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 Kapitel 1

Der Stein unter meinen nackte Füßen war erhitzt. Damit die Hitze nicht unerträglich wurde, musste ich ständig in Bewegung bleiben. Ich lief eine breite Straße entlang, links und recht nichts als karge Landschaft. Die Sonne gind langsam unter, aber die Hitze des Vormittags brannte mir immer noch im Gesicht. Ein kleiner Supermarkt stand vereinzelt in der einsamen Steppe. Seine Wände waren in einem kühlen weiß getrichen und Innen arbeitete eine Kühlanlage so gut sie konnte, um dass Angebot an Fleisch frisch zu halten. Manchmal gab es sogar Eis. Wie gerne hätte ich jetzt ein Eis. Aber es war verboten ein Eis in zu diesem Zeitpunkt zu essen. Nichts durfte mich jetzt glücklich machen. Wenn man sich wünscht, dass etwas in Erfüllung geht muss man nun mal Opfer bringen.
Und da blieb ich stehen. Anfangs genoss ich die Hitze unter meinen Füßen, auch der anfängliche Schmerz war angenehm. Bis es weh tat. Ich biss mir auf die Lippe und bäulte die Fäuste. Es füllte sich an, als würde ich auf einer Kochplatte stehen. Ein dumpfer Schrei entging aus meiner Kehle und ich  hüpfte wild herum bis der Schmerz nachließ. Ich war zufrieden mir mir selbst, das müsste reichen. Heute würde er kommen, ich wusste es!  Ich kam an einer Kreuzung an und kletterte auf einen riesigen Stein. Da auch dieser vor Hitze zu brennen schien musste ich mein Baumwollhemd  ausziehen und es unter meine Füße legen. Ich schlang  die Arme um die Knie und wartete. Manchmal wehte eine kühle Brise, doch wahrscheinlich konnte nur ich sie wahrnehmen. Für ein kleines Mädchen war ich sehr geduldig. Ich konnte stundenlang in derselben Haltung verharren und mich kein einziges mal bewegen. Die einzige Beschäftigung die ich fand war,  den getrockneten Schlamm von meinen Füßen abzukratzen. Und auf ein Auto zu warten. Ich schloss die Augen und wartete auf das Geräusch eines herankommenden  Audi 100. An dieser Kreuzung fuhren  nur selten Autos vorbei. Umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass es dann seins war. Da ich gleich an der dunkelroten Farbe erkennen würde ob es „das“ Auto  war, hielt ich meine Augen solange wie möglich geschlossen, sobald ich ein Geräusch wahrnahm. Die Zeitspanne in der ich hoffte war aufregend und berauschend, umso größer war die Enttäuschung. Manchmal hoffte und wünschte ich es mir so sehr, dass mir das Herz überging. Ich wartete bis tief in die Nacht. Schnell wurde es kühl und ich fühlte mich wie einer der erhitzen Steine. Kichernd stellte ich fest, dass ich nun eine von ihnen war: Reglos und unverwundbar wie ein Gestein. Der Gedanke gefiel mir. Es war spät, sehr spät. Bald würde mich einer von ihnen holen. Als ich das erste mal weggelaufen bin, haben sie überall mittels Taschenlampen nach mir gesucht. Am nächsten Tag lief ich wieder weg aber da sie wussten wo ich war, ließen sie mich ihn Ruhe. Ich war meiner Oma sehr dankbar dafür. Sie sorgt sich um mich und weil ich sie liebe lass ich es zu. Und da sie mich liebt lässt sie mir die Freiheit die ich bereits beanspruche. Ich fragte mich wer mich heute holen würde. Vielleicht ja meine Oma? Meine Oma ist die allerschönste Oma auf dieser Welt. Kein anderes Gesicht ist so schön zerknittert wie ihres. Wenn ich sie ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Gesicht mal glatt gewesen sein musste. Für mich wurde sie bereits als Oma geboren. Ihr rundes Gesicht wird stets durch ein Kopftuch umrahmt, das mit roten Rosen verziert ist. Ich könnte mich umdrehen und warten bis ihre Gestalt zu erkennen ist. Sie ist sehr klein, vorallem ihre Beine. Meistens bewegt sie sich hektisch, um mit anderen mithalten zu können. Ständig runzelt sie ihre Stirn, weshalb man gar nicht  erkennen kann wie sensibel sie ist. Es ist so leicht ihre zarte Seele zu verletzen. Ich brauche ihr nur zu sagen, dass ich nach Hause will und ihr kleines Herz würde in tausende Stücke zerspringen. Und weil ich hier sitze bereite ich große Schmerzen, dass wusste ich.   Viele behaupten wir seien uns ähnlich, nur ich weiß es besser. Meine Oma ist eine engelsgleiche Gestalt, stark und mitfühlend zugleich. Ich bin zwar stark aber mein Interesse an den Mitmenschen ist eher begrenzt.
 Nach meinem Wohlergehen geht es ihr vor allem um das Wohlergehen der Gemeinschaft. Wieder musste ich kichern, als ich an die schönen Morgenstunden in ihrem Haus dachte. Jeden morgen backt sie Pfannkuchen mit unterschiedlichen Füllungen. Es ist nicht das Kitzeln der Morgensonne, dass mich weckt, sondern  der angenehm süßliche Geruch ihrer Blinschikas. Nirgendwo sonst fühle ich mich so behütet wie in der kleinen, lichtdurchfluteten Küche meiner Oma. Jeden morgen trete ich auf die losen Dielen und setze mich auf den wackeligen, runden Tisch. Ein warmes kribbeln durchströhmt meinen Körper, wenn ich genussvoll in den Pfandkuchen beiße, der mit süßem Frischkäse gefüllt ist. Manchmal, wenn meine Oma genug Pfandkuchen gebacken hat, setzt sie sich mir gegenüber und schaut mir beim Essen zu. In diesem Moment sind wir überglücklich. Aber es ist nicht das Glück nach dem ich strebe.
