Im Februar 1945 war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für uns am Nullpunkt angelangt. Die endlosen Trecks, die durch unser Dorf zogen, verhießen nichts Gutes. So sehen wohl Zigeunerwagen aus, dachte ich. Aus dem Wald holte ich Buchenzweige und schnitzte sie zu Bögen für meinen Zigeunerwagen. Unser Vater war zum Volkssturm eingezogen worden. Eines Tages zog seine Truppe durch unser Dorf, um auch bei uns Schützengräben zu schaufeln. Für 20 Minuten durfte er uns besuchen. Dass dies unsere letzte Begegnung sein sollte, war mir nicht bewusst. "Wo wollt ihr denn hin?", sagte er, als er meinen Zigeunerwagen in der Scheune sah. Der verlängerte Erntewagen mit einigen Bügeln überspannt und Teppichen darüber befestigt sollte uns als Fluchtfahrzeug dienen. Erst auf Befehl von oben durften wir den Hof verlassen. So konnte das Vieh bis zuletzt noch von uns versorgt werden. Es gab auch noch viel zu tun. Unser einziges Pferd, wir nannten es Fuchs, musste noch zum Hufbeschlag; denn bei Schnee und vereister Straße waren griffige Eisen unter den Hufen lebensnotwendig.
Die Front kam immer näher. Wir hörten schon das Donnern der Kanonen, am Abend war der Himmel hell erleuchtet. Vermutlich brannte die 29 km von uns entfernte Stadt Rummelsburg schon lichterloh. Es herrschte eine gedrückte Stimmung, Angst ging um. Der überdachte Wagen war schwer beladen. Ein Sack voll selbstgebackenem Brot, ein Sack voll geräucherter Wurst aus unserer Hausschlachtung, Geräucherter Schinken, Speck, Mehl, Zucker, Essgeschirr, Bekleidung, Federbetten usw. hatten wir verladen. Das runde Dach mit den Teppichen und dem großen Teppich aus Linoleum darüber versprach Schutz vor Kälte und Schnee. Wenn nur unser Pferd nicht stürzt, war mein ständiger Gedanke. Es sind immer wieder Pferde gestürzt und Wagenräder gebrochen. Am Wegesrand standen weinende Frauen und schreiende Kinder. Vor lauter Stress verspürten wir keinerlei Müdigkeit, obwohl wir, wenn es bergauf ging, nebenher liefen und sogar noch mit schoben.
Wenn wir zur Rast einen Futterplatz für unser Pferd suchten, boten sich die verlassenen Pferdeställe als Herberge an. Unser Pferd war auf seinem Schlafplatz angebunden. Daneben sollte ein fremdes Pferd untergebracht werden. Dagegen protestierte meine Mutter. Sie kannte die Launen unseres Pferdes und warnte den Halter des anderen Pferdes: "Unser Fuchs könnte ausschlagen". Es kam, wie es kommen musste. Das andere Pferd wurde von unserem erschlagen. Zum Glück hatten wir Zeugen, die bestätigen konnten, dass meine Mama auf diese Gefahr hingewiesen hatte.
Von diesem Schrecken kaum erholt, hatte der Stress und die Aufregung uns voll im Griff. Unser Pferd wurde wieder angespannt; und es ging weiter in Richtung Danzig, begleitet von immer lauter werdendem Kanonendonner. Nach einigen Kilometern Stopp and Go hörten wir das Rasseln der russischen Panzerketten. Das Militär, das darnach kam, hatte uns in kürzester Zeit vollkommen ausgeplündert. Uns blieb nur noch das nackte Leben. Wir mussten uns damit abfinden, ohne Pferd und Wagen zurückgehen zu müssen. Wir brauchten wohl für den Nachhauseweg drei Tage Fußmarsch, immer auf den Bahnschienen entlang. So konnten wir uns nicht verlaufen und waren durch Überfälle der Russen weniger gefährdet.
Vor unserm Haus angekommen, empfing uns freudestrahlend unser treuer Hund, mