„Marie, komm doch bitte nach vorne und erkläre dem Kurs wie man eine solche Gleichung richtig löst”, fordert Frau Meinke, meine Mathelehrerin, mich auf. Für einen kurzen Moment überlege ich mir einfach sitzen zu bleiben und es mir zu ersparen vor meinem Mitschülern zu sprechen. Doch da mich Frau Meinke zwar liebevoll aber auch erwartungsvoll anblickt erhebe ich mich unter den Blicken der anderen. Ich hasse es im Mittelpunkt zu stehen und erst recht hasse ich es etwas zu erklären. Für mich sind die Sachen einfach so. Da gibt es nichts zu erklären. Sobald ich an der Tafel angekommen bin drehe ich mich zu dem Kurs. Nach einem Blick zu meiner Lehrerin, die mir nun einen auffordernden Blick zuwirft, beginne ich meinen Versuch die Vorgehensweise zu erklären. Immer wieder finde ich nicht die richtigen Worte und Frau Meinke muss mir weiterhelfen. Man könnte meinen, dass ich Mathe nicht kann, dabei haben wir gerade unsere Klausur wieder gekriegt und ich bin die einzeige, die diese Aufgabe richtig gelöst hat. Doch etwas in einer Arbeit zu machen ist etwas ganz anderes wie vor 20 Leuten zu sprechen. Erst recht, wenn die nichts besseres zu tun zu haben als sich über mich lustig zu machen.
„Guck dir mal dieses Muster an...das ist voll altbacken”, höre ich auch schon wieder die mir nur zu vertraute Stimme von Sarah. Ich schiele zu ihrem Platz rüber um zu sehen, ob Tim mit ihr mitlacht, aber der schaut nur auf sein Handy. Erleichtert versuche ich den Kommentar über mein Lieblingsblumenpulli zu ignorieren und wende mich wieder der Gleichung zu.
Sobald ich den letzten Schritt erlärt habe will ich wieder zu meinem Platz gehen, doch Frau Meinke hält mich zurück und fragt den Kurs, ob noch Fragen wären. Sarah meldet sich sofort, obwohl sie wahrscheinlich kein bisschen zu gehört hat.
„Ja, Sarah”, ruft Frau Meinke sie auch gleich auf.
„Also ich finde ja meinen Weg leichter”, näselt Sarah los.
„Nun ja, bei dir ist aber nicht das richtige Ergebnis rausgekommen”, widerspricht unsere Mathelehrerin sie.
„Na kommen Sie, der Wert weicht gerade mal so um 2 ab, ich verstehe auch nicht, wieso Sie mir darauf keine Punkte gegeben haben”, gibt Sarah nicht klein nach.
„Dann komm einfach mal nach der Stunde zu mir und wir klären das”, sagt Frau Meinke darauf nur.
Sarah tut beleidigt und ihr „Freundeskreis”, der um sie rumsitzt, fängt an zu lachen. Tim dieses Mal auch. Ich versuche mir einzureden, dass es witzig sein könnte, was Sarah gerade abgezogen hat, doch so richtig funktioniert es nicht. Wenigsten kann ich so Tims Lachen sehen und seine kleinen Lachfältchen an seinen wunderschönen blauen Auge...
„Marie, du kannst dich jetzt wieder hinsetzen”, unterbricht Frau Meinke meine Gedanken. Erschrocken schaue ich erst zu ihr und dann wieder zu Tim, der mich mit einem herablassenden und belustigten Blick anguckt. Mein Gesicht fühlt sich an als wenn es glüht. Hastig nehme ich neben Nora platz.
„Hat er wirklich gesehen, dass ich ihn angestarrt habe?”, flüstere ich ihr sofort zu und werfe noch ein Blick auf Tim, der mit seinem Sitznachbar Paul redet und dabei in meine Richtung guckt. Hektisch drehe ich mich zu wieder zu Nora.
„Nee”, antwortet sie mir gerade.
„Sicher?”, erwidere ich skeptisch mit hochgezogenen Augenbrauen. Die Ecke bei Sarah lacht noch immer.
„Oh man, Marie! Die ganze Klasse hat es gesehen! Sei froh, dass du immer so schüchtern bist, da kann man vielleicht noch sagen, dass du einfach vor dir hin geträumt hast und das gar nichts mit Tim zu tun hatte....”, beantwortet Nora meine Frage nun richtig und ich wünsche mir nichts sehnlicher als im Erdboden zu versinken oder, dass zu mindestens die Stunde vorbei ist und ich aus diesem Zimmer verschwinden kann.
„Oh man das ist soooo peinlich”, sage ich nun gefühlt zum 100. Mal. Nora und ich sitzen auf unserem „Stammplatz” auf dem Schulhof. Sobald es geklingelt hat bin ich rausgestürmt und Nora gleich hinterher. „Versuch einfach nicht dran zu denken. Die anderen werden es auch irgendwann vergessen”, versucht diese mich aufzumuntern, was aber nicht so wirklich klappen will. Was auch daran liegen könnte, dass man von unserem Platz aus die Jungs Fußball spielen sehen kann und Tim dort natürlich mitspielt. „Vielleicht sollten wir uns einen neuen Platz suchen”, schlage ich sofort vor. Verdrängungstaktik hört sich für mich gar nicht so schlecht an. „Das ist doch jetzt nicht dein ernst, oder? Wir sitzen hier schon seit der 5. Klasse. Marie, du musst echt aufhören dir so viele Gedanken zumachen was andere über dich sagen”, empört sich Nora. Sie hat leicht reden. „Würde ich ja gerne, aber du weißt doch Tim.....”, fange ich an. „Jaja, ich weiß! Aber du kannst ihm nicht ewig hinterher rennen. Er wollte schon in der 6. Klasse auf der Fahrt nach London was von Sarah und sie will schon seit keine Ahnung wie lange etwas von ihm, aber macht die Schwer-zuhabende. Irgendwann musst du das mal einsehen.” „Musst du so direkt sein?”, frage ich entgeistert, auch wenn sie natürlich Recht hat. „Ja, weil ich keine Lust habe, dass du hier weiter in Selbstmitleid zerfließt.” „Das stimmt ja, aber wer kann denn etwas für seine Gefühle?”, erwidere ich. „Wir sind in der 11. Klasse, da kann man wohl kaum schon von starken Gefühlen sprechen. Das sind doch nur Schwärmereien. Da kannst du mir erzählen was du willst!”, antwortet Nora darauf, inzwischen ist sie ziemlich genervt. Doch, dass sie mich so gar nicht versteht macht mich auch irgendwie wütend. „Eine tolle Freundin bist du! Statt zu mir zu halten, fällst du mir einfach in den Rücken”, meckere ich sie deswegen an, springe auf und gehe zügig zur Mädchentoilette. Auf dem Weg dahin komme ich an Sarah vorbei, die mir einen schmatzenden Kussmund hinterher macht. Das ist heute echt nicht mein Tag.
Auf der Toilette kann ich mich dann ein wenig beruhigen und sehe auch selber ein, dass ich etwas hart zu Nora war. Ich werde mich bei ihr unbedingt entschuldigen müssen. Wie ich sie kenne, wird sie noch eine Weile beleidigt sein, aber sie kann mir nie lange böse sein. Mein Problem mit Tim und Sarah kann ich vielleicht nicht lösen, aber deswegen brauche ich ja nicht gleich meine beste Freundin verlieren. Doch bevor ich mich wieder unter die Menschen begebe, lehne ich mich noch einmal zurück, schließe die Augen und atme tief durch.
Ich habe noch gar nicht meine Augen geöffnet, da weiß ich schon, dass etwas nicht stimmt. Etwas ganz und gar nicht stimmt. Es riecht nicht wie es in meinem Zimmer riecht. Schon alleine, dass mir das auffällt, dass ich mir darüber Gedanken mache ist falsch. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Kaum das ich sie geöffnet habe blinzle ich noch ein Mal, aber die Farben verändern sich nicht. Alles ist verschwommen und in einem gelb- und blauton. Es wirkt schon fast farblos. Ich habe schonmal was von Leuten gehört, die über Nacht erblindet sind, aber gibt es auch eine Augenkrankheit, bei der man plötzlich alles total komisch sieht? Vor allem sehen die Umrisse alle so riesig aus. Zuerst kann ich gar nicht richtig erkennen wo ich bin. Doch plötzlich fliegt ein großer Vogel, es muss eine Krähe oder ein Rabe sein, an meinem Fenster vorbei und ich kann die Umrisse meines Nachbarhauses wahrnehmen. Ich muss mich also in meinem Zimmer befinden. Vorsichtig, da ich noch immer alles merkwürdig wahrnehme, versuche ich aufzustehen. Was mir aber misslingt und ich falle aus meinem Bett, was mir erstaunlich groß erscheint. Ich will mich an der Bettkante mit meinen Händen abstützen um aufzustehen. Doch auch das will mir nicht gelingen. Außerdem habe ich das Gefühl, als hätte ich gestern einen Marathon gelaufen und nun überall Muskelkater. Da ich mir langsam wirklich sorgen um mein gesundheitliches Befinden mache, krabbel ich zur Tür, was mir erstaunlich leicht fällt. Doch an der Tür stehe ich erneut einem Problem gegenüber, da ich mich noch immer nicht erheben kann um die Türklinke runter zu drücken. Nun wirklich verzweifelt rufe ich nach meiner Mutter. Wobei ich einen Hund bellen höre. Kurz darauf nähern sich meiner Tür auch schon Schritte. „Marie, hast du da ein Hund bei dir drin?”, fragt meine Mutter während sie die Tür öffnet. Ich will ihr gerade erzählen was mir passiert ist, als ich innehalte, da sie mich ganz entgeistert anguckt, ein Blick in das Zimmer wirft und dann während sie sich umdreht ruft: „Marie, was macht dieser Hund in deinem Zimmer? Marie???” Wenn sie mich ansieht und nicht mich sieht, wie sehe ich dann aus? Was ist mit mir passiert? Verwirrt versuche ich noch ein Mal nach meiner Mutter zu rufen, doch das einzige, was zu hören ist, ist ein Bellen. Ohne wirklich zu wissen, was ich tue, laufe ich an meiner Mutter vorbei, die Treppe runter und stehe vor der Haustür, die ich nun wieder nicht aufkriege. „Braves Hündchen, brav. Das ist der richtige Weg”, höre ich die Stimme meiner Mutter, die jetzt hinter mir steht und die Tür öffnet. Ich springe raus.
Was soll ich jetzt tun? Ich bin anscheinend in einem Hundekörper gefangen. Doch das ist nun wirklich absurd. Das kann nur ein ganz bescheuerter Traum sein. Das wird es sein! Es fühlt sich nur leider sehr real an für einen Traum. Die Gerüche, die auf mich einfallen sind viel zu intensiv und der Drang loszulaufen erfasst mich. Da ich sowieso nicht weiß, was ich tun soll, laufe ich also los. Ich laufe auf allen Vieren und komme mir verdammt schnell vor. Ich sehe die Häuser von meinen Nachbarn an mir vorbei fliegen. Ich laufe einfach weiter, auch wenn ich nicht weiß wohin ich laufe. Laufe und laufe. Als ich ein bisschen langsamer werde, merke ich wohin ich laufe. Ich laufe zu Noras Haus. Nora konnte mir bisher immer helfen. Also wird sie mir auch dieses Mal helfen.
Noch bevor ich den Zaun ihres Grundstückes erreicht habe, höre ich ihre Stimme, wie sie sich von ihren Eltern verabschiedet. Vermutlich macht sie sich gerade auf den Weg zur Schule. Sehr gut, dann habe ich keine Probleme irgendwie in das Haus rein kommen zu müssen. Freudig mach ich die letzten paar Schritte zu ihr. Sie guckt mich verwundert an. Was ja auch kein Wunder ist. Schließlich bin ich anscheinend ein Hund. Und als Hund erkennt man mich nicht. Also weiß Nora nicht, dass ich gerade vor ihr stehe. Wie kann ich ihr jetzt vertändlich machen, dass ich es bin? „Na was bist du denn für einer?”, fragt sie mich und beugt sich zu mir runter, während ich darüber nachdenke, was ich jetzt tun soll. Meine anfängliche Freude Nora zu sehen ist schon wieder verschwunden. „Bist du etwa abgehauen?”, spricht sie weiter zu mir und streicht mir über den Kopf. Es fühlt sich zwar angenehm an, aber es ist mir einfach zu absurd, dass mir meine beste Freundin über den Kopf streichelt. Ich gehe einen Schritt zurück. „Ist doch gut. Ich tue dir doch nichts”, versucht sie mich zu beruhigen. „Nora, ich bin es!”, versuche ich ihr zu sagen, da mir einfach nichts besseres einfällt. Doch wie vermutet, ist nur ein Bellen zu hören.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2014
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