Die einunddreißigjährige Julia aus dem beschaulichen Uelsen, Grafschaft Bentheim, hat ein Problem: Die Fußball-WM steht an! Ist doch toll?! Nicht, wenn der eigene Ehemann zu solchen Events regelmäßig an zunehmender geistiger Umnachtung leidet und außer dem schwarz-weißen Lederball kein anderes Gesprächsthema mehr möglich ist! Zudem belasten sie auch noch eine Menge schmerzhafter Altlasten, was diesen speziellen Sport betrifft.
Diesmal hat Daniel sogar Karten für das Halbfinale der WM in Brasilien ergattert und Julia schwant, dass dies nicht gerade ein Urlaub wird, der ihren Vorstellungen von Ferien in trauter Zweisamkeit entspricht. Doch dann kommt zwischen der einen und anderen Ungereimtheit alles anders und Julia findet zunehmend Gefallen an ihrer Reise. Kann aus ihr, trotz der negativen Erfahrungen in der Vergangenheit, etwa doch wieder ein echter Fußballfan werden?
Findet ihr Vorwörter auch so langweilig? Wenn ich ein Buch kaufe, blättere ich immer direkt zum Anfang der Geschichte vor (an dieser Stelle entschuldige ich mich nachdrücklichst bei den Autoren, die sicher eine Menge Herzblut in das Vorwort gesteckt haben); schließlich bin ich neugierig, wie es losgeht.
Nichtsdestotrotz schreibe ich jetzt selbst eines; mir der Tatsache bewusst, dass mindestens 50% der Leser schnell weiterblättern, ohne es zu lesen. Macht aber nichts.
Ersteinmal möchte ich mich bei allen bedanken, die dieses Buch oder auch meinen Debüt-Roman 'Zwillingsbild' gekauft haben. Ein unbekannter Indie-Autor wie ich freut sich tierisch über jedes einzelne, verkaufte Exemplar. In diesem Sinne: Danke!
Der Hauptgrund für dieses Vorwort liegt bei meiner guten Freundin Marion (damit ihr wisst, wem ihr die Schuld geben müsst :-) ), die viel liest und deshalb als eine meiner Testleser fungiert. In dieses, vor Ihnen liegende, Buch habe ich eine Menge meiner Persönlichkeit und auch meiner Erlebnisse einfließen lassen. Das ist vielleicht unprofessionell, aber das Schreiben an diesem speziellen Roman hat aus genau dem Grund unglaublich viel Spaß gemacht.
Auf jeden Fall fragte Marion mich, nachdem sie das Buch zu Ende gelesen hatte, völlig entsetzt, ob ich mich wirklich so schlecht mit meinem Vater verstehen würde und warum ich ihr nie etwas davon erzählt hätte.
Falls sich die Frage noch jemandem stellt, besonders aus meinem Bekanntenkreis, möchte ich klarstellen: Nein, ich verstehe ich mich ausgesprochen gut mit meinem Vater. Nur ein einziger Punkt fällt mir ein, über den ich mit meinem Vater früher immer wieder gestritten habe und das ist der Hinterreifen meines Fahrrades. Der war nämlich, sagen wir – überdurchschnittlich – oft platt und musste geflickt werden (natürlich nie der Vorderreifen, das wäre ja auch zu einfach gewesen), was zu einigen Diskussionen seinerseits über meinen Fahrstil (zugegebenermaßen wild) und meinerseits über den Zustand des Zufahrtweges zu unserem Haus (der katastrophal war, gib es zu!) führte.
Wie auch immer, dieser Teil meiner Erzählung ist reine Fiktion. Ich habe auch keinen Bruder. Und ich bin bei uns zu Hause der verrückte Fußballfan, der sich schon Monate vor Beginn auf die WM freut... mehr als mein Mann. Es ist nicht alles echt; auch wenn ich wirklich in Uelsen wohne ;-) , es ist nur eine Geschichte, nicht mehr und nicht weniger.
