Die zwei kleinen Mädchen saßen kichernd auf einer Wiese und spekulierten über ihre Zukunft. Wenn man von ihrer Kleidung und den Frisuren absah, glichen sie einander wie ein Ei dem anderen. Ihre Charaktere hingegen unterschieden sich schon deutlich mit ihren neun Jahren. Katharina war nicht nur drei Minuten älter, sie war auch lauter, selbstbewusster und vor allem unvernünftiger als die nur wenig jüngere Bianca.
Kati lehnte sich zurück, bis sie auf dem Rücken im Gras lag. Ihre rastlosen Finger zupften einen Halm nach dem anderen aus dem grünen Teppich, zerpflückten ihn, griffen nach dem nächsten. Auf diese oder ähnliche Art beschäftigte sie ihre Hände, während ihr Gehirn arbeitete.
„Auf jeden Fall will ich um die ganze Welt fliegen. Irgendetwas Aufregendes mit Stränden und Partys. Kein langweiliger Büro-Job oder so“, meinte sie enthusiastisch.
Sie drehte sich mit Schwung auf den Bauch, stützte den Kopf auf die Unterarme ab und funkelte ihre Zwillingsschwester herausfordernd an. Diese abrupten Haltungsänderungen waren typisch für sie. Sie war ruhelos, ergab sich ihrem ständigen Bewegungsdrang kampflos, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas daran zu ändern. Dieser Wesenszug an ihr machte Katharinas Lehrer, von denen so manch einer sie wohl das eine oder andere Mal am liebsten an einen Stuhl gefesselt hätte, regelrecht wahnsinnig.
„Du könntest mitkommen, wenn du nicht immer so ernst wärst. Wir hätten bestimmt viel Spaß. "
Bibi lag entspannt auf dem Rücken und schaute gedankenverloren in den Himmel, suchte nach bekannten Formen in den vorbeiziehenden Wolken, die wie Berge aus Zuckerwatte vor einem azurblauen Hintergrund wirkten. Ihre Hände lagen ruhig gefaltet auf ihrem Bauch.
„Ich weiß nicht. Um die Welt reisen klingt doch ziemlich stressig. Und ich würde meine Freunde vermissen!"
„Sven, hmm?" Kati verdrehte amüsiert die Augen. „Ein Junge!" Aus ihrem Mund klang es sehr abfällig.
Bibi hatte ihr nicht erzählt, dass Sven sie gestern hinter dem Haus geküsst hatte. Ein süßer, unschuldiger Kuss, direkt auf den Mund. Bibi war ziemlich deprimiert gewesen. Kati hatte mit dem neuen Mädchen aus ihrer Klasse gespielt, sie selbst war mal wieder außen vor gewesen. Bibi liebte ihre Schwester über alles, trotzdem nahm sie es ihr übel, dass sie so viel schneller Freundschaften schloss als sie selbst. Sie hatte ihren Kummer Sven anvertraut. Sven tat ihr gut. Er war nicht Katis Freund, nicht ihr gemeinsamer Freund, Sven war in erster Linie ihr Freund. Er hatte ihr versichert, dass er sie lieber mochte als Kati, dass sich das niemals ändern würde. Und dann hatte er seine Lippen auf ihre gedrückt, bevor er durch das Gartentor verschwunden war. Und Bibi mit einem merkwürdigen Gefühl im Herzen zurückgelassen.
Kati warf ihr einen spöttischen Blick zu. Bibi hatte oft das Gefühl, dass sie genau wusste, was sie gerade dachte. Kati schien sie völlig zu durchschauen. Umgekehrt galt das genauso. Aus diesem Grund setzte sie sich schnell auf, bevor ihre Schwester erraten oder an ihrem Gesicht ablesen konnte, was in ihrem Kopf vorging. Selbst vor ihrer Zwillingsschwester gab es Sachen, die zu privat waren, um sie zu teilen. Also blieb nur die Flucht nach vorn. Angriff war schließlich immer noch die beste Verteidigung.
„Wenn du Sven nicht magst, gibt es ja immer noch Martin." Ihre Augen blitzten.
Kati schüttelte sich theatralisch, dann wurde sie plötzlich ungewohnt ernst.
„Sven ist sehr nett, aber auf Martin trifft das nicht zu. Manchmal macht er mir richtig Angst."
Bibi nickte. Als die beiden Brüder vor ein paar Monaten mit ihren Eltern in das Nachbarhaus eingezogen waren, hatten Bibi und Kati das extrem spannend gefunden. Zwillinge, genau wie sie selbst, und noch dazu nur ein läppisches Jahr älter als sie! Mit Sven hatten sie sich auch auf Anhieb gut verstanden. Martin dagegen... er war sehr eifersüchtig auf seinen Bruder, sah sich ständig im Nachteil. Er spielte einem gemeine Streiche, die keiner lustig fand, außer er selbst, natürlich. Zum Beispiel als er sie und Kati mit einem blöden Trick in den Schuppen im Wald gelockt und eingesperrt hatte. Bei dem Gedanken an das dunkle, enge Bauwerk aus Holz, durch dessen Ritze kaum ein Lichtstrahl drang, an Wände, die immer näher zu kommen schienen, spürte sie immer noch eine dicke Gänsehaut über ihren Rücken laufen. Es war grauenhaft gewesen und absolut nicht witzig, vor allem nicht für ein Kind mit Klaustrophobie. Sie selbst litt nur unter einer leichten Furcht vor engen Räumen, die sich relativ leicht unterdrücken ließ, aber Katharina war schlicht ausgerastet. Hysterisch hatte sie gegen die Holzwände gehämmert; geschrien, bis sie vor purer Erschöpfung auf den Boden gesunken war und nur noch gewimmert hatte. Bianca taxierte ihre Schwester heimlich. So hatte sie ihren Zwilling noch nie erlebt und würde es hoffentlich auch nicht mehr. Sie hatte ihr richtig Angst gemacht.
Als sie sich endlich befreien konnten, war es schon beinahe dunkel gewesen, so dass sie tierischen Ärger mit ihrer Mutter bekommen hatten. Die ihnen natürlich kein Wort geglaubt hatten. Vor seinen Eltern und sämtlichen anderen Erwachsenen spielte Martin nämlich stets den Musterknaben. Nach diesem Erlebnis waren sie ihm gegenüber sehr vorsichtig geworden und vertrauten ihm in keinerlei Hinsicht mehr. Stattdessen gingen sie ihm lieber aus dem Weg.
Eine Weile brüteten die beiden still vor sich hin, dann stand Kati entschlossen auf, klopfte das Hinterteil ihrer Jeans sauber und streckte ihrer Schwester die Hand hin.
„Komm. Wir wollten doch ein paar Fotos mit meiner neuen Kamera machen."
Kati positionierte ihre Kamera exakt auf einem Stein und aktivierte den Selbstauslöser. Die beiden Mädchen warfen sich vor der Kamera in das Gras, die Arme umeinander geschlungen, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Was auch immer kommen sollte, sie würden auf ewig zusammen bleiben. Für immer vereint.
Bianca Korting joggte durch das Waldstück, welches in der Nähe ihres Hauses lag, und versuchte verzweifelt sich zu beruhigen. Die gleichmäßigen Bewegungen beim Laufen entspannten sie normalerweise immer. Aber von normalen Umständen konnte wohl auch keine Rede sein. Bianca hatte Angst; Todesangst, um genau zu sein.
Ausgerechnet jetzt war Katharina für ein paar Modeaufnahmen mitten in die Pampa geflogen, in irgendeine Wüste am Ende der Welt. Sie hätte sich genauso gut auf dem Mars befinden können. Ihr Handy war anscheinend zu Bruch gegangen, also hatte sie Bianca gestern direkt vor ihrem Abflug noch angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie die nächsten beiden Tage nicht erreichbar sein würde.
