetzt bekam Lil es doch langsam mit der Panik zu tun. Der Blick in die vollkommen ernsten Augen des Vampirs sagte ihr, dass der Wahnsinnige hundertprozentig glaubte, was er sagte. Und warum war er auf einmal so redselig? Das war nicht gut, gar nicht gut. Wenn er ihr solche hochbrisanten Dinge erzählte, ging er davon aus, dass sie nicht die Möglichkeit bekommen würde sie weiterzuerzählen. Na toll. Warum war sie heute Morgen aufgestanden? Sie schob sich langsam zur Tür, rückwärts, damit sie ihn nicht aus den Augen lassen musste. Hektisch pochte sie gegen die Tür. Gott sei Dank schwang sie auch auf. Die beiden Wachen kamen in den Raum. „Gibt es Probleme?”
„Ja, der Gefangene...” Weiter kam Lil nicht. Sie hatte sich umdrehen wollen, um auf den Stuhl zu zeigen. Doch der Stuhl war leer! Hatte sie Halluzinationen? Plötzlich fiel die Tür mit einem Knall ins Schloss, obwohl sich niemand bewegt hatte. Die beiden Wachen zückten ihre Gewehre, duckten sich leicht und stellten sich Rücken an Rücken auf. Das Klacken, mit dem sie ihre Waffen entsicherten, hallte unheilverkündend in dem großen Raum wieder. Dann Stille. Ein Rascheln war zu hören und aus dem Augenwinkel sah Lil einen verschwommenen Schatten. War das Valentin? Es war doch unmöglich, sich so schnell zu bewegen. Nicht für einen Vampir, widersprach sie sich in Gedanken. Auf einmal stand er wieder neben dem Stuhl, ihnen den Rücken zugewandt. Misstrauisch pirschten sich die Wachen näher heran. Es war klug von ihnen, der vermeintlichen Wehrlosigkeit des Vampirs nicht zu trauen. Er fing an zu sprechen, aber diesmal war es anders. Seine samtweiche Stimme erklang nicht nur in ihren Ohren, sondern auch in ihrem Kopf! Sie spürte, wie ein gewaltiger Druck auf ihrer Schläfe lastete. “Nehmt das Gewehr” befahl die Stimme. Wache Nummer eins und Wache Nummer zwei taten das tatsächlich! Sie nahmen das Gewehr und sahen es an, als ob sie unschlüssig wären, was sie damit tun sollten. Waren sie hypnotisiert von der Stimme des Vampirs? So etwas wie Gedankenkontrolle war doch unmöglich! “Erschießt euch.” Der Druck auf Lils Schläfen nahm zu. Sie verspürte auf einmal den irren Wunsch, der Wache das Gewehr aus der Hand nehmen und sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Das war doch verrückt! Ihre Hände zitterten, als sie gegen den Drang ankämpfte. Tue es! Befahl die Stimme in ihrem Kopf, doch von irgendwoher nahm Lil die Kraft zu widerstehen. Sie krümmt sich zusammen, beide Hände fest an die Seiten ihres Kopfs gepresst.
Zwei Knalle ertönten und der Druck auf Lils Schläfen ließ abrupt nach. Sie spürte etwas Nasses und Warmes an ihrem Bein. Sie senkte ihren Blick und wünschte sich, sie hätte es nicht getan. Blut! Es lief aus dem Kopf der einen Wache. Der Körper der zweiten Wache lag zusammengesunken hinter ihr. Mit zittrigen Beinen stand Lil auf, obwohl sie noch nicht einmal bemerkt hatte, dass sie kniete. Vielleicht war es dumm, jetzt auf sich aufmerksam zu machen, aber der Vampir hätte früher oder später sowieso bemerkt, dass sie noch am Leben war. Da war es doch besser, wenn sie die Sache mit ihrem Tod schnell hinter sich brachte. Valentin stand immer noch neben dem Stuhl, das Gesicht zur Wand gedreht, als ob er es nicht ertragen konnte, die beiden Wachen sterben zu sehen. Diese Pose war es, die in Lil eine Welle der Wut entfachte. Diese Wut machte es ihr auch möglich, die Bewegungslosigkeit zu brechen und ihre Stimme zu erheben. “Feigling! Du kannst ihnen noch nicht einmal ins Gesicht sehen, wenn du sie ermordest!”Lil wunderte sich, wie laut ihre Stimme in dem großen Raum klang. Sie hatte versucht, soviel Verachtung wie möglich in sie hineinzulangen. Valentin fuhr herum, so schnell dass er vor Lils Augen verschwamm. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf seinen Gesichtsausdruck. Er sah total schockiert aus! Lil fand das irgendwie witzig. Es war wohl das erste Mal, dass jemand seiner Gabe widerstehen konnte. Das war ausgleichende Gerechtigkeit! Halt, wie konnte sie nur so etwas denken? Er würde sie jeden Moment töten! Die Todesangst hatte wohl ihr Gehirn verwirrt. Genau, das musste es sein. Sie war verrückt. Reif für die Klapsmühle. Plötzlich fühlte sie, wie eine kalte Hand sie an die Gurgel packte. Ihr ganzer Körper donnerte gegen die Wand als Valentin sie herum schleuderte, sodass sein ausgestreckter Arm ihren Hals mit festem Griff umschlossen hatte. Unwillkürlich schossen Lils Hände zu seiner Hand noch oben, aber obwohl sie es mit aller Kraft versuchte, rückte er nicht einen Zentimeter ab.
„Wieso bist du nicht tot?”. Valentin hatte seinen Kopf leicht schräg gelegt, als begutachtete er ein seltsames Insekt unter dem Mikroskop.

Noch war seine Hand eher locker um ihre Kehle gelegt, aber Lil gab sich keinen Illusionen hin. Er musste nur ein bisschen zudrücken, dann würde ihr die Luftzufuhr abgeschnitten werden. Gegen dieses Ungeheuer hatte sie nicht die geringste Chance! Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um seinen Griff etwas angenehmer zu machen.
„Ich weiß es nicht”, presste sie heraus. Valentins grüne Augen verengten sich zu Schlitzen. Herr im Himmel, und war das in seinem Mund ein Aufblitzen von Reißzähnen gewesen? Er schien wütend zu werden, und dabei bröckelte seine menschliche Fassade. Langsam kam sein Gesicht dem ihrem näher. Lil den Augenkontakt nicht abbrechen, sie konnte ihren Blick nicht von seinen brodelnden grünen Augen abwenden und sie kam sich so vor wie eine Maus, die von dem hypnotisierendem Blick einer Schlange gelähmt wurde. Starr blickte sie ihrem Untergang entgegen.

Valentin öffnete den Mund und seine spitzen Reißzähne kamen zum Vorschein. Fast schon zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne von der Schulter, sodass ihr Hals offen da lag. Lil konnte ein Wimmern nicht unterdrücken. Ich will nicht sterben!!! War der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf wiederhallte Aber die Hand an ihrer Kehle verdammte sie zu Bewegungslosigkeit. Seine Hose raschelte leicht, als er sich vorbeugte und Lil fixierte mit starren Augen einen Flecken an der gegenüberliegenden Wand, ohne jedoch wirklich etwas zu sehen. Sie spürte die Abdrücke von Valentins Zähnen, die sich auf ihren rasenden Puls drückten und sein heißer Atem der die Stelle unter ihrem Ohr kitzelte, als er regungslos verharrte. Das ist mein Ende! Dachte Lil und presste die Augen fest zusammen.

Ihr Herzschlag dröhnte wie eine Trommel in den Ohren, als sie realisierte, dass er immer noch nicht zugebissen hatte. Sie hörte ihn tief einatmen, wie ein Weinkenner das Bouquet genoss. Er stutzte. Dann schien er zu erstarren. Er atmete noch einmal und noch einmal. Eigentlich schien er sogar an ihr… zu riechen? Seine linke Hand packte Lils Zopf und er inhalierte noch einmal tief ihren Geruch. Lils Herz flatterte wie ein kleiner Vogel und Hoffnung durchströmte ihre Ader wie kochendes Wasser.

Urplötzlich fühlte sie, wie er ihre Kehle ruckartig freigab. Am ganzen Leib zitternd sank sie mit dem Rücken zur Wand zusammen, ihr Körper von unterdrückten Schluchzern geschüttelt. Sie hob ihren Kopf und blickte mit tränenverschleierten Augen ihren Beinahe-Mörder an. Er schien regelrecht fassungslos auf Lil herunter zu blicken und sie sah, wie hinter seinen Augen Gedanken ziellos hin- und her schossen. Dann breitete sich ein zutiefst entschlossenes, grimmiges Lächeln auf seinen Zügen aus, das ihr fast noch mehr Angst machte als seine Reißzähne.

„Du kommst mit mir mit“, sagte er in einem bestimmten Tonfall, der keine Widerrede zu dulden schien. Valentin hatte seine Fassung wieder erlangt und seine transformierten Züge traten nicht mehr so deutlich hervor, eigentlich sah er nicht mehr so aus wie das mörderische Ungeheuer, dass er bis vor wenigen Augenblicken noch gewesen war. Er streckte ihr seine große Hand auffordernd hin und Lil ließ zu, dass er ihre –immer noch zitternde- Hand ergriff und sie auf ihre wackligen Beine zog.

Er drehte sich um und schritt zu der Tür, wobei er den Arm des einen Wachmanns der ihm im Weg lag, angeekelt mit der Fußspitze bei Seite stieß. Valentin nahm zwei Schritte Anlauf, dann trat er mit voller Wucht gegen die Tür, die sich nicht nur verbeulte sondern auch mit einem Krach aus den Angeln flog und völlig zerbeult als wäre sie aus Alufolie und nicht aus Blei auf dem weißen Teppich landete!
Zögernd machte Lil Anstalten ihm zu folgen, doch ihm war es wohl zu langsam, denn kurzerhand warf er sich Lil über die Schulter.

Eine kleine Planänderung


Das helle Licht des Flures brannte sich in Lils Augen und sie blinzelte hektisch, bis ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten.
„Lass. Mich. Los. Du… dämlicher Vampir!“Ihr schwacher Prostest verhallte ungehört und er zuckte noch nicht einmal zusammen, als sie ein paar halbherzige Schläge versuchte. So wenig beeindruckt wie ein Löwe von einer Maus sein mochte, setzte er seinen Weg fort. Sie spürte, wie seine Muskeln sich an- und entspannten, als er den Gang herunter spurtete. Zuerst hatte sie auf den Boden gestarrt, aber als sie mit einem aufsteigendem Gefühl der Übelkeit sah, dass Valentin blutige Fußabdrücke auf dem cremefarbenen Teppich hinterließ, richtete sie ihren Blick starr auf die Decke und zählte die Neonlampen. Sie war gerade bei zweihundert angelangt, als der Gang einen scharfen Knick nach links machte. Dann fiel ihr ein, dass sie am besten um Hilfe schreien sollte. Sie holte tief Luft. „Hilf..!!“ Ihr Schrei erstickte gurgelnd unter Valentins Hand, der sie schneller als sie gucken konnte wieder an die Wand gepresst hatte.
Einen kurzen Moment hielt die Welt den Atem an, als sie sich erneut in Valentins Augen gefangen wurde. Dann hörte sie es. Schritte. Es waren weiche Schritte, selbst wenn man den dämpfenden Teppichboden dazurechnete. Definitiv keine Stiefel mit Stahlklappen, so wie ihn die Wächter trugen. Ein raubtierhaftes Grinsen breitete sich langsam auf Valentins Gesicht aus und Lils Angst erreichte einen neuen Höhepunkt. In einer sinnlichen, flüssigen Geste legte er ihr die raue Spitze seines Zeigefingers auf die Lippen, Warnung und Versprechen zugleich. Lil stand wie festgefroren an der Wand, als Valentins wie das Raubtier, das er war auf die Ecke zu glitt.