“Anuschka! Verdammt bist du eingepennt? Ich rufe schon seit Stunden deinen Namen!“ Erschrocken drehete ich mich um. Aleg stand zehn Meter hinter mir und hielt die rechte Hand über seine Augen. „Aleg? Warum hälst du..Oh..“ Ich hab ganz vergessen, dass ich nackt war. Schnell zog ich mir das Hemd über und sprang vom Stein herunter. Ich wurde abrupt aus meinen Tagträumen gerissen und musste mich erstmal ordnen. Da fiel mir ein, dass es gar kein Grund gab sich das Hemd in solcher Hast überzuziehen, es war nur Aleg. Aber es war auch Aleg der sich die Hand über die Augen hielt und dadurch diese Reaktion bei mir auslöste. Er spaltete die Finger etwas auseinander und blinzelte durch die Lücke. Nachdem er sich versichert hatte, dass alles an mir bedeckt war, ging er langsam auf mich zu. Bevor ich seine Verlegenheit registrieren konnte, sah ich bereits sein kesses Lächeln.  „Da bist du ja, du Ausreißerin ! Dein Onkel wollte dich zuerst abholen, aber ich dachte du würdest dich über mich mehr freuen?“,sagte er grinsend.  Mein Gesichtsausdruck wechselte von überrascht zu spöttisch. „Warum sollte ich mich über DICH freuen? Du bist schmutzig und stinkst!“ Er hielt  kurz inne und lächelte mich an, bis er unser übliches Spiel fortsetzte. „Sag bloß, dass dir der Geruch nach Kuhmist nicht mehr gefällt?  Wenn man aus einer nach Auspuff stinkenden Stadt kommt gibt es doch nichts Besseres!“
“Jaa! Da hast du recht es gibt nichts Besseres!“ Um es ihm zu beweisen, umarmte ich ihn ganz fest und zog den Duft seines nackten Oberkörpers tief ein. Es roch nicht nach Kuhmist, es roch nach nasser Erde und gleichzeitig nach  trockener Gerste. Sein Oberkörper fühlte sich sehr kühl an, vielleicht weil er die Pflanzen bewässert und dabei den Rest des Wassers über sich geschüttelt hat. Und trotz der  Kühle seines Körpers roch er nach der Sonne, so wie alles hier. Ich wartete auf eine Reaktion, aber es kam nichts, er hielt einfach still. Er hat mich nicht hochgehoben und durch die Luft geschleudert, so wie ich es erwartet hätte. „Erinnerst du dich noch oft an Früher Anuschka? Du warst ein so süßes, kleines Mädchen. Naja, für mich jedefalls. Die Alten Weiber konnten dich nicht so leiden. Sie sagten, du benimmst dich wie ein ungezogener Junge. Deine Haare waren strohblond und kurzgeschoren. Ständig hattest du Dreck im Gesicht und deine Lippe war nicht selten aufgeplatzt. Mit deinem orangefarbenen Fahrrad hast du die ganze Gegend  unsicher gemacht!“ Er stieß ein lautes und herzliches Lachen hervor, so wie ich es kenne und liebe. Dann wurde es plötzlich still und der  kindliche, liebenswürdige Ausdruck in seinem Gesicht verschwand. Er schaute mit einem durchdringenden Blick auf mich herunter. „Du bist kein kleines Mädchen mehr Anuschka, auch wenn du dass noch nicht gemerkt hast. Aber deine Haare sind jetzt viel länger. Deine Haut ist nicht voller Schlamm, sie hat einen schönen pfirsichton und deine Wangen färben sich rot, wenn dir etwas peinlich ist oder du zuviel Sonne abgekriegt hast. Und deine Lippen..“ Seine Stimme schien zu versagen. Ich fragte mich warum ausgerechnet heute, die hellste Nacht sein musste, die ich je erlebt habe. Seit über einem halbem Jahr bin ich jetzt hier und fast jeden dieser Tage habe ich mit Aleg verbracht. Die ganze Zeit über haben wir uns verhalten wie früher, ich war das kleine Mädchen mit den kurzgeschorenen Haaren und er mein bester Kumpel, den ich wie einen großen, geliebten Bruder anbetete. Um genau zu sein, einen fast zwei Meter großen Bruder. Es war als ob mir seine äußerliche Veränderung erst jetzt bewusst wurde. Jetzt wo das Licht des Mondes wie ein Scheinwerfer auf ihn runterfiel. Es war nicht nur die Größe, sondern auch sein durchtrainierter, muskulöser Körper. Solange er lachte fiel mir auch kaum auf, dass seine kindlichen Gesichtszüge längst den markaten Wangenknochen gewichen sind.  Seine Haare waren so kurzgeschoren, wie damals meine, nur etwas dunkler.  Ich beneidete ihn um diesen Haarschnitt, ich beneidete ihn um den Wind, den er an seinem Nacken spürt. Er war derjenige, der mir damals die Haare geschnitten hat.  Meine Oma hat ihn dafür verprügelt und er musste bis tief in die Nacht auf den Feldern seiner Familie und seiner Nachbarn die Kartoffel ausgraben. Natürlich half ich ihm dabei, den wer beim Ausgraben auf den größten Wurm stoß musste dem anderen ein Eis kaufen. Als wäre es gestern gewesen sehe ihn auf mich zu rennen, in der Hand einen fetten, langen Wurm, grinsend und schmutzig bis hinter die Ohren. Am Ende des Tages saßen wir gemeinsam auf den kühlen Betonklötzen, die überall herumstanden und beobachtet wie die Sonne hinter der Weite der Steppe unterging. Meistens teilten wir uns dabei ein Eis.
Dann fiel mir auf, dass ein ausgewachsener Mann vor mir steht.  Aus Aleg ist tatsächlich ein Mann geworden, aber ich bin noch lange nicht so weit eine erwachsene Frau zu werden! 
“Meine LIPPEN werden gleich die schlimmsten Flüche die es gibt formen, wenn du mit dem Scheiß nicht aufhörst!“ Eine tiefe Falte bildetet sich zwischen seinen Augenbrauen. Er überlegte, wie meine Reaktion zu deuten ist. Und er begriff schnell.  „Er wird nicht kommen, solange es keinen Grund gibt“. Er sagte es in einem so bestimmten Ton, dass mein Herz für einen Moment aussetzte.  „Und ich bin nicht Grund genug?“ Es war mehr ein Flüstern, dass an mich selbst gerichtet war. Doch er hörte es und schüttelte traurig den Kopf. Wir beließen es dabei und gingen langsam ins Dorf zurück. keiner sprach ein Wort. Es war eine bedrückende Stille. Desto älter man wird, desto öfters begegnet man dieser Stille. Die meisten versuchen es zu vertuschen, indem sie unaufhörlich reden. Aleg akzeptierte sie, weil sie wohl zum „erwachsenwerden“ dazugehörte. Ich hasste sie. Die stillen Augenblicke meiner Kindheit waren unbeschwert und glückserfüllt, während sie heute angespannt und ungewiss sind. Wenn Aleg jetzt nicht bei mir wäre, dann wäre ich einfach an dem Haus meiner Oma vorbeigegangen, hätte die lichtdurchflutete Küche und die heißen Blinschiki hinter mir gelassen. Ich würde durch die endlose Steppe wandern, bis mich der Durst umbringt. Wie erbärmlich diese Vostellung ist, vorallem weil ich dabei ihn sehe und wie er mich rettet.
Diesmal weckte mich das Krähen des Hannes. Ich blieb noch im Bett liegen  und starrte auf die Decke. Bevor ich den Tag beginne, plane ich viele Aktivitäten ein. Zunächst mal muss ich zur Schule, aber was dann? Jeden Tag wünsche ich mir erschöpft ins Bett fallen zu können. So wie damals, als ich noch ein Kind war.
Als ich in der Küche ankam saß meine Oma bereits am üppig gedeckten Tisch. Ihre wunderbar faltigen Händen liegen zusammengefaltet auf dem Schoß, der Blick nach unten gerichtet. Sie ist nach wie vor um mich besorgt. Wahrscheinlich gibt sie sich die Schuld daran, dass ich scheinbar hier weg will. Ich konnte es mir nicht ansehen. Saft legte ich ihr meine Hand auf den Rücken und bückte mich um ihr einen Kuss auf die Backe zu geben. Dann  packte ich ganz viele Blinschiki in meinen Tasche und ging  hinaus in den Hof.
Es war ein wunderbar sonniger Tag. Da ich noch Zeit hatte, bevor Aleg am Zaum auftauchen und mich abholen würde, beschloss ich den Hund zu füttert. Der Arme Schäferhund war an eine kurze Kette gebunden und ließ kaum jemanden an sich ran. Als ich klein war hat er mich angegriffen und eine tiefe Wunde im Bauch hinterlassen. Oma wollte ihn erschießen, aber ich habe es verhindert. Es ist kein Wunder, dass ein Lebewesen bösartig und aggressiv wird, wenn man ihm keine Zuneigung schenkt. Nachdem ich mich erholt habe, besuchte ich ihn  fast jeden Tag und streichelte ihn. Sein Name ist Barfuß. Mittlerweile ist er ein sehr alter Hund. In dem Hof meiner gab es eine Menge Gemüse und Früchte. Am allerliebsten hatte ich die Himbeersträucher. Sie waren ziemlich hoch und man konnte sich gut zwischen ihnen verstecken. Und ich liebte ihren Duft. Ich pflückte ein paar Himbeeren und füllte damit die Blinschiki.
Kurze Zeit später tauchte auch schon Aleg am Zaun auf. Er hatte eine babyblaue Bluse,  eine hellgraue, lockere Leinenhose  und keine Schuhe an. Anstatt einer Schultasche trug er ein einzelnes Buch in der Hand. Bei dem Anblick musste ich lachen. „Du bekommst wieder Anschiss, wegen der Hose und dem fehlenden Schreibzeug!“  „Hey! Wenigstens habe ich diesmal eine Bluse an, du weißt wie gern ich oben ohne in die Schule gehe um den Mädels den Kopf zu verderehen damit sie mir ihre Notizen geben!“ Das stimmte, die Mädels sind alle verrückt nach Aleg, wahrscheinlich ist  er die beste Partie hier im Dorf. 
Die meisten Jungs, die im Dorf  bleiben verlieren irgendwann die Lust an der Arbeit und fangen an zu trinken. Aleg dagegen liebt die Natur hier, so öde sie auch ist und schätzt jeden einzelnen Strohhalm. Im Gegensatz zu Aleg bin ich immer ornungsgemäß angezogen und trage die  Schuluniform.   
Es ist ein dunkelblaues Kleidchen, mit einer weißen Schürze, zu der dunkelblaue Lackballerinas getragen werden. Ich reichte Aleg die mit Himbeeren gefüllte Blinschiki  „Hier, die sind für dich“.  „Oh man, du weißt wie ich deine Oma für ihre Kochkünste vergöttere! Wie sieht’s aus kann ich heute Abend zum Essen vorbeikommen?“  „Und was wenn  sie sich daran erinnert, dass du mir damals die schönen Haare abgeschnitten hast? Die wird dich erschießen wollen! Nichts ist so heilig wie das Haar einer Frau!“
Es ist immer  schön mit Aleg zur Schule zu laufen, wir unterhalten uns selten über ernste Dinge des Lebens. Er erzählt  mir meist lustige Geschichte über sich und seine zwei weiteren Brüder. Über seine arme Mutter, eine sehr zierliche und kleine Frau, die aber mächtig austeilen kann, wenn es von ihr verlangt wird.  Alegs Familie, ist so lebhaft wie keine zweite und ich bin immer gern bei ihnen zu Besuch. 
 Wir mussten nicht lange laufen, bis ich das alte, geweißelte Schulgebäude sehen konnte. „Aleg, bevor du in deine Klasse gehst, wollte ich dich noch was fragen.“  Er schien überrascht darüber zu sein, dass ich eine Frage ankündigte.  „Ich möchte mit, wenn du heute die Herde zum rasen antreibst“. Aleg brach in schallendes Gelächter aus. „Willst du ein Date? Denn so wie du gefragt hast klingst es danach...“ 
“Wie kommst du darauf, dass das ein Date sein soll? Unter einem Date verstehe ich was anderes. „  Ich hatte noch nie ein Date aber ich wusste, dass es sehr anstrengend ist auf eine Kuhherde aufzupassen und hoffte auf diese Weise erschöpft ins Bett fallen zu können. Alegs Miene wurde wieder ernst und bestimmt.  „Ich nehme dich nicht mit, es ist zu gefährlich. Wenn die plötzlich unruhig werden, könnten sie eine zarte Gestalt wie dich zertrammpeln.“ Es missfiel mir als zarte Gestalt bezeichnet zu werden. „Wieso frage ich eigetlich? Ich komme einfach mit, wenn du losziehst. Aleg und eine Horde Kühe ist kaum zu übersehen oder zu überhören!“ Mittlerweile waren wir an den Toren der Schule angekommen. Wir waren etwas spät dran, der Flur war bereits leer . Ich stand vor der Tür meines Klassenzimmers und dachte mir eine Ausrede für mein Zuspätkommen aus.  Bevor ich die Türklinke runterdrücken konnte, griff Aleg nach meiner Hand und drehe mich zu ihm. Er hob meinen Arm hoch und drückte ihn gegen die Tür. Als er sich herunterbückte, stockte mir der Atem. „ Ich werde einfach nicht schlau aus dir Anuschka. Du hörst auf niemanden, und machst immer was du willst. Nur wenn es um ihn geht, wirst  du ein ganz anderer Mensch. Du hättest schon längst selbst nach Hause fahren können. Warum ist es dir so wichtig, dass er dich holt?“
Die Tür wurde von hinten geöffnet und meine Lehrerin sah uns mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Erschrocken zuckte ich zusammen, während Aleg ruckartig meine Hand lossließ. „Aleg du Bengel! Hör endlich  damit auf, schlechten Einfluß auf unsere besten Schülerin auszuüben! Anuschka! Du bist wieder zu spät! Rein mit dir.“  Ich war Frau Metanowa
sehr Dankbar für die Unterbrechung unseres Gesprächs. Die Frage von Aleg ist mir zu gut bekannt. Unzählige Male habe ich sie mir gestellt, aber mich nie getraut sie zu beantworten.  Die Luft im Klassenzimmer ist immer sehr feucht und es ist unerträglich heiß, trotz der Klimaanlage. Erleichtert setzte ich mich an meinen Fensterplatz, der sich ganz vorne befindet. Frau Metanowa wird heute unsere Buchbesprechung fortführen: „Archipeg Gulag“. Ihre Worte wirken sehr beruhigend auf mich. Sie spricht fließend und hat eine wunderbar feste Stimme, die mich von meinen Gedanken ablenkt. Aber heute klappt es einfach nicht. Alegs Worte gehen mir nicht aus dem Sinn. In letzter Zeit erwähnt er ihn sehr oft. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee ihn beim  Kuhtrieb zu begleiten. Aber wer soll mich dann ablenken? Aleg ist meine größte Stütze. Aber er wird nie in der Lage sein das riesige Loch in mir zu füllen. Das kann nur einer. „Hey, Anuschka was war vorher zwischen dir und Aleg?“ Dascha beugete sich vom  Tisch hinter  mir  nach vorne und zog  sanft an meinem Haar. Aber natürlich! Ich habe Dascha ganz vergessen. Hier zeigt sich wieder einmal wie egoistisch ich bin. Dabei sind Dascha und ich schon immer gute Freunde gewesen. „Es war nichts, er wollte mich wieder einmal zum Schwenzen überreden. „ Sie begutachtete mich argwöhnisch, wahrscheinlich hat jeder Alegs erhobene Stimme gehört. „Ach so, es hat sich angehört als hättet ihr Streit?“, hackte sie nach. „Nein, es ist alles gut. Dascha hast du Lust heute was zu unternehmen? „ Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund formte ein stummes Lachen.  „Wusste ich es doch! Ihr habt doch Streit! Seit Wochen bist nur mit ihm unterwegs, woher kommt der plötzliche Wandel?“ Sie sah nicht verärgert darüber aus, dass ich erst nach so langer Zeit mit ihr was unternehmen möchte. Sie lachte mich an und ihre  Vorfreude über Aleg tratschen zu können war nicht zu übersehen. „Naja wir können uns später darüber unterhalten. Wir gehen heute an den See, gleich nach der Schule. Bist du dabei?“ 
“Ich habe keine Schwimmsachen dabei und was heißt hier wir? „ „Nur wir Mädchen“ , sagte sie mit einem vielversprechenden Grinsen. „Und da wir unter uns sind können wir Nacktbaden!“ Genau in dem Moment wurden wir von Frau Metanowa unterbrochen, sie drohte mir mit Schulverweis, wenn ich weiterhin so negativ auffalle. Und während sie den Unterricht fortsezte, fragte ich mich, ob es das richtige  ist mit Hormongesteuerten Mädchen abzuhängen und wie der Tag wohl verlaufen würde. Aber es hat geklappt, Dascha hat es geschafft meine Gedanken in eine andere Richtung zu steuern. 