Gestern - das kam Bianca sehr weit weg vor, wie ein anderes Leben. Seitdem hatte sie etwas Ungeheuerliches herausgefunden. Etwas, das ihre Tochter und sie in große Gefahr brachte. Schon vorher hatten ihre Probleme sie schier erdrückt, aber das setzte dem Ganzen noch eine entsetzliche, grauenhafte Krone auf. Sie wusste nicht, wem sie sich anvertrauen sollte. Ihre Geschichte klang völlig verrückt, selbst in ihren eigenen Ohren. Und dennoch erklärte sie so vieles. Katharina hätte sie verstanden. Sie hätte ihr geglaubt.
Inzwischen liefen Tränen der Verzweiflung über ihr Gesicht, trübten ihre Sicht, verstärkten ihre Kopfschmerzen und erschwerten ihr das Atmen. Seitenstechen setzte ein. Bianca blieb schluchzend stehen, stützte ihre Hände auf die Oberschenkel, rang nach Luft. Sie musste sich beruhigen. In einer halben Stunde musste sie zu Hause durch die Tür gehen, so tun, als sei alles in bester Ordnung. Bis morgen. Dann kam Katharina wieder zurück nach Deutschland. Dorthin konnte sie mit Mareen erst einmal gehen, sich mit ihr besprechen, einen Plan fassen, wie es weitergehen sollte. Ja, in München wäre sie vorerst sicher.
Entschlossen wischte Bianca sich die Tränen aus dem Gesicht. Mareen zuliebe musste sie jetzt stark sein. Ihre Tochter brauchte jetzt den Schutz einer starken Mutter, kein verzweifeltes, heulendes Mädchen, das sich vor einem schwarzen Mann unter dem Bett versteckte. Sie würde, musste es schaffen. Sie würde durchhalten, sich zusammenreißen. Was war denn schon ein Tag?
Morgen, nur bis morgen, dann bin ich hier weg. Ich war nie gut darin, mich zu verstellen, aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Ich muss mein Bestes geben. Das bin ich Mareen schuldig.
Bianca beschleunigte ihre Schritte wieder. Ein paar Meter vor ihr ragte die enorme Eiche, die den Ausgang aus dem Wäldchen markierte, wie ein Titan in den rosa-goldenen Abendhimmel. Sie stand auf einer Lichtung, danach folgte noch ein kleines Stückchen Wald, bevor dieser sich ausdünnte und in eine Wiese überging. Es war ein beliebter Treffpunkt für Läufer und Spaziergänger, aber jetzt wurde es bereits langsam dunkel und außer ihr war keiner mehr unterwegs. Höchste Zeit, nach Hause zu laufen.
Bianca bemerkte die dunkel gekleidete Gestalt, die sich hinter dem gewaltigen Stamm des Baumes verbarg, erst, als diese vor ihr auf den Weg trat und ihr den Pfad heimwärts versperrte. Abrupt blieb sie stehen und rang nervös die Hände, bemühte sich verzweifelt um eine gleichmütige Miene.
Jetzt bloß nicht durchdrehen. Niemand weiß, dass ich die Wahrheit kenne. Woher auch?
„Oh, du bist zurück? Was machst du denn hier?“ Ihre Finger fühlten sich eiskalt und feucht an, ihre Stimme zitterte ganz leicht, fast nicht zu hören. In ihrem Magen nistete ein äußerst ungutes Gefühl. Ihr Instinkt riet ihr abzuhauen, zu fliehen. Mit aller Kraft unterdrückte sie den Impuls. Es wäre viel zu verdächtig.
„Bianca. Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst ja gar nicht gut aus. Oder sollte ich sagen, gar nicht glücklich?" Der drohende Unterton, der stechende Blick straften den sanften Worten Lügen. „Du weißt es also." Keine Frage, eine ruhige Feststellung. „Ich hätte mir denken können, dass ich dir nicht ewig etwas vormachen kann."
„Ich weiß nicht wovon du redest." Biancas Gedanken rasten förmlich durch ihren Kopf. Was sollte sie jetzt tun? Hatte es Sinn zu lügen, abzustreiten, was sie herausgefunden hatte? Oder sollte sie doch versuchen zu wegzurennen? Und was dann? Mareen war alleine zu Hause, völlig schutzlos.
Unwillkürlich wich sie zurück.
„Bibi, Bibi." Die dunkle Gestalt schüttelte gespielt bedauernd den Kopf. „Du solltest dir gut überlegen, was du jetzt tust. Mareens Leben hängt davon ab."
„Und meins?"
Bianca schaffte es nicht, die ängstliche Frage zurückzudrängen. Ihre Stimme klang eigentümlich rau; fremd in ihren eigenen Ohren. Ein schrilles Kichern war die Antwort, ein Geräusch wie lange Fingernägel, die über eine Schiefertafel gezogen wurden. Ein Geräusch, das ihr eine dicke Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Dein Leben ist verwirkt." Wie aus Zauberhand war ein langes, bedrohlich anmutendes Messer in der Hand der Person erschienen, dessen Klinge in den letzten Strahlen des Abendlichtes rötlich glänzte. Bianca fühlte sich wie hypnotisiert davon. Ihr ganzes Leben schien an ihr vorbeizuziehen. In diesem ewigen Moment fand sie die Kraft, das Richtige zu tun.
„Ich werde nicht weglaufen. Mareen weiß nichts. Sie ist doch nur ein Kind. Sie wird die Wahrheit nie herausfinden. Tu ihr bitte nichts." Sie sah der Gestalt fest in die Augen.
Ein grausames Lächeln war die Antwort, welches die kalten Augen nicht erreichte.
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe andere Pläne mit ihr."
Bianca sah, wie das Messer ruckartig in die Höhe gerissen wurde. Im nächsten Moment spürte sie einen starken Druck, als der Stahl sich seitlich in ihre Brust bohrte. Er glitt erstaunlich leicht zwischen ihre Rippen, als gäbe es dort keinen Widerstand; keinerlei Gewebe, welches sein Eindringen aufhalten oder zumindest abbremsen könnte. Etwas Feuchtes, sehr Warmes lief erst langsam, dann mit erschreckender Schnelligkeit an ihrer Seite hinunter, durchtränkte ihr T-Shirt, drang durch den Bund ihrer Sporthose.
Das ist Blut. Mein Blut. Ich werde sterben und es tut nicht mal sonderlich weh, dachte sie zerstreut. Im selben Augenblick explodierte der Schmerz in ihrem Brustkorb, raste als glühende, allumfassende Welle durch ihren Körper, verbrannte jeden einzelnen ihrer Nerven zu Asche.
Innerlich schrie sie vor Qual, dennoch schaffte sie es, ihrem Gesicht einen unbewegten Ausdruck aufzuzwingen. Ihm bloß nicht die Genugtuung gönnen, mich schreien zu hören. Du wirst damit nicht durchkommen. Oh Gott, es tut so weh... mach, das es aufhört, bitte...
Der Schmerz endete im gleißenden Licht, dann wurde alles schwarz um Bianca.
Lächelnd zog die dunkle Gestalt das Messer aus ihrem Körper, um es in einer Plastiktüte zu verstauen. Sie bückte sich, löste die teure Armbanduhr vom Handgelenk der toten Frau, zog ihr den goldenen Ehering vom Finger. Beides wanderte zu dem Messer in die Tüte.
„Auf Wiedersehen Bianca. Oder auch auf Nimmerwiedersehen. Das dürfte doch in deinem Interesse sein."
Mit diesen Worten wandte sie sich um und verschmolz mit der rasch zunehmenden Dunkelheit.