Der Klang der Schritte blieb gleich, der Urheber ahnte nichts von dem Damokleschwert das über seinem Haupt schwebte und ihn zu Tode verurteilen würde. Erst ein, dann ein zweites Bein erschienen in Lils Blickfeld. Mr Smiths Miene schwankte zwischen Verwirrung und Wut, als er Lil an der Wand stehen sah. Lil legte all ihre Angst und Verzweiflung in ihren Blick in der Hoffnung, er würde die richtigen Schlüsse ziehen und machen, dass ihr Albtraum aufhörte. Ein Lederslipper schwebte kurz über dem Boden, unsicher ob er den nächsten Schritt vollenden sollte. Er öffnete seinen Mund um sie zurechtzuweisen oder sie zu fragen, warum sie hier war und nicht bei dem Gefangenen… Dann dämmerte langsam ein furchtbares Verstehen herauf; er klappte seinen Mund wieder zu und setzte zu einer Drehung an, seine Hand fuhr instinktiv zu seiner Hüfte, doch zu spät, zu spät.

Eine Gestalt flog auf ihn zu, so schnell das die Konturen verschwanden. Sein Genick brach wie ein trockener Ast und er war tot, bevor er auf dem Boden ankam.
Ein ersticktes Wimmern entkam Lils Kehle. Valentin kam mit lässigem Schritt auf sie zu, als hätte er eben ein langweiliges Buch gelesen und keinem Mann das Leben genommen. Er packte mit festem Griff Lils Arm und zog sie hinter ihm her. Mr Smiths Leiche lag verdreht auf dem Gang, sein Anzug wies selbst im Tod keine Falten auf, einzig und allein sein verdrehter Kopf verriet, dass er tot war. Seine Züge zeigten immer noch den Ausdruck milder Überraschung. Blicklose, seltsam wässrige Augen starrten Lil vorwurfsvoll an und sie wusste, dass die Augen sie bis in ihren Schlaf verfolgen würden. Dann hatten sie den Leichnam passiert.

Lil schloss die Augen, geriet ins Stolpern, öffnete die Augen wieder. Valentin zog sie unerbittlich vorwärts. Er musste verrückt sein. Allem Anschein nach plante er tatsächlich mit ihr aus dem am besten gesicherten Ort der Generalsstaaten auszubrechen! Selbst wenn sie es aus Ebene Sieben herausschaffen sollten, was war mit den Wachen, die keinen Moment zögern würden, auf sie zu schießen und unzweifelhaft auch treffen würde? Der weiten Fläche zwischen Gefängnis und Zaun, die keinerlei Deckung bot? Ganz zu schweigen von der Armee an Wachkugeln und den Maschinenpistolen, die auf jedem der Wachtürme befestigt waren.
Mit Mr Smiths Tod war auch die letzte Chance dahin, dass Lil aus dem hier lebend herauskam. Würde irgendjemand ihr glauben, dass sie nur zufällig zwischen die Fronten eines uralten Krieges gestolpert war? Der General konnte es sich nicht leisten, ein kleines Mädchen das zufällig etwas zu viel wusste herumlaufen zu lassen. Sie konnte nicht zurück, so einfach war das. Und allem Anschein nach hing ihr Überleben jetzt von einem irren, blutrünstigen Vampir ab.

Denn verrückt war er definitiv. Warum sonst sollte er sein Ohr an die kahle Wand pressen?
„Wie funktioniert der Fahrstuhl?“ Fahrstuhl, was für ein Fahrstuhl? Doch dann sah Lil die vagen Umrisse einer weißen Tür, die sich farblich nicht von den Wänden unterschied und deshalb schwer auszumachen war. Sie räusperte sich unbeholfen. „Fingerabdruck“. Ihre Stimme klang heiser, als ob sie geschrien hätte. Valentin nickte knapp und ging mit festen Schritten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Einen Moment lang fühlte Lil sich sehr hilflos, doch ehe sie bis zwanzig zählen konnte, war Valentin zurückgekehrt. Er hielt etwas Rotes, Fleischfarbenes in der Hand und machte sich an der Tür zu schaffen. Die Kontrolllampe leuchtete grün auf und Valentin stieß ein triumphierendes Zischen aus. Valentin schob sie in den Fahrstuhl und verdeckte mit seinem breiten Oberkörper den Blick auf den Flur, aber dennoch erhaschte Lil kurz bevor sich die Türen schlossen einen Blick auf Mr. Smiths Hand, die zusammengekrümmt und einsam auf dem Flur lag, wie ein Stück Abfall.

Blau. Lil war dankbar für die Farbe im Inneren des Fahrstuhls, dankbar dem bizarren Albtraum aus schwarz, weiß und rot entkommen zu sein. Weniger dankbar war sie allerdings für Valentin, der sie in die missliche Lage gebracht hatte und neben ihr wie ein nervöses Pferd von einem Fuß auf den anderen tänzelte und sich für den Kampf bereit machte, der nun zweifellos folgen würde. Ob man schon Alarm geschlagen hatte? Mit ein wenig Glück hatte man Wache eins und zwei noch nicht entdeckt und sicherlich kannten auch nicht alle Wachmänner Ebene Sieben. Vielleicht hatten sie ja doch eine Chance…

Die Fahrstuhltüren öffneten sich mit einem Pling und Valentin schwang sie kompromisslos über auf seinen Rücken, als ob sie kleine Kinder wären und Pferdchen spielen würden. Diesmal jedoch versuchte Lil nicht, ihn wegzustoßen sondern klammerte fest an ihn. Halb erwartete sie schon das Knattern von Gewehren, als sie den Fahrstuhl verließen, doch Ebene Sechs sah geradezu absurd vertraut aus. „Halt dich gut fest“, murmelte Valentin aus seinem Mundwinkel und Lil klammerte sich noch fester an ihn, soweit ihr das möglich war.

Wenn sie geglaubt hatte, dass Valentin vorher gesprintet war, dann wurde sie jetzt eines Besseren belehrt. Die Welt flog nur so an ihnen vorbei und vielleicht war es die Geschwindigkeit, die ihre Wahrnehmung verschwimmen ließ. Im Nachhinein erinnerte sie nur noch einzelne Bilder: Valentin, wie er im Zickzack die Wände entlang sprang und dabei systematisch die Kameras zerstörte. Der unfreundliche Wachmann von heute Morgen, der tot auf den Boden rutschte, seine Tasse Kaffee immer noch dampfend neben sich. Und dann, endlich, die Tür. Am Rand ihres Bewusstseins nahm Lil die erstickten Schreie der beiden Wachen wahr, doch ihre Aufmerksamkeit war auf den Himmel gerichtet.

„Es schneit“, sagte sie mit kindlichem Erstaunen in der Stimme. Und richtig, der kühle Nieselregen von heute Morgen hatte sich in ein Schneegestöber verwandelt. Noch während sie versuchte, den Wandel zu begreifen, heulte der Wind auf und der Schnee fiel noch dichter. Am Boden hatten sich schon Schneewehen gebildet und innerhalb kürzester Zeit zitterte Lil am ganzen Körper. Sie versuchte die Wachtürme zu erspähen, doch die dunklen Schemen wurden von dem Vorhang aus Schnee verschluckt. Valentin lief los und entfernte sich von der Eingangstür, deren Lichtschimmer erst schwächer wurde und dann gänzlich verschwand.
Mit tauben Fingern klammerte sich Lil an Valentins Oberkörper, der trotz der eisigen Temperaturen Hitze ausströmte. Valentin war der einzige Orientierungspunkt inmitten des Chaos des Schneesturms. Trotzdem meinte sie über das Heulen des Sturms hinweg eine Gewehrsalve zu hören.

In ihrer ersten Arbeitswoche war sie Zeugin eines Ausbruchversuches geworden. Ein namensloser Gefangener von Ebene Drei hatte irgendwie den Schlüssel der Putzkolonne in die Hände bekommen, hatte sich verkleidet und war mit dem Wagen bis in das Erdgeschoss gelangt. Doch als er die Tür gesehen hatte, verließen ihn die Nerven und er stürmte blindlings ins Freie. Mit der Kraft der Verzweiflung hatte er die Wachmänner, die sich ihm in den Weg stellen wollten, bewusstlos geschlagen. Lil, die gerade die Eingangskontrolle passieren wollte, hatte sich eng an die Wand gedrängt und gehofft, er würde sie übersehen. Sirenen zerrissen die Stille in hohen, klagenden Tönen, was den Mann nur dazu antrieb, noch schneller zu laufen. Als er an ihr vorbeilief konnte Lil einen Blick in die gehetzten Augen des Mannes erhaschen und die pure Verzweiflung, die in ihnen stand. Kaum hatte er das Gebäude verlassen, kamen die Gewehrschüsse und von ihm blieb nichts als eine blutige Masse am Boden. Die Putzkolonne, der der Schlüssel abhanden gekommen war, musste die Überreste entfernen und kurze Zeit später wurden die bleichen, verängstigten Frauen an einen anderen Ort versetzt. Lil bezweifelte, dass man je wieder von ihnen hören würde.

An diesen Zwischenfall musste Lil denken, als sie im Herzen des Sturms gefangen war, gelähmt vor Angst. Einen Augenblick lang befürchtete sie, näherkommende Schritte zu hören, dann zerriss eine Explosion die Nacht. Und dann noch eine. Und noch eine.

Als ob das das Startsignal gewesen wäre, erhöht Valentin noch einmal die Geschwindigkeit. Schon bald hatte Lil jegliches Zeit- und Orientierungsgefühl verloren, als bewegten sie sich durch eine Zwischenwelt, die nur aus Schnee und Kälte bestand. Manchmal bildete sie sich ein, einen Soldaten etwas rufen zu hören, manchmal wähnte sie sich schon fast in Freiheit. Das Gefühl für ihren Körper ebbte langsam ab und ließ eine Taubheit zurück, die ihr fast noch mehr Angst machte als die Gewehre. Nur ihr Überlebensinstinkt hielt sie davon ab, Valentin loszulassen. Fast wäre sie abgerutscht, als Valentin einen riesigen Satz machte. Einen kurzen Moment lang flogen sie, dann setzte Valentin geschmeidig auf der Erde auf und setzte seinen Weg mit der gleichen Geschwindigkeit fort. Was…? Die Erkenntnis traf Lil wie ein Blitz. Er war einfach über den Zaun, der unter Strom stand, gesprungen. Wie hoch war das? Drei Meter? Verdammt, sie wollte auch Vampirkräfte haben. Doch es dauerte noch eine kleine Weile, bis Lil ihre Vermutung bestätigt sah. Schemenhaft konnte sie einige Bäume ausmachen, also mussten sie sich in dem Waldgebiet befinden, das östlich an das Gefängnisgelände angrenzte- das hieß, sie waren auf dem Weg Richtung Stadt! Liberty City war nur ein paar Kilometer vom Gefängnis entfernt, weit genug entfernt um die Bewohner der Stadt in Sicherheit zu wiegen, aber nah genug, damit man die zehntausend Gefangene versorgen konnte.

