Zack. Ihr Kopf schnellt zur Seite. Blut tropft auf die kalten Steinplatten. Sie hält sich das Gesicht. Ihre Tränen brennen so heiß auf ihren Wangen, als würden sie nie gestillt. Ihre Geschichte erzählt sich von selbst. Sie ist so grausam, so brutal, dass sie die Worte nicht aussprechen möchte, die beschreiben wie ihr geschah.
Sie sitzt im Bad und schaut in den Spiegel, der bis auf den Boden reicht. Ihre Klamotten liegen auf einem Haufen neben ihr. Zusammengesackt liegen sie da, so wie sie sitzt. Wenn sie aufschaut, blickt sie das Elend an. So jung sie auch ist, so alt wirkt ihr Gesicht. Der Ausdruck darauf, zu besorgt, zu furchig, zu erfahren für ihr Alter. Sie senkt ihr Haupt wieder zu Boden, den Anblick ihrer selbst erträgt sie nicht länger. Und doch ist sie es, die hier sitzt und nicht fassen kann, wie es so weit kommen konnte.
Nebenan sitzt er und leckt sich schon die Finger nach ihr. Lange darf sie sich nicht mehr Zeit lassen. Da werden die immer wütend. Zeit ist schließlich Geld – und für das Geld tut sie es ja. Sie zieht einen winzig kleinen Flakon aus ihrer Hosentasche neben ihr und legt ein paar Spritzer „Eau de toilette“ auf. Dann wirft sie sich einen Hauch von Nichts aus Samt über; der Stoff spielt ihr um die Beine und schmiegt sich an ihren Körper, als hätte sie nie etwas anderes getragen. Schnell streift sie noch ihre schweißnassen Hände an einem Handtuch ab.
Dann begibt sie sich in die Höhle des Löwen. In den Höllentopf des Grauens.
Da sitzt er auf dem Bett; gierig stieren seine Stielaugen ihre schlanke Silhouette an. Seine Blicke ziehen sie aus, noch bevor sie das Bett erreicht; sie kann es nicht ertragen ihm ins Gesicht zu sehen. Zu ekelerregend der Gedanke an das, was gleich geschehen wird. Jedes Mal muss sie von Neuem den Würgereiz unterdrücken, der in ihr aufsteigt, wenn einer von ihnen sie anfasst, ihre Haut berührt, als gäbe es nichts was er sich sehnlicher wünscht, ihr Hand streift, wie es sonst nur Verliebte tun…es tut, als sei es ihr Wille.
An ihrem Amazonen-Körper perlt das eiskalte Wasser wie Morgentau auf sattgrünen Blättern. Sie nimmt eine Hand klares Wasser und beruhigt ihre glühenden Wangen. Auch jetzt noch - nach 12 Jahren – verspürt sie nach jedem Mal das Gefühl alles von sich abzuwaschen. Sich reinzuwaschen. Fast so, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Vor 12 Jahren war es verboten, heute nicht mehr.
Früher hat sie sich währenddessen fast noch schlimmer gefühlt, als danach. Heut ist es anders herum. Heute ist das Schlimme nicht das „Während“, sondern das „Danach“. Danach kommt sie sich vor wie ein Hund. Ein Hund, der ein tolles Kunststück vorgeführt hat und danach dafür belohnt wird. Nur bekommt sie eben Geld statt Leckerli.
Dennoch… im Laufe der Jahre ist es fast schon zu einer Art gleichgültigen Routine geworden und sie erträgt es eben. So wie andere Leute von Haus zu Haus laufen und Post austragen, so wie es mancher Leute Aufgabe ist, den Müll von den Straßen zu fegen, so ist es ihr Job, still zu halten. Still zu halten, bis alles vorüber ist.
Nicht einmal in ihrem Leben hat sie etwas anderes getan, um an Geld zu kommen. Da nimmt sie es fast schon als Ironie des Schicksals, dass sie jetzt dafür belohnt wird.
Ihre Kunden haben mehr Geld, als noch vor ein paar Jahren; sie sind großzügiger als früher und immerhin hat sie inzwischen die Wahl, zu wem sie ins Auto steigt und zu wem nicht. Ein schwacher Trost für eine junge Frau, die nie gelernt hat, für sich selbst einzustehen.
Sie nimmt sich eines von den weichen Frottee-Handtüchern, die in solchen Hotels in den Badezimmern immer in Massen aufgebahrt sind auf und steigt anmutig aus der Dusche mit den milchig-durchsichtigen Glasscheiben. Schnell schlüpft sie in ihre Kleidung von gestern Abend, huscht durch die Edelsuite, streift sich ihren Mantel über und zieht ihre Stiefel an. Sie möchte weg sein, bevor er wieder kommt. In all ihren Jahren in diesem Beruf hat sie dazugelernt. Erstens: Küsse einen Klienten nie auf den Mund. Zweitens: Frage nie nach seiner Familie. Drittens: Nimm das Geld und verschwinde.
So tut sie es auch heute. Im Vorbeigehen schnappt sie sich die Scheine für ihre „Dienstleistung“ und schließt die Tür hinter sich. Feierabend.
Das Blut auf dem Boden hat sich inzwischen zu einer Lache angesammelt. Sie darüber gebeugt. Er ist betrunken. Das kommt vor. Aber warum hat sie es nicht früher bemerkt? Im Hintergrund hört sie ihn grölen und schreien. Er randaliert. Sie nutzt ihre Chance und ergreift die Flucht – ohne das Geld. Sicherheit geht vor.
Draußen auf dem Bürgersteig wischt sie sich mit dem Ärmel ihres dünnen Mantels die Tränen vom Gesicht. Ihr Beruf ist gefährlich. Er hat sie nicht mehr aus ihren Fängen gelassen. Und trotzdem ist er alles, was sie hat. Eine Nutte braucht nicht viel. Auch wenn sie edel ist…
Texte: Die Rechte an "Walking the streets" liegen ausschließlich bei der Autorin, Anja Zimmermann.
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
"Pretty Woman" lebe hoch!