Jedes Jahr zur besinnlichsten Zeit des Jahres hetzen die Menschen von Geschäft zu Geschäft; zuerst, um die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen und dann, um die gemachte Beute an unnützen Geschenken umzutauschen. Dabei geht es an Weihnachten um viel mehr, als darum sich gegenseitig die teuersten Geschenke zu machen. Die Feiertage sind eine Zeit der Herzlichkeit, der Nächstenliebe, des Glaubens – und sei es nur an den Weihnachtsmann.
Vom Weihnachtsmann und seinen Geheimnissen handelt auch diese Geschichte.
Es war der Abend des 24. – Heiligabend. Von den Dächern der mit Lichterketten behangenen Häuser glitzerte silbern und weiß gleißend der Schnee und in den gepflegten Vorgärten standen fest verwurzelt Schneemänner mit Karottennasen, Knopfaugen und Besen an der Seite. Wo man hinsah überall blinkende Weihnachtsmänner samt Schlitten und Rentieren und was es nicht noch alles an kitschigen Leuchtskulpturen gab. Manche Häuser konnte man vor lauter Lichterdeko nicht mal mehr als solche erkennen. Das warme orangefarbene Licht der Straßenlaternen erhellte die Straßen. Vereinzelt brannte Licht hinter den Fensterscheiben der Häuser. Kinder saßen mit erwartungsvollen leuchtenden Augen am Tisch und warteten nur, bis die Erwachsenen fertig gegessen hatten. Denn dann gab es Bescherung und das war der Moment, in dem man sah, ob die Wunschliste den Weihnachtsmann erreicht hatte. Nicht nur die Kinder hatten Wünsche, auch die Erwachsenen. Meistens waren die jedoch weniger von materiellem Wert – und schwerer erfüllbar. Ob es daran lag, dass sie den Glauben an den Weihnachtsmann verloren hatten?
Draußen schien das Schneetreiben kein Ende nehmen zu wollen. Niemand wollte bei diesem Wetter vor die Tür; alle saßen sie drinnen, wo es warm war und das Feuer im Kamin loderte. Nur eine Katze kreuzte die Straße; doch auch sie huschte schnell durch die Katzenklappe ins Haus.
Ein paar Straßen weiter schien die Situation die gleiche. An Weihnachten schien überhaupt jeder im Kreise seiner Familie zu sein. Aber was war mit den Leuten, die keine Familie hatten oder nur eine, die nicht da sein konnte? Weihnachten würde ihnen nichts bedeuten. Heiligabend würde nur ein weiterer Tag in ihrem Leben sein, den sie verfluchten, weil alle glücklicher waren als sie. Sie würden abends, wenn die Stimmung am unerträglichsten werden würde, aus dem Haus gehen. Sie würden in die hell erleuchteten Wohnzimmer sehen und strahlende Gesichter erblicken. Sie würden sich erinnern, dass sie niemanden hatten, mit dem sie feiern konnten. Und sie würden schneller laufen. Hauptsache weg von der üblichen Weihnachtsstimmung, weg von den blinkenden Lichtern und dem fröhlichen Treiben. Weg von jeglichem Leben.
Knorrige, starke Bäume säumen die Straße links und rechts – von Autos keine Spur. Aber am Horizont erscheint in der schwarzen Nacht eine schlanke Gestalt. Schritt für Schritt läuft sie stur geradeaus, scheinbar ohne Ziel und trotzdem den Blick immer nach vorne gerichtet, so als könnte sie nichts davon abbringen das zu tun, was sie für nötig hält. Ohne von dem durchgezogenen weißen Strich auf der Straße abzukommen nähert sich die Gestalt. Es ist eine Frau. Eine junge Frau nicht älter als dreißig. Jetzt, da sie nur noch wenige Meter entfernt ist, kann er erkennen, dass sie wunderschön ist. Sie sieht ihn nicht (niemand tut das!) und so kann er sie in aller Ruhe anschauen. Er blickt ihr in die grasgrünen Augen und es wird ihm warm. Sie hat sich wohl hübsch gemacht, denn auf ihren vollen Lippen prangt tiefrote Farbe. Selbst bei den eisigen Temperaturen um diese Uhrzeit sind ihre Wangen nicht rot, sondern das ganze Gesicht strahlt in einem weißlichen Teint. Nur das goldblonde schulterlange Haar wirkt zerzaust und verwuschelt, als sei sie in einen Sturm geraten. Auf seiner Höhe hält sie kurz an und atmet tief durch. Dann bückt sie sich. Als sie sich wieder aufrichtet, hält sie ihre High Heels in den Händen und als sie weiterläuft rinnt ihr eine Träne die Wange herunter. Sie fängt an zu rennen, als könne sie so dem Schmerz entgehen. Er begleitet sie, aber bleibt immer wenige Meter entfernt. Bald schon kann sie nicht mehr und ihr Gang verlangsamt sich wieder. Ihr lautes Schnaufen wird nur durch gelegentliches Schniefen unterbrochen. Mit der freien Hand wischt sie sich über das Gesicht und bedenkt dabei nicht, dass sie so ihren roten Lippenstift über das ganze Gesicht verteilt. Die verschmierte Farbe vermischt sich langsam mit den schwarzen Tränen, die sie weint. Ihr Haupt ist jetzt vollständig mit Schnee bedeckt und sie sieht aus wie einer dieser Weihnachtsengel in diesen Glaskugeln, die man schütteln kann, wenn man will, dass es schneit.