Je weiter sie kamen, desto mehr schien der Schnee an Einfluss zu verlieren. Die Schneedecke, die in der Nähe des Gefängnisses noch einen Meter hoch gewesen war, mochte jetzt nur noch zehn Zentimeter messen und der Schnee war zu einem Schneeregen geworden.

Zehn Minuten später hatte der Regen endgültig den Schnee verdrängt und endlich verlangsamte Valentin seine Schritte. Sie kamen unter einer Eiche zum Stillstand, deren Blätterdach notdürftigen Schutz gegen den Regen bot. Als Lil keine Anstalten abzusteigen machte, löste Valentin behutsam ihre verkrampften Finger, die sich in seine Schulter gebohrt hatten. Immer noch sanft ließ er sie zu Boden gleiten. Lil konnte ihre Bein immer noch nicht spüren und sie drohten unter ihr wegzubrechen. Bevor sie fallen konnte, hatte Valentin sie an den Fuß gesetzt und ihren Rücken an den Stamm gelehnt. Er hatte noch immer nur die Hose an, die er im Gefängnis getragen hat, doch trotz seines freien Oberkörpers schien ihm das Wetter weniger zu schaffen zu machen als Lil, die in ihrer Uniform zitterte.
Sie leckte sich mit der Zunge über ihre rissigen, blauen Lippen. „Und jetzt?“, krächzte sie mit einer Stimme, die ihr nicht zu gehören schien. Sie war zu erschöpft, um Angst zu empfinden, zu erschöpft höflich zu sein- am liebsten wollte sie sich unter einer warmen Bettdecke verkriechen und schlafen, bis die Ewigkeit vorbei war.
Valentin schenkte ihr ein kurzes Lächeln, das ein wenig ihre eigene Erschöpfung wiederspiegelte. „Wir können später reden. Erst mal sollten wir uns einen Platz zum Übernachten suchen und vielleicht etwas zum Anziehen.“
Lil nickte zustimmend und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Sie schaffte es tatsächlich, zwei wackelige Schritte zu machen, bis sie wieder fiel. Diesmal hob Valentin sie in seine Arme, als ob sie nur so viel wie eine Feder wiegen würde und ging weiter, Liberty City entgegen. Der warme Körper von Valentin wärmte sie wieder etwas auf und der gleichmäßige, seltsam einschläfernde Rhythmus seiner Schritte ließ Lil in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.


Das Monster in Valentin knurrte und fletschte die Zähne. Er fühlte die warme Zerbrechlichkeit der Frau, die in seinen Armen schlief. Wenn ihr Gesicht nicht von Angst und Wut entstellt war, sah sie sogar recht annehmbar aus- sehr annehmbar eigentlich. Er verspürte das überwältigende Verlangen, sich tief in ihr zu vergraben und ihr süßes, heißes Blut in tiefen Zügen zu trinken. Irgendetwas an ihr rief eine heftige Reaktion hervor. Doch es war nicht ihr Aussehen- er hatte in seinem langen Leben schon mit vielen jungen Frauen Bekanntschaft geschlossen(sowohl im eigentlichen, als auch im übertragenden Sinne) und ihre Schönheit war zwar ein angenehmer Nebeneffekt, aber doch so flüchtig wie eine Blume, die kurz aufblüht und dann in seinen Händen verwelkt. Die Meilen flogen nur so dahin, als er darüber nachgrübelte…

Das Kapitel, das keines ist


Lil seufzte wohlig und kuschelte sich tiefer in das warme Bettzeug. Beim Umdrehen versank sie tief in der weichen Matratze, die ihr das Gefühl gab, auf Wolken zu schweben. Endlich hatte jemand auf sie gehört und die dünnen, fadenscheinigen Matratzen der Sozialwohnungen ausgetauscht. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen öffnete die Augen und sah- grün. Lil setzte sich auf, plötzlich hellwach. Wo zum Teufel war sie? Auf jeden Fall nicht in ihrem Bett, das bei weitem nicht so geräumig oder bequem war. Sie befand sich auf einem großen Himmelbett, das an jeder der vier Ecken einen gigantisch hohen Bettpfosten hatte. Die grünen Vorhänge waren zugezogen und spannen das Bett wie einen grünen Kokon ein. Das Bett gehörte wohl jemandem mit kostspieligem Geschmack, denn die Brokatvorhänge waren mit kleinen Blumenstickereien versehen.

Umständlich rutschte Lil über das Bett und streckte die Hand nach der kleinen Lücke in dem Vorhang aus. Einen kurzen Moment lang zögerte sie-wollte sie wirklich sehen, in was sie erwartete?- doch dann gewann ihre pragmatische Seite die Überhand und sie zog den Vorhang mit einem Ruck zur Seite, nur um es prompt zu bereuen, als sie in das grinsende Gesicht Valentins blickte, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte und in einem Schaukelstuhl hin und her schwang. Mit einem unwürdigen Quietschen, das ihr noch Wochen später peinlich sein würde, ließ sie sich wieder zurück auf das Bett fallen. „Guten Morgen, Sonnenschein!“, begrüßte Valentin sie. „Du hast fast zwölf Stunden geschlafen und es ist jetzt drei Uhr morgens.“

„Ich..d-du…V-vampir“, stotterte Lil, die sich gerade an jede Kleinigkeit des Vortages erinnerte. „Jaah, ich bin ein Vampir“, sagte Valentin, als wäre Lil ein wenig begriffsstutzig. Lil errötete bis auf die Haarspitzen. „Ich weiß. Dass du ein Vampir bist, meine ich. Ich dachte bloß, ich hätte den gestrigen Tag irgendwie geträumt.“ Sie versuchte ein klägliches Lächeln. „Gestern war meine größte Sorge, dass ich die Wasserrechnung nicht bezahlen könnte, und jetzt mache ich Smalltalk mit einem… Vampir!“ Das Wort kam ihr immer noch nicht leicht über die Lippen. Valentin verdrehte die Augen. „Ja, unglaublich. Und so sehr ich die die Zeit gönnen würde, dich deiner neuen Situation anzupassen, habe ich keine Zeit, Rücksicht auf deine Befindlichkeiten zu nehmen. Nicht wenn wir uns inmitten eines Krieges befinden und uns direkt vor der Nase unserer Feinde verstecken.“ Er genoss sichtlich Lils Erschrecken und sein Grinsen wurde noch breiter. Er wies mit dem Daumen über seine Schulter. „Nicht wahr, Staatsfeind Nr.1?“ Lil reckt den Hals und erspähte einen Plasmafernseher an der Wand. In Großaufnahme wurde dort ein Foto von ihr gezeigt(es war das furchtbare Passfoto, was standardmäßig von jedem Bürger gemacht wurde) und darunter blinkte in roten Buchtstaben das Wort „Gesucht“. Sie keuchte auf und grabschte ungelenk nach der Fernbedienung, die auf dem Nachttisch lag. Sie schaltete um. Auf dem nächsten Sender das gleiche Bild. Und auf dem nächsten. Und dem nächsten. „Großer Gott!“ Sie schaltete den Fernseher aus, weil sie es nicht mehr aushielt. Kläglich sah sie zu Valentin „Was soll das?“
„Nun ich bin ein Vampir und wenn man öffentlich nach mir suchen würde, gäbe es eine Massenpanik. Du hingegen bist ein Mensch und einer ohne Einfluss noch dazu. Du gibst also einen wunderbaren Sündenbock ab- willst du wissen, welche Verbrechen du begangen hast?“
„Ich glaube nicht. Sag es mir trotzdem.“

Er tippte sich überlegend mit dem Zeigefinger gegen sein Kinn. „Mal sehen… du hast mindestens drei Menschen ermordet…“ „Das ist doch Wahnsinn!“, unterbrach Lil ihn, „allein schon die Wachen! Wie hätte ich sie jemals alleine ausschalten können?“ Valentin zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Das Beste kommt noch. Eine Million wurden auf deinen Kopf ausgesetzt und du bist wegen Hochverrats angeklagt. Das bedeutet wenn du Glück hast, dass du den Rest deines Lebens im Staatsgefängnis verbringen wirst- und das auf der anderen Seite der Gitter. Wenn du Pech hast, kriegst du noch nicht mal einen Prozess und wirst gleich vor die Wand gestellt.“

Lil schwieg eine Weile. Dann zischte sie: „Das hast du absichtlich getan, du Bastard. Du hättest mein Gesicht verdecken müssen oder vielleicht einfach nicht geradeaus aus dem Scheißgefängnis rennen müssen! Jetzt hast du alle Brücken hinter mir abgebrochen und ich habe keine andere Wahl als dir zu folgen und auf deiner Seite zu kämpfen, egal wohin du gehst.“
Während der Ansprache die Aura der Fröhlichkeit von Valentin abgefallen. Seine Augen hatten einen Teil ihres gefährlichen Glanzes zurückgewonnen und er erinnerte Lil wieder stärker an das gefährliche Raubtier, dass sie jeden Moment töten könnte. Fast bereute sie, ihre Gedanken laut gesagt zu haben. Fast.
„Interessant“, sagte er schließlich deutlich kühler als zuvor, „wenn auch inkorrekt. Ich hätte unmöglich damit rechnen können, dich in meiner Zelle zu treffen, auch wenn es für mich ein wirklich glücklicher Zufall gewesen ist.“
„Natürlich konntest du das nichts wissen“, beschwichtigte Lil ihn, da sie seinen Stimmungsumschwung furchteinflößend fand.

„Ich war noch nicht fertig. Weißt du, auf dem Weg hierher hatte ich ein wenig Zeit, um nachzudenken. Du bist immun gegen meine Gabe. Das heißt, dass du selber begabt sein musst. Was meinst du, wie lange hättest du deine Gabe noch verstecken können? Eine Woche, zwei? Vielleicht ein paar Monate, vielleicht sogar ein paar Jahre, aber irgendwann hättest du einen kleinen Fehler gemacht und dann hätten sie dich erwischt. Sei dankbar, dass ich dich aus deiner misslichen Lage gerettet habe!“ Lil schloss ihren Mund wieder, den sie geöffnet hatte, um ihn anzuschreien, angesichts seiner Arroganz. Er hatte Recht. Valentin hatte Recht. Sie sollte froh sein, nicht mehr in der ständigen Angst leben zu müssen, entdeckt zu werden. Sie konnte Freunde haben, eine Familie. Sie war, vorausgesetzt sie schafften es aus dem Land hinaus, frei. Sie war frei! Was aber nicht heißen musste, dass sie den Preis für ihre Freiheit willig bezahlen würde, ohne ihn zu kennen. „Gut. Ich bin dankbar. Aber ich verstehe überhaupt nichts. Wer bist du? Was willst du von mir? Und ausgerechnet von mir? Ich habe ein Recht, alles zu wissen!“

Valentin musterte die Frau vor ihm. So viel Entschlossenheit in einem so kleinen Wesen. Ihre Wangen leuchteten rot vor Aufregung und sie funkelte ihn an, als ob sie wirklich erwarten würde, ihm Angst einzujagen. Valentin hatte sich von seinem kleinen Ausbruch erholt und musste ein belustigtes Schmunzeln unterdrücken, sonst hätte die kleine Wildkatze vor ihm noch die Krallen ausgefahren. Er beschloss, ihr einen Teil der Geschichte zu erzählen.