Noch ein Wort am Rande, bevor es endlich losgeht: Seid ihr auch immer genauso genervt wie ich, wenn ihr die Worte 'Nationalsozialismus' und 'Deutschland' in einem Satz lest oder hört? Zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges waren selbst meine Großeltern noch Kinder und ich habe mit dieser Zeit absolut nichts zu tun. Rein gar nichts. Der internationale Ruf von Deutschland sollte, angesichts unseres sozialen Engagements, hervorragend sein und trotzdem kommt dieses Thema immer wieder auf den Tisch, sobald ein prominenter Deutscher oder gar ein Politiker irgendetwas Unbedachtes sagt, was auch nur im Entferntesten in diese Richtung ausgelegt werden könnte.
Während der WM 2006 haben wir in aller Welt reichlich Sympathiepunkte sammeln können; besonders, da wir das Ereignis weitergefeiert haben, als Deutschland bereits ausgeschieden war.
Es liegt an jedem Einzelnen, unseren Ruf zu verbessern.
Ich persönlich glaube fest daran, dass die Fußball-WM und EM dazu beitragen kann, Freundschaften in aller Welt zu schließen. Trotz aller Konkurrenz ist und bleibt es ein Event des Friedens, welches alle Nationen gemeinsam feiern sollten. Nur dann hat sich sein Zweck erfüllt.
Ein guter Verlierer bleibt in besserer Erinnerung als ein mieser Gewinner.
So, das war´s, Moralapostel-Modus aus...
Ich hoffe, euch gefällt meine Geschichte, auch wenn sie anders - ernster - geraten ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Manchmal führt der Fluss einer Erzählung den Autor in eine andere Richtung, als er selbst vermutet hätte... da kann man sich nur fügen. Nichtsdestotrotz wollte ich schon immer etwas über Fußball schreiben und das habe ich hiermit getan.
Liebe Grüße aus der schönen Grafschaft Bentheim,
eure Frauke
Es gibt Erinnerungen, die vergisst man niemals. Sie sind in deinem Kopf, in deinem Herzen eingebrannt und können niemals daraus entfernt werden; auch, wenn man sie gerne auslöschen würde.
Ich weiß noch, wie ich mein erstes wichtiges Fußballspiel in der Kreisklasse hatte. Damals war ich sieben Jahre alt, ein fröhliches Mädchen mit süßem Gesicht, zwei fehlenden Schneidezähnen und langen, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenen, blonden Haaren.
Ich weiß noch, wie wir auf den Platz liefen, sechs Kinder, alle in dem unerschütterlichen Glauben an unseren Sieg.
Ich weiß noch, dass ich süßliches Gras riechen konnte, da der Platz am Vorabend gemäht worden war; ich weiß noch wie der Himmel aussah, dessen strahlendes Blau von Wolkenbergen durchbrochen wurden, die sich dort oben in der Erdatmosphäre auftürmten und die von der Sonne angestrahlt silbrig an den Rändern und dunkelgrau in der Mitte leuchteten; ich weiß noch, wie stolz ich darauf war, Teil eines Teams zu sein und wie die neuen Stollenschuhe, die mein Vater mir extra für diesen Anlass gekauft hatte, sich an meinen Füßen anfühlten. Wundervoll, sie fühlten sich wundervoll an. Und sie sahen auch toll aus, bildeten mit ihrer knallig-roten Farbe einen wunderbaren Kontrast zu dem Grün meines Trikots und dem Weiß meiner Shorts. Ich trug die Farben meiner Mannschaft mit Stolz.
Ich weiß noch, wie meine Freundin Sabrina und ich uns abschlugen und uns gegenseitig viel Glück wünschten und wie meine Trainerin, eine strenge, aber kinderliebe Frau, einen Augenblick lang ihre warme Hand auf dem Rücken ihres neuen Spitzentalents ruhen ließ. Es war ein schönes Gefühl, dermaßen wertgeschätzt zu werden.