Katharina Korting saß regungslos in ihrem Sessel, die Arme um ihre angezogenen Knie geschlungen. Die Nachricht vom Tod ihrer Schwester hatte sie eiskalt erwischt. Als sie gestern von einem Fotoauftrag in der Wüste zurückkam, war ihr Anrufbeantworter vor Nachrichten nur so übergequollen, jede Nachricht sagte dasselbe aus, auch wenn der genaue Wortlaut von einander abwich. „Katharina, es ist etwas Furchtbares passiert, bitte ruf sofort zurück." Sven, ihre Mutter, immer wieder. Noch dazu einige Anrufe von der Polizei in Münster, die sie dringend sprechen wollte. Der Leichnam ihrer Schwester würde erst dann zur Beerdigung freigegeben werden, wenn die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen waren. Aus diesem Grund sollte sie umgehend eine Aussage machen.
Die Leiche. Jetzt ist meine Bianca nur noch eine Leiche.
Katharina krümmte sich wimmernd zusammen. In ein paar Stunden ging ihr Flieger, der sie die 670 Kilometer von München nach Münster bringen sollte. Aber sie sah sich nicht ansatzweise dazu in der Lage, sich dem zu stellen, was sie erwartete. Sie wusste ja nicht einmal, was genau sie erwartete. Das Verhör der Polizei, die Beerdigung. Hatte Sven schon ein Bestattungsunternehmen ausgesucht, die Kleider, die ihre Schwester im Sarg tragen sollte?
Und Mareen.
Bei dem Gedanken an ihre neunjährige Nichte schloss sie gequält die Augen, spürte, wie frische Tränen unter ihren geschlossenen Augen hervorquollen und über die geröteten, wunden Wangen liefen.
Sven hatte sie gebeten, nach der Beerdigung noch in Münster zu bleiben, für ein paar Wochen, wenn möglich. „Mareen braucht dich hier. Und ich ….natürlich auch. Ich glaube nicht, dass ich … das alles … ganz allein schaffe“, so oder zumindest so ähnlich hatten seine Worte geklungen. Er war schwer zu verstehen gewesen, seine Stimme klang leise und fahrig, als wären seine Gedanken meilenweit entfernt.
Beruflich wäre das kein Problem. Schließlich war sie eine brilliante Fotografin. Ein paar gut gewählte Worte ihrerseits reichten aus, um die beginnende, vielversprechende Karriere des betreffenden Fotomodels vorzeitig zu beenden. Oder zumindest, um sie nachhaltig negativ zu beeinflussen. Katharina die Große, wurde sie häufig in ihrem Business genannt. Ein paar abgelehnte Aufträge würden ihr nicht schaden, im Gegenteil. Es würde ihre Exklusivität nur unterstreichen. Katharina die Große, die es sich leisten konnte, lukrative und populäre Aufträge abzulehnen.
Dennoch, der Gedanke, länger in Münster zu bleiben, erfüllte sie mit eisigem Schrecken. Sie hatte doch niemanden mehr in Münster, keine Freunde, keine guten Bekannten. Als sie vor knapp zwölf Jahren nach München gegangen war, hatte sie alle Zelte in Münster abgebrochen. Ihre Schwester und ihre Nichte waren die einzigen Personen, mit denen sie regelmäßig Kontakt hatte. Mindestens einmal in der Woche hatten sie über Skype telefoniert, fast täglich über Facebook Nachrichten verschickt. Das war alles. Selbst Sven hatte sie nur ab und zu einmal gesprochen. Jetzt war Bianca tot. Und ob Mareen sie wirklich da haben wollte, bezweifelte sie. Sie wusste, dass ihre Nichte sie liebte, aber sie befürchtete, dass jeder Blick von Mareen in ihr Gesicht ihr vor Augen führen würde, dass ihre Mutter tot war. Und sie, Katharina, nicht. Wie sollte sich das Mädchen von seiner Mutter verabschieden, wenn sie jeden Tag die Frau anschauen musste, welche exakt so aussah wie diese?
Auch der Gedanke, für mehrere Wochen nicht in ihre Wohnung zurückzukehren, behagte ihr nicht. Katharina war sich durchaus bewusst, dass sie ein sehr oberflächliches Leben führte. Jede Menge Bekannte, aber keine wirklich engen Freunde. Keine Beziehungen, nur Affären. Bianca hatte ihr als beste Freundin vollkommen ausgereicht. Sie war die Einzige gewesen, der sie absolut und blind vertraute. Ihre Wohnung war ihr bei diesem Lebensstil immer wie ein Zufluchtsort erschienen. Ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit. Wen sie hierhin einlud, durfte sich schon etwas darauf einbilden.
Katharina ließ ihren Blick über die weiß gestrichenen Wände gleiten, die hier im Wohnzimmer fast völlig von gerahmten Fotografien bedeckt wurden. Alles ihre Werke. Sie fotografierte nur Menschen, keine Landschaften oder Gegenstände, keine Tiere. Im Zentrum aller Bilder hing ein gerahmtes Poster, das erste Portrait, das sie je geschossen hatte. Tausende waren gefolgt, aber dieses hier hatte den Anfang gemacht; mit diesem Bild hatte ihre Leidenschaft und Faszination für die Fotografie ihren Lauf genommen. Es zeigte sie und Bianca im Alter von neun Jahren auf einer Wiese, die Arme umeinander geschlungen. Es war kein Meisterwerk, aber es strahlte etwas absolut Einmaliges aus. Ihre Kindheit. Die welligen blonden Haare flossen offen auf ihre Schulter, auch aus Biancas strengem Zopf hatten sich zahlreiche Löckchen gelöst. Ihre dunkelblauen Augen, von langen Wimpern gerahmt, strahlten. Ihre Zähne, nicht ganz regelmäßig, aber sehr weiß, kontrastierten mit den schmalen, gebräunten Gesichtern. Sie sahen so glücklich aus, so jung und sorglos. Jetzt waren sie für immer getrennt. Nie mehr würde sie Biancas Arme spüren, die sie umarmten.
Links daneben hing ein Bild von Mareen; ihrer Meinung nach mit eines der besten Fotos, die sie je gemacht hatte. Mareen, die eine Traube Luftballons in ihrer kleinen Faust hielt. Auf dem Foto wirkte es so, als würde sie gerade abheben und davonfliegen. Ihr verzaubertes Lächeln zeugte von Wundern, als glaubte sie wirklich, die Ballons könnten sie in den Himmel tragen. Sie hatten wahnsinnig viel Spaß gehabt bei diesem Shooting. Mareen war dutzende Male, unglaublich elegant für ihre vier Jahre, in die Luft gesprungen, bis die Aufnahme perfekt war.
Noch ein Lächeln, das erloschen war. Fürs Erste zumindest.
Katharina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rappelte sich hoch. Wenn sie ihren Flieger erwischen wollte, musste sie jetzt anfangen, ihre Koffer zu packen. Ihr Personalausweis steckte noch in ihrer Fototasche, den brauchte sie unbedingt. Also würde sie damit anfangen, diesen in ihre Handtasche zu stecken. Um sich genau zu überlegen, was sie alles brauchen könnte, fehlte ihr einfach die Kraft. Also nur das Nötigste. Was fehlte, würde sie in Münster besorgen. Zwar stand das Haus von Bianca und Sven nicht direkt in Münster, sondern am bewaldeten Rande eines Nebenortes, Havixbeck, aber bis in die Innenstadt waren es nur etwa fünfzehn Kilometer. Dann hatte sie wenigstens einen Grund, das Haus zu verlassen, wenn sie die ganze Situation nicht mehr ertrug. Was in etwa zehnmal am Tag der Fall sein dürfte.