Nach der Schule gingen Dascha, Elena, Jana und ich zum See. Ich habe schon ganz vergessen wie es ist mit Mädchen unterwegs zu sein. Es gab keine stillen Momente. Jede Sekunde war mit mehr oder weniger sinnlosen Gesprächen gefüllt. Sie lachten unenterbrochen und ließen die andre kaum ausreden. Sie schienen alle unbeschwert und glücklich zu sein und doch waren sie keine Kinder mehr. Sie sprachen über Jungs, Dates, Sex und  rauchten schmale Mentholzigaretten. Ein Importschlager aus Europa. Es war nicht schwer mich anzupassen und einfach mitzumachen. Ich rauchte ihre Zigaretten und lachte an den richtigen Stellen. Viel reden musste ich nicht, das erledigten sie für mich. Besonders Elena und Jana hatten viel zu berichten. Sie hatten beide schon viele Beziehungen hinter sich und eine Menge Erfahrung. Dascha hörte ihnen wissbegierig zu. Während ich mich Dascha noch etwas verbunden fühlte, merkte ich, dass es zwischen mir,  Elena und Jana keine Gemeinsamkeiten gab.

Als wir am See ankamen bemerkte ich Daschas glänzende Augen  und das zufriedene Lächeln. Auch ich musste lächeln, das erste Lächeln heute, das ernst gemeint war. Man konnte den Anblick vom  See nicht als überwältigend oder atemberaubend schön beschreiben, er war einfach nur ….beruhigend. Weit und breit menschenleere Dünen, und inmitten dieses Nichts ein kleiner See, der von langem Gras umsäumt wird. Der See war glatt und unberührt, die Sonne brachte ihn zum glänzen.  Jede Faser meines Körpers entspannte sich und ich spürte wieder einmal dieses angehneme kribbeln.  Seit unserem Ausflug wurde es auch das erste mal für einen  Moment still. Am liebsten hätte ich mich hingehockt, meine Knie an den Körper gezogen und die Augen geschlossen. Aber es war so heiß, dass auch ich beschloss schwimmen zu gehen. Es machte mir nichts aus nackt zu sein. Ein Bikini empfand ich eher als störend. Ich zog mir die Schuhe aus und grub meine Füße in den groben und heißen Sand. Die anderen waren bereits weiter als ich. Elena und Jana waren  nackt und legten sich zum Sonnen in die Nähe des Sees. Dascha hielt sich noch die Uniform vor der Brust. Jana und Elena sahen sich sehr ähnlich. man könnte meinen sie wären Geschwister. Sie hatten beide rotstichige, mittellange Haare und waren sehr groß und schlank. Auch hatten beide eine flache Brust, nur Janas breite Hüften unterschieden sich von Elenas kleinem Po. Ich konnte mir vortellen, dass es Dascha unangenehm war nackt zu sein, weil sie einen sehr großen Busen hatte. Sie war ein sehr hübsches Mädchen , mit einer kurvigen Figur und langen, blonden Locken. Ihre Augen waren blaugrau, genauso wie meine. Meine Haare dagegen waren dunkelblond und sehr robust und voll. Auch mein Busen war nicht gerade klein, aber ich fühlte mich mit ihm wohl und ging auch gerne mal ohne BH aus dem Haus.  Meine Figur war schon immer sehr sportlich, jetzt eben noch etwas weiblich. Die Veränderung an meinem Körper schien den anderen jedoch mehr aufzufallen als mir. Dascha schaute mich verwundert an. „Anuschka, du bist sehr schön geworden! Als Freundin kann ich es neidlos zugeben. Ehrlich gesagt habe ich dich bis heute nie als Konkurenz wahrgenommen.“  „Als Konkurenz? Wenns um Wettschwimmen ging, dann gab es niemanden den du mehr gefürchtet hast! Obwohl du diesmal  ein paar Rettungungsringe hast, die dich über Wasser halten können!“ Wir beiden lachten laut los und erinnerten und an die schöne gemeinsame Zeit. Dann rannten wir furchtlos in das anfangs kühle Wasser und traten gegeneinander an. Fast jedesmal habe ich gewonnen und da Dascha es nicht akzeptieren wollte, forderte sie mich immer wieder aufs neue heraus. Ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen.  Es hat mir Spaß gemacht zusammen mit Dascha zu sein. Die Anwesenheit von Jana und Elena hab ich fast vergessen, bis Elena mich zu ihr rief. Ich war gerade dabei  Dascha zu tunken und ihre Haare mit Schlamm zu beschmieren als ich mich dazu zwingen musste das angenehm warme Wasser zu verlassen. Elena lag auf dem Rücken und sonnte sich, mit einer Handbewegung gab sie mir zu verstehen sich neben sie zu setzen. Sie hat ein sehr erwachsenes und attraktives Gesicht, mit hohen Wangenknochen. Aber ich konnte ihren Blick nicht ausstehen. Sie schaute mich an als wäre ich ihre kleine Schwester. „Sag mal Anuschka, du und Aleg seid doch sehr gute Freunde? Sei ihr auch mehr als das?“. „Nein.“  Ich hattet keine Lust mit ihr über Aleg zu reden. Ihre Absichten waren eindeutig, jede war in Aleg verliebt. „Das habe ich mir gedacht, weißt du denn, ob er an jemanden interessiert ist?“ „Nein.“ Das war gelogen, es war mir klar, dass er an mir interessiert war. „Warum fragst du ihn nicht mal? Jedes Mädchen an der Schule würde zu gerne wissen ob er für jemanden schwärmt.“ „Hör zu, wenn er dir gefällt, dann solltest du zu ihm gehen und es ihm sagen! Meine Oma hat mir immer gesagt, man solle zu seinen Gefühlen stehen!