Das Leben schreibt die besten Geschichten – heißt es.
Was soll ich sagen? Mein Leben hat es eindeutig übertrieben.
Auf dem Boden vor meinen Füßen liegen immer noch die Scherben einer längst vergessen geglaubten Freundschaft. Ein Bild einer einzigartigen Freundschaft. Beim Abnehmen ging es zu Bruch.
Vorsichtig wollte ich die Scherben aufsammeln und wegwerfen. Aber ich schnitt mich an den scharfen Kanten und letztendlich hatte ich mit der Sache länger zu tun, als geplant und eindeutig länger, als mir lieb war. Jetzt ein kaputtes Bild einer einzigartigen Freundschaft, die begann, als ich noch sabbernd und heulend bei meiner Mutter auf dem Arm saß. Da lernte ich meine beste Freundin kennen. Martha.
Wir sahen uns und spielten fortan jeden Tag miteinander, zumindest ist es das, was uns später immer wieder erzählt wurde. Und wirklich, seit ich denken konnte, waren wir unzertrennlich gewesen. Bis zu diesem einen Zeitpunkt, als wir unterschiedliche Pfade im Leben einschlugen.
Jetzt ist Martha tot. Und tausend ungestellte Fragen schweben im Raum zwischen Gegenwart (Erde) und Unendlichkeit. Man könnte denken, eine tiefe innige Freundschaft bis zum Tod, aber die traurige Wahrheit ist, dass sich unsere Wege schon vorher getrennt hatten. Nicht durch den Tod. Nein! Wir selbst hatten so entschieden. Aus welchem Grund, fragt ihr? Na, wenn ich das jetzt noch wüsste… Aber glaubt mir, diese Frage habe ich mir schon mehr als einmal gestellt. Und mehr als einmal habe ich stundenlang darüber nachgedacht und trotzdem keine Antwort gefunden. Kleine Nichtigkeiten, summiert, nicht mehr tragbar. Am Anfang hatte ich mich mindestens einmal in der Woche in mein Zimmer eingeschlossen und leise geweint. Ja, leise! Niemand sollte es mitbekommen; alles sollte so bleiben wie es war. Danach gefragt, warum ich, die Tür verschlossen, den ganzen Tag in meinem Zimmer saß, spinnte ich immer abenteuerlicher werdende Ausreden. Einmal hatte ich sogar behauptet, den Schlüssel nicht mehr finden zu können. Als ich aber dann wirklich eine halbe Stunde suchen musste, weil ich ihn nach dem Abschließen wutentbrannt durch den Raum gepfeffert hatte, wurde ich vorsichtiger mit dem was ich von mir gab. Aber eigentlich war es eh egal, was ich sagte, denn meine Eltern gaben sich meist schon zufrieden, wenn ich irgendetwas sagte. Okay, das Kind lebt noch. Kein Grund zur Sorge.
Damals saß ich gerade im Bus auf dem Weg nach Hause. Es war ein grauer Nachmittag im Herbst gewesen. Mein Blick fiel auf die Bäume, wie sie im Winde wehten und plötzlich konnte ich die Kälte spüren. Die Kälte, die mich vor Jahren schon einmal umgab. Nur dieses Mal schien sie penetranter, eisiger zu sein, als wollte sie mich noch ein letztes Mal umarmen und gleichzeitig warnen: „Zieh dich warm an. Die nächsten Tage wirst du frieren.“ Und tatsächlich sollte die Eiszeit für mich kommen, wenn auch nur innerlich…
Wenige Minuten später stieg ich an meiner Haltestelle aus. Schnurstracks lief ich los, ahnend, dass mein Weg Trauriges bergen würde. Trotzdem bog ich an der entscheidenden Stelle nicht auf den Schleichweg ab, den wir früher immer zusammen unsicher gemacht hatten. Und wie wir es früher immer zu zweit auf dem Nachhauseweg von der Schule getan hatten, balancierte ich jetzt allein auf dem schmalen Bordstein. Es war erst ein halbes Jahr her, dass wir das letzte Mal richtig miteinander gesprochen hatten. Eher zufällig hatten wir uns in dieser Zeit ein paar Mal gesehen, immerhin wohnten wir nur wenige Häuser voneinander entfernt. Die seltenen Male, die wir uns vor diesem halben Jahr gesehen hatten, hatten wir zwar auch nicht mehr viele Worte füreinander übrig gehabt, aber ein schlichtes „Hey“ war immer noch drin gewesen. In unserem verletzten Stolz war das jedoch das höchste der Gefühle gewesen.