Lil merkte, wie die Spannung Valentins Augen verließ. Er setzte sich in einem bequem aussehenden Sessel und lehnte sich zurück. „Weißt du etwas über das Land jenseits der Grenze?“ Ein Land jenseits der Grenze? Sie schüttelte den Kopf. Es gab die Generalsstaaten als Fixstern der Zivilisation und jenseits der Grenzen lag Wildnis und Barbarei. „Und was weißt du über die Gründung der Generalsstaaten?“ Verwundert blickte Lil Valentin an. Jedes Kind kannte die Gründungsgeschichte. „Es gab den großen Tag der Offenbarung, in denen die Kreaturen der Nacht in die Öffentlichkeit gegangen sind…“, sie errötete, denn sie hatte Angst, dass Valentin sich beleidigt fühlen könnte. Der Vampir jedoch nickte ihr nur aufmunternd zu. „…furchtbare Kreaturen und sie sprachen mit klebrig süßer Stimme von Frieden und Gemeinschaft, während sie im Verborgenen nach Macht strebten. Die alte, schwache Regierung glaubte den Lügenmärchen und war ganz dem Zauber der Finsternis verfallen. Nur der General sah die Kreaturen, als das was sie waren: abscheulich und machthungrig. Er wusste, dass etwas getan werden musste. Also sammelte er ein paar andere, aufrechte Männer um sich herum und gemeinsam bewiesen sie in der Krise die Stärke, die die Regierung nicht besaß. Sie drängten die Finsternis zurück und errichteten einen neuen Staat, in dem jeder in Sicherheit und Gerechtigkeit leben würde. Der General ist die Stütze des Staates, der Pfeiler, auf dem alle Verantwortung ruht, der Garant des Friedens…“ Lil ließ ihre Stimme verklingen, denn sie spürte, dass das, was sie gesagt hatte albern war und so klang, als hätte sie aus einer Propagandabroschüre zitiert. Gerechtigkeit? Es war nicht gerecht, dass sich die Regierung einen Dreck um die Armen scherte. Sicherheit? Ständig verschwanden Leute und die Grenzen der Staaten wurden hart umkämpft. Und der General hatte sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

„Das haben sie euch erzählt?“, zischte Valentin verächtlich. „Lügen, nichts als Lügen und Halbwahrheiten. Ich erzähle dir die wahre Geschichte. Ich muss es wissen“ Er lächelte freudlos. „Ich bin nämlich dabei gewesen.“

„Ein paar Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende beschlossen die Kreaturen der Unterwelt sich zu offenbaren. Meine Art hatte jahrhundertelang im Verborgenen gelebt und wir sind nur ab und zu in abstrusen Horrormärchen aufgetaucht, doch das wollten wir ändern. Wir dachten, die Menschheit wäre bereit für uns. Es gab kaum noch Rassismus und wegen der Atomwaffen war ein Krieg keine Option. Also gingen wir an die Öffentlichkeit. Vampire, Werwölfe, Hexen und noch einige andere. Es spaltete die Öffentlichkeit in zwei Hälften. Einige, wir nannten sie die Sympathisanten, unterstützten uns und unsere Sache. Sie waren bereit unsere Andersartigkeit zu tolerieren und auch über die Tatsache hinwegzusehen, dass die Vampire Blut trinken müssen, Werwölfe sich bei Vollmond verwandeln und Tieropfer zur Hexenkultur gehören. Natürlich waren die Sympathisanten in der Minderheit, aber zum Glück gab es viele Sympathisanten in der oberen, gebildeten Bevölkerungsschicht. Der Rest hingegen…angefeuert von einigen Zwischenfällen, bei denen Menschen zu Tode kamen und Anderswesen die Schuld trugen, verbreitete sich eine Welle des Hasses. Ich weiß nicht, ob die Geschichten über die Morde wahr sind; ein kleiner Teil ist es bestimmt, denn auch bei uns gibt es schwarze Schafe und alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.
Nichts was wir taten oder sagten, konnte ihre Meinung ändern. Wir waren nicht menschlich, und aus der Angst wurde Gewalt und aus der Gewalt entwickelten sich kleine Aufstände, bei denen Anderswesen getötet wurden. Trotzdem hatten wir die Situation mithilfe der Sympathisanten recht gut im Griff- bis er auftauchte: der General.
Er war einfach da, von einem Tag auf den anderen, und führte die Massen an. Aus der aufgeladenen Stimmung wurden organisierte Truppen. Plötzlich waren sie brandgefährlich.
Erst war es nur ein kleine Stadt, in der sie die Oberhand hatten. Dann waren es einige Großstädte und am Ende kontrollierten sie ganze Bundesstaaten, bis der Großteil des Landes dem General unterstand. Er errichtete einen autoritären Staat. Wir vermuten, dass er sich Hitler als Vorbild nahm. Die Propaganda, die Uniformen... Wie dem auch sei. Die Jahre vergingen. Die Zeitzeugen starben nach und nach und man ließ die Geschichtsbücher fälschen. So haben die meisten Menschen keine Ahnung, was vorgeht.“

Als Valentin geendet hatte, hing die Stille in der Luft. Lil war wie betäubt von den ganzen Informationen. Ihre Welt wurde gerade in Scherben zertrümmert, und sie musste das Mosaik neu zusammensetzen. „Und das Land“, sagte sie schwach, „jenseits der Grenze?“

„Wie wurden aus dem Land vertrieben, doch anderswo stießen wir auf mehr Akzeptanz. Es gibt Zivilisation außerhalb der Grenzen, Lil! Ganze Städte und Länder, Menschen und Vampire, die nebeneinander leben. Wir Vampire leben in losen Gruppenverbänden, angeführt von den sieben Vampirfürsten. Es gibt nicht viele Regeln, aber es gibt sie und ihrem Anführer sind die Vampire treu ergeben. Fürstin Superbia herrscht in Europa, Mao hat Asien im Griff und Ikarus bestimmt über Afrika. Frost gehört Antarktika, aber der arme Kerl hat nicht so viel zu tun. Glücklicherweise schuldete er mir einen Gefallen.“ Lil blickte ihn fragend an. „Der Schneesturm, der geheimnisvollerweise aufgetaucht ist? Frosts Werk. Er kann das Wetter besser beeinflussen als jeder andere, seine Schwester vielleicht ausgenommen. Außerdem hat er die überaus nützliche Gabe der Teleportation.“ Lil fragte sich einen Moment, ob ihr Gehirn bei all den unglaublichen Dingen einen Kurzschluss erleiden würde, oder ob Valentin ihr nur Märchen erzählte. „Und genau das werden wir tun. In zwei Stunden treffen wir ihn und verlassen erst einmal dieses Land.“ „Einfach so?“ „Nun, es ist eine wirklich lange Distanz, also brauchen wir wohl einen Knotenpunkt.“ Er schnalzte gereizt mit der Zunge, als er Lils immer noch verständnislose Miene sah. „Was bringen die euch eigentlich in der Schule bei? Tief in der Erdkruste verlaufen Energieströme. Wo sich zwei oder mehrere dieser Strömungen kreuzen, entsteht ein Knotenpunkt. Knotenpunkte verstärken die magischen Fähigkeiten und haben auch sonst viele Eigenschaften. Nicht umsonst werden viele Städte auf- und um diese Punkten herum gebaut.“

Dem leicht hysterischem Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen, hatte Valentin der Kleinen genug erzählt. Er stand auf, ein deutliches Zeichen, dass die Redezeit vorüber war und sagte beruhigend: „Ich glaube, das reicht erst einmal. In den Küchen unten liegt Essen und ich würde vorschlagen, du nimmst etwas zu dir. Eine Dusche würde auch nicht schaden und andere Anziehsachen wären auch angebracht.“ Er deutete auf Lil klamme und zerrissene Uniform, auf der immer noch das Emblem des Gefängnisses sichtbar war. „So könntest du vielleicht Aufsehen erregen.“

Eine Erkundungstour, zwei Teller Suppe und ein Bad später, fühlte Lil sich wie neugeboren. Ihr erster Eindruck des Hauses hatte sie nicht getäuscht: Die verreisten Besitzer waren furchtbar reich. Die Küche quoll vor exotischen Speisen über(Lil war sich nicht sicher, ob sie alles im Magen behalten konnte, daher entschied sie sich für Suppe), in den Badezimmern waren die Wasserhähne vergoldet und das Ankleidezimmer war doppelt so groß wie das Schlafzimmer und größer als ihre gesamte Wohnung. Lil hatte sich eine unauffällige Kombination herausgesucht; schwarze Hose und ein dunkelblauer Kapuzenpullover, der ihre hellen Haare verstecken konnte. Die Frau, der das Haus gehörte war deutlich fülliger als Lil und so waren ihr die Sachen einige Nummern zu weit, doch besser als die Uniform war es allemal, auch wenn ihre Gedanken des Öfteren sehnsüchtig zu ihren eigenen Anziehsachen wanderten, die vergessen in ihrem Büro lagen. Lil stopfte ihre alte Uniform ganz nach unten in den Mülleimer, wo sie hoffentlich nie entdeckt werden würde und ging dann mit festen Schritten zu Valentin, der schon in der Eingangshalle auf sie wartete.


Der Regen des Vortages war nun endgültig zum Erliegen gekommen und grauer Nebel hüllte Liberty City ein. Lil trottete hinter Valentin her, der sie mit sicheren Schritten erst aus dem teuren Viertel hinaus und dann Richtung Stadtzentrum führte. Lil hatte die Stadt noch nie im frühen Morgengrauen gesehen und es kam ihr vor als wäre sie in einer geisterartigen Zwischenwelt. Die großen, klotzartigen Gebäude wurden durch den Schleier des Nebels zu Gebirgsketten. Die Umrisse der Laternen lösten sich in der trüben Nebelsuppe auf und mehr als einmal musste Lil scharf abbremsen, um nicht gegen eine im Weg stehende Mülltonne zu laufen. In der Ferne sah sie ab und an den Wiederschein von Autoscheinwerfern, doch Valentin führte sie abseits der Hauptverkehrsstraßen, in dem er kleine Seitengassen benutzte und in einem Muster, das wohl nur ihm bekannt war, scharf nach links oder rechts abbog und dabei große Umwegen in Kauf nahm. In einer heruntergekommen Taverne brannte noch Licht und als sie sie passierten konnte sie gedämpft das Grölen der unglücklichen Arbeiter hören, die ihren Wochenlohn vertranken, um das Leben ertragen zu können. Ja, sie waren wirklich in einem zwielichtigen Viertel gelandet, nicht unähnlich ihrem eigenen. Alleine hätte sie sich um diese Uhrzeit nicht auf die Straße getraut, aber sie war zuversichtlich, dass Valentin alle Gefahr vertreiben würde.

