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Einst, als die Welt noch voller Fantasie war, lebten Mensch, Tier und märchenhafte Geschöpfe in einträchtiger Harmonie miteinander. Neben Zwergen, Kobolden, alten und weisen Zauberern und vielen anderen fantastischen Wesen, existierte auch eine Vielzahl von Elfen. Die Kleinsten unter ihnen waren die Elfen des Lichts, fast zerbrechlich wirkende Geschöpfe, mit winzigen filigranen Flügeln.

Die Elfen des Lichts waren etwas ganz Besonderes. So klein sie auch waren, es war fast unmöglich sie zu übersehen, denn sie schienen von innen heraus zu leuchten. Im Dunkeln sah es beinahe so aus, als tanze ein Schwarm Glühwürmchen über die Wiesen und Felder. Außerdem besaßen sie die wunderbare Fähigkeit, die Menschen sehend zu machen. Sehend für all die vielen zauberhaften Dinge, die um sie herum geschahen und für die vielen kleinen Wunder der Natur. Das war eine leichte Aufgabe für die zarten Elfen, denn zu jener Zeit waren die Menschen noch eins mit der Natur. Sie lebten in ihr, mit ihr und von ihr.

Von Zeit zu Zeit wurde auf der großen Lichtung mitten im Wald ein großes Fest veranstaltet. Alle waren eingeladen, ganz gleich ob Mensch, Tier oder Zauberwesen. Es wurde zusammen gegessen, getrunken, gelacht und getanzt bis zum Morgengrauen. Und das Leuchten der kleinen Elfen tauchte den Wald in ein magisches Licht. Noch lange nach diesen Festen redeten alle davon und jeder freute sich bereits auf das Nächste. Aber auch sonst besuchten alle oft einander und brauchte jemand einmal Hilfe, wurde sie ihm nie verwehrt.

Doch dann zog die Moderne in die Menschenwelt ein. In dieser neuen, technischen Welt blieb nur wenig Raum für Fantasie. Es wurde für die Elfen des Lichts immer schwerer, die Menschen sehend für die vielen kleinen Wunder zu machen und trotz größter Anstrengungen, verschlossen mehr und mehr Menschen die Augen und vergaßen die alten Zeiten schließlich ganz.

Und mit dem Vergessen verschwanden auch nach und nach all die zauberhaften Wesen von der Bildfläche. Das heißt, sie verschwanden nicht völlig, sie verwandelten sich. Die alten Zauberer wurden zu knorrigen Baumstämmen, die Kobolde zu dicken Steinen und die Zwerge verwandelten sich in kleine Pilze. Und mit jedem Menschen, den die Elfen des Lichts an die neue Welt verloren, verschwand auch eine von ihnen und wurde beim ersten Sonnenstrahl am frühen Morgen zu einem funkelnden Tautropfen.

Eines Morgens versammelten sich die wenigen verbliebenen Elfen des Lichts auf der Lichtung im Wald. Die Tautropfen funkelten im Sonnenlicht und wieder waren es bei Sonnenaufgang einige mehr geworden. Die Elfen beschlossen, sich noch einmal auf die Suche nach einem Menschen zu machen, jemanden der noch sehen konnte und noch nicht vergessen hatte. Nur Salvina, die Jüngste von ihnen, sollte auf der Lichtung bleiben, falls sich doch noch ein menschliches Wesen in den Wald verirren würde, um den Elfen einen Besuch abzustatten.

Salvina wartete und wartete, aber niemand kam. Warum sollte auch ausgerechnet heute jemand kommen, wo sie doch schon so lange keiner mehr besucht hatte?

Als am späten Abend die anderen Elfen zurückkehrten, brachten sie keine guten Nachrichten mit.
„Ich bin durch die Straßen ihrer Städte geflogen. Die Menschen hasteten an mir vorbei, alle hatten es furchtbar eilig und blickten mit gehetztem Gesichtsausdruck auf ihre Uhren oder tippten auf ihren Handys herum. Niemand von ihnen hat mich wahrgenommen“, berichtete eine Elfe traurig.
„Ich war in den Häusern der Menschen. Dort habe ich versucht, auf mich aufmerksam zu machen, aber sie waren damit beschäftigt, angestrengt auf einen Computerbildschirm zu starren oder saßen lustlos vor dem Fernseher. Nicht einer hat mich bemerkt“, klagte eine andere.
So hatte jede von ihnen etwas ähnliches erlebt. Zum Schluss meldete sich die älteste Elfe zu Wort. „Ich hatte meine ganzen Hoffnungen auf die Kinder gesetzt. Wisst ihr noch, wie viel Spaß wir früher mit den Kindern hatten, wenn sie uns besuchten? Aber es war sinnlos, sie haben noch nicht einmal bemerkt, dass der Wind sie zum Spielen auffordern wollte. Sie haben ihn ignoriert, genau wie mich. Und ich befürchte, die Jüngsten unter ihnen haben sogar noch nie etwas von uns gehört.“