Katharina war sich nur zu bewusst, dass alle wieder von ihr erwarteten, die Starke zu sein. So war es auch schon bei der Beerdigung ihres Vaters gewesen, der im Alter von nur fünfzig Jahren nach langer, kräftezehrender Krankheit gestorben war. Nur diesmal würde alles noch tausendmal schlimmer sein. Bianca war nicht krank gewesen, nicht alt, sondern eine junge, gesunde Frau in der Blüte ihres Lebens. Nichts hatte Katharina und ihre Familie auf den Verlust vorbereitet, wie der Gesundheitszustand ihres Vaters es damals getan hatte.
Etwa ein Jahr nach dem qualvollen Krebstod ihres Mannes, hatte ihre Mutter sich während eines Urlaubes überraschend in einen Mallorquiner verliebt; ein halbes Jahr später war sie zu ihm gezogen. Ihre Auswanderung lag jetzt bereits ein paar Jahre zurück. Gisela Korting ertrug keinen Schmerz, weder körperlichen noch seelischen. Sie war nie eine starke Frau gewesen. Und konnte es etwas Schlimmeres im Leben geben, als das eigene Kind zu Grabe zu tragen? Wahrscheinlich würde sie von Valium oder ähnlichem zu betäubt sein, um sich auch nur annähernd über organisatorische Fragen Gedanken zu machen.
Tranxilium. So hieß das Zeug, dass sie nach Papas Tod verschrieben bekommen hat. Schon da musste ich die ganze Last der Beerdigung alleine tragen. Niemand, der mir auch nur eine der gefühlten tausend Entscheidungen abgenommen hätte. Bianca ist ihr in dieser Hinsicht leider viel zu ähnlich gewesen.
Auch Sven war mit Sicherheit am Boden zerstört. Er und Bianca waren ein Paar gewesen, solange man denken konnte. Wenn Sven mit etwas nicht oder nur schlecht fertig wurde, zog er sich einfach zurück und ließ niemanden an sich heran. Undenkbar, ihm die wichtigen Entscheidungen alleine zu überlassen. Am Telefon hatte er wirklich sehr merkwürdig geklungen, wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Erst vor einem halben Jahr hatte Martin, sein Zwillingsbruder, in den USA Selbstmord begangen, nachdem seine Firma, die Computerchips hergestellt hatte, Insolvenz hatte anmelden müssen. Auch privat hatte er einen riesigen Schuldenberg vor sich hergeschoben. Er war eine psychisch instabile Persönlichkeit gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. Sein finanzieller Ruin hatte scheinbar ausgereicht, ihn in den Suizid zu treiben. Sven und Martin hatten schon seit Jahren kaum Kontakt miteinander gehabt. Trotzdem, den Tod des eigenen Bruders steckte man nicht ebenso weg. Schuldgefühle spielten bei Sven wohl eine relativ große Rolle, obgleich er sich wirklich bemüht hatte, ein besseres Verhältnis aufzubauen und sich eigentlich keine Vorwürfe zu machen brauchte. Martin war es gewesen, der alle seine Bemühungen abgeblockt hatte.
Katharina zog ihre Fototasche vom Wohnzimmertisch und begann, sie auf der Suche nach ihrem Pass zu durchwühlen. Ihre Finger zitterten. Da sie den Ausweis nicht auf Anhieb fand, drehte sie die Tasche, nachdem sie ihre teure Kamera herausgenommen hatte, einfach um. Sie musste sich beherrschen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Schlimm genug, dass sie gezwungen war, aus so einem furchtbaren Grund zu verreisen, da hatte sie nicht die Nerven, alles systematisch und ruhig zu durchsuchen. Zu ihrem Ärger befand ihr Personalausweis sich nicht in der Tasche, aber das kaputte Handy fiel ihr vor die Füße. Aus einem Impuls heraus entfernte sie die SIM-Karte, um sie in das neue Mobiltelefon einzusetzen, welches sie gestern auf dem Heimweg noch besorgt hatte.
Da hatte ich noch keine Ahnung, was mich erwartet.
Sie brauchte drei Anläufe, um die SIM-Karte zu entfernen, ebenso viele, um sie in das neue Smartphone einzusetzen. Dann schaltete sie das Gerät ein. Augenblicklich piepte das Telefon mehrmals. Ihre private Handynummer hatten nicht sehr viele Leute. Nur ihr Familie und die wenigen Personen, die sie als ihre Freunde bezeichnete.
Wahrscheinlich nochmal Sven oder Mama.
Stattdessen erschien eine andere Nummer auf dem Display: Bianca Handy, drei Anrufe in Abwesenheit. Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich; das Telefon drohte aus ihrem Griff zu rutschen. Sie hatte doch Bianca darüber informiert, dass sie nicht erreichbar sein würde, weil ihr Handy heruntergefallen und zu Bruch gegangen war. Warum hatte sie trotzdem angerufen? Sie atmete tief durch, dann rief sie ihre Mailbox an. Es dauerte viel zu lange und gleichzeitig zu kurz, bis sie ihre Nachricht abhören konnte. Biancas Stimme noch einmal zu hören, kam ihr sehr verlockend vor. Aber es würde auch wehtun, wie ein Dolchstoß direkt ins Herz.
Eine Bianca mit zittriger Stimme meldete sich, es klang, als habe sie geweint.
"Kati, ich bin es. Ich weiß, du bist nicht da. Aber ich brauche dich!" Ein Schluchzen, das Katharina durch und durch ging. Sie spürte einen ebensolchen Laut ihre Kehle hinaufsteigen. „Es ist etwas Furchtbares passiert." Sie holte tief Luft. „Ich habe etwas herausgefunden. Bitte, ruf mich zurück, sobald du kannst. Bitte! Ich weiß nicht, was ich tun soll!“ Die Bianca auf dem Band brach offenbar in Tränen aus; ein paar Sekunden lang brachte sie kein weiteres Wort mehr heraus, man hörte sie lediglich weinen. Ein hilfloses, krampfhaftes Weinen, welches Katharina einen schmerzhaften Stich versetzte. Schließlich verstummten die verstörenden Geräusche mit einem letzten Schniefen. „Ich weiß einfach nicht weiter!" Mit diesen Worten, die eher einem verzweifelten Schrei als einem gesprochenen Satz ähnelten, endete die Nachricht.
Kreidebleich, die dunkelblauen Augen weit aufgerissen und in Tränen schwimmend, starrte Katharina auf ihr neues Smartphone, als könne es ihr Antworten auf Fragen liefern, die sie nie hatte kennen wollen. Das glänzende, schwarze Glas reflektierte ihr Spiegelbild; für einen kurzen Moment schien Bianca ihr hilfesuchend und flehend entgegenzublicken. Erschrocken zuckte sie zurück, ließ ihren Kopf mit geschlossenen Augen schwer gegen die Lehne des Sessels sinken.
Scheinbar musste sie doch länger in Münster bleiben, als sie ursprünglich geplant hatte. Sie musste unbedingt herausfinden, was genau passiert war.
Das klingt nicht nach einem anonymen Raubüberfall. Oh, Bibi, was ist nur mit dir passiert?
Der Flug, so kurz er auch gedauert hatte, war eine Qual gewesen. Bewegungslos auf ihrem Sitz zu hocken und nichts tun zu können, um ihrer inneren Unruhe entgegenzuwirken, war ihr unglaublich schwer gefallen. Den ganzen Flug über hatte sie die Kiefer fest aufeinander gepresst, um den Schrei, der ihrem Seelenschmerz Ausdruck verliehen hätte, nicht herauszulassen. Sobald der Flieger gelandet war, hatte sie sich rücksichtslos ins Freie gedrängelt, andere Fluggäste rüde beiseite gedrängt. Empörte Ausrufe und genervte Kommentare folgten ihr auf dem Weg aus dem Flugzeug, aber es war ihr egal. Nichts, was einer dieser Leute von sich gab, konnte sie verletzen. Nicht mehr.