Um den Platz herum waren eine ganze Menge Eltern versammelt, sowohl von der gegnerischen, als auch von unserer Mannschaft; auch meine Familie war gekommen, um mich anzufeuern. Sogar mein Vater war da, was mich mit einer unbändigen Freude und Energie erfüllte, wenngleich er nicht die Person war, für die ich gleich alles geben würde. Die Person, für die ich alles geben würde, stand neben meiner Mutter; ein für sein Alter kleiner und zarter Junge, kaum eine kinderhandbreit größer als ich, mit hellblonden Haaren, blauen Augen und sanften Gesichtszügen, die den meinen sehr ähnelten. Mein geliebter Bruder Jonas; mein Idol; mein bester Freund. Für ihn würde es keine Rolle spielen, ob ich verlor oder gewann, er würde immer stolz auf mich sein. Und genau aus diesem Grund wollte ich unbedingt für ihn gewinnen. Ich wollte, dass er auch einmal zu mir aufsehen würde, nur ein einziges Mal, obgleich ich jünger war als er. Es würde unser Verhältnis etwas ausgleichen, angesichts der Tatsache, dass ansonsten immer ich diejenige war, die ihn vergötterte.
Der Schiedsrichter pfiff das Spiel an und ich zeigte sofort , dass ich, die neuste Spielerin, zu Recht den Ruf hatte, zugleich die Beste zu sein. Nach wenigen Minuten gelang es mir, den Ball zu erobern und damit auf das gegnerische Tor zu zustürmen. Vorfreude durchströmte mich, erfüllte jede Faser meines Seins; überdeutlich nahm ich jedes noch so kleine Detail wahr. Ich war eine Kriegerin, der Ball meine Waffe und das Tor mein erklärtes Ziel.
Ja, ich erinnere mich an das Alles ganz genau. Das grelle Grün des Grases, das leuchtende Weiß des Torpfostens, die strahlenden Gesichter meiner Teamkameraden und die langen Mienen der Kinder, die gegen uns verloren. Sie hatten niemals eine Chance gegen meinen Siegeswillen gehabt, auch wenn sie es nicht gewusst hatten.
In dem Moment, in dem ich das Tor schoss, das uns sofort in Führung brachte, fühlte ich mich das erste Mal in meinem Leben frei und dermaßen stark, als ob nichts mich jemals würde besiegen können.
Ich wusste, ich gehörte zu den wenigen, auserwählten Menschen, die ihren Platz im Leben gefunden hatten, auch wenn meine Gedanken, damals als Kind, wesentlich weniger komplex waren. Ich spürte, das hier war mein Sport und würde es auch immer bleiben. Niemals wieder würde ich dieses Gefühl missen wollen.
Aber manchmal passieren Dinge, die alles verändern. Die dazu führen, dass wir Sachen oder auch Menschen, die wir lieben, verlieren. Und dann werden ehemals schöne Erinnerungen schal, verlieren ihren Status, uns mit Freude zu erfüllen. Sie werden degradiert, vielleicht sogar verleumdet. Folglich würden wir sie gerne aus unserem Kopf streichen; aber das geht nicht, wie uns schnell klar wird.
Und so müssen wir mit ihnen leben, so gut wir können und versuchen, nicht allzu oft daran zu denken, da diese ehemals glorreichen Rudimente der Vergangenheit unseren Verlust nur noch schmerzhafter machen.
Vielleicht kommt aber auch der Zeitpunkt, an dem sie wieder rehabilitiert werden und erneut an Bedeutung gewinnen; der Zeitpunkt, an dem für uns wieder alles gut wird.
Möglicherweise gehöre ich zu den Personen, denen so etwas tatsächlich widerfährt.
Ich kann es nur hoffen; ich hoffe es so sehr.
Tief aufseufzend blicke ich auf den Janosch-Familienkalender von Aldi, der bei uns in der Küche an der Wand hängt.
