Bis vor Kurzem lebte ich in dem Glauben in einem 100-Seelen-Dorf zu wohnen, in dem jeder jeden kennt und das Spannendste, was je passieren könnte, die Tatsache sei, dass der örtliche Kleintierzüchterverein einmal nicht die Meisterschaft der prächtigsten Exemplare überfütterter Karnikel gewann.
Als dann vergangene Woche im Gemeindeblatt verkündet wurde, ein Zirkus käme ins Dorf, war ich begeistert. Das letzte Mal, dass ich einen Zirkus besucht hatte, war zwar erst vor drei Wochen gewesen, als ein türkischer Bekannter geheiratet hatte, aber in Anbetracht dessen, dass ich dieses Mal freiwillig hinging, war ich frohen Mutes.
Ich beschloss, meiner kleinen Nichte mal wieder eine Freude zu bereiten und mit ihr hinzugehen. Sophie war natürlich sofort begeistert.
„Oh ja, ich will unbedingt die Ponys sehen. Sag schon, gibt es da welche?“, hüpfte sie aufgeregt von einem Bein auf das andere.
An diesem Samstag war es dann soweit. Ich holte Sophie ab und wir marschierten zu Fuß in Richtung Zirkus. Schon von Weitem konnten wir das riesige, bunte Zelt sehen und die drei blauen Spitzen, die wie Farbpinsel in den Himmel ragten. Die Leute wimmelten schon dicht an dicht auf dem kleinen Areal. Sofort legte ich einen Arm über meine Umhängetasche. Gott weiß, wie viele Kleinkriminelle heute wieder unterwegs waren. Zumindest sahen nicht alle Leute hier so aus, als seien sie wegen der Ponys gekommen…
Sophie zog mich schon am Arm: „Kristin, können wir uns jetzt gleich die Ponys anschauen?“
„Nein Sophie“, erwiderte ich. „Die müssen sich jetzt auf ihren großen Auftritt vorbereiten, weißt du. Wir werden später nach der Vorstellung noch Zeit haben, uns alle Tiere anzuschauen. Einverstanden?“
Sophie nickte und zusammen schlenderten wir zum Eingang, wo schon ein junger Mann mit Zylinder stand und darauf wartete uns einzulassen. In weißer Voraussicht hatte ich die Karten gestern schon gekauft.
„Dankeschön“, quickte der junge Mann und gab uns unsere Karten zurück. „Ich wünsche Ihnen viel Spaß.“
Das Zelt hielt von innen, was es von außen versprochen hatte; es war riesig. Wir suchten uns die zwei besten Plätze in eine der vorderen Reihen aus.
Nach einer halben Stunde Warterei (mein Hintern tat mir jetzt schon weh!) ging es endlich los. Alle Scheinwerfer richteten sich auf den roten Vorhang. Trommelwirbel…und der Zirkusdirektor tauchte auf. Er hatte einen Stock in der Hand, einen Zylinder auf dem Kopf und einen Pinguin-Frack über den Schultern. Unter tosendem Applaus kündigte er die Showsensation des Jahres an: die Akrobaten-Gruppe „Fly High“. Danach kamen Tigerdompteure, Hochseilartisten, ein Fakir und eine Elefantendame. Nach jeder Performance fragte mich Sophie: „Kommen jetzt die Ponys?“.
„Bestimmt. Du weißt doch, das Beste kommt immer zum Schluss“, beruhigte ich sie.
„Und wie lange dauert es noch bis zum Schluss?“, nörgelte sie gelangweilt.
In diesem Moment stolperte ein Clown mit roter Nase und Perücke in die Manege.
„Schau mal, ein Clown“, sagte ich dankbar. Der würde sie zum Lachen bringen.
Und der Clown legte los. Sophie neben mir kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen.
Der Clown turnte in der Manege herum, schlug Purzelbäume und tat so, als stolpere er dauernd über seine eigenen Füße. Wirklich, ein lustiges Kerlchen. Ich ertappte mich, wie ich selbst schmunzeln musste, als er sich eine Gitarre schnappte und eine schräge Gesangseinlage hinlegte. Dabei stieg er auf einen Stuhl und balancierte auf einem Fuß, als auf einmal das Licht ausging.
Alle Mädchen fingen an zu kreischen. Dazu die Musik von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Trommelwirbel…
Als das Licht wieder anging, baumelte der Clown am Strick. Der Stuhl lag umgeworfen am Boden. Jetzt kreischten die Mädchen noch mehr. Schnell hielt ich Sophie die Augen zu.
Erst jetzt bemerkte ich den Zauberer, der im Kreis um den Clown herum hüpfte. Schadenfroh lachte er laut. Es gab Beifall, als der Zauberer den Clown wieder zum Leben erweckte und dieser schnell aus der Manege flüchtete.
Nach dem Zauberer kamen noch die Ponys. Dann war die Show vorüber.
Alle standen sofort auf und drängten zum Ausgang. Sophie wollte jetzt natürlich zu den Ponys; es gab die Ankündigung, man könne für wenig Geld auf ihnen reiten. Na toll…
„Aber ich muss zuerst noch aufs Klo, Tante Kristin“, ließ Sophie mich wissen.
Kleine Kinder und ihre schwachen Blasen, dachte ich mir nur.
Ich schleppte sie also zum Klo, aber da wir mit der letzten Menschentraube aus dem Zelt gekommen waren, herrschte dort schon ein riesen Andrang. Ich blickte mich um und mir kam eine Idee.
„Sophie“, sagte ich und bückte mich dabei zu ihr herunter. „Schau mal, dort drüben ist ein kleiner Wald. Geh doch dort kurz pinkeln, okay?!“.
Sie war einverstanden, solange sie so schnell wie möglich zu ihren Ponys kam. Zusammen gingen wir zum Waldrand und Sophie erzählte mir, sie wolle unbedingt auf dem weißen Pony reiten, das an den Füßen braune Kleckse hatte.
Während ich auf Sophie wartete, schaute ich mir das Spektakel von Weitem an. Eigentlich mochte ich keine Menschenmassen, aber bis jetzt hatte der Tag echt Spaß gemacht. Ich fragte mich, wie das Leben als Teil eines Wanderzirkus wohl war. Gab es da keinen Neid oder Uneinigkeiten? So etwas funktionierte doch nur dann, wenn alles harmonisch ablief…
Sophie riss mich aus meinen Gedanken. „Tante Kristin?“
„Ja, Sophie?“, erwiderte ich. „Bist du fertig? Die Ponys warten bestimmt schon.“
„Tante Kristin, ich kann da nicht pinkeln“.
Na toll. Nicht, dass kleine Kinder schwache Blasen hatten. Nein, sie waren auch noch verwöhnt. Ich rollte mit den Augen.
„Wieso nicht?“, fragte ich in einem ungewollt harschen Ton.
„Ich kann nicht, wenn jemand zuschaut“, war ihre Antwort.
„Ich habe nicht gespickelt“, versicherte ich ihr. „Ehrlich“.
„Nein, nicht du. Der, der da hängt.“
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Mit einem unguten Gefühl betrat ich selbst den Wald und schaute mich um. Gerade wollte ich rufen: „Da ist nichts. Das sind nur die Schatten der großen Bäume, die du gesehen hast.“ Da entdeckte ich ihn. Er hing einige Meter weit entfernt an einem dicken Ast des höchsten Baumes. Die Augen hatte er weit aufgerissen, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
„Kommt der Zauberer auch gleich?“, rief Sophie von draußen.
Ich stand da und starrte immer noch den Clown an, der da hing, wie vorhin in der Manege – nur mit dem kleinen Unterschied, dass kein Zauberer der Welt ihn je wieder zum Leben erwecken könnte.