Die Nacht war mittlerweile fast vorüber, der Morgen brach an. Die Elfen des Lichts wurden schwächer und schwächer … alle außer Salvina. Salvina musste entsetzt mit ansehen, wie die Elfen immer durchsichtiger wurden und als die ersten Sonnenstrahlen auf die Lichtung fielen, funkelten weitere Tautropfen mit den anderen um die Wette.

Einsam, verzweifelt und unendlich traurig ließ sich Salvina, die letzte Elfe des Lichts, auf eine kleine Blüte nieder und blickte über die Lichtung. Unzählige Tautropfen glitzerten im Sonnenlicht. In Salvina wurden Erinnerungen wach, wie schön es einmal gewesen war. Sie erinnerte sich an die herrlichen Feste und wie sie dabei gemeinsam mit den Menschen auf der Lichtung getanzt hatte. An ein kleines Mädchen erinnerte sie sich besonders gut. Das Mädchen hatte rote Haare, Sommersprossen und leuchtende grüne Augen. Sie kam oft in den Wald und spielte mit den Elfen. Salvina seufzte. Der Ort, der einst so voller Fröhlichkeit war, war nun ein Ort tiefer Traurigkeit. Salvina war so in ihren Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie der Tag weiter voran schritt. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und sie erschrak. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie nun völlig alleine war und sie fürchtete sich. Ich muss etwas tun, dachte sie, aber was? Früher, da hätte sie einfach einen der alten Zauberer um Rat gebeten. Aber jetzt war niemand mehr da.

Da fiel ihr die alte Eule ein, die in einer hohlen Eiche am Waldrand lebte. Die Eule war schon immer da gewesen, niemand wusste, wie alt sie wirklich war, aber jeder schätzte ihre Weisheit. Sonst schlief die Eule um diese Zeit tief und fest. Aber heute schien es, als hätte sie bereits auf Salvina gewartet, denn sie öffnete gleich ihre Augen, als sich die kleine Elfe auf einen Zweig vor ihr niederließ.

„Bitte, hilf mir, liebe Eule“, flehte Salvina, „die Menschen sind geblendet von ihrer schönen neuen Welt. Sie haben ihre Fantasie verloren und sehen nicht mehr, was um sie herum geschieht. Und uns sehen sie auch nicht mehr. Ich bin die letzte Elfe des Lichts und weiß nicht, was ich tun soll. Es muss doch etwas geben … irgendetwas ….“ Die Eule schüttelte einmal kurz ihr Gefieder, dann sagte sie bedächtig: „Es gibt noch einen Menschen, der sehen kann, denn sonst wärst du nicht mehr hier. Du musst ihn finden, Salvina. Du musst ihn finden und hierher bringen, in den Wald auf die kleine Lichtung, sonst ereilt dich das gleiche Schicksal wie die anderen Elfen. Findest du diesen Menschen nicht oder folgt er dir nicht, Salvina, dann werdet ihr alle solange warten müssen, bis ein Mensch mit Fantasie irgendwann die Lichtung von alleine findet. Er wird euch dann eines Tages vielleicht wieder erlösen können.

„Aber, liebe Eule“, wollte Salvina verzweifelt wissen, „wie soll ich denn diesen einen Menschen finden? Die Welt ist so groß, dass schaffe ich niemals.“ Die Eule schwieg eine Weile, dann antwortete sie: „Du musst deinem Herzen folgen, Salvina, folge nur deinem Herzen. Aber beeil' dich, dir bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit.“

Salvina tat, was die Eule ihr geraten hatte. Sie flog los und bei Einbruch der Dunkelheit erreichte sie eine Stadt. Folge deinem Herzen, hatte die Eule gesagt. Das war gar nicht so einfach, denn die Straßen, durch die Salvina flog, waren bunt und schillernd. Überall blinkte und leuchtete es und an jeder Ecke warteten die süßesten Verlockungen. Staunend blickte Salvina sich um und hätte beinahe vergessen, warum sie eigentlich hier war. Gerade noch rechtzeitig besann sie sich. Sie schloss die Augen und ließ sich einfach treiben. Irgendein Gefühl sagte ihr, dass sie ihrem Ziel sehr nahe war. Als sie die Augen wieder öffnete, fand sie sich vor einem großen, grauen Gebäude wieder. Es wirkte furchteinflößend, dunkel und abweisend. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch kaltes Licht. Salvina fröstelte, aber sie nahm all ihren Mut zusammen und als sich die Eingangstür für einen Moment öffnete und ein Mensch das Gebäude betrat, flog sie schnell mit hinein.