In vier Wochen ist es wieder so weit. Den genauen Tag hat Daniel mit einem dicken, roten Edding angestrichen; als würde er ihn jemals vergessen. So viel Glück ist mir leider nicht vergönnt.
Zu diesem Zeitpunkt wird aus meinem liebenden Ehemann wieder ein Mensch, den ich nicht verstehen will, der unter fortschreitender geistiger Umnachtung leidet.
Denn: Mein Mann ist Fußballfan und in knapp vier Wochen startet die WM in Brasilien.
Das wäre doch mal eine etwas andere Selbsthilfegruppe: „Hallo, mein Name ist Julia Vogel, ich bin einunddreißig Jahre alt und mein Mann ist Fußballfan.“ Bestimmt fände ich leicht eine Menge geplagter Ehefrauen als Mitglieder für diese Gruppe. Nur: So bekloppt wie mein Gatte sind wohl die Wenigsten, da bin ich mir sicher.
Es gibt da eine exponentielle Steigerung seines persönlichen Wahnsinns:
Stufe 1: Bundesliga. Selbstverständlich ist er einer derjenigen, die schreiend, im Stehen, ihren Verein anfeuern; in seinem Fall natürlich Bayern München. Aber das ist ja noch durchaus okay, wenn man von dem wenig einfallsreichen Verein absieht. Was soll ich sagen? Lieber Bayern als Schalke. Dann würde ich mich wirklich erschießen. Man geht ihm einfach aus dem Weg, wenn ein Spiel läuft und fertig. Kein Problem für mich.
Stufe2: Champions League. Oha, da wird´s schon kritischer. Da muss man schon stark aufpassen, dass er bloß kein Spiel verpasst. Denn dann gibt es garantiert Zoff. Den gibt’s natürlich auch, wenn er ein Bundesligaspiel verpasst, aber bei der Champions League oder dem UEFA Cup wird es schon ernster. Dann legt man sich lieber nicht mit ihm an und fährt im Zweifelsfall alleine zu den Schwiegereltern. Wobei, wenn, so wie im letzten Jahr, Bayern die Champions League (oder gar das Triple) gewinnt, ist einem seine gute Laune für mindestens eine Woche sicher und man kann so ziemlich alles von ihm verlangen. Hat also auch durchaus seine Vorteile.
Stufe 3: EM/ WM Ja, was soll ich dazu sagen? Daniel ist praktisch während der ganzen Zeit, in der die WM stattfindet, nicht ansprechbar, es sei denn es geht um Fußball, ums Grillen beim Fußball oder Überraschung: darum, wer die Getränke für das Fußballspiel besorgt. Ach ja: und um schwarz-rot goldene Accessoires. Ich bin ja schon froh, wenn er daran denkt, allgemeine Hygienevorschriften einzuhalten. Beizeiten die Unterhosen zu wechseln, etwa. Oder wenigstens an den Tagen zu duschen, an denen Deutschland nicht spielt. Steht ein Match für unsere Nationalmannschaft an, hat er keinen Kopp für so was, das ist mir klar. Also besser gleich die Ansprüche herunterschrauben.
Dass das Ganze ausgerechnet im Sommer stattfindet, macht die Situation nicht besser. Längst habe ich es aufgegeben, ihm vorzuschlagen, in den Urlaub zu fahren, wenn ein solches Ereignis ansteht. Denn dann sieht er mich an, als käme ich von einem fremden Stern. Auch ein Kurztrip oder dergleichen ist nicht drin. Weil er jedes einzelne, wirklich jedes Spiel schaut, auch wenn es noch so popelig scheint, sofern ihm das arbeitstechnisch möglich ist; wenn nicht, verfolgt er es zumindest im Radio. Und ich meine wirklich jedes Spiel. Auch Uganda gegen Trinidad oder etwas in der Richtung.