Lil wäre fast in Valentin hineingelaufen, als er die Hand hob und ihr bedeutete, stehenzubleiben. Sie hatte es trotz aller anfänglichen Bemühungen nicht geschafft, die Orientierung zu behalten und so war sie überrascht, als sie das gusseiserne Tor als den Eingang zum Zentralpark wiedererkannte. Der Parkwächter hatte wohl die Nacht zuvor vergessen, es abzuschließen, denn es schwang lose an seiner Angel hin und her, was umso unheimlicher erschien, da kein Wind wehte. Valentin schien aber nicht im Mindesten beunruhigt zu sein und hatte sogar die Nerven, ein verschmitztes Grinsen zu Schau zu tragen. Der Park lag im dämmrigen Dunkel und kam ihr vor wie ein Abgrund, der sie verschlingen wollte. Lil musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, um nicht auf der Stelle umzukehren und sich der Justiz zu stellen. Vielleicht hätte sie den Plan sogar in die Tat umgesetzt, wenn Valentin sich nicht in dem Moment umgedreht hätte, als ob er ihre Zweifel gespürt hätte. Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, der so viel heißen mochte wie „komm jetzt“. In Anbetracht der Autorität und Stärke, die Valentin ausstrahlte, verbannte sie alle Fluchtversuche aus ihren Gedanken und folgte sie dem Vampire in ein unbekanntes Schicksal, als er immer tiefer in den Park eindrang.

Der Park war vor allem im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel, doch im Herbst kümmerte sich nur ein alter Parkwächter um die Instandhaltung. Lil, die viele ihrer Wochenenden hier verbracht hatte, fand die schiere Leere der Anlage beunruhigend. Valentin verließ schon bald den Kiesweg und drang weiter ins Innere des Parks vor. Je näher sie der zentralen Wiese kamen, desto kälter wurde es. Die Pfützen waren von Spinnenweben von Eis bedeckt und der Frost des Grases knirschte unter den Füßen. Valentin hielt schließlich an und Lil beeilte sich, sich neben ihn zu stellen. Gleich würde sie den zweiten Vampir kennenlernen. Hoffentlich war der nicht genauso irritierend wie Valentin. Durch die Dämmerung konnte Lil nun schemenhaft eine Gestalt ausmachen, die mit ausladenden Schritten auf sie zukam. „Typisch Frost“, brummte Valentin, „immer diese dramatischen Auftritte“.

Lil konnte nicht umhin, Valentin stillschweigend zuzustimmen, doch auch so war Frost eine beeindruckende Gestalt. Der Vampir überragte Lil um zwei und Valentin um einen Kopf. Er trug ein weißes T-Shirt, blaue ausgewaschene Jeans und ging barfuß, als ob ihm die Kälte nichts ausmachen würde. Die blasse Haut wurde noch von seinen weißblonden Haaren unterstrichen, die kinnlang um sein hageres Gesicht fielen. Seine Augen waren so blau wie Gletscherseen und blickten auch so kalt. „Valentin“ begrüßte Frost den anderen Vampir mit einer heiser klingenden Stimme. Er nickte Lil kurz zu und richtete seinen Blick wieder auf Valentin. „Und das ist?“ „Liliane Davis“, antwortete Valentin für sie. „Und sie ist dein Trostpreis für eine gescheiterte Mission?“ Valentin grinste gefährlich. „Wer sagt denn, dass ich gescheitert bin?“ Ruckartig zog er Lil zu sich heran und entblößte ihren Hals. „Riech selbst“. Frost beugte sich nach vorne und sog einmal tief die Luft ein. Als er sich wieder zurücklehnte, hatte er beide Augenbrauen erhoben. „Ich verstehe. Wer hätte gedacht, dass der General so unvorsichtig wäre? Ich nehme an, du berufst den Zirkel…“ „Nicht hier“, unterbrach ihn Valentin und blickte bedeutungsvoll umher. „Nicht hier“, stimmte Frost ihm zu. Zum ersten Mal blickte er Lil direkt in die Augen, die Mühe hatte eine Gänsehaut zu unterdrücken. „Dann los“. Er umfasste mit seiner linken Hand ihr Handgelenk und mit der Rechten das von Valentin. Erst geschah gar nichts, dann bemerkte Lil auf einmal, dass die Bäume anfingen zu zittern. Und das Gras. Oder war sie es, die vibrierte? Frost keuchte und packte ihr Handgelenk fester. „Verdammt, hat sie irgendeine Resistenz?“ Er schien beugte sich ein wenig nach vorne, als ob er gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen wollte. Sie vibrierten jetzt so schnell, dass die Umwelt verschwamm. Dann wurde alles schwarz um sie herum.

„Das arme Ding!“ Verschlafen registrierte Lil, dass jemand ihren Kopf tätschelte. Sie öffnete die Augen und wurde prompt von der Sonne geblendet. Stöhnend vergrub sie ihren Kopf in dem Kissen. „Die erste Reise ist immer schwer, Schätzchen.“ Langsam setzte Lil sich auf. „Pscht, spar dir deine Kräfte für die Anhörung später.“ Die Frau gegenüber lächelte sie an. Sie musste wohl um die fünfzig sein und machte einen mütterlichen Eindruck. Als sie lächelte, erkannte Lil die Grübchen, die dem faltigen Gesicht etwas Verschmitztes gaben. „Wo bin ich?“ „Das, meine Liebe, ist eine sehr gute Frage. Wir sind hier im Casa Azul, das direkt auf einem Knotenpunkt liegt.“ Mit einem Blick auf Lils verständnisloses Gesicht fügte sie hinzu: „in Mexico City. Das Haus hat eine sehr interessante Geschichte und es ist wirklich ein wenig ironisch, dass es als vorübergehendes Hauptquartier dient. Verstehst du, da gab es diese Malerin…“ Lil nickte geistesabwesend, als die Frau anfing, ihr eine seltsame Geschichte zu erzählen, in der Augenbrauen, Krankheit und Surrealismus eine Rolle spielten. Schon bald verschmolz das Gerede mit den Hintergrundgeräuschen und Lil sah sich neugierig um. Sie lag auf einem Bett in einem kleinen schlichten Zimmer. Durch das Fenster schien die Sonne, die sie geweckt hatte und sie konnte einen Innenhof erkennen. Dort standen, schön arrangiert, Kästen mit exotischen Blumen, die allerdings einen halbvertrockneten Eindruck machten. Als sie die Augen zusammenkniff konnte sie die abgeblätterte blaue Farbe sehen, die Teile der Wand bedeckte. Lil traute ihren Augen nicht, als sich ein wunderlicher bunter Vogel sich auf der Mauer niederließ. „Du liebes bisschen!“, rief die Frau auf einmal aus und Lil wurde aus ihren Gedanken gerissen. „Ich habe mich ja noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Martha“ „Ähmm… erfreut. Ich bin Lil“ „Du hast bestimmt Hunger! Ich hole dir schnell etwas aus der Küche“. Martha beugte sich noch einmal hervor, um ihr die Wange zu tätscheln, da erblickte Lil zwei kleine Punkte direkt unter dem Ohr der Frau. Man hätte sie von weitem für Mückenstiche halten können, doch von nahem betrachtet konnte Lil eine kleine Kruste sehen, als ob gerade zwei Wunden verheilt wären. Außerdem waren die Stellen relativ dicht beieinander. Lil schauderte. Bislang hatte sie sich über die Nahrungsaufnahme der Vampire noch keine Gedanken gemacht und es war ernüchternd, Marthas Male zu sehen. Valentins Kraft und Geschwindigkeit verlor viel von ihrem Zauber, wenn sie sich vorstellte, dass der Vampir Marthas Kopf brutal zur Seite drehte und seine Fangzähne in ihren Hals schlug. Ob es wirklich so ablief? Martha schien nicht unbedingt verstört zu sein- aber Valentin konnte sie mit seiner Gabe ja auch kontrollieren. Kein Mensch und auch kein Vampire sollte so viel Macht über andere haben… Immer noch vor sich hin redend, ging Martha aus dem Zimmer und ließ Lil in dem auf einmal sehr ruhig erscheinenden Zimmer zurück. Lil atmete tief aus. Martha schien sehr nett zu sein, aber sehr, sehr redselig.

„Schon eingelebt?“ Lil stieß einen spitzen Schrei aus. Sie funkelte Valentin an, der lässig am Türrahmen lehnte. „Du hast mich erschreckt!“ „Wie ich sehe, hast du schon die Bekanntschaft von Martha gemacht. Sie ist so eine Art… Haushälterin. Sie erledigt ihre Arbeit gut, obwohl es besser wäre, wenn sie weniger reden würde.“ „Hm. Und nebenbei dient sie als Blutbank?“, murmelte Lil, die Marthas Hals immer noch frisch vor den Augen hatte. „Lil.“, Valentin sah ihr jetzt ernsthaft in die Augen, „Martha wird für ihre Tätigkeit gut bezahlt und sie kennt die Risiken. Ich bin ein Vampir und kann nichts gegen meine Natur tun. Glaubst du, im Gefängnis haben sie mir Blut gegeben? Nach zwei Wochen ohne Nahrung bin selbst ich ausgehungert und ich glaube nicht, dass du es gut gefunden hättest, wenn ich mich an dir genährt hätte.“ Auf einmal fiel der Ernst wieder von ihm ab. „Komm jetzt, das Essen muss warten. Es gibt eine Anhörung, um über deine Zukunft zu entscheiden und ob es sich lohnt, die Hexen zu rufen“ Mühsam erhob sich Lil aus dem Bett. Ihre Beine waren steif und sie musste kleine Schritte machen. Sie akzeptierte seine Erklärung, aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich zu einer willenlosen Puppe machen lassen würde. Sie kniff angesichts Valentins amüsierter Miene die Augen zusammen. „Das ist alles deine Schuld! Seitdem ich dich kenne, falle ich ständig in Ohnmacht und wache in fremden Betten auf und normalerweise wird die ganze Situation noch schlimmer, obwohl ich eigentlich denke, die kann nicht mehr schlimmer werden und weißt du was? Das ist alles deine verdammte Schuld. Deine verdammte Schuld“. Valentin schien nicht besonders beeindruckt von ihrer Tirade zu sein und führte sie den Flur hinunter. Lil war nicht gerade davon begeistert, ignoriert zu werden und beschleunigte ihre Schritte. „Weißt du was? Du bist ein manipulativer, psychotischer Blutsauger und ich… „ Lil verstummte. Sie waren in den Innenhof getreten und Lil führte sich sofort von der heißen, schwülen Luft erschlagen. Sie hatte immer noch den schwarzen Pullover an, der die Hitze noch verschlimmerte. Die Sonne brannte unbarmherzig und sie blickte suchend nach dem Vogel, den sie vorher durch das Fenster gesehen hatte. Valentin hatte den Innenhof schon mit wenigen Schritten durchquert und wartete ungeduldig im nächsten Hauseingang. Sie folgte ihm drei Flure entlang, bis er eine verborgene Falltür aufmachte und Lil zögernd die Leiter hinunter stieg.

