"KEINE TRÄNE"
wurde unter die besten Kurzkrimis des Wettbewerbs
"Der Mörder geht ins Netz"
gewählt.
Das gleichnamige Buch
erschien als Anthologie
im
Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat
(ISBN 978-3-942153-01-0)
Coverfoto: Vera Hinselmann
Ich war die Nervosität in Person. Mein Herz klopfte, meine Hände zitterten leicht. Ihr Anblick bereitete mir Unwohlsein, schnürte mir fast die Kehle zu. Noch ein letztes Mal beugte ich mich zu ihr runter, nahm diesen ganz eigenen Geruch wahr und fühlte tief in mir einen Abschiedsschmerz, trotz allem.
Immerhin verbrachten wir fast 40 sehr intensive Jahre miteinander, sie und ich. Die Vorstellung, sie eines Tages nicht mehr bei mir zu haben... unmöglich! Mit ihr zusammen erlebte ich die schönsten, schlimmsten und auch langweiligsten Stunden meines Lebens. Sie war immer da. Alle Erinnerungen sind mit ihr so eng verknüpft, wie sonst mit Nichts und Niemandem auf dieser Welt.
Und dann lag sie da - zwischen herab gefallenen Ästen und Laub, auf matschigem Boden, nahe dieser verfallenen Waldhütte - direkt vor der kleinen Bank. Sie gab noch schwache Zeichen von sich. Nur Bruchteile von Sekunden zögerte ich, bis ich meinen Fuß hob und auf sie ... trat. Einmal, zweimal... Dann war es aus. Ich bedeckte sie mit dem feuchten Laub. Und ging.
Seit Jahren versuchte sie, mir nach dem Leben zu trachten, wollte mich
umbringen. Sie mich! Täglich verabreichte mir dieses Miststück das Gift in unterschiedlichen Dosen - je nach Gelegenheit. Mit der Zeit wurde ich immer schwächer, konnte kaum noch richtig laufen. Die letzten Jahre waren die Hölle. Sie hatte mich fest im Griff, aber das wollte ich vorher nie wahrhaben.
Eines Tages schickte mich meine ratlose Hausärztin zum Radiologen. Als der mir die Bilder von meinen Beinen vor die Nase hielt, ging es mir durch Mark und Bein: "Wer mit diesen Dingern auch nur noch eine Zigarette raucht, der ist ein Vollidiot!", meinte er mit abschätzendem Blick.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Stets dachte ich: entweder rafft mich der Herzinfarkt gleich dahin, oder irgendwann werden sie sagen: "Lungenkrebs im letzen Stadium". Dann hast Du noch ein paar Wochen… und gut ist. An Raucherbeine und diese wahnsinnigen Schmerzen hatte ich im Leben nicht gedacht! Es begann schleichend, noch lange Zeit bevor ich meine zweite Frau Theresa kennen lernte. Und wieder schmerzte es mich beim Gedanken an sie. Unruhe stieg in mir auf - und brennendes Verlangen. Doch es gab sie nicht mehr. Es war vorbei.
Früher war ich einmal einer der besseren Marathonläufer. Ich glaube, es war Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger, da lief ich in Stuttgart um die Baden-Württembergische Meisterschaft. Es goss in Strömen, und ein fürchterliches Gewitter ging runter. Ich lief… barfuß – und bis zur Hälfte des Wettkampfs sogar in der Spitzengruppe! Das werde ich in meinem Leben nicht vergessen.
Die Aufnahmen vom Innensterben meiner Beine waren ein unglaublicher Schock. Aber den eigentlichen Ausschlag, das Rauchen rigoros zu stecken, gab meine Frau Theresa. Wir lernten uns vor etwa neun Jahren "zufällig" beim gegenseitigen Anrempeln auf dem Heidelberger Hauptbahnhof kennen. "Zufällig" deshalb in Anführungszeichen, weil, wenn meine Großmutter mir nun von oben über die Schulter guckte, bekäme ich was hinter die Löffel. Sie hielt es immer gemäß Albert Schweitzer: "Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott sich wählt, wenn er inkognito bleiben möchte."
Erst anderthalb Jahre wohnten wir zusammen, als ich mit der Diagnose nach Hause kam. Ihre entsetzten Augen gehen mir bis heute nicht aus dem Sinn. Bis dahin hatte ich noch nie in meinem Leben einem Menschen soviel Leid bereitet. Sie sah mich im Geiste schon im Rollstuhl sitzen. Damals versprach ich ihr ins Herz, es niemals so weit kommen zu lassen.
Der Angiologe schloss eine spätere Amputation meiner Beine nicht aus. Nur Reste kümmerlicher Arterien und Adern gingen bis zu den Füßen – ein Puls war nicht ertastbar. Ob ich noch was tun könne, um sie zu retten, fragte ich ihn. Seine Antwort: "Sie könnten
sich bewegen. Gehen, gehen, gehen. Aber Leute wie sie, die liegen zu Hause auf ihrem Hintern, qualmen fröhlich, schütten sich den Kaffee rein und glotzen fern!" Das machte mich derart zornig, ich kochte dermaßen, dass ich mir sagte: 'warte ab, Dir zeig ich wo der Bartel den Most holt'.
Seit diesem Tag damals mied ich sowohl Auto als auch Fahrrad. Und lief. Und lief. Immer. Es war zeitweise eine große Katastrophe. Für 500 Meter benötigte ich 20 Minuten. Ich musste an jeder Ecke ausruhen, mehr als 80 Meter am Stück schaffte ich nie. Meine Füße waren wie tot, die großen Zehen störten in den Schuhen. So ging ich... tagaus, tagein. Egal wohin ich wollte - als disziplinarische Dreingabe baute ich Umwege ein. Immer nach dem Motto: bis zu dem Baum schaffst du es noch... bis zu der Bank, bis zu der Laterne... bis zu dem Haus. Oft mit schlotternden Knien und wahnsinnigen Schmerzen. Ein halbes Jahr lang. Und dann stand die nächste Untersuchung an: der Zustand meiner Beine hatte sich nicht verschlechtert.
Jetzt musste ich wieder an sie denken. Das Gefühl, sie nie mehr in den Händen zu halten, niemals mehr ihren Geruch atmen zu können, ließ meinen Puls in die Höhe schnellen. Unsagbare Angst, die Vergangenheit könnte mich einholen, machte sich in mir breit. Ziellos lief ich durch die Straßen - bis ich vor einem Internet-Cafe stand. Ohne eine Minute zu zögern, war ich drin. Ich setzte mich an einen der Computer, bestellte mir einen Kaffee. Und ging... ins Netz. Es dauerte nicht lange, dann fand ich sie. Fest entschlossen notierte ich die Telefon-Nummer der Selbsthilfegruppe, ganz in meiner Nähe.
Dass ich ihr, diesem Miststück, das mich über Jahre hindurch zu vergiften versuchte, nicht schon viel früher den "letzten Tritt ins Jenseits" verpasste, bereue ich bis heute.
Fünf Jahre ist es etwa her, da wollte mir der Weißkittel die "Dinger" beinahe absägen. Heute nehme ich an Walking-Wettbewerben teil, werde zwar mit schöner Regelmäßigkeit Letzter, aber der Abstand zum Vorletzten wird immer kürzer.
Ich hatte es Theresa ins Herz versprochen.
Keine Träne weine ich ihr mehr nach, diesem Miststück, dieser... Zigarette. Nicht der davor, nicht der danach - und auch nicht der zwischendrin.
Bildausschnitt: Acryl auf Leinwand - V.H.
Texte: © Vera Hinselmann
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet dem, der läuft -
aber nicht fortläuft.