Dabei würde ich dem ganzen Fußballrummel nur zu gerne mal entkommen. Dieser Sport hat mir einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben genommen. Daniel weiß von der Wunde, die der Fußball mir in meiner Vergangenheit zugefügt hat. Aber er kennt nicht das Ausmaß; ahnt nicht einmal, wie tief diese Verletzung in meine Seele reicht. Ich habe ihm nichts davon gesagt; will ihm den Spaß an seinem Lieblingshobby auch nicht verderben, auch wenn es zeitweise schon extrem nervig und anstrengend ist.
Wenn er könnte, würde Daniel wohl die Weihnachtsfeierlichkeiten auf den 4. Juli legen. Nein, nicht wegen dem Unabhängigkeitstag in den USA. Sondern wegen dem deutschen Gedenktag eines jeden Fußballfans, dem 4. Juli 1954, das Wunder von Bern. Unserer erster Weltmeistertitel, gewonnen in der Schweiz gegen den haushohen Favoriten Ungarn. Heißt es nicht eh immer, dass Jesus angeblich mitten im Juli geboren wurde und nicht im Dezember? Eigentlich stünde seinem Wunsch also nichts im Wege, wären da nicht die Kinder und ich; wir sind, wenn auch nur in diesem Punkt, deutlich traditioneller veranlagt.
Heute morgen hat Daniel mir freudestrahlend verkündet, dass er eine Überraschung für mich hat. Bin ja schon schwer gespannt. Ich befürchte, es hat etwas mit Fußball zu tun. So wie er gegrinst hat, als er es zu mir sagte.
Daniel und ich wohnen im beschaulichen Uelsen, Grafschaft Bentheim, in Niedersachsen. Ein relativ kleiner, anerkannter Erholungsort, in dem im Sommer die Touristen sämtliche Geschäfte verstopfen. Jedes Jahr frage ich mich aufs Neue: Wie kann man nur nach Uelsen in den Urlaub fahren? Versteht mich nicht falsch, es ist echt schön hier. Aber es gibt weder Berge, noch Meer, noch große Städte, die zumindest in der Nähe liegen. Und eins von den drei Dingen sollte doch im Grunde genommen essentiell für einen Urlaub sein; schließlich will man etwas sehen und erleben.
Daniel kommt gebürtig aus Uelsen, ich aus Itterbeck. Das liegt circa sechs Kilometer von Uelsen entfernt und ist sogar noch kleiner. Eine Zeit lang haben wir berufsbedingt in Münster gelebt, aber als ich mit unserem Sohn schwanger war, kehrten wir zurück. So gut wie jeder, der hierher stammt, kehrt in die Grafschaft zurück, früher oder später. Ich würde auch niemals wieder von hier wegziehen. Zu gut gefällt es mir, nein uns, in Uelsen. Beim Einkaufen trifft man immer jemanden, mit dem man sich unterhalten kann. Die Leute hier mögen Kinder, es gibt jede Menge bewaldete Natur. Ländliche Idylle eben.
Ach ja, und natürlich nicht zu vernachlässigen, es gibt das Schützenfest. Schützenfest-Montag ist ein fester Termin im Jahr für jeden Uelser, an dem man sich schon mittags trifft und mehr oder weniger (eher weniger) gepflegt trinkt. Den ganzen Tag lang, bis tief in die Nacht. Jede ansässige Firma, die etwas auf sich hält, bleibt an diesem Tag geschlossen und knüpft neue Geschäftskontakte auf dem Festplatz. Schon alleine dieser Anlass ist definitiv ein Grund, sich einen Wohnsitz hier zu nehmen. (Ein Bürgermeister musste mal nach Hause getragen werden, weil er nicht mehr laufen konnte. Das alleine wäre noch nicht das Problem gewesen; aber er konnte auch nicht mehr weiter trinken. Das nenne ich mal echten Wahlkampfeinsatz, wie es eines Uelsers würdig ist. Meine Stimme hat er bei der nächsten Wahl auf jeden Fall bekommen.)