Schwester Ingrid warf einen prüfenden Blick auf die schlafende alte Frau. Schwer atmend hob und senkte sich ihr Brustkorb. Leise stellte Ingrid die Vase mit den frisch gepflückten Feldblumen auf den Nachttisch. Leuchtend roter Mohn, tiefblaue Kornblumen wetteiferten mit goldgelben Weizenähren um die Wette. Frau Riemann liebte diese Blumensträuße, das wusste Ingrid. Deswegen hatte sie auf den Weg zur Arbeit schnell angehalten, als sie die Blumenwiese entdeckte. Sie hatte ihr Fahrrad einfach achtlos in den Graben fallen lassen und beim Blumenpflücken beinahe die Zeit vergessen. Ingrid liebte die Natur und so oft es ihre Zeit erlaubte, unternahm sie lange Spaziergänge. Nur leider hatte sie nie viel Zeit.

Ingrid seufzte in sich hinein. Sie würde die liebenswürdige alte Dame, die so wunderbare Märchen erzählen konnte, wirklich vermissen. Wie oft hatte sie den Geschichten gelauscht, die Frau Riemann im Aufenthaltsraum des Seniorenheims zum Besten gab. Sie hatte immer so lebendig erzählt, als wäre sie selbst dabei gewesen. Ingrid musste lächeln, als sie daran dachte, dass Frau Riemann manchmal sogar behauptete, die Geschichten wären keine Erfindungen, sondern wirklich wahr. Aber mit 92 Jahren wird man eben ein wenig wunderlich.

Ingrid sah auf die Uhr. Zu gerne wäre sie noch ein Weilchen geblieben, aber dazu fehlte die Zeit. Sie musste sich auch noch um andere Bewohner des Heimes kümmern. Leise verließ Ingrid das Zimmer und ließ die Tür einen Spalt auf. Sie würde später noch einmal nach Frau Riemann sehen.

So ein langer Flur, so viele Türen. Das war alles fürchterlich verwirrend und Salvina wusste nicht so recht weiter. Doch da, eine der Türen stand ein Stückchen weit offen und plötzlich hatte die kleine Elfe das Gefühl, angekommen zu sein. Dort musste er sein, der einzige Mensch, der noch sehen konnte. Neugierig schlüpfte sie durch den Türspalt und erblickte die alte, weißhaarige Frau in ihrem Bett. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, die rasselnden Atemgeräusche erfüllten den ganzen Raum. Salvina flog näher heran und ließ sich auf eine leuchtende Kornblume nieder. Das war sie also, dachte Salvina und war unglaublich traurig. Wie sehr hatte sie gehofft, den letzten sehenden Menschen bei der Hand nehmen zu können und mit ihm in den Wald zu fliegen, aber es war absolut unmöglich. Das wurde ihr schmerzlich bewusst, als sie das alte runzelige Gesicht betrachtete. In dem Moment wachte die alte Frau auf und blickte Salvina mit ihren leuchtend grünen Augen direkt an. Salvina zuckte zusammen. Diese Augen, das kleine Mädchen … der Blick löste eine wahre Flutwelle an Erinnerungen aus und ihr wurde ganz warm ums Herz.

„Da bist du ja, kleine Elfe. Ich hab dich so sehr vermisst“, flüsterte die alte Frau kaum hörbar, „wie gerne würde ich mit dir tanzen …“ Ihre Stimme brach ab. Salvina flog zu ihr. Sie umkreiste die alte Dame, berührte sie sanft und zärtlich mit ihren Flügeln und ihr Licht spiegelte sich in den grünen Augen. Die alte Frau lächelte, dann schlossen sich ihre Lider. Ganz still war es nun in dem Zimmer.

Als Schwester Ingrid nach Frau Riemann sehen wollte, wurde es bereits hell. Sie hatte nicht eher die Zeit gefunden, der Nachtdienst war anstrengend gewesen, denn eine Kollegin hatte sich kurzfristig krankgemeldet. Als Ingrid den Raum betrat, fiel der erste Sonnenstrahl auf das Gesicht der alten Frau. Sie sah glücklich aus und ein zauberhaftes Lächeln umspielte ihren Mund. Es war ein stilles und friedliches Bild. Verstohlen wischte sich Ingrid eine Träne aus den Augen und nahm nur verschwommen den großen, funkelnden Tautropfen auf der leuchtenden Kornblume wahr.

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Tag der Veröffentlichung: 02.09.2012

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