In dem Keller war es kühl genug, dass Lil dankbar für ihren warmen Sachen war und noch tiefer ging es in die Erde hinein, bis sie zu ihrer großen Überraschung zu einer großen Halle kamen. Es gab genug Lichtschächte, um den Staub zu sehen, der durch die Bewegungen aufgewirbelt wurde. Alles im allen erinnerte die Halle eher an eine elegante Gruft als an einen Kellerraum. Erst jetzt bemerkte Lil die Personen, die leicht erhöht auf einem Podium saßen. Frost war unübersehbar da, noch immer auffällig mit seiner weißen Haut und dem weißen Haar und noch immer barfuß. Neben ihm auf dem Stuhl saß ein älterer Mann. Sein Gesicht war voll von Runzeln, auf seinem Kopf wuchsen nur noch drei Haarbüschel, doch das auffälligste an ihm waren große runde Brillengläser, die ihm das Aussehen einer gerupften Eule gaben. Im Schatten des Bogenganges lehnte eine weitere Gestalt mit verschränkten Armen. Sein Gesicht war in den Schatten verborgen und gab das mustergültige Beispiel eines stummen Beobachters.

„Eure Lordschaft, Ihr seid wieder zurückgekehrt!“. Das Flüstern des alten Mannes war weit tragend und schien von allen Seiten zugleich zu kommen. Mit großen Augen starrte Lil Valentin an. „Eure Lordschaft…?“ Valentin grinste. „Ich muss wohl vergessen haben, dass ich einer der sieben Vampirfürsten bin. Gestatten, eure Hoheit Lord Valentin, Herrscher über den Süden Amerikas. Der da drüben ist der Bibliothekar“, Valentin beugte sich verschwörerisch zu Lil hinunter, „er hat auch einen richtigen Namen, aber niemand kennt ihn. Er ist für meine Buchhaltung zuständig, und für Forschung und noch viel mehr. Frost kennst du ja bereits. Und das da ist Fynn.“ Endlich trat der Mann aus den Schatten. Er schien jung zu sein und hatte verstrubbeltes blondes Haar, das nach allen Seiten abstand. Um es zu zähmen, hatte Fynn sich ein Piratenkopftuch umgebunden, das halb lächerlich, halb verwegen aussah. Seine Kleidung machte den Eindruck, als hätte sie schon bessere Tage gesehen. „Ich bin als Botschafter der Menschen hierher gesandt worden und soll aufpassen, dass sich die Vampire benehmen.“ Frost schnaubte abfällig und der Bibliothekar rutschte auf seinem Stuhl umher. Valentin ignorierte Fynn und fuhr fort: „Und wir halten diese kleine improvisierte Versammlung ab, weil es eine unerwartete Wendung im Kampf gegen den General gab: Liliane Davis, über die ich…zufällig stolperte, als ich im Gefängnis war. Sie, Gentlemen, ist der Schlüssel zum Sieg!“ Angespannt wartete Lil, was Valentin zu erzählen hatte. Gestern, beziehungsweise heute Nacht hatte er den interessantesten Teil der Geschichte weggelassen und Lil hatte nicht weiter nachgehakt, weil sie schon von den weniger interessanten Teilen übergewältigt war. „Wir müssen die Hexen benachrichtigen. Mit Lil hier können wir den „Ruf des Blutes“ durchführen und den General selbst herbeirufen!“ Der Bibliothekar und Fynn schienen etwas damit anfangen zu können, denn sie gaben beide Laute der Verwunderung von sich. Frost hingegen blickte stoisch weiter geradeaus und Lil war komplett verwirrt. „In all meinen Büchern…“, murmelte der Bibliothekar, „ich hätte es nie für möglich gehalten, dass der General so unvorsichtig wäre.“ „Ich konnte auch zuerst meinem Glück kaum trauen“, bestätigte Valentin, „aber die genaueren Umstände würden mich doch interessieren. Lil, was weißt du über deine Mutter?“

Verwirrt von dem Themenwechsel erzählte Lil die Geschichte über die Frau, die sie nie kennengelernt hatte. „Nicht viel, außer ihrem Namen. Sie hieß Viola Davis und kam aus einem kleinen Kaff irgendwo im Süden. Sie war Einzelkind und als ihre beiden Eltern gestorben waren, verkaufte sie ihr Elternhaus und machte sich auf eine Reise quer durch die Generalsstaaten. Ihre Spur verläuft sich im Sande, da sie an keinem Ort länger als zwei Wochen blieb. Fest steht, dass sie schwanger wurde und eine Busfahrkarte nach Liberty City löste und dass der Bus defekte Bremsen hatte und einen Abhang hinunterstürzte. Meine Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht und starb dort. Als die Ärzte sie für tot erklären wollten, bewegte sich ihr Bauch und man rettete mich mit einem Kaiserschnitt. Ich war jedoch zu früh dran und man musste mich an viele lebenserhaltende Geräte anschließen. Mein Zustand war lange Zeit sehr kritisch und ich kostete dem Staat viel Geld. Das Geld muss ich abarbeiten…“. Fynn fluchte leise. „Abscheulich! Leben ist doch ein Geschenk und nicht… etwas wofür man bezahlen müsste.“
„Wie dem auch sei…In fünf Jahren wäre ich aus dieser Sozialwohnung hinausgekommen, wenn nicht irgendwer mich gegen meinen Willen entführt hätte.“
Valentin lächelte unschuldig. „Aus der Wohnung herausgekommen bist du auch so!“

Der Bibliothekar lehnte sich nach vorne und betrachtete sie, als wäre Lil sein neustes Forschungsobjekt. Was sie wahrscheinlich auch war. „Und weiter, deine Kindheit?“

„Ich wuchs in den staatlichen Waisenheimen auf, da niemals mein Vater oder andere Familienangehörige ermittelt werden konnten und fing an, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, sobald ich alt genug war. Für drei Jahre in einer Schule und dann wurde ich mit siebzehn in das Gefängnis versetzt. Es entsprach meinen Fähigkeiten.“
„… die da wären?“, fragte Valentin ungeduldig.

„Ich habe eine besondere Beobachtungsgabe, die…. Also eine Begabung, die…Ich kann hören, ob Menschen lügen!“ Der Bibliothekar runzelte die Stirn. „Überaus interessant. Und kannst du auch Lügen enthüllen, wenn sie von Vampiren gesprochen werden?“ „Also, bei Valentin hat es nicht geklappt. Leider. Da waren so eine Art Mauer um ihn herum und ich kam einfach nicht durch.“ „Keine Sorge Schätzchen, bei dem Verhör habe ich doch nur die reine Wahrheit gesagt, oder? Immerhin bin ich geflohen“.

Der Bibliothekar rieb sich die Hände und sagte wieder mit seiner leisen Stimme: „Ich denke, es ist das beste wenn wir die Hexen benachrichtigen. Frost, übernimmst du das…?“ Zum ersten Mal seit Lil in den Raum betreten hatte, lächelte Frost. „Natürlich. Ich habe Davina schon lange nicht mehr gesehen.“ Ohne lange zu zögern fing er an zu vibrieren, bis er schließlich verschwand. Lil starrte mit offenem Mund auf die leere Stelle, wo Frost gerade noch gestanden hatte. Fynn verließ mit langen Schritten das Podium. „Ich führe dich am besten mal hier herum.“ Für einen kurzen, spannungsgeladenen Moment sah es so aus, als wollte Valentin widersprechen, doch dann entschied er sich dagegen. Fynn drückte nachdrücklich eine Hand auf Lils Schultern und schweigend verließen sie den Kellerraum. Als Lil die Stille schließlich nicht mehr aushielt, fragte sie: „Wer ist Davina?“ Fynn bedeutete ihr mit erhobenem Zeigefinger zu schweigen und führte sie noch ein paar Schritte weiter, bis sie zu einer Nische in der Mauer kamen. Als sie sich gesetzt hatten, fing Fynn an. „So jetzt sollten sie uns nicht mehr hören können. Davina ist Frosts Schwester und die einzige, für die er kein Eisblock ist. Sie hat die gleiche Gabe wie er und kann das Wetter beeinflussen, ist aber eine Hexe wie ihre Mutter geworden. Frost sieht seine Schwester nur noch selten, weil sie im Hexenzirkel lebt und Valentin sie meidet wie die Pest. Er war ihr Liebhaber und als er dann eine andere gefunden hatte, wollte sie ihn nicht gehen lassen. Unschöne Geschichte, sag ich dir.“ Lil war ein bisschen beunruhigt. Natürlich war es klar, dass jemand wie Valentin Liebhaber gehabt hatte, aber es zu ahnen und davon erzählt zu bekommen, waren zwei unterschiedliche Dinge. Lil hatte sich schon öfters dabei ertappt, an Valentins Lippen und seinen Oberkörper, als er in der Zelle war zu denken- ganz zu schweigen von seinem Grinsen, dass ihr Herz schneller klopfen ließ und die Augen, die… Konnte es sein, dass sie sich zu Valentin hingezogen fühlte? Obwohl sie entführt hatte? Obwohl er kein Mensch war? Obwohl er ein Mörder war? Trotz allem? Lil konnte eine körperliche Anziehung nicht verleugnen, doch die verdrängte es schnell wieder. Sie war noch nie mit einem Mann intim gewesen, doch sie konnte die Anzeichen deuten. Offensichtlich musste sie in Zukunft noch vorsichtiger um Valentin sein. Leise fragte sie: „ Und warum erzählst du mir das alles?“ „Weil du keine Ahnung von all dem hier hast. Du bist ahnungslos in einem Nest aus Vipern gelandet. Traue nie dem äußeren Schein der Dinge!“ „Zugegeben“, sagte Lil, die fand dass Fynn wirklich übertrieb, „ Frost scheint ein bisschen kalt zu sein…“ „Frost?“, unterbrach Fynn sie, „Er ist ein eiskalter Killer und er kennt keinerlei Loyalität- außer vielleicht zu seiner Schwester Davina. Ich habe sie einmal gesehen, als sie noch Valentin liiert war. Skrupelloses Miststück. Du denkst, dass der Bibliothekar ein harmloser Bücherwurm ist? Er ist Valentin treu ergeben und manipuliert und betrügt genau wie alle anderen.“ Lil, die sich ziemlich sicher war, dass sie den Rest nicht hören wollte, startete einen kläglichen Versuch zur Flucht. „Also ich hab wirklich Hunger und Martha hat mir essen gemacht…“. Fynn drückt sie wieder auf die Bank. „Hör zu, es ist wichtig. Valentin scheint ein besonderes Interesse an dir gefasst zu haben und gerade deshalb muss ich dir etwas über ihn erzählen. Hinter seinem schönen Äußeren und den lockeren Scherzen steht ein manipulativer, machthungriger Geist.