Schnell lief ich nach draußen. Ich nahm Sophie an der Hand und zerrte sie weg.
„Gehen wir jetzt zu den Ponys?“
„Nein, aufs Klo.“
„Aber da ist doch so viel los.“
„Ja, und deshalb bring ich dich jetzt heim.“
„Ich will aber reiten“, plärrte Sophie.
„Morgen.“
„Nein, jetzt.“
„Sophie, halt den Mund. Ich gehe morgen mit dir reiten.“
Auf dem Heimweg machte ich einen Bogen um den Zirkus. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ein toter Clown und fröhliches Treiben auf dem Zirkusgelände. Hatte noch niemand das Verschwinden des Clowns bemerkt?
Nachdem ich Sophie bei meiner Schwester abgeliefert hatte, ging ich nach Hause und stellte mich erst einmal unter die Dusche. Ganz so, als könnte ich dadurch meine Erinnerungen an das Gesehene abwaschen. Das kalte Wasser rann meinen Körper hinab, es perlte eiskalt an meiner Haut und ich überlegte, wann jemand die Leiche finden würde.
Mit einem Tee setzte ich mich ans Fenster. Ich trank Tee in jeder Lebenslage, aber in Anbetracht der Situation hätte ich vielleicht noch einen Schuss Whisky hineintun sollen.
Ich steckte im Zwiespalt. Sollte ich die Polizei informieren oder einfach so tun, als ob ich nichts gesehen hätte. Einerseits war es eigentlich meine Pflicht die 110 zu wählen, andererseits wollte ich nichts mit der Sache zu tun haben. Ich beschloss eine Nacht darüber zu schlafen, schließlich konnte die Leiche ja nicht weglaufen.
Ich schlug die Augen auf und das erste, an das ich dachte, war: Oh mein Gott, ich habe nicht geträumt, dass ein Clown tot in unserem kleinen Dorfwald hängt!
Bis zum Mittagessen hatte ich mich noch immer nicht entschieden, was ich tun sollte. Gerade schaufelte ich mir eine Portion Spaghetti Bolognese auf den Teller, als es an der Tür klingelte.
Oh nein, das ist die Polizei. Sie haben die Leiche gefunden und jetzt musste ich mit aufs Revier, weil ich meinen Fund verschwiegen habe.
„Mach dich nicht lächerlich Kristin“, sagte ich laut und bestimmt. „Niemand weiß, dass du dort warst.“ Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich die Tür öffnete. Mein Gefühl bestätigte sich. Sophie und ihre Mutter standen vor mir.
„Hallo Kristin“, sagte meine Schwester. „Sophie sagt, du hättest ihr versprochen, dass ihr heute Pony reiten geht.“ Sie sah mich fragend an.
„Ja…äh“, druckste ich herum.
„Super“, fiel sie mir ins Wort. „Ich habe noch etwas zu erledigen. In zwei Stunden bin ich wieder daheim; dann kannst du sie bei mir abliefern. Sie gab Sophie noch einen Kuss auf die Wange und weg war sie. Sophie grinste mich schelmisch an.
Auf dem Weg zum Zirkus dachte ich mir, dass wenn ich Glück hatte, jemand anderes die Leiche schon gefunden hatte und der Zirkus vielleicht geschlossen hatte. Falsch gedacht. Als wir um die Ecke bogen, erstreckte sich das gleiche große Treiben wie gestern vor uns.
Mir hätte klar sein müssen, dass ich vor einer Entscheidung nicht davonlaufen konnte.
Ich schickte Sophie schon einmal vor zu den Ponys und versprach ihr, gleich nachzukommen, sobald ich Zuckerwatte für uns beide geholt hatte.
Natürlich ging ich nicht zum Zuckerwattestand, sondern steuerte schnurstracks auf das kleine Waldstück zu.
Je näher ich dem Tatort kam, desto mehr schlotterten mir die Knie und ich hatte Mühe beim Laufen das Gleichgewicht zu halten. Von Weitem musste es aussehen, als hätte ich ein bisschen über den Durst getrunken.