Er weiß wie es hierzu kommen konnte und was es zu bedeuten hat. Er kennt sie und ihren tiefsten Wunsch. Sie kennt ihn auch, hat aber nicht mehr an ihn gedacht, seit sie mit sieben Jahren gesehen hat, wie ihr Vater sich im Badezimmer einen weißen Bart angelegt hatte, in einen roten Mantel und schwarze Stiefel geschlüpft war und eine Puppe in einen Sack gesteckt hatte. Jetzt ist sie erwachsen und hat ihn schon beinahe vergessen.
Ein Rauschen. Es wird immer lauter und entwickelt sich zu einem dumpfen Dröhnen. Das von hinten mit hoher Geschwindigkeit herannahende Auto hört die junge Frau nicht. Und selbst wenn, wäre es ihr vermutlich egal gewesen. Weiter irrt sie mehr oder weniger geradeaus. Jemand muss etwas tun. Mit ihrem dunklen Mantel wird der Autofahrer sie bei diesen Sichtverhältnissen nicht rechtzeitig bemerken. Plötzlich hebt ein starker Windstoß sie von den Füßen und wirbelt sie gerade noch rechtzeitig weg von der Straße. Das Auto fährt weiter, als sei nichts geschehen und als alles vorbei ist, bleibt sie reglos zwischen zwei hohen Ahornbäumen liegen. Er beugt sich über sie und sein langer weißer Bart berührt ihre aschfahle Haut. Sie atmet. Er hat ihr das Leben gerettet.
Trotzdem kann sie nicht so liegen bleiben. Die Kälte ist unerträglich und bis zum nächsten Morgen würde sie erfroren sein. Also wickelt er sie kurzerhand in seinen roten Umhang und hebt sie hoch. Dann pfeift er dreimal. Nach wenigen Sekunden hört man Glöckchen bimmeln und eine Horde Rentiere mit großem Schlitten gleitet durch die Lüfte auf den Weihnachtsmann und die junge Frau zu. Ein goldener Schweif zieht sich hinter dem Schlitten her und der Schnee staubt zu allen Seiten, als die Kufen langsam auf dem Boden aufkommen und der Schlitten zum Stehen kommt. In diesem Moment ist dieses einsame Stück Landstraße mehr von Liebe erfüllt, als alle wohlig warmen Wohnzimmer, in denen eifrig Geschenke verteilt werden.
Der Weihnachtsmann hebt die junge Frau, deren Haare jetzt noch mehr zerzaust und voller Blätter sind, auf den Schlitten. Dann hebt sich der Schlitten so leise wie er gekommen war wieder und gleitet davon. Der Weihnachtsmann bestimmt den Weg. Er weiß genau, wo die junge Frau wohnt. Vor ein paar Wochen war er dort zu Besuch gewesen. Beruflich. Er hatte ihren Wunsch gehört. Leider hatte sie nur eines gewollt - ein Fest im Kreise der Familie. Dass von ihrer Familie niemand mehr übrig war, außer der Vater, der im Gefängnis saß, wusste sie. Und trotzdem machte sie sich immer hübsch, wenn es wieder Weihnachten war. Und jedes Weihnachten wurde ihr die Vergänglichkeit der Menschen immer schmerzlicher bewusst. Er konnte ihr das, was sie wollte nicht geben, also hatte der Weihnachtsmann seither ein Auge auf sie gehabt. Zum Glück, wie sich erwiesen hat.
Am nächsten Morgen würde die junge Frau aufwachen und sich an den gestrigen Abend nicht erinnern. Lediglich ein roter Mantel würde sie nächstes Jahr um diese Zeit an etwas erinnern. Etwas Wunderbares, das ihr Leben verändert hatte. Und da, wo in anderen Wohnzimmern dann der Weihnachtsbaum steht, hängt bei ihr der rote Mantel, der sie daran erinnern wird, dass Weihnachten kein Tag ist, an dem man trauern muss, sondern eine gute Gelegenheit, den Menschen zu helfen, die keine Hoffnung haben. Damit auch sie Weihnachten als ein Fest der Liebe erfahren.
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2011
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