Katharina umklammerte den ausgefransten Riemen ihrer roten, ausgebleichten Reisetasche und eilte rasch durch das Terminal Richtung Ausgang. Sie hatte bewusst alle Sachen, die sie mitnehmen wollte, in ihre alte Reisetasche gestopft, anstatt einen Koffer zu benutzen. Am Gepäckband zu stehen und geduldig abzuwarten, bis ihr Koffer, zweifellos als der allerletzte, über das Band gerollt kam, hätte sie jetzt entschieden überfordert. Die Frau am Schalter wollte ihr die Tasche anfangs nicht als Handgepäck durchgehen lassen, aber ein langer Blick in ihre verheulten, aber entschlossenen Augen hatte sie wohl davon überzeugt, dass sie diese Auseinandersetzung nicht gewinnen würde.
Vor dem Flughafengebäude stieg sie in ein am Bordstein wartendes Taxi, das glücklicherweise keine anderen Verpflichtungen hatte, nannte dem Fahrer die Adresse und ließ sich in das Polster zurücksinken.
Ihr war sehr unwohl zu Mute. Sie fühlte sich unsicher. Das war sie nicht gewohnt. Sie war die selbstsichere Katharina, der souveräne Profi in allen Lebenslagen, der immer wusste, was zu tun war. Ihr Selbstbild wankte, brach zusammen.
In etwa einer halben Stunde musste sie Sven und Mareen gegenübertreten.
Was sagt man einem Mann, der seine Frau viel zu früh verloren hat? Was einem Kind, dessen Mutter brutal ermordet worden ist?
Katharina schaute stumpf auf die an der Scheibe vorüberfliegende Landschaft. Ihr Kopf fühlte sich tonnenschwer an. Natürlich hatte sie in der letzten Nacht kein Auge zugetan. Stundenlang hatte sie mit geröteten, schmerzenden Augen an die Decke gestarrt und gegrübelt, unterbrochen nur von krampfartigen Schluchzern.
Als sie bewusst wieder etwas wahrnahm, passierte das Taxi bereits das Ortsschild von Havixbeck. Ihre Panik drohte sie zu überwältigen. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wies sie den Taxifahrer bereits an, am nächsten Supermarkt zu halten.
„Soll ich auf Sie warten?"
Der übergewichtige Fahrer wirkte schmuddelig, das spärliche braune Haar klebte fettig an seinem Kopf, sein T-Shirt wies unter den Achseln große Schweißflecken auf. Die dunklen Augen hinter der Brille jedoch musterten sie außergewöhnlich offen und mitfühlend.
„Das macht mir wirklich nichts aus."
Katharina schüttelte den Kopf.
„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Aber den Rest gehe ich zu Fuß.“
„Sie wissen, dass Sie noch einen knappen Kilometer zu laufen haben? Mit Tasche!?" Die Stimme des Fahrers klang ungläubig, seine Miene drückte Besorgnis aus. Sie fürchtete, er könnte sie an den Haaren wieder ins Taxi schleifen, nur um das Gefühl zu haben, ihr damit zu helfen. Oder möglicherweise auch um zu verhindern, dass sie sich von der nächsten Brücke herabstürzte. Sie musste ja wirklich schlimm aussehen.
„Ich weiß. Die Bewegung wird mir sicher gut tun.“ Katharina versuchte zu lächeln, aber sie wusste, ihr Gesichtsausdruck glich eher einer Grimasse.
Ich versuche nur, etwas Zeit zu schinden. Meine Schwester wurde brutal ermordet und ich habe absolut keine Ahnung wie ich die nächsten Wochen überstehen soll. Die Wahrheit zu akzeptieren, tut so weh. An sie zu denken, tut weh. Selbst das Atmen tut weh.
„Ich hab mich von meinem Freund getrennt, wissen Sie. Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich, um damit fertig zu werden."
Bloß kein Mitleid von einem Wildfremden, das könnte ich nicht ertragen.
„Wie Sie wollen", der Fahrer zuckte mit den Achseln, bevor er ausstieg und ihr die Tür aufhielt.
„Nehmen Sie´s bloß nicht zu schwer. Männer kommen und gehen."
Er zwinkerte ihr zu, stieg wieder in sein Taxi und fuhr davon. Offensichtlich beruhigte ihn die Vorstellung, es lediglich mit einer hysterischen, liebeskranken Frau zu tun zu haben.
Katharina drehte sich auf dem Absatz herum und betrat den Supermarkt. Nur noch schnell ein paar essentielle Dinge einkaufen. Kaugummi zum Beispiel, oder Zahnpasta. Nur noch ein paar Minuten mehr Aufschub.
Unmotiviert schlich sie durch die Gänge, nahm wahllos Kosmetikartikel in die Hand und legte sie zurück. Schließlich schnappte sie sich ein paar Sachen und stellte sich an einer der drei Kassen an. Sie wusste, sie würde sich nur noch schlechter fühlen, wenn sie das Treffen mit ihrer Familie noch weiter hinauszögerte.
Meine Schwester ist tot. Sie kommt nicht zurück. Aber Mareen lebt. Sie braucht mich.
Katharina packte gerade ihre Einkäufe in eine Tüte, als sie eine Hand an ihrer Schulter fühlte.
„Katharina? Bist du es wirklich?" Eine tiefe, wohlklingende Stimme erschütterte sie bis tief in ihr Innerstes.
Erschrocken fuhr sie herum und blickte geradewegs in ein Paar blaue Augen. Augen, so blau wie das Innere eines Gletschers. Oder wie die blaue Flamme eines Bunsenbrenners.
Ich kenne nur eine Person, die solche Wahnsinns-Augen besitzt. Joshi.
„Joshua. Hi." Angespannt, aber auch freudig überrascht, blickte sie ihn von unten an. Ihr Magen krampfte sich nervös zusammen, ohne dass sie es verhindern konnte.
Joshua Hartmann, mit dem sie früher zur Schule gegangen war. Joshua, der einzige Mensch, der die Zwillingsschwestern schon immer hatte auseinanderhalten können, selbst wenn sie es darauf anlegten, verwechselt zu werden. In einer Zeit, in der sie stark mit ihrer Individualität gekämpft hatte, war ihr das wie ein willkommenes Wunder erschienen und sie hatte seine Nähe oft deswegen gesucht. Joshua, für den sie nicht erst ab der zehnten Klasse eine große Schwäche gehabt hatte; allerdings hatten ihre Gefühle für ihn ab da begonnen, sich zu ändern und zu vertiefen. Diese Zuneigung hatte auch durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Aber irgendwie hatte sich nie mehr als Freundschaft ergeben. Und dann war sie nach dem Abi gen Süden gezogen, um an der Hochschule von München Fotodesign zu studieren. Und Joshua war natürlich hier geblieben. Seine Eltern besaßen einen landwirtschaftlichen Betrieb, von dem sie annahm, dass er ihn inzwischen führte. Er war schon immer mit Herz und Seele Landwirt gewesen. Ihre Freundschaft hatte die Entfernung nicht überlebt, war nach und nach eingeschlafen. Sie waren eh nie wirklich Freunde gewesen. Es hatte sich einfach keiner von ihnen getraut, einen Schritt weiterzugehen.