Jetzt stand ich wieder an dem Ort, an dem ich gestern auf Sophie gewartet hatte. Apropos, Sophie…scheinbar war ihr nicht bewusst, dass der Clown wirklich tot war oder sie steckte es einfach nur gut weg. Auf jeden Fall wunderte ich mich, warum sie keinen Mucks mehr dazu gesagt hatte. Vielleicht hatte sie am Ende genauso Angst wie ich und wollte am liebsten alles vergessen.
Bevor ich das Waldstück betrat und einen Blick auf den Tatort wagte, fasste ich einen Entschluss: Sollte die Leiche immer noch da sein, würde ich die Polizei rufen. Wegsehen konnte ich jetzt nicht mehr.
Langsam betrat ich das Todesareal. Schritt für Schritt. Nicht zu schnell. Nach ein paar Metern war ich am Tatort angekommen. Ich stand jetzt hinter dem Baum, an dem gestern der Clown hing. Mit beruhigenden Atemübungen schloss ich die Augen und beugte mich vor. Während ich mich am Stamm des alten Baumes festkrallte, hielt ich ein Auge zugekniffen und öffnete das andere leicht. Ich musste mich zwingen überhaupt hinzusehen.
Aber dann…die große Überraschung: die Leiche war weg.
Mir wurde heiß und kalt zugleich, ein Schweißausbruch nach dem nächsten bahnte sich seinen Weg wie kleine Springfontänen aus allen meinen Poren.
Ich senkte meinen Blick das letzte Mal auf die verlassene Fundstelle und drehte mich gerade zum Gehen um, da entdeckte ich etwas. Es war nicht groß. Nur ein kleines, zerrissenes Papier. Ich hob es auf, schüttelte den Dreck ab und vergaß dabei, was ich im „Tatort“ immer gelernt hatte: niemals ein Beweisstück mit bloßen Händen anfassen. Als ich las, was darauf stand, klappte mir der Mund auf: Wer zuletzt lacht, lacht am besten!
Auf dem Rückweg zum Hauptgelände merkte ich, wie meine anfängliche Angst, nachdem die Leiche verschwunden war, so langsam einer gewissen Neugierde wich. Ein echter Kriminalfall und ich live dabei. Das hatte man auch nicht alle Tage, vor allem nicht auf dem Dorf. Ich begann mir Fragen zu stellen, die mir vorher nicht in den Sinn gekommen waren. Was für eine Person steckte hinter dieser Clown-Maskerade? War dieser Mann im echten Leben womöglich ein unlustiges, humorloses Ekel, das sich durch seinen Egoismus und seine Einbildung viele Feinde gemacht hatte innerhalb der Zirkus-Truppe? Hatte er Familie, Freunde, die ihn vermissen würden? Ich konnte mir vorstellen, dass man bei so einem Leben, das sich ständig an eine neue Atmosphäre, eine neue Umgebung und neue Menschen anpassen musste, wenig Zeit hatte, sich etwas Privates aufzubauen.
Aber die bedeutendste Frage war nun: Von wem stammte dieser Zettel, wer hatte ihn geschrieben? Zur Sicherheit hatte ich ihn mitgenommen. Bei jedem meiner Schritte rutschte er in meiner Hosentasche hin und her im Gleichschritt mit meinem Gewissen. Schließlich sollte ich eher die Polizei über die verschwundene Leiche informieren, als mit einem Beweisstück für einen Mord in der Hosentasche einen auf Sherlock Holmes für Arme zu machen. Aber würden die mir glauben? Schließlich war ich die einzige, die davon wusste und es mit eigenen Augen gesehen hatte – außer dem Mörder natürlich. Aber dass der sich von allein stellte war unwahrscheinlich. Wenn man so einen Zettel hinterließ musste man kaltblütig und ohne Mitgefühl sein. War der mysteriöse Zettelschreiber am Ende auch für das Verschwinden der Leiche verantwortlich?