„Verdammt, du bist viel zu unschuldig, um hier zu sein. Die Vampire sehen vielleicht so aus, als wären sie wie wir, aber in ihrem Inneren sind sie nicht ganz menschlich. Frost kennt keine Loyalität, außer vielleicht zu seiner Schwester und der Bibliothekar hat kein Gewissen und würde alles für Valentin tun. Und Valentin? Hinter dem ganzen guten Aussehen und der netten freundlichen Fassade ist er genauso machthungrig wie alle anderen- er verbirgt es nur besser. Was glaubst du, wie man Vampirfürst wird? Man tötet seinen Vorgänger. Valentins Mentor hat Selbstmord begangen und obwohl man es ihm nie nachweisen konnte, vermute ich, dass Valentins Gabe dahinter steht. Frage dich doch einmal, warum Valentin so darauf versessen ist, den General zu töten. Gerechtigkeit? Frieden? Das ich nicht lache! Valentin will über die Generalsstaaten herrschen, genauso wie der General selber.“ Fynn war während seiner kleinen Rede rot im Gesicht geworden und atmete schwer. „Ich glaube dir kein Wort“, sagte Lili mit fester Stimme. „Ich kenne dich erst seit wenigen Minuten und wenn du wirklich die Wahrheit sagst, hast du auch ein politisches Motiv. Was gewinnst du dadurch, wenn ich mich von Valentin abwende?“ Überraschenderweise schenkte er ihr ein Lächeln. „Genauso solltest du denken, wenn du das hier überleben willst. Auf Wiedersehen!“ Sprachlos sah Lil ihm hinterher.

Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer und war so in Gedanken versunken, dass sie fast Martha umgelaufen hätte, die ein Tablett mit heißer Suppe balancierte. „Ach, da bist du ja!“, rief sie aus und nötigte Lil, sich hinzusetzen und die Suppe bis auf den letzten Rest auszulöffeln. Währenddessen erfuhr Lil, dass Martha einst zwei Kinder gehabt hatte, die jedoch einer Granate der Generalstruppen zum Opfer gefallen waren. „Und da lag ich selber mit ´nem Splitter im Bein inmitten der Trümmer und da dacht` ich schon ich müsst sterben und eigentlich war ich auch ganz froh drüber weil Mimi und der kleine Georg ja schon tot waren, da kommt auf einmal ein Gruppe Vampire vorbei und die anderen wollten mich liegenlassen und da hat Fynn nee gesacht, nee hat er gesagt und hat mich mitgenommen und als ich wieder gesund war bin ich angefangen hier zu arbeiten. Guter Kerl, der Fynn“. Martha wischte sich Tränen aus den Augen. Lil fühlte sich furchtbar, dass sie schlecht über Martha gedacht hatte. So eine furchtbare Geschichte! Das erklärte auch Marthas leichtes Humpeln und ihre herzliche Haltung gegenüber Fynn. Im Gegensatz zu Martha kam sich Lil richtig schäbig vor.

Der Tag endete ohne weitere Vorkommnisse. Am nächsten Morgen wachte Lil schon früh von dem kleinen Vogel auf, der nachdrücklich an ihrem Fenster zwitscherte. Sie wusste nicht, wie spät es war und zögerte daher, Martha zu rufen. Stattdessen entschloss sie sich, im Bett liegen zu bleiben und die zwei vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Vor kurzem war sie noch ein Niemand ohne Eltern gewesen und jetzt hatte sie einen Vater, der aber ein Tyrann war. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz anders. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl wäre, Eltern zu haben. Früher hatte sie immer geglaubt, ihr Vater wäre ein König und bald würde er seine Prinzessin heimholen. Wie ironisch, dachte Lil, meine größte Angst ist es, das dieser Wunsch in Erfüllung geht. Doch sie hatte gesehen, wozu Valentin fähig war und bezweifelte, dass so etwas dem General gelingen könnte. Valentins Zielstrebigkeit flößte ihr zu gleichen Teilen Angst und Sicherheit ein. War das überhaupt möglich?, fragte sie sich. Überhaupt war Valentin ein Mysterium für sich. Sein fröhliches, lässiges Aussehen stand keineswegs im Einklang mit seiner Position in der Vampirhierarchie. Und sie konnte sich seiner Ausstrahlung nicht entziehen. Lil hatte den Kontakt mit anderen Menschen auf ein Minimum beschränkt, aus Angst, dass jemand ihr Geheimnis verraten würde und sie hatte noch nie… romantisches Interesse für eine Person gehegt. Unwillkürlich erinnerte sie sich an Fynns Worte. Auch wenn Fynn verbittert schien und vieles übertrieb, konnte sie seine Warnung nicht so leicht abtun. Seinen Worten über die Politik schenkte sie keinen glauben, dafür war sie Valentin viel zu dankbar. Aber etwas hatte sie aus Fynns erhitzter Rede herausgehört, nämlich die Tatsache, dass Valentin einen hohen Frauenverschleiß hatte (wie könnte es auch anders sein?) und sie war nicht so eitel, zu glauben dass er Gewohnheiten ihr zuliebe aufgeben würde. Lil grübelte noch eine Weile darüber nach, aber ihre Gedanken drehten sich im Kreis, deshalb gab sie bald auf und versprach sich selbst, in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Sie sprang vom Bett auf, als sie vom Hof her Lärm hörte und blickte durch das Fenster. Valentin stand an eine Mauer gelehnt da und Fynn hatte sich im Schneidersitz auf eine kleine Bank gesetzt. Sie sahen aus, als würden sie etwas erwarten…? Ah! Lil konnte sehen wie die Luft flimmerte. Ein immer noch leicht vibrierender Frost tauchte für einige Sekunden auf, verschwand wieder ließ eine in blau gewandte Frau im Hof stehen. Martha war auch schon da und nahm den Beutel, den die Frau bei sich trug in Empfang und humpelte Richtung Haus. Valentin murmelte einige Grußworte, die die Frau huldvoll entgegen nahm. Die Frau ließ streckte das Kinn hervor und blickte herrisch umher. Für einen kurzen Moment verschränkten sich ihre Blicke, bis Lil in den Schatten des Zimmers zurückwich. Die Frau hatte sie richtiggehend feindselig angestarrt. Andererseits sah sie nicht so aus, als ob sie überhaupt freundlich gucken könnte. In der Stirn der Frau hatten sich tiefe Falten eingegraben und ihre Mundwinkel waren nach unten verzogen. Wieder und wieder tauchte Frost auf und verschwand wieder und die Masse der Hexen im Hof nahm immer mehr zu. Zwölf Hexen waren schon eingetroffen, als Frost zum letzten Mal erschien. Etwas in seiner Haltung zeigte seine Erschöpfung und er schien sich fast bei der Hexe, die er an seiner Schulter gefasst hatte abstützen zu wollen. Die beiden hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit. Hatte Fynn nicht etwas von einer Schwester erwähnt…?

„Valentin!“ Eine große blonde Frau löste sich aus Frosts Armen. Mit großen Schritten glitt sie auf Valentin zu, der immer noch lässig an der Mauer stand, als würde ihn das Treiben nichts angehen. „Davina“ Valentins Miene war undeutbar. Davina schlang ihre weiße Arme um seinen Hals und wollte ihm einen Kuss auf den Mund geben, doch im letzten Moment drehte Valentin den Kopf zur Seite. Verunsichert trat Davina einen Schritt zurück. Sie hatte die Stirn gerunzelt und blickte Valentin fragend an. „Was zum..?“ Valentin legte nachdrücklich eine Hand auf ihren Rücken und bedeutete ihr, zu folgen. Die beiden verschwanden aus Lils Blickfeld. Lil blickte den beiden noch lange gedankenverloren nach.

„Liliane“, flüsterte es auf einmal hinter ihr. Lil fuhr mit einem kleinen Aufschrei herum und presste sich die Hand auf ihr wild klopfendes Herz, als sie den Bibliothekar erkannte. „Man wünscht ihre Anwesenheit in einer halben Stunde.“ Ohne ein weiteres Wort verließ der Bibliothekar das Zimmer wieder genauso lautlos wie er gekommen war.

Vor der Tür fand Lil ein Tablett mit Frühstück, das sie hungrig herunterschlang. Sie ging ins Badezimmer und betrachtete neugierig ihr Spiegelbild. Sieh sah so aus wie immer. Sollte man nicht meinen, dass die Veränderungen in ihrem Gesicht ein Zeichen hinterlassen würden? Lil versuchte in ihrem Gesicht etwas von der Last des Schicksals zu finden, ihr starrte immer noch ein bleiches Mädchen mit wild gelockten Haaren entgegen. Sie zuckte mit den Achseln und wendete sich vom Spiegelbild ab. Als Lil sich ihre Haare notdürftig mit den Fingern gekämmt hatte (sie sollte Martha wirklich mal Bescheid sagen) und die Zähne mit der Zahnbürste, die jemand dankenswerter Weise für sie bereit gelegt hatte, wusste sie nicht, ob schon eine halbe Stunde vergangen war. Sie wartete noch fünf Minuten, doch als niemand sie holen kam, entschloss sie sich nach draußen zu gehen. Im Innenhof konnte sie gedämpftes Stimmengewirr hören und folgte ihm, bis sie zu der Falltür kam, die offen stand. Zögernd stieg sie die Leiter nach unten. Die Stimmen verstummten und Lil fand sich unter den Augen der Hexen wieder, die mit ihren Blicken Löcher in sie hinein brannten. Sie hielt nach Valentin oder Fynn Ausschau, selbst Martha wäre gut gewesen, doch sie konnte hinter den blauen Umhängen der Hexen niemanden erkennen.
„Hallo?“, versuchte sie es kläglich. Keine der Hexen rührte sich. Die strenge Hexe, die heute Morgen als erstes angekommen war, brach die Stille. „Du bist also die berüchtigte Liliane. Ich muss sagen, ich hab dich mir furchteinflößender vorgestellt.“ Verhaltendes Kichern. Die anderen Hexen hatten wohl auch gemerkt, dass Lil leicht die Knie zitterten. Alles wird gut, alles wird gut, wiederholte Lil ihr inneres Mantra. „Aussehen kann täuschen.“ „In der Tat. Vielleicht bist du wirklich so verängstigt wie du tust. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht steckst du mit deinem Vater unter einer Decke und willst uns in eine Falle locken. Wer weiß?“ „Hat Valentin euch von den Umständen meiner Entführung erzählt? Ich hätte das gar nicht planen können!“ „Es gibt für alles Mittel und Wege. Für mich ist der Zufall ein wenig zu groß, dass…“ „Das reicht, Nancy“, schaltete Valentin sich ein. Er hatte sich im Hintergrund gehalten und schritt zu Lil hinüber, während die Hexen eine kleine Gasse für ihn bildeten. „Ich versichere euch, dass Lil ganz und gar auf unserer Seite steht.“ „Aber…“, ereiferte sich Nancy. „Und wenn dir mein Wort nicht reicht, dann bist du hier nicht willkommen.“ Nancys Mundwinkel zogen sich noch weiter nach unten, doch sie nickte leicht mit dem Kopf, als Zeichen, dass sie verstanden hatte. Das hinderte sie allerdings nicht daran, Lil einen funkelnden bitterbösen Blick zuzuwerfen und Lil wurde klar, dass sie sich eine Feindin gemacht hatte. Die anderen Hexen schienen Valentins Worte unterschiedlich aufzunehmen; einige sahen missbilligend aus, andere wiederrum beäugten Lil mit freundlicher Neugierigkeit. Lil wagte sich erst, sich zu entspannen, als die Hexen wieder zu ihrem angeregten Geplauder zurückgekehrt waren. „Das ist doch ganz gut gelaufen, nicht wahr?“, flüsterte Valentin ins Ohr, als er sie in eine ruhigere Ecke abseits des Geschehens führte. „Ich weiß nicht. Diese Nancy kann mich glaube ich nicht leiden.“ Valentin verdrehte die Augen „Nancy kann niemanden leiden. Mach dir darüber nicht allzu viele Sorgen. Die Hexen sind alle nicht besonders erfreut, dass wir sie aus ihrem Wald holen. Sie hassen enge Räume und jetzt wo sie in der Gruft übernachten müssen…“ Valentin ließ den Satz ausklingen und zuckte die Schultern, als wollte er sagen hey was weiß ich schon über Hexen. „Wie lange bleiben sie denn?“ „ Solange es dauert. Eine knappe Woche. Für das Ritual brauchen sie den Vollmond und wir haben Glück, dass schon so bald einer ist.“ „Hmm“, murmelte Lil nicht überzeugt. „Was muss ich denn genau tun?“ „Die Einzelheiten erklären wir dir dann später. Aber im Grunde brauchen sie nur einen Tropfen Blut“. „Das ist gut“, sagte Lil erleichtert, „ich habe schon befürchtet, ich müsste mit ein weißes Kleid anziehen und würde auf einen Altar geschnallt werden.“ „Das würde ich doch nie von dir verlangen“, grinste Valentin, „wo schwarz dir doch so viel besser steht“. Lil musste auch kichern. „Findest du? Ich sehe darin aus wie eine Witwe“. Valentin legte seinen Arm um ihre Schulter. „Unsinn. Weiß lässt dich wie ein kleines Mädchen wirken. Schwarz wirkt attraktiv“. Oh, oh. Versuchte er jetzt, mit ihr zu flirten? Valentin rückte noch ein Stück näher. „Und du bist attraktiv“. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Lil öffnete den Mund um zu protestieren, erreichte damit aber nur, dass Valentin mit seiner Zunge in ihren Mund eindrang. Es war ein komisches, nasses Gefühl, doch je länger es dauerte, desto mehr fing Lil an es zu genießen. Mein Versprechen, vorsichtig zu sein, habe ich ja lange gehalten, dachte Lil sarkastisch, als Valentin stöhnte und ihren Körper eng an seinen presste. Nachdrücklich drückte sie eine Hand auf seinen Oberkörper und übte genug Druck aus, dass er wegrückte. Lil lief scharlachrot an. „Ich…ähmmm..das war unerwartet“. „Unerwartet war es also?“ Valentin grinste selbstsicher. „Jaah… also ich glaube Martha hat mich gerade gerufen“ „Martha ist oben in der Küche“ „Sie hat sehr laut gerufen. Es muss wohl ein Notfall sein“ . Mit diesen Worten drehte Lil sich auf der Stelle um und ging raschen Schrittes zur Falltür. Sie versuchte das amüsierte Schnauben, dass aus Valentins Richtung kam, geflissentlich zu ignorieren und blickte auf den Boden. Geistesabwesend tippte sie sich mit dem Finger auf ihre vom Küssen leicht geschwollenen Lippen und merkte es viel zu spät, dass jemand gerade vor ihr die Leiter herunter stieg. In einem ungünstigen Winkel rempelten sich an.