„Ich denke, ich brauche wohl nicht zu fragen, wie es dir geht." Seine Stimme war sehr ruhig, legte sich wie Balsam auf ihre verwundete Seele. Katharina warf ihm einen langen, abschätzenden Blick zu. Nein, keine Heuchelei lag in seinem Blick, kein übertriebenes Mitleid, keinerlei Neugierde auf blutrünstige Details. Nur ehrliches Interesse an ihrer Person und Verständnis.
„Ich sehe genauso aus, wie ich mich fühle, nehme ich an."
Komischerweise hatte sie nicht das geringste Bedürfnis, sich vor ihm zu verstellen. Oder vielleicht war es auch gar nicht so komisch. Sie mochte ihn, schon ewig, fühlte sich nach wie vor auf eine Art wohl bei ihm, die sie nicht in Worte fassen konnte. Nach all den Jahren vertraute sie ihm noch immer. Manche Dinge änderten sich anscheinend nie.
„Du siehst toll aus, was auch sonst, Kati.“ Seine Hand legte sich warm und tröstend auf ihren Unterarm. „Was passiert ist, tut mir so leid. Bianca war ein guter Mensch. Sie hat das nicht verdient."
Katharina fühlte wie heiße Tränen sich in ihren Augen sammelten, bis diese überliefen, über ihre Wangen rollten und auf ihr T-Shirt tropfen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie konnte kein Wort mehr herausbringen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Joshua legte die Arme um sie und zog sie an seine Brust. Beruhigend strich er über ihr Haar. Es fühlte sich gut an. Viel zu gut, auf verschiedene Art. Schwach sein zu dürfen. Und seine Nähe, sein Duft in ihrer Nase. Er war tatsächlich noch attraktiver als damals, sofern das überhaupt möglich war. Die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, hatte auf jeden Fall weiter zugenommen.
Vorsichtig löste sie sich von ihm, sah hoch in seine Augen.
„Ich kann nicht, Joshi. Wenn ich jetzt anfange zu weinen, werde ich nicht mehr aufhören. Ich muss stark sein. Mareen und Sven..."
„Weinen ist kein Zeichen von Schwäche, Katharina. Außerdem war sie deine Zwillingsschwester. Kein Mensch kann von dir verlangen, nicht zu trauern."
„Das verlangen sie auch nicht. Aber einer muss sich auch um alles kümmern. Und keiner sonst wird dazu in der Lage sein. Ich kenne meine Familie."
Joshua nickte. Ernst erwiderte er ihren Blick.
„Ruf mich an, wenn du etwas brauchst, okay?" Seine Hände ruhten warm auf ihren Schultern. „Das ist keine Floskel. Ich meine es ernst.“
„Wenn ich nur einen Euro von jeder Person bekomme, die mir das sagen wird, werde ich verdammt viel Geld zusammenbekommen, schätze ich." Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, gab sich betont schroff, um die verwirrende Nähe zu unterbrechen. Wenn sie bei der Arbeit so einen Tonfall anschlug, überschlugen sich quasi alle, um es ihr recht zu machen und ihre Laune wieder zu heben. Joshua hingegen zuckte nur unbeeindruckt mit den Achseln. Wenn es ihr nicht so schlecht gegangen wäre, hätte sie jetzt gelächelt. Sie mochte ihn wirklich gerne, hatte in der langen Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten, wohl ganz vergessen, wie sehr.
Mit einem Mal hatte sie es eilig, von ihm wegzukommen. Ihr hoffnungslos überfordertes Gehirn kam mit diesen Gefühlen gerade überhaupt nicht klar. Es war ihr einfach alles zu viel.
An der Tür drehte sie sich trotzdem noch einmal zu ihm um; konnte gar nicht anders. Er übte, wohl unbeabsichtigt, eine unwiderstehliche Macht auf sie aus, der sie sich nicht entziehen konnte; ähnlich der Kraft der Gravitation. Mühelos hielt er sie in seinem Bann, wie ein Fixstern die Planeten in seiner Umlaufbahn hält. Er lief nur wenige Schritte hinter ihr, sah bedrückt aus. Sie brachte es nicht fertig, ihn so gehen zu lassen, mit dieser traurigen Miene.
„Joshi."
„Hmm."
„Es ist wirklich schön, dich zu sehen. Ich... du hast mir echt gefehlt. Ich möchte dich schon gerne anrufen. Nach der ... Beerdigung. Ich kann gerade nicht... Kann mich gerade nicht auch noch damit befassen." Sie schluckte. „Ist das für dich in Ordnung?"
Der tiefe Blick aus seinen unfassbar schönen Augen traf sie erneut, seine Mundwinkel hoben sich leicht nach oben. Katharina spürte, wie der angespannte Ausdruck aus ihrem eigenen Gesicht ebenfalls wich.
„Natürlich. Ich werde am Telefon auf dich warten. Pass auf dich auf, Kati."
Er hauchte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und flüchtete sich fast in seinen Wagen.
Ein dunkler Mercedes. Natürlich.
Stumm sah sie ihm hinterher. Ihre Wange brannte an der Stelle, an der seine Lippen sie berührt hatten. Sie schüttelte unwirsch den Kopf, versuchte das unwirkliche Gefühl loszuwerden. Nein, solche Sehnsüchte, wie er in ihr weckte, konnte sie jetzt eindeutig nicht gebrauchen. Sie hatte genug andere Probleme.
Das Heim, das Bianca und Sven vor fünf Jahren gekauft hatten, war ein schönes, geklinkertes Einfamilienhaus, welches fast schon die Ausmaße einer kleinen Villa hatte. Die beiden hatten nach Biancas Betriebswirtschaftslehren-Studium ein äußerst erfolgreiches Unternehmen zusammen aufgebaut; eine Baufirma, die hauptsächlich Geschäfts- und Bürogebäude plante und baute. Bianca hatte unter Zuhilfenahme einiger Angestellter die komplette Buchhaltung geführt und auch neue Kunden angeworben, um den Rest kümmerten sich Sven und sein Team von Arbeitern. Zumindest bis jetzt war es so gewesen. Auch in der Firma hatte der Tod von Bianca wohl eine Lücke gerissen, die nicht so schnell zu schließen sein würde.
Katharina holte noch einmal tief Luft, bevor sie sich ein Herz fasste und auf den Klingelknopf drückte. Familie Korting, stand auf einem Türschild aus türkisfarben glasiertem Ton darüber. Bianca hatte ihren Mädchennamen unbedingt behalten wollen.
„Meine Schwester und ich leben hunderte von Kilometern auseinander", hatte sie zu Sven nach seinem Antrag gesagt. „Ich kann dir nicht genau erklären warum, aber ich möchte nicht anders heißen als sie. Irgendwie gehören wir als Zwillinge doch zusammen, wie die zwei Seiten einer Medaille."
Sven hatte sich ihrem Willen gebeugt und ihren Namen angenommen. Er hätte niemals anders heißen wollen als seine Frau und seine zukünftigen Kinder. Und es hatte ihm auch wirklich nichts ausgemacht. Sein friedfertiger Charakter war einer der Wesenszüge gewesen, die Bianca besonders an ihm geschätzt hatte. Sven war nicht der Typ Mensch, der zu allem ja und amen sagte, aber wenn er die Möglichkeit hatte, ging er einem Streit lieber aus dem Weg. Bianca war auch so gewesen. Katharina war in der Familie von jeher die Streitlustige gewesen, diejenige, die gerne diskutierte und vor allem gerne gewann.
„Hi Katharina.“
Katharina zuckte zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie die Haustür sich öffnete. Sven sah genauso furchtbar aus, wie sie sich fühlte. Kreidebleich, rotgeränderte Augen, unter denen tiefe Schatten lagen. Sie umarmte ihn stumm. Worte waren unnötig, sie hätte auch gar nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte. Auf gegenseitige Beteuerungen, wie leid ihnen das alles täte, konnte sie getrost verzichten.