Mit meinem letzten Gedanken kam ich am Zuckerwattestand an. Ich nahm zwei pappige himmelblaue Wolken an langen Holzstielen und bezahlte sie.
Ich kam gerade rechtzeitig; Sophie war an der Reihe. Nachdem sie drei Runden geritten war, schlichen wir zusammen über die Wiese und stopften uns dieses pappige, süße Zeug, das sich nicht umsonst Zuckerwatte nannte, in unsere hungrigen Münder.
Gerade wollte ich vorschlagen zu gehen, da fing Sophie an zu kreischen. Kurz darauf setzte ein zweites Kreischen ein und ihre beste Freundin Lena stürmte auf uns zu. Nach einer überschwänglichen Begrüßung fragte mich Sophie mit Dackelblick: „Darf ich Lena die Ponys zeigen? Wir schauen auch nur…“ und setzte nach: „Bitteeee“.
„Okay, okay, von mir aus“, erlaubte ich es und gab mich als die liebe Tante, die nichts verbot. Das hieß zwar für mich, dass ich noch länger hierbleiben musste und jetzt sogar zwei kleine Mädchen an der Backe hatte, dafür war ich aber spätestens ab jetzt Sophies Lieblingstante.
„Also, gehen wir“, sagte ich und machte Anstalten in Richtung Ponys zu laufen.
„Tante Kristin, können wir alleine gehen?“, hakte Sophie ein.
„Meine Eltern sind auch ganz in der Nähe“, bestärkte Lena Sophie in ihrer Frage.
Ich hatte nichts dagegen. Immerhin waren die Mädchen nicht mehr sooo klein und außerdem konnte ich die Zeit nutzen, um mich ein bisschen genauer umzusehen.
Es gab Dinge, die man nicht wahrnahm, wenn man als normaler Besucher hierherkam, wenn man aber gerade eine Leiche gefunden hatte, die unmittelbar mit dieser ganzen Szenerie hier in Zusammenhang stand, betrachtete man vieles unter einem neuen Gesichtspunkt. Zum Beispiel entging mir dieses Mal nicht, wie der Zylinder-Mann vor dem Zelt jedes Mal ein künstliches Lächeln aufsetzte, wenn er Besucher willkommen hieß und wie er, sobald sie wieder verschwunden waren, ein Gesicht machte, das besser zum Fahrer eines Leichenwagens gepasst hätte.
Jetzt, da ich aber mitten unter den ganzen Leuten stand und nur das zu sehen bekam, für das ich auch bezahlt hatte – sprich Unterhaltung und Spaß – fragte ich mich, wo ich anfangen sollte zu recherchieren. Nichts schien hier besonders verdächtig. Natürlich nicht. Hatte ich erwartet, dass es einfach werden würde? Dass der Täter hinter dem nächsten Zelt hervorspringen und sich mir mit Handkuss vorstellen würde? Ich setzte mich wieder in Bewegung und ging ein paar Schritte. Rumstehen half ja am wenigsten. Aber schon nach einigen Metern blieb ich wieder stehen. Ich war bei den Wohnwagen der Crew angekommen. Plötzlich flog neben mir eine Tür auf.
„Ach, lass mich in Ruhe. Du spinnst ja! Du bist ja verrückt!“
Die schöne Frau, die gestern in der Vorführung noch am Trapez hing, stapfte nun sichtlich wütend und mit hochrotem Gesicht die Stufen des Wohnwagens herunter und in meine Richtung. Als sie mich erblickte, hielt sie kurz inne und blieb stehen, dann so als sei nichts gewesen, lief sie zehn Zentimeter neben mir vorbei ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich konnte einen warmen, leichten Windhauch spüren und der Duft von Parfum kitzelte mich in der Nase. Ich sah zum Wohnwagen, aus dem sie gekommen war; ein Mann mittleren Alters war in der Tür erschienen. Ich glaubte ihn, als den Zauberer von gestern zu erkennen. Ohne seinen Zylinder und die Schminke sah er nicht mehr so jung aus; das Deckhaar ging schon leicht zurück und er sah blass und abgekämpft aus.