Das wir unwiederbringlich nicht mehr nach Münster gehören, sondern hier in unser geliebtes Dorf, zeigt schon unser Grill. Der ist nämlich fast so groß wie unser Auto. Und nein, das ist leider kein Scherz.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erklären: In der Grafschaft Bentheim wird enorm viel Wert auf einen gepflegten Garten gelegt. Bereits im Februar werden alle unruhig, sortieren schon mal die Geräte im Gartenhaus und warten auf den ersten, einfallenden Sonnenstrahl. Notfalls geht es auch ohne Sonnenstrahl, wenn nur der Boden nicht mehr so tiefgefroren ist, dass die Harke abbricht.
Ich frage mich ernsthaft, was passieren würde, wenn der Wettergott mal in einem Jahr den Frühling ausfallen lassen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Menge Uelser ernsthaft unter Garten-Entzugserscheinungen wie unkontrolliertes Zittern, Nervenzusammenbrüchen oder sogar Kotzen leiden würden.
Demjenigen, der als erstes draußen ist, gebührt nicht nur große Bewunderung, sondern er oder sie erntet auch so einige neidvolle Blicke. Leider wohnen wir neben einer Nachbarin, die immer die Erste ist. Gartenarbeit ist ihr großes Hobby und sie steht Jahr für Jahr zuallererst in den Startlöchern. Beim Anblick ihrer gepflegten, vor bunten Blumen strotzenden, anbetungswürdigen Beete steigt jedes Mal leichtes Schamgefühl in mir hoch. Wir sind nämlich beide eher faul. Ich habe weder die Zeit und besonders nicht die Muße für stundenlanges Unkraut zupfen. Ich habe eine Viertelstelle als Krankenschwester, ein großes Haus, das immer schneller schmutzig wird als sauber und zwei kleine Kinder. Mein Maß an Freizeit tendiert auch so gegen null. Und mein Mann ist Obermonteur bei einer Firma, die Maschinen repariert und wartet; arbeitet in der Regel auswärts. Wenn er am Wochenende wieder da ist, will er logischerweise Zeit mit unserem Sohn und unserer Tochter verbringen und meistens stehen auch noch irgendwelche Reparaturen an. Nur seinen geliebten Rasen mäht er jede Woche. Ich bringe dafür den Rasenschnitt weg. Faire Arbeitsteilung, wie ich finde.
Ab Frühling ist der Gartenabfallplatz, der mittwochnachmittags und samstags geöffnet ist, der Anziehungspunkt in Uelsen. Irgendwann werde ich mich selbstständig machen und eine Würstchen- und Bierbude auf jenem magischen Ort eröffnen. Ich könnte Millionen verdienen und würde mich nebenbei noch köstlich amüsieren. Für gewöhnlich bringen die Leute lediglich ihre Gartenabfälle dorthin, wie man es auch erwarten würde, aber einmal habe ich ein Gespräch zwischen zwei Männern belauscht, bei dem der eine seine Größe anpries und der andere pikiert erwiderte, dass es doch nicht auf die Größe ankäme. Ich fühlte mich wie in einen Gayclub mitten in Berlin versetzt und musste so sehr lachen, dass sämtliche Leute mich komisch anstarrten. Dabei ging es doch nur um die Außenanlagen und nicht um etwas Zweideutiges. Die betreffenden Männer wussten nicht einmal, warum ich so lachte, was mich nur noch mehr reizte, bis ich mir die Lachtränen aus den Augen wischen musste. Ja, manchmal bin ich anders. Ich habe dann zugesehen, dass ich das überflüssige Grünzeug schleunigst loswerde und schnell das Weite gesucht.