„Wie kommt Mareen zurecht?", brach sie schließlich das Schweigen und löste sich aus der Umarmung.
Ein hilflos wirkendes Schulterzucken war die Antwort.
„Sie steht wohl unter Schock, denke ich. Sie hat seit gestern kaum was gesagt, wirkt fast apathisch. Ich glaube, sie will einfach nicht wahrhaben, dass ihre Mutter nicht wieder kommt; will es gar nicht realisieren. Ich ertappe mich selbst ständig dabei, zu lauschen, ob ich das Klicken höre, wenn ihr Schlüssel sich in der Haustür dreht."
Katharina nickte. Es musste ein entsetzliches, leeres Gefühl sein, wenn man wusste, dass der Mensch, mit dem man seit Jahren zusammenlebte, nicht zurückkam.
„Ich hab etwas Angst ihr gegenüber zu treten“, fasste sie ihre Bedenken in Worte. „Mein Anblick muss doch schrecklich schmerzhaft für sie sein. Ich meine, schaue mich doch an." Sie wies in einer stummen Geste auf ihr Gesicht.
Sven legte seine Hände sanft auf ihre Schultern.
„Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, ich sähe nicht auch Bianca vor mir, wenn ich in dein Gesicht schaue." Er sah ihr fest in die Augen. „Ein Teil von ihr wird immer in dir weiterleben. Aber das spendet mir eher Trost. Mareen wird das sicher genauso sehen."
Katharina musterte ihn genau. „Ich hoffe, du hast recht. Bring mich zu ihr."
*
Mareen saß in einem Sessel im Wohnzimmer, die Beine angezogen und starrte teilnahmslos ins Leere. Sie sah nicht einmal auf, als Sven, gefolgt von Katharina, den Raum betrat.
Ich weiß gar nicht, warum ich mir Gedanken um mein Aussehen mache. Mareen ähnelt Bianca doch fast genauso sehr wie ich. Sie sieht aus wie meine jüngere Schwester. Oder wie meine Tochter. Von Sven hat sie nicht viel mitbekommen.
„Mareen, Süße. Ich bin es, Katharina." Katharina kniete sich vor ihre Nichte hin, sah ihr von unten in die Augen. „Es tut mir so leid." Sie begann zu weinen. "Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen."
Mareens Augen hatten bei ihrem Anblick kurz aufgeleuchtet; jetzt waren sie wieder wie tot. Als hätte der Mörder, der Bianca umgebracht hatte, auch ihre gesamte Lebensenergie mitgenommen.
Katharina legte die Arme um ihre Nichte. Ihre Tränen tropften in Mareens blondes Haar. Einen Moment lang lag Mareen steif in ihren Armen, ohne sich zu rühren, dann ließ sie sich schwer gegen ihre Tante sinken. Ihr kleiner Körper wurde von krampfartigen Schluchzern geschüttelt. Katharina fühlte, wie Tränen durch ihr blaues T-Shirt drangen. Sie ließ sie still weinen; hoffte, dass es ihr gut tun würde, ihre Trauer rauszulassen.
Eine scheinbare Ewigkeit später spürte sie, wie das Schluchzen ihrer Nichte langsam abebbte, zu einem Schniefen wurde. Kurze Zeit darauf richtete sie sich unbeholfen auf.
„Ich bin froh, dass du hier bist." Mareen rieb sich mit dem Handrücken über die Wangen, eine Geste, die sehr kindlich wirkte. Aber sie war ja auch noch ein Kind. „Du hast mir gefehlt."
„Du hast mir auch gefehlt.“ Zärtlich drückte Katharina ihre Lippen auf Mareens Scheitel.
„Wann kommt meine Mutter denn an?", richtete sie das Wort an Sven, der sich auf die äußerste Kante eines Stuhles an den Esstisch gesetzt hatte, so als wolle er jeden Augenblick aufspringen und aus dem Raum rennen.
Will er wahrscheinlich auch. Wer nicht? Oder noch besser endlich aufwachen aus diesem Albtraum.
„Morgen erst.“ Sven fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkelblondes Haar, brachte es noch mehr durcheinander als es eh schon war. „Ich glaube sie..." Er rang sichtlich nach den richtigen Worten.
„Muss erst von ihrem Medikamentenrausch runterkommen?" Katharina sah ihn traurig und missbilligend zugleich an.
Sven nickte.
„Sie war völlig verzweifelt am Telefon. Wer kann es ihr auch verdenken? Erst ihr Mann, jetzt ihre Tochter. Bei der Beerdigung eures Vaters hat sie sich auch schon in Medikamente geflüchtet."
Katharina wollte noch etwas hinzufügen, aber Sven warf ihr einen warnenden Blick zu. Nicht vor Mareen, sagte sein Blick. Sie verstand ihn gut. Mareen hatte gerade ihr Mutter verloren, da brauchte sie nicht zu wissen, dass es um die Psyche ihrer Oma zurzeit nicht zum Besten bestellt war.
„Sven, könntest du mir kurz helfen, meine Sachen ins Gästezimmer zu bringen?" Katharina hoffte, dass er den Wink verstand. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich endlich jemanden über Biancas Anruf anzuvertrauen. Zeitweise meinte sie immer noch, die von Panik erfüllte Stimme ihrer Schwester in ihrem Kopf widerhallen hören zu können. Sie musste wissen, wie Sven darüber dachte, ob er etwas wusste, Licht ins Dunkel bringen konnte.
„Warum sagst du es nicht einfach, wenn du dich mit Papa ohne mich unterhalten willst?" Mareens Tonfall klang leicht beleidigt. „Ich bin doch kein Kleinkind mehr."
Katharina schluckte. Sie fühlte sich, als würde etwas in ihrem Hals feststecken.
„Vor Bianca habe ich auch nie etwas geheim halten können. Scheint so, als würde das auch auf dich zutreffen, Süße."
Besänftigend strich sie ihr ein paar zerzauste Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Aber es ist sehr wichtig. Und ich kann jetzt gerade nicht mit dir darüber sprechen."
„Jetzt nicht - oder überhaupt nicht?" Ein trotziges Funkeln war in Mareens Augen erschienen; verlieh ihnen Leben. Katharina war erleichtert. Alles war besser als dieser leere, tote Ausdruck, der so gar nicht zu einem neunjährigen Mädchen zu passen schien.
„Das weiß ich noch nicht genau. Aber ich verspreche, nicht mehr unehrlich dir gegenüber zu sein." Nachdenklich blickte sie ihre Nichte an. „Ich hab so das starke Gefühl, als hätte das eh keinen Sinn und du würdest sowieso jede meiner Lügen durchschauen."
*
Sven hatte sich ihre Reisetasche über die Schulter gehängt und folgte ihr die Treppe hinauf ins Gästezimmer. Es war ein großzügiger, lichtdurchfluteter Raum, der in einem warmen, hellen Gelbton gestrichen war. Auf dem Boden lag ein dunkler Laminatboden, vor der Fensterfront, die auf den kleinen Balkon wies, standen weiße Korbsessel mit blass-blauen Polstern und ein dazu passender Tisch. Bianca hatte Wert auf ein schönes Gästedomizil gelegt, da sie wusste, dass Katharina öfter darin wohnen würde, wenn sie zu Besuch in Münster war. Jetzt würde dieser Raum ihr Zuhause für die nächsten paar Wochen sein.
Was ist denn jetzt so wichtig, Katharina?"
„Gleich. Einen Moment." Katharina zog die Tür leise, aber bestimmt hinter sich zu. Dann drehte sie sich zu ihm um. „Ist die Polizei sicher, dass es sich um einen Raubüberfall handelt?"