„Hallo. Na, wie geht’s?“, überholte mich eine immer noch vertraute Stimme. Sofort hob ich den Kopf. Vor mir lief Martha im Stechschritt, als sei sie auf der Flucht. Und auch ihr flüchtiges „Hallo“ klang eher wie ein stures „Auf Nimmerwiedersehen“ und wie es mir ging wollte sie doch sowieso nicht wirklich wissen. Mein leises „Hi“ hörte sie schon gar nicht mehr. Sie war schon um die nächste Ecke gebogen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sie mich überholt hatte.
Zuhause angekommen, schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Ein halbes Jahr kein Wort von ihr und jetzt überforderte mich eine einfache Begrüßungsfloskel. Lächerlich. Traurig. Schade.
Das ganze Haus schien zu beben, als ich meine Stereoanlage bis zum Anschlag aufdrehte und aus den Boxen Rockmusik dröhnte. Kurz darauf klopfte es an meine Tür. Die Stimme meiner Mutter nahm ich durch die Tür nur als dumpfes Dröhnen wahr. Irgendetwas mit „Nachbarn belästigen und Schallwellentest“. War ja jetzt auch egal; es interessierte mich nicht, was die Nachbarn zu dem Sound meiner High-Tech-Stereoanlage zu sagen hatten. Beim zweiten Klopfen, das sich eher anhörte, als würde man mit einem Rammbock vorsichtig gegen ein Holztor docken, begriff ich dann, was sie wollte. Aber statt nur ein wenig leiser zu drehen, machte ich das Teil ganz aus, griff mir meinen iPod und meiner Kopfhörer und setzte mich mit meinem Stuhl neben das Fenster. Mit meinen Gedanken konnte ich jetzt nicht allein sein; das würde ich nicht ertragen.
Der zweite Blick aus dem Fenster an diesem Tag nur wenige Augenblicke nach dem ersten. Keine Wolken mehr zu sehen. Der Himmel jetzt tiefblau und unendlich. Ein einzelnes braunes Herbstblatt segelte durch die Lüfte nahe der sich im Wind wiegenden Bäume und fiel sanftmütig zu Boden. Da wusste ich; sie war tot. Das musste der Moment gewesen sein, in dem sie gestorben war. Und ich hatte nichts dagegen tun können – außer zusehen, wie die Zeit ihren vorbestimmten Lauf erfüllte.
Sofort hätte der Mond aufgehen können und von mir aus nie wieder mit der Sonne die Plätze tauschen.
In mir ging es dunkel zu. Mein Horizont voll schwarzer Wolken. Grau verhangene Nebelschleier zogen als Pulk in gleichmäßiger Eile an der silbern glänzenden Mondsichel vorbei gen Zukunft, um dort die Nacht anzukündigen, die sich so schnell nicht wieder dem Tag entheben würde.
Eine Träne rann mir die Wange entlang nach unten zu meinen Lippen, wo sie sich salzig in meinem Mundwinkel breit machte.
Schmerzlich erkannte ich, dass die schrecklichsten, unschönen Dinge im Leben einen ohne Anstrengung erreichten, wogegen man für sein Lebensglück kämpfen muss.