Er hatte mich noch nicht entdeckt, da es mittlerweile leicht dunkel geworden war. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür des Wohnwagens nebenan und der Zirkusdirektor trat heraus. Ich hatte das Gefühl, dass er herüber schaute, doch auch er erkannte mich nicht. Stattdessen rief er zu dem jungen Mann hinüber: „Was ist los, Johnny? Habt ihr schon wieder Streit?“
„Nein“, schallte es durch die Dämmerung. „nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Ich sag` dir, wenn das schon wieder losgeht, muss ich einen von euch rausschmeißen. Das ist euer verdammter Arbeitsplatz und ihr müsst endlich lernen Privates und Berufliches zu trennen.“
„Schon verstanden“, die Stimme des jungen Mannes wurde ruhiger. „Sag mal, hast du etwas von Markus gehört? Ich habe ihn seit der Vorstellung gestern nicht mehr gesehen und in seinem Wohnwagen ist er auch nicht.“
Ich wurde hellhörig. Markus musste der Clown sein. Jetzt wollte ich es genauer wissen. Auf leisen Sohlen schlich ich mich näher und versteckte mich hinter einem gegenüberliegenden Wohnwagen.
Jetzt kam der Zirkusdirektor zu dem Mann herüber. Anscheinend wusste er etwas und wollte nicht, dass man ihn hörte. Trotzdem konnte ich jedes Wort verstehen, das er ausspukte, als sei es heiß in seiner Kehle: „Markus ist tot.“
Mir lief ein Schauer den Rücken hinab. Hatte ich hier etwa den Mörder vor mir? Würde er gleich ein Geständnis ablegen? Wenn ja, was sollte ich tun? Ich konnte ja nichts beweisen. Was hätte Sherlock getan, fragte ich mich.
Weiter kam ich aber auch nicht in meinen Gedanken. Die zwei Männer gingen in den Wohnwagen und schlossen die Tür hinter sich. Obwohl ich Angst hatte, wie noch nie zuvor in meinem Leben, schlich ich näher heran und kauerte mich unter das gekippte Fenster. Und obwohl ich die beiden nicht mehr sah, konnte ich ausmachen wer wer war. Der Zirkusdirektor hatte eine tiefe, raue Stimme, die des anderen wirkte unnahbar.
„Was hat das zu bedeuten“, wollte der Mann wissen.
„Ich weiß es nicht. Gestern habe ich einen Abendspaziergang gemacht, als die Besucher schon alle weg waren und da habe ich seine Leiche im Wald gefunden“, antwortete der Zirkusdirektor.
„Ist sie noch dort?“
„Nein.“ Der ältere der beiden machte eine kleine Pause. „Ich habe sie fortgeschafft.“
„Wo ist sie jetzt?“
Für mein Befinden wirkte der junge Mann viel zu gefasst. Klar, er war Zauberkünstler und er konnte jeden Ort zu seiner Bühne machen, aber mir kam er verdächtig vor.
Jetzt gab es zwei Verdächtige. Wer war der Mörder? Der, der die Leiche weggeschafft hatte oder der, den der Tod eines Kollegen kalt zu lassen schien?
Der Zauberkünstler war für mich einen Tick verdächtiger. Der Direktor hatte die Leiche zwar verschwinden lassen, aber es war unwahrscheinlich, dass er auch der Zettelschreiber war. Denn wenn es stimmte, dass er die Leiche erst entdeckt hatte, als alle Besucher gegangen waren, hatte er sie nach mir gefunden. Und es hätte doch wohl wenig Sinn gemacht, den Zettel zu hinterlassen, nachdem die Leiche weggeschafft wurde.