„Katharina! Würdest du mir bitte sagen, was los ist! Was willst du andeuten?"
„Okay. Es ist nur..." Sie verschränkte unsicher die Hände ineinander, spreizte die Finger ab. Dann atmete sie noch einmal tief durch.
„Vorgestern Abend ging ein Anruf von Bianca auf mein Handy ein. Sie hinterließ eine Nachricht auf meiner Mailbox. Das muss nur ein oder zwei Stunden vor ihrem Tod gewesen sein. Sie hatte offensichtlich panische Angst. Sie sagte irgendetwas davon, dass sie etwas herausgefunden hätte oder so... Aber was, hat sie nicht gesagt! Wäre doch bloß mein blödes Handy nicht kaputtgegangen! Vielleicht würde sie dann noch leben!" Katharina stockte, sah zu ihm auf. Svens haselnussbraune Augen schauten völlig verwirrt.
„Was?! Ein Anruf? Bist du sicher? Ich habe sie doch noch gesprochen, bevor sie zum Joggen ging. Sie hat nichts gesagt. Sie wirkte ganz normal, wie immer!"
„Ob ich mir sicher bin? Wie sollte ich mir nicht sicher sein? Ich erkenne doch die Stimme meiner eigenen Schwester! Sie hatte Angst! Und kurze Zeit später wurde sie ermordet! Das kann doch kein Zufall sein!"
Mittlerweile ging sie unruhig im Zimmer auf und ab. Ihre Arme und Beine kribbelten vor rastloser Energie.
Sven schüttelte vehement den Kopf.
„Du musst dich irren, Katharina. Vielleicht war es etwas völlig Harmloses, was sie herausgefunden hat. Möglicherweise irgendetwas mit Mareen. Vielleicht hat sie Mist gebaut und Bianca war nur aufgeregt oder so etwas. Himmelherrgott wir sind hier doch nicht in irgendeiner Fernsehserie!"
„Was ist denn bloß los mit dir, Sven?!" Katharina musterte ihren Schwager ungläubig. „Ist es dir etwa egal, ob jemand Bianca vorsätzlich ermordet hat? Ich weiß, du hast viel durchgemacht in letzter Zeit. Erst Martin und jetzt Bianca, aber trotzdem finde ich..."
„Lass Martin da raus!" Seine Stimme durchschnitt förmlich die Luft . Katharina hielt erschrocken die Luft an; doch die Wut war bereits wieder aus seinem Gesicht gewichen, ebenso schnell, wie sie gekommen war.
„Tut mir leid. Ich will doch nur Bianca in Frieden begraben und irgendwie weitermachen! Ist das denn so falsch?"
„Nein, das ist verständlich. Ich will das doch auch! Aber bevor du dir ein Urteil bildest, solltest du dir vielleicht den Anruf selbst anhören." Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, stellte den Lautsprecher an und wählte die Nummer der Mailbox.
Einen Augenblick später hallte Biancas angsterfüllte Stimme den Raum.
„Kati, ich bin es! Ich weiß du bist nicht da. Aber ich brauche dich!"
Den Rest der Nachricht ließ Katharina mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Sie kannte den genauen Wortlaut, auch ohne sich die gesprochenen Sätze ihrer Schwester noch einmal anhören zu müssen. Jede einzelne, panische Silbe hatte sich für immer in ihr Gehirn gebrannt, so schien es ihr.
Biancas Worte auf dem Band verklangen. Sven ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken und schlug die Hände vor sein Gesicht.
„Verstehst du mich jetzt? Bianca hatte offensichtlich große Probleme! Und große Angst! Willst du mir wirklich erzählen, du glaubst dass ihre einzige Sorge darin bestanden hätte, dass Mareen ihr zehn Euro gemopst hätte oder etwas ähnlich Belangloses?!"
Sven sah sie von unten an.
„Nein, das glaube ich nicht." Er massierte sich mit der linken Hand die Schläfen. „Aber spielt das wirklich noch eine Rolle? Sie ist tot! Wir werden niemals herausfinden, was mit ihr los war! Wir können sie ja wohl schlecht fragen!"
Katharina setzte sich aufgewühlt neben ihn. Sie wollte ihm ein paar Minuten Zeit geben, alles zu überdenken, auch wenn es ihr schwer fiel. Geduld war nie ihre Stärke gewesen. Ungeachtet dessen, ihn jetzt unter Druck zu setzten würde wohl mehr schaden als nützen. Unauffällig versuchte sie ihn von der Seite zu mustern.
Er sieht wirklich mehr als fertig aus. Was ist bloß los mit ihm? Er kann doch nicht wirklich von mir verlangen, so zu tun, als hätte es den Anruf nie gegeben! Sie war meine Schwester!
Ein paar Minuten verstrichen schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Dann ergriff Sven erneut das Wort.
„Es tut mir wirklich leid. Aber meiner Meinung nach ist das alles ein Zufall. Und willst du Mareen wirklich sagen, ihre Mutter wäre vorsätzlich ermordet worden? Weil sie irgendein ominöses Geheimnis hatte? Sie wird sich zu Tode ängstigen!" Er schüttelte fest entschlossen den Kopf. „Das kann ich nicht zulassen."
Katharina wusste beim besten Willen nicht, was sie darauf sagen sollte. Fassungslosigkeit, Bestürzung und Wut rangen in ihrem Inneren um die Vorherrschaft über ihre Gefühle.
„Darauf wirst du wohl keinen Einfluss haben." Sie sprach leise, aber bestimmt; unterstrich ihre Aussage mit einer resoluten Bewegung ihrer rechten Hand. Sie hatte sich entschieden, bereits als sie das erste Mal Biancas ängstliche Stimme vernommen hatte. Sie musste die Wahrheit wissen!
In diesem Moment hörte sie Mareen von unten rufen: „Katharina! Die Polizei möchte dich sprechen!" Ihre Stimme zitterte leicht.
Rasch erhob sie sich, strebte Richtung Tür.
Danke Mareen. Das kam einer Rettungsaktion gleich.
Sven griff nach ihrem Handgelenk.
„Ich weiß, was die Polizei von dir will. Sie möchten, dass du morgen zu einem Gespräch vorbeikommst, damit sie den Fall abschließen können. Bitte, bitte steh dem nicht im Weg. Mareen zu liebe. Sie hat es auch so schon schwer genug."Katharina zog ihren Unterarm aus seinem Griff, wandte sich wortlos ab. Mit der letzten Bemerkung hatte Sven vorsätzlich an ihr Gewissen appelliert, um sie zu manipulieren. Oder ging es ihm wirklich nur um Mareen? Sven war doch nicht so ...berechnend.
Diese Gedanken rasten, ebenso wie tausend andere, mit bedenklicher Geschwindigkeit durch ihren Kopf; wollten sich nicht sortieren lassen. Das Chaos in ihrem Schädel machte sie völlig konfus. Dennoch, sie wusste, was sie wollte.
Nein, ich kann das auf keinen Fall auf sich beruhen lassen. Ich bin es Bianca schuldig herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Ich muss es zumindest versuchen.
Das Polizeipräsidium in der Gutenbergstraße war ein hübsches, hell verputztes Gebäude mit großen, oben abgerundeten Fenstern und einem halbrunden Erker als Eingang. Katharina hatte sich eine Polizeiwache immer ganz anders vorgestellt. Viel nüchterner und praktischer irgendwie.
Auch der zuständige Beamte entsprach so gar nicht dem allgemein gängigem Bild des gemütlichen, Donut und Kaffee verzehrenden, übergewichtigen und Schnurrbart tragenden Wachtmeisters. Im Gegenteil. Der Polizist Dominik Heusler war ein attraktiver Mann, Anfang
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7668-5
Alle Rechte vorbehalten