Wir waren vorsichtig gewesen. Und doch war das Bild der Freundschaft zerbrochen, das berühmte Band der Freundschaft gerissen. Nie war ein böses Wort gefallen. Nie hatten wir uns unter der Gürtellinie duelliert. Zumindest nicht nach außen hin. Denn was auch immer uns auseinandergetrieben hatte, wir hatten so viel zusammen erlebt, dass ich mich noch immer auf irgendeine Art und Weise verbunden fühlte mit ihr. Von der Grabbelgruppe in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Grundschule, von der Grundschule in die Realschule und zwischendurch noch einen Ausflug ins Kinderturnen, zu den Pfadfindern, ins Tanztraining: alles gemeinsam. Na ja, nach der Realschule war dann Endstation. Unsere Wege trennten sich. Normalerweise wäre es nicht außerordentlich schwer gewesen den Kontakt zu halten. Schließlich wohnten wir nur wenige Häuser voneinander entfernt und neuerdings gab es sogar solch eine neumodische Erfindung, die sich Telefon nannte. Aber genau zu diesem Zeitpunkt, als wir sowieso verschiedene Lebenswege einschlugen und uns nicht mehr jeden Tag in der Schule trafen, begannen wir auch noch uns nicht mehr zu verstehen. Wir erzählten uns nicht mehr alles, wir ließen uns Ausreden einfallen, warum wir keine Zeit hatten, uns zu treffen, wir fingen an zu streiten.
Ich kann mich noch erinnern, als wir einmal zusammen auf einer Pfadfinderfreizeit waren. Keine von uns, weder Martha noch ich, hatten Bock auf die kindischen Spiele, die diese Spurensucher sich immer einfallen ließen. Also, passten wir einen günstigen Moment ab, um uns von der Masse zu trennen. Wir irrten quer durch den Wald, bewarfen uns mit Moos und Dreck, hatten Spaß, solange bis wir dachten, es sei an der Zeit uns wieder unbemerkt zurück unters Volk der Versteckspieler zu mischen. Leider spielten die anderen Pfadfinder kein Verstecken mehr und hatten den Lagerplatz verlassen. Die Suche ging los, wobei später nicht wir die Gruppe, sondern sie uns fand. Natürlich blieb unser kleiner Ausflug nicht ohne Strafe. Den nächsten Tag mussten wir im Camp bleiben und sauber machen. Aber es war uns egal; wir hatten unseren Spaß gehabt und zu zweit war selbst Sauber machen keine richtige Strafe für uns. Solch einen Moment sollte es danach aber nicht mehr geben; und jetzt bereute ich, dass ich nicht um solche Momente gekämpft hatte. Zu schnell aufgegeben, einfach eingeknickt und nicht wieder aufgestanden.
Der dritte Blick aus dem Fenster. Im Haus gegenüber brannte Licht; die Fenster hell erleuchtet. Zwei einsame Seelen wohnten, zwei Herzen schlugen dort nebeneinander, nur getrennt durch eine dünne Wand. Aus meinem Körper huschte ein Licht und glitt leise hinüber in anderes Leben in der Mission zwei anderen Menschen eine wunderbare Bindung zu bescheren. Ein heller Lichtschaum erfüllte die Fenster und die Zeit nahm ihren vorbestimmten Lauf. Der Himmel jetzt wieder so hell wie das Strahlen hunderter Engel.
Später erfuhr ich vom Dorftratsch, dass Martha auf ihrem Weg von einem freilaufenden Hund angefallen worden war. Der Besitzer hatte noch den Krankenwagen gerufen, aber es war schon zu spät gewesen. So blieb mir nicht einmal die Möglichkeit mich im Krankenhaus von ihr zu verabschieden. Wahrscheinlich sollte unsere Begegnung wenige Minuten vor dem Unfall sowas wie ein Abschied sein – vom Schicksal geplant und von uns versaut.
Der Tag der Trauerzeremonie sollte der bis zu diesem Punkt in meinem Leben schlimmste in meinem Leben werden.
Wann hatte die Welt aufgehört sorglos zu sein? Und wann hatte sie angefangen uns mit ihren Problemen zu nerven? Ich schätze, als ich aufgehört hatte Kind zu sein und mein Bewusstsein sich einen Rucksack umgeschnallt hatte, um Abenteuer zu erleben.
Als ich angefangen hatte mein Leben alleine in die Hand zu nehmen.
Da hatte mein Leben angefangen Freundschaften zu kosten!
Manchmal wünschte ich mir wie Katzen sieben Leben zu haben. Eins zum Entdecken, eins zum Spaß haben, eins zum Freundschaften schließen, eins, um Dummheiten zu begehen, eins um alles wieder in Ordnung zu bringen, eins um zu streiten, eins, um sich zu versöhnen. Oder einfach nur eines
, um zu leben
.
Texte: Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Sie wird sich teilweise darin finden.