Im letzten Frühjahr habe ich mein Image aufpoliert, in dem ich Samstags grundsätzlich schmutzig einkaufen gefahren bin. Dann sehen die Leute nämlich, dass man Gartenarbeit gemacht hat und das bringt einem eine Menge Sympathiepunkte ein. Das funktioniert hier, in einem Dorf in der Grafschaft Bentheim, tatsächlich ganz gut. Aber Vorsicht: das klappt selbstredend nur, wenn es Gartenerde ist, die an den Klamotten klebt und und für dunkle Ränder unter den Fingernägeln sorgt. Das ist ganz wichtig! Ungewaschene Haare oder eklige Flecken auf der Kleidung, die von Essensresten oder ähnlichem herrühren, sind auch hier ein No-go. Schließlich geht es darum, authentisch darzustellen, dass man ein Outdoor-Freak ist, nicht darum, ungepflegt zu erscheinen.
An dieser Stelle sollte ich wohl etwas gestehen. Da ihr es bestimmt schon selbst gemerkt habt, kann ich es genauso gut gleich zugeben. Ich neige zu geistigen Ausschweifungen; will meinen, ab und zu habe ich den Hang, leicht vom Thema abzukommen. Meine Gedanken springen hin und her wie ein blöder Ping-Pong Ball, das war schon immer so. Das ist schon zu etwas nütze, ganz bestimmt sogar, bis jetzt habe ich nur noch nicht herausgefunden, wofür. Aber ich bin ja erst einunddreißig. Da bleiben mir, statistisch gesehen, noch zweiundfünfzig Jahre, um es herauszufinden. Besser nur einundfünfzig, dann kann ich mein Talent noch ein ganzes Jahr lang ausleben, bevor ich den Löffel abgebe.
Von Höcksken op Stöcksken, hat meine Mutter früher immer gesagt. Das ist Plattdeutsch und bedeutet übersetzt.. na ja, die meisten plattdeutschen Sprüche kann man gar nicht so richtig übersetzen. Es heißt wohl wortwörtlich von Ecke auf Stöckchen oder so, glaube ich. Im Grunde genommen bedeutet es so etwas wie unstet, wechselhaft. Als Krankenschwester habe ich mich eingehend mit dieser Sprache befasst, die hier in Norddeutschland in verschiedenen Dialekten gesprochen wird. Das ist unerlässlich, wenn man in der Grafschaft mit alten Leuten arbeitet. Denn es kommt immer wieder vor, dass die älteren Semester hier kaum ein Wort Hochdeutsch sprechen, ganz im Ernst. Da muss man sich in groben Zügen verständigen können. Im Grunde genommen reicht es, die hochdeutsche Grammatik an das Plattdeutsche anzupassen. Hier ein konkretes Beispiel: Sie bitten eine ältere Dame im Pflegeheim, sich zu setzten. Erfolgt jetzt keinerlei Reaktion, hat sie möglicherweise null Lust, ihrer Anweisung zu folgen. Sie könnten es in diesem Fall aber auch einfach mal mit 'sitzen gehen' anstatt 'bitte setzen sie sich' versuchen, besonders, wenn die gute Dame sie ansieht wie ein Auto. Das funktioniert! Garantiert sogar.
Es gibt ein paar ausgesprochen lustige Wörter im Plattdeutschen. Potlod zum Beispiel, das heißt Bleistift. Oder Katteker, Eichhörnchen. Sogar Wörter, die im üblichen Sprachgebrauch schlicht nicht existieren. Da fällt mir Pinöpel ein. Ein Pinöpel ist ein kleines Ding, für den man gerade keinen anderen Ausdruck findet, zum Beispiel ein kleiner, vorstehender Knopf oder die Abdeckung einer Schraube oder so. Ein essentielles Wort, welches ich oft gebrauche. Was sagen bloß Leute, die kein Platt beherrschen?
Irgendwie Schade, dass immer weniger Nachwüchsler gibt, die diese Sprache aufrechterhalten. Ich hoffe, es stirbt nie aus, dieses norddeutsche Stück Tradition.