Der Direktor sagte gerade: „Ich habe sie unter meinen Wohnwagen gelegt. Was meinst du? Polizei anrufen oder uns die öffentliche mediale Ausschlachtung ersparen und ihm im kleinen Kreis die letzte Ehre erweisen?“
Somit war klar, dass der Direktor nichts mit dem Tod zu tun haben konnte. Niemals würde der Mörder vorschlagen die Polizei zu informieren.
Bevor ich aber die Antwort darauf hören konnte, merkte ich, wie sich eine starke Hand wie ein zu stark gewickelter Druckverband von hinten auf meinen Mund legte. Ich wollte schreien, aber es ging nicht. Ich wollte strampeln, aber die Gestalt drückte mich auf den Boden. Ich wollte hier weg, aber ich hatte keine Chance.
„Wenn du mich begleitest, ohne einen Mucks zu machen, hast du nichts zu befürchten“, flüsterte mir eine eisige Stimme, die meine Härchen dort zu Salzsäulen erstarren ließ, ins Ohr.
Natürlich wusste ich, dass man solchen Worten keinen Glauben schenken durfte. Aber welche Wahl hatte ich?
Weit mussten wir nicht gehen. Drei Wohnwägen weiter stand ein etwas kleinerer. Der Mann trat die Tür mit dem Fuß auf und schubste mich unsanft die Treppen hinauf. Dann kam er nach und schloss die Tür. Als er das schummrige Licht anmachte, erkannte ich ihn. Es war der freundliche Herr mit dem künstlichen Lächeln, der uns eine „schöne Vorstellung“ gewünscht hatte. Er schien sich nicht an mich zu erinnern.
„Was hast du hier zu suchen“, fragte er barsch und sah mich dabei argwöhnisch an.
„Nichts“, versuchte ich mich in eine harmlose Ausrede zu flüchten. „Es wurde dunkel und da habe ich mich verlaufen.“
„So so, verlaufen hast du dich“, säuselte er. Das machte mir Angst und ich wandte mein Gesicht von ihm ab.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede“, schrie er und packte dabei mein Gesicht. Ich konnte seinen Alkoholatem auf meiner Haut spüren. Seine Stimme wurde jetzt wieder ruhig und er kam mir vor, wie jemand, der seinen Verstand verloren hatte. „Es ist nicht gut für junge Frauen, wenn sie bei Dunkelheit alleine draußen herumlaufen. Gibt viel Verrückte in unserer Gesellschaft.“
Ich musste hier raus. Die einzige Chance dazu sah ich darin, dass ich in die Offensive ging.
„Was haben sie mit dem Clown gemacht“, platzte es aus mir heraus. Dabei sah ich meinem Entführer direkt in die Augen und versuchte allerlei Anzeichen von Angst zu vertreiben.
„Na schau mal einer an, du scheinst mir ja eine ganz Mutige zu sein“, sagte er ohne überrascht zu wirken. „Na ja, ich kann es dir gerne erzählen. Schließlich wirst du danach keine Gelegenheit mehr haben jemandem davon zu berichten.“ Sein Lachen kam eiskalt.
Auch wenn ich vor Angst hätte sterben können, so ließ ich mir nichts anmerken. Die Ruhe zu bewahren war meine einzige Chance lebendig aus dieser Sache hervorzugehen.
„Es war einmal“, begann der Verrückte zu sprechen. „Es war einmal ein junger Mann. Der junge Mann arbeitet beim Zirkus. Er erfüllte immer seine Pflichten und stellte nie Ansprüche. Seine Leidenschaft war es Leute zum Lachen zu bringen. Und dann gab es noch einen Mann, einen älteren. Er war der Chef-Clown und alle bewunderten ihn. Während der junge Mann jeden Abend die Besucher einlassen musste und jedem von ihnen gute Unterhaltung wünschte, bereitete sich der Chef-Clown auf seinen großen Auftritt vor. Als es dann soweit war, bogen sich die Leute vor Lachen und die Kinder vergötterten ihn. Dem jungen Nachwuchs-Clown schenkte niemand seine Aufmerksamkeit; er war ja nur da, um die Karten abzureißen. Eines Tages beschloss der junge Mann sich zu wehren. Er nahm ein Seil, suchte sich einen Baum aus und hängte den Clown daran auf. Und wenn sie nicht gestorben sind…oh, Moment, das passt hier nicht.“ Jetzt grinste der Verrückte breit.
Ich war sprachlos. Die Worte verendeten irgendwo zwischen Stimmbändern und Lippen.
Ich realisierte, dass es nichts brachte die Ruhe zu bewahren. Damit zögerte ich meinen eigenen Tod nur hinaus. Entweder ich unternahm einen Fluchtversuch oder ich wartete auf mein Ende.
Mein Glück war es, dass er mich nicht gefesselt hatte. Ich musste ihn irgendwie ablenken, um zur Tür zu kommen und mir so einen gewissen Vorsprung vor ihm zu verschaffen. Der Trick „Schau mal, da fliegt eine bunte Kuh!“ würde hier nicht funktionieren. Mein Entführer schien gerade ohnehin anderes zu entdecken. Langsam näherte er sich mir und begann an mir zu riechen. „Ich rieche Angst“, säuselte er. Das schien ihn anzumachen. Er schmiegte seinen Unterleib an meinen Rücken. In mir stieg der Ekel auf und ich entschied mich für die Flucht nach vorn. So laut ich konnte, begann ich zu schreien. Schnell hielt er mir die Hand vor den Mund; ich biss hinein. Er jaulte auf, dann wurde er sauer. Wütend drückte mich an die Wand. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einer hässlichen Fratze. Ich kniff die Augen zu und erwartete das Schlimmste, als aus dem Nichts die Tür direkt neben mir aufflog und der Zirkusdirektor und der Zauberer hereinstürmten. Zu zweit schafften sie es, meinen Entführer zu überwältigen und am Boden zu fesseln. Der Zauberer schien sich mit Knoten auszukennen. Nachdem er ihn am Stuhl angebunden hatte, während der Direktor den strampelnden Mann festhielt, wandten sich die beiden mir zu.
„Wer sind Sie“, ergriff der Zauberer das Wort.
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Er hat euren Clown umgebracht!“ Ich deutete auf den Gefesselten. „Und ich denke, wir sollten der Polizei sagen, dass seine Leiche nun unter Ihrem Wohnwagen liegt.“
Perplex schauten mich die beiden an, dann sahen sie sich gegenseitig in die fragenden Gesichter.
„Ich habe alles gehört und ich werde der Polizei sagen, dass sie beide nichts damit zu tun haben, wenn sie mir jetzt helfen.“
Ich hoffte die beiden würden ihrem Kollegen das letzte bisschen Stolz und Ehre gewähren und eine vernünftige Klärung des Falls ebenso wie ich für richtig halten.
Die beiden nickten nur stumm und griffen gleichzeitig zum Telefon.
Drei Tage später konnte ich nachts immer noch nicht ruhig schlafen, aber mein Gewissen war beruhigt. Ich hatte letzten Endes doch der Polizei die Sache überlassen und wie es schien kamen sie mit den Untersuchungen gut voran.
Sophie saß gerade neben mir und bastelte Kastanienmännchen. Als ihre Mutter sie gebracht hatte, hatte sie mir zugezwinkert und schnell die Tür zugemacht. „Wenn ich nächstes Mal wieder allein mit Lena losziehen darf, muss Mami nichts davon erfahren.“
Texte: Die Rechte an diesem Text liegen ausschließlich bei der Urheberin, Anja Zimmermann.
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist Rafael und Julia gewidmet.
Rafael, danke, dass du mir erlaubt hast den Clown als tragische Figur einzubauen.
Julia, danke, dass du mich bei diesem Projekt unterstützt hast.