“  Dascha hat unser Gesprächt mitverfolgt und brach in schallendes Gelächter aus. „Haha, ich weiß noch als Anuschka, Aleg und ich damals im Sand gespielt haben, bis deine Oma angerannt kam und feierlich verkündete, dass Anuschka in Aleg verliebt sei!“ Auch ich konnte mich noch gut daran erinnern. Ich fing an zu heulen, während der etwas ältere Aleg lauthals lachte und mich in den Arm nahm. Damals habe ich mich zum ersten und letzten mal verliebt. Ich war sieben und als ich nach diesem Sommer nach Hause kam wollte ich nur noch  von einer Person geliebt werden. „Als Mädchen musst du Stolz sein, es ist die Aufgabe des Jungen auf dich zuzugehen.“ Die erfahrene Elena hat gesprochen. Wahrscheinlich hatte sie auch recht. Aber ich vertraue den Worten meiner Oma nun mal mehr.Und gebe sie auch gerne weiter, weil ich  es nicht besser weiß.“Wie du bereits gesagt hast, viele Mädchen mögen Aleg, wahrscheinlich kann er sich gar nicht entscheiden. Wer weiß? Vielleicht hat die erste die auf ihn zugeht Glück?“ Wenn Aleg eine Freundin hätte, dann könnten wir vielleicht wieder Freunde sein, auch wenn es die eingebildete Elena wäre. „Hmm, da könntest du gar nicht so unrecht haben.“ , sagte Elena und lächelte verträumt vor sich hin. Ich war froh, als Dascha dieses Gespräch beendete, indem sie uns auf die untergehende Sonne aufmerksam machte. Und so machten wir uns auf den Weg, zurück ins Dorf. Auf dem Rückweg konnten wir weit weg eine Horde Kühe sehen, die den trockenen Sand aufgewirlbert hat. Irgendwo dort musste jetzt auch Aleg sein.

2.


Die Tage gingen immer schneller vorüber und ich habe mich an den Ablauf gewöhnt. Dascha und ich unternahm viel gemeinsam. Wir gingen an den See oder  fuhren in die nächstgelegene Stadt. Auch fiel immer wieder viel Arbeit auf dem Hof meiner Oma an, mit der ich mich meist ablenken konnte.  Ich fütterte den Hund, die Kühe und die Hühner, begoss das Feld und räumte den Stall. Kurz bevor die Sonne unterging nahm ich ein Buch, und las es  hinter dem Haus, mitten unter all den Himbeersträuchern versteckt.  Aleg habe ich kaum angetroffen.  Manchmal gingen wir gemeinsam in die Schule. Aber  in letzter Zeit schwenzte er immer mehr und arbeitete noch zusätzlich in der Stadt als Bauarbeiter
Ich lag auf dem Boden, zwischen meinen geliebten Himbeersträuchen, zog ihren süßlichen Duft ein und beobachtete den Himmel .Was fehlte mir bloß? Warum fühle ich mich so unvollständig? Ich habe meine Oma und Aleg, warum reicht mir das nicht? Ich dachte ich hätte mich mit dem Verlust meiner Mutter abgefunden und eigentlich habe ich das auch. Aber dem Verlust folgte unmittelbar ein weiterer, der beinahe schwerer zu ertragen war. Mein Vater hat sie verloren, hat sein Lebensglück verloren, hat die Fähigkeit zu lieben verloren, und ich hab ihn verloren. Es sind nun elf Jahre vergangen. Eine der letzten schmerzlichen Erinnerungen schoss mir durch den Kopf und durchbohrte mein Herz. Ich war sieben und kam gerade vom spielen nach Hause. Die Sonne ging langsam unter und mein Bauch knurrte in der freudigen Erwartung auf das leckere Essen zu Hause . Damals waren wir noch arm gewesen. Meine Eltern haben beide erst kürzlich ihr Studium abgeschlosssen und waren auf der Suche nach einem Job. Wir lebten in einer Art riesigen Wohngemeinschaft. Unser Zimmer, dass wir zu dritt teilten, war auf dem vierten Stock und es gab eine gemeinsame Küche für ungefähr acht Familien. Schon bevor ich in der gutbefüllten, lebhaften Küche ankam,konnte ich die Töpfe scheppert, Fleisch braten und Frauen reden und kichern hören. Niemand bemerkte meine Anwesenheit in dem ganzen Getümmel. Nach der Küche meiner Oma war dies, der mir zweitliebste Ort. Frauen aus jeder Generation trafen hier aufeinander und kochten gemeinsam. Vor allem die Älteren sahen es als Pflicht die Jungen im Kochen und über ihre zu erfüllenden Ehepflichten zu unterrichten. Tante Soja zeigte gerade meiner Mutter und ihrer Freundin Sweta wie man eine richtige Brühe kocht, diese sei von großer Bedetung, weil sie die Grundlage für alles bilde! Außerdem müsse man eh bei dem Kenntnissstand der beiden, mit den Grundlagen beginnen. Oma sana dagegen wollte unbedigt Piraschki backen, weil wir alle mehr davon hätten als von irgendeiner faden Brühe! Ich gab Oma Sana innerlich vollkommen recht, mein Magen zog sich schon zusammen vor Hunger und Piraschki sind mein Leibgericht. So kneteten die einen den Teig, während die anderen die Füllung vorbereiteten. Tante Soja wurde auch als Tratschtante Soja bezeichnet. Und auch heute ließ sie es sich nicht nehmen, beim Kneten die ein oder andere Tratschgeschichte zu servieren. „Habt ihr von Fainas Mann gehört? Nach zwei mikrigen Jahren Ehe pfeift der schon anderen Röcken hinterher! Ich sage euch das hält nicht lang! Die Jungend von heute hat keine Ahnung wie man eine richtige Ehe führt“ Oma Sana lächelte nachdenklich vor sich hin. So wie alle Omas, die ich kannte, besaß auch sie eine gutmütige Seele. Ich konnte nicht anders als sie zu lieben, wobei ich zugeben muss, dass ich generell eine Omaaffinität besitze. Das besondere an Oma Sana war ihre Empathifähigkeit. Sie verstand es dem Wandel der Zeit zu folgen und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. „Die Jugend von heute hat eben eine andere Vorstellung von Liebe. Heute ist sie Emotional, Intensiver und berauschender. Leider auch schmerzlicher und kutzlebiger.