Vor zwei Jahren haben wir in Uelsen für Furore gesorgt. Normalerweise würde Daniel sich lieber einen Daumen abschneiden als nur den Hauch eines Aufklebers in die Nähe seines VW Touran zu lassen, aber zu den Fußballevents ist das Auto stärker geschmückt als ein Faschingswagen in Rio de Janeiro. So auch bei der EM 2012. Ich kam mir reichlich bescheuert vor; weil sämtliche Blicke, von belustigt bis konsterniert, dem Vehikel folgten, sobald es unsere Einfahrt verließ. Unser Auto erreichte tatsächlich einen enormen Bekanntheitsgrad; schon von Weitem wusste jeder, hier kommt der 'bekloppte Fußballfanatiker'. Leider haben wir nur dieses eine Fahrzeug, deshalb blieb mir keine Wahl, wenn es um weitere Strecken ging. Alles andere erledigte ich auf dem Drahtesel plus Fahrradwagen. Der gehört mir und deshalb habe ich jede Fußballdeko, die Daniel liebevoll, wenn auch mit einem boshaften Grinsen, angebracht hat, wieder entfernt.
Unsere Nachbarn haben sich ebenfalls köstlich über unser Auto amüsiert und den einen oder anderen Spruch vom Stapel gelassen, ab und zu, täglich, die ganze, beschissene EM über. Als es endlich vorbei war, war ich quasi ein psychisches Wrack. Ich habe Monate , literweise Wein und etliche aufbauende Worte meiner Freundin Marianne benötigt, um mich wieder davon zu erholen. Typisch. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Etwas weiter die Straße runter wohnt ein Mann, der immer nur mitleidig den Kopf geschüttelt hat, wenn unser Touran in seine Sichtweite kam; während er selbst gerade mit einer Zahnbürste die neu aufgezogenen Reifen (wohlgemerkt die Reifen, nicht die Felgen!) seines Autos vom 'Industriestaub' befreit hat (das weiß ich genau, denn ich hab ihn gefragt, was er da macht). Ich glaube sein Auto hat noch nie einen Tropfen Regen gesehen; zumindest keinen, den er nicht sofort von dem makellos-glänzenden, schwarzen Lack poliert hätte. Ehrlich, hat er eigentlich nichts Besseres zu tun? Ich meine wer zur Hölle schrubbt den mit einer Zahnbürste seine Reifen?
Wahrscheinlich hält er uns für ein bisschen beschränkt. Macht aber nichts. Immerhin mache ich mich auch hinter seinem Rücken über ihn lustig, wenn er mit der Pinzette und einer Lupe seine Grünfläche nach unerwünschten Unkraut oder gar Moos absucht. Im letzten Jahr, als er gerade seine preisverdächtigen Rosen mit Maschendraht einzäunte, um sie vor Fraßschäden zu schützen, ging meine Freundin zu ihm hin. „Das haben sie schön gemacht“, sagte sie betont überfreundlich, „darf ich es als Freigehege für das Kaninchen meiner Tochter nutzen?“ Mr. Pingelig, wie wir ihn unter uns nennen, hat das spöttische Funkeln in ihren Augen nicht einmal bemerkt, so entsetzt war er.
Bald geht das Spießrutenlaufen wieder los. Na ja, es sind ja noch vier Wochen. Also habe ich noch zwei Wochen Zeit, bis wieder die schwarz-rot-goldene Flagge von unserem Balkon hängt und unsere Familienkutsche aussieht, als wäre sie zwischen die Fronten einer Kollision zwischen einem Fahnen transportierenden Lastwagen und der Fußballnationalmannschaft
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1123-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die zu jeder Fußball-WM und EM immer ein bisschen abdrehen, genau wie ich.
Und nein, Fußball ist selbstverständlich nicht nur ein Sport!
Natürlich:
Für alle Uelser und die Menschen, die Uelsen lieben. Wir leben im großartigsten Ort der Welt!