Die andere Person war die Hexe, die Valentin heute Morgen beiseite genommen hatte. Frosts Schwester, wie heiß sie noch…Davina! Erst jetzt fiel Lil auf, dass die Hexe bei der Versammlung vorhin abwesend gewesen war. Bei näheren Hinsehen erkannte Lil, dass Davinas Augen rot und verquollen waren, als ob die geweint hätte. „Entschuldige vielmals. Du bist Davina, nicht wahr? Ist alles in Ordnung?“ Davinas Kopf ruckte hoch. Sie blickte Lil mit einem starren Blick von oben herab an. „Und du bist?“ Davinas Stimme war mit einer Eisschicht überzogen. Lil versuchte ein tapferes Lächeln. „Ich bin Lil.“ Als kein Zeichen von Erkennen in Davinas hübschen Gesicht erkennbar wurde, setzte sie hinzu: „Die Tochter des Generals?“ Davina musterte Lil mit starrem Blick von oben bis unten. Dabei blieb ihr Blick besonders lange auf Lils gerötetem Lippen und dem leicht verstrubbelten Haar hängen. Plötzlich verhärtete sich ihre Miene noch weiter. „So ein mieses Schwein! Jetzt verstehe ich!“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich auf der Stelle um und verschwand mit forschen Schritten in der Menge der Hexen.

Lil war verwirrt. Was hatte sie dieser Frau denn getan? Wenn sie sich doch erst seit zwei Minuten kannten, warum reagierte die andere denn so feindselig? Lil sah Valentins Kopf kurz zwischen den Hexen auftauchen, erinnerte sich an den eigentlichen Grund ihrer Flucht und stieg so schnell sie konnte die Leiter hinauf. Während sie mit großen Schritten auf ihr Zimmer zueilte, fuhren ihre Gefühle Achterbahn. Das war dumm, Lil, dumm dumm dumm, schalt sie sich selber. Ich dachte du wolltest nicht eine von vielen sein? Sie hatte das dringende Bedürfnis, den Kopf gegen die nächstliegende Wand zu schlagen. „Hey, Lil!“. Fynn joggte leicht, um mit ihr aufzuholen. Lil stöhnte innerlich. Konnten denn nicht alle sie in Ruhe lassen? Sie wollte sich in ihr Bett legen und sich in Selbstmitleid suhlen. „Du bist du schnell gegangen.“ Lil beschleunigt leicht ihre Schritte und verfluchte Fynns lange Beine, die mühelos mit ihr Schritt hielten. „In der Tat“, sagte sie gereizt. „Ist irgendwas? Du siehst so durcheinander aus“. Lil war mittlerweile aufgrund des schnellen Tempos an ihrer Tür angelangt. „Alles bestens.“. Und damit knallte sie zum zweiten Mal einem verdutzten Fynn die Tür vor der Nase zu.

Zwei Tage waren seitdem vergangen. Lil hatte sich den ersten Tag in ihrem Zimmer vor Valentin versteckt, doch nach dieser Zeit war ihre Langweile stärker als ihre Verlegenheit. Als sie Martha in der Küche aufsuchte, erfuhr sie, dass es vergebens war. „Valentin? Der ist wech. Kümmert sich um Vampirzeuch, Armee und so. Und ganz nebenbei kann ich mir vorstellen, dass er Davina aus dem Weg gehen will. Ich sags dir, mach nie eine Wetterhexe sauer“, sagte Martha mit einer bedeutungsvollen Geste zum Himmel, an dem sich gerade Wolkenberge auftürmten. Valentin blieb verschwunden und Davina war weiterhin wütend, zumindest wenn man von dem ständig wechselnden Wetter ausging. Ab und an begegnete sie auch Fynn, der es nicht lassen konnte, Scherze über die Vampire zu machen. Und sie machte selbst die Bekanntschaft einiger Hexen, die nicht alle gegen sie eingenommen waren. Am dritten Tag war Valentin immer noch nicht zurück, aber jemand Unerwartetes stattete ihr einen Besuch ab. Davina stand in voller Pracht im Türrahmen. Sie schien sich besonders schön zurechtgemacht zu haben. Ihr blaues Kleid schmiegte sie an ihre perfekten Rundungen und der Ausschnitt gab den Blick auf schön geformte Brüste frei. Ihr Haar fiel in Wellen auf den Rücken und ihr Gesicht war zurückhaltend geschminkt. Schade nur, dachte Lil gehässig, dass derjenige, für den der ganze Aufzug bestimmt ist, dich nicht sieht. Alles in allem war Davina das genaue Gegenteil der aufgelösten Frau von früher. Sie brachte sogar ein herzliches Lächeln zustande. „Liliane! Ach nein, du willst ja lieber Lil genannt werden! Lil, wie schön dich zu sehen“. Die Freundlichkeit war echt- oder täuschend echt. Auf jeden Fall erreichte sie, dass Lil sich ihrer gemeinen Gedanken von vorhin schämte. „Komm ruhig rein“. Davina schwebte durch die Tür und drehte sich einmal im Raum herum. „Wie schön du es hier hast!“ Eine verlegene Stille entstand.

Anmerkung der Autorin


Liebe Leser.
Ich habe es wirklich, wirklich versucht die Geschichte zu Ende zu schreiben. Ich habe den Anfang komplett neu überarbeitet (die jetzige Version ist kaum noch wiederzuerkennen) und stecke jetzt bei ungefähr einem Drittel (eigentlich eher Viertel) fest. Ich kann nicht mehr viel Begeisterung für die Geschichte aufbringen, weil na ja, ich war fünfzehn als ich sie angefangen habe und vieles erscheint mir unausgereift und kindisch. Ich selber lese leidenschaftlich gerne und hasse es, wenn Geschichten ohne Kommentar abgebrochen werden. Ich gebe euch also das Gerüst der Geschichte, so wie es eigentlich geplant war, damit ich nicht im Regen stehen bleibt.

-Lil&Davina gehen vors Haus (Blick auf Stadt?), Angriff aus unwichtige Nebenhexe, Davina lässt Lil als Angreiferin darstehen (Anschuldigung ist mit General im Bunde wegen Blutsverwandschaft)
-Tribunal, Lil kann Unschuld beweisen, keine Verurteilung für Davina, da der komplette Hexenzirkel fürs Ritual gebraucht wird
-Lil&Valentin make love am Abend vorm Blutmond (aber unsicher, weil V seine Kräfte einsetzt um zu überzeugen (Knotenpunkkt))
-es klappt! Lil im Bannkreis, General erscheint & erzählt mit Charisma (ähnliche Macht wie Valentin) von großer Liebe zu Lils Mutter (bis zum Ende nicht sicher ob echt oder ausgedacht)
-Davina befreit sich Schutzkreis bricht zusammen, Hexen erstarren (magisch)
-Frost kämpft gegen seine Schwester, will sie nicht töten
-V kämpft gegen General& verliert: Wahrheit kommt ans Licht: V will nur was von Lil für mehr Macht, (Davina wird getötet?)
-General will, dass Lil Pistole nimmt& V erschießt; großer innerer Kampf etc.
-Lil hält sich selber Pistole an Kopf, kurzer Moment der Schwäche des Generals (lässt L aus Macht frei), Lil erschießt Vater, Fynn köpft noch (sicher ist sicher)
-Aftermath: Beerdigung: Asche wird verstreut, Frost macht Eisskulptur für seine Schwester, Biblioth: „Lil Vampirfürstin“, V: wortreiche Entschuldigung, melancholisch
-L will nicht herrschen, V verspricht Souveränität der und Koexistenz mit Menschen
-Fynn begleitet Lil (will weg&Abstand gewinnen, Europa oder so)
-Epilog(?): Fynn und Lil mit Kindern

So oder so ähnlich hätte die Geschichte eigentlich ablaufen sollen (na ja, mehr oder weniger, ich ändere sowieso eigentlich alles beim Schreiben.)

Falls einer von euch Lust hätte, die Geschichte weiterzuschreiben, mir einfach eine Nachricht schreiben, dann klären wir den Rest 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

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