“ „Sana, du alte Schachtel, ich rede hier nicht von Liebe sondern von der Ehe! Zwei grundverschiedene Dinge!“ Da meldete sich Mamas Freundin Sweta zu Wort. „Ich muss dir wiedersprechen liebe Soja, ich werde nur dann einen Mann heiraten, wenn ich ihn auch liebe!“ „Und genau das ist dein Problem!“, sagte Soja und verdrehte die Augen. „ Eine Ehe ist harte Arbeit sonst nix.“ Sweta schaute sie grimmig an und stellte sich hinter meine Mutter, wobei sie ihre Hände um ihre schlanke Taille schlug. „Sieh dir doch mal Lena und ihren Mann an! Wie er sie ansieht! Jeden Tag sehe ich diesen leidenschaftlichen Blick in seinen Augen als habe er sich von neuem in sie verliebt. Wenn sie mit der kleinen draußen im Hof spielt, sehe ich ihn immer angelehnt an den Eingang stehen und sie mit diesem verheißungsvollem Lächeln beobachten! Und immerhin sind sie schon seit über acht Jahren verheiratet!“So eine bist du also, schaust anderer Frauen Männer hinterher! Lena, Liebes halt dich bloß fern von ihr!“ Mama lachte und umarmte ihre Freundin liebevoll. „Wie könnte ich nur Soja? Ich hab sie doch so lieb, dieses aufgeschreckte Huhn. Außerdem hat sie vollkommen recht, Eine Ehe ohne Liebe ist wie ein Gefängnis. Und wenn sie nur harte Arbeit bedeutet, dann will ich sie nicht.“ Ich liebte die Stimme meiner Mutter, ihre Schönheit, ihr Lachen, ihre Art sich zu bewegen. Aber ich hegte auch keinen Zweifel daran, dass es jemanden gab der sie nicht liebte. „Soja, jetzt lass die jungen Schönheiten doch in Ruhe, sie müssen nicht mehr heiraten um sich versorgt zu wissen, dass können sie heute selbst. Die Zeiten ändern sich. Ehen werden geschlossen und solange gehalten wie die Liebe eben hält.“Ich gab Oma Sana recht, beschloss jedoch, dass die Liebe meiner Eltern ewig halten wird, als mein Vater in die Küche eintrat.“Na die Damen was wird leckeres gekocht?“ Alle verstummten prompt und warfen kurze Seitenblicke zu dem Schönling. Sein Auftauchen hatte schon immer eine komische Wirkung auf die Frauen, plöztlich benahmen sie sich als wäre ein König oder Prinz erschiehen und schauten verlegen zu Boden. Er war groß und stattlich gebaut, hatte kurze schwarze Haare, volle Lippen und grüne Augen, mit goldenen Sprenkeln darin. Nur Tante Soja fand ihre Stimme wieder. „Männer sind hier verboten, du Schürzenjäger ab mit dir!“ „Aber Soja, du weißt genau das es nur eine Schürze gibt der ich hinterherjage!“ Und dann nahm er meine Mutter an der Hüfte, zog sie zu sich und küsste sie so innig, das man hören konnte wie alle den Atem einzogen. Die Zeit hielt still, als ich den beiden beim Küssen zusah. In dem Moment wünschte ich mir, dass auch ich eines Tages so lieben könnte und geliebt werde.
Nach einer gefühlten Ewigkeit trennten sich ihre Lippen und er sah sie mit diesem, wie Sweta es nannte, verheißungsvollen Blick an und verließ die Küche. Alles begann zu murmmeln und zu kichern, die Arbeit wurde fortgesetzt und an allen Ecken ertönte das beruhigende scheppern der Töpfe. „NA? Hast du DAS gesehen, du verbitterte alte Frau?“ Sweta schenkte Soja ein selbstzufriedenes Lächelt und strahlte meine Mutter an. Auch Oma Sana lächelte ihr zu, und sogar Soja fand, dass man den beiden die acht Jahre Ehe gar nicht anmerken würde. Das Gesicht meiner Mutter war gerötet und sie lächelte ihr sanftes Lächeln. Doch als sie sie sich von den anderen abwand sah ich etwas, was mich irritierte; Eine Träne . Als Kind nimmt man alles in sich auf wie ein Schwamm. Es gibt so viele dieser verschwommenen Erinnerungen, die ich Stück für Stück zusammenfüge wie Puzzleteile. Aber das Bild, dass im Lauf der Jahre immer deutlicher wird, gefällt mir nicht.

Irgendetwas verdeckte die strahlende Sonne die auf meine geschlossenen Augen fiel, nein Irgendjemand. „Du sollst dich nicht so an mich heranschleichen Aleg“. Meine Augen waren immer noch geschlossen, bei dem Gedanken ihn mit geschlossenen Augen erkannt zu haben musste ich grinsen. Ich würde seinen Geruch überall erkennen, auch wenn dieser von dem aromatischen Himbeerduft fast überdeckt wurde. Ich wartete auf eine spöttische Bemerkung aber er sagte kein Wort. Stattdessen spürte ich immer mehr seine Körperwärme, bis seine Lippen plötzlich meine berührten. Sie waren so sanft, leicht streichelten sie über meine, hielten kurz inne und drückten sich dann etwas fester auf meine Lippen. Es war schön, ich sog seinen Duft tief ein und fühlte mich wie benebelt. Ich dachte immer, die Sache mit den weichen Knien wäre nur so ein Ausdruck, aber würde ich jetzt stehen, hätten sie nachgegeben. Dann dachte ich an unsere Freundschaft und wie sehr ich mir immer wünschte, dass sie eine Ewigkeit halten würde.
Entschlossen stoß ich ihn zurück, völlig entgeistert schaute ich ihn an und suchte nach guten Flüchen , die ich ihm entgegen schleudern könnte. Ich wollte die Sache verharmlosen und als einen Scherz seinerseits abtun. Als ich ihn ansah hat mich jedoch sein Blick irritiert. Der Kuss hätte ein Scherz sein können, es hätte auch ein echter Kuss sein können. Aber es war keiner von diesen Küssen. Er grinste zwar, aber seine Augen waren zu Schlitzen verengt und…ich lass tatsächlich Spott und Abneigung darin. Ich hätte auf der Stelle weinen können. Mein liebster Aleg, warum schaute er mich so an? Wollte er mich verletzten, weil ich ihn abwies? „Er war der erste, der das Wort ergriff. „Du hast den Kuss zugelassen, es war schön nicht?“ Was soll das? Er war so anders, sein spöttisches Grinsen verschwand, er sah traurig aus und wand sich von mir ab. Sein Blick galt Der hinteren Wand von Omas Haus. Man konnte das große Fenster der Küche sehen, dass mit kitschigen Spitzenvorhängen geschmückt wurde. „Was ist los? was ist passiert? Stimmt was mit Oma nicht?“ Sein Verhalten irritierte mich und machte mich wahnsinnig. Er ignorierte mich völlig und blickte weiterhin gedankenverloren auf das Haus „Er ist da drin, in der Küche deiner Oma und wartet auf dich.“ Ich musste nicht nachfragen wen er meinte. Aleg verhält sich stets respektvoll allen Menschen gegenüber. Nur wenn es um meinen Vater geht nennt er ihn nie beim Namen. Ein Schauder durchzuckte meinen Körper, ein bisschen wie bei dem Kuss vorher aber doch anders, es waren noch so viele andere Gefühle dabei, neben Glück und Freude auch lehmende Angst. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und ruhig zu bleiben. Langsam stand ich auf und klopfte mir ein paar imaginäre Staubkörner von meinem weißen Baumwollkleid. Ich tat es Aleg gleich, und beachtete ihn nicht. Ich war verärgert über sein Verhalten und irgendwie auch verletzt, aber nun wusste ich was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Die Abneigung und der Spott galt meinem Vater. Der Kuss hatte nichts mit uns zu tun. Wahrscheinlich wollte er einfach seinem Ärger über das Auftauchen meines Vaters Luft machen. Ich ging um das Haus herum, Aleg folgte mir, bis wir vor dem Eingang stehen blieben. Er nahm meine Hand und wollte eintreten , doch ich zögerte und hielt ihn zurück. „Ich will nicht, dass du dabei bist. Du kannst ihn nicht leiden.“ Ich war erleichtert, als er mir einen liebevollen Blick zuwarf und keine Abneigung darin zu lesen war. „Anuschka! Natürlich kann ich ihn nicht leiden, er behandelt dich nicht gut. Ich will dir beistehen, du bedeutest mir…“ „Lass das! Mir können später darüber reden. Aber jetzt muss ich rein. ALLEIN.“ Enttäuscht ließ er meine Hand los. „Gut, aber egal was er sagt, ich bin immer da, ich hau nicht ab, du kannst immer mit mir reden.“ Ich sah wie Aleg den Hof verließ und wandete mich wieder der Tür zu. In meinen Gedanken ging ich im Schnelldurchlauf die Sätze durch, die ich in den letzten Monaten immer wieder aufsagte bis ich sie auswendig konnte. Ich hatte viel zu sagen, denn es war an der Zeit ehrlich zueinander zu sein und zwar gnadenlos. Ich wollte über alles mit ihm reden, mit ihm streiten, mit ihm weinen und fühlen. Es ist ein halbes Jahr seit ich mit gesprochen habe. Er rief nie an und ich war zu Stolz um ihn anzurufen. Ich betrat den Flur und ging auf die sonnendurchflutete Küche zu. Oma saß an dem runden Tisch, als sie mich sah hat sie sich verschreckt erhoben und blickte mir nervös und verunsichert in die Augen. Mein Vater saß ebenfalls am Tisch, sein Rücken war mir zugewandt. Er musste meine Anwesendheit wahrgenommen haben, drehte sich jedoch nicht um. Das fing schon mal gut an, aber vielleicht war es besser so. Wenn ich ihn nicht ansehen muss fällt es mir sicher leichter zu sprechen. Ich bewegte mich keinen Schritt vorwärts und begann mit meiner „Rede“ als würde ich einen Tost sprechen. „Vater, du hast mich ein halbes Jahr hier alleine gelassen und dich nicht gemeldet! Ich weiß dass du ihren Verlust nie verkraften wirst, aber du hast immer noch eine Tochter und es wird Zeit sie endlich wieder wahrzunehmen!“ Gott, kam ich mir dämlich vor….und dann noch dieser pathetischer Tonfall. Nein so funktionierte es nicht ich musste ihm ins Gesicht sehen. Ich setze mich an den Tisch zwischen meine Oma und meinem Vater, dessen Blick nach unten auf die rosenverzierte Tischdecke gerichtet war. Ohne aufzusehen schob er mir ein rechteckiges Stüch Papier zu, es war ein Brief. Verständnisslos schaute ich auf den nicht beschrifteten Briefumschlag. Und da sagte er seine ersten Worte, "Er ist von deiner Mutter Anuschka."

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Tag der Veröffentlichung: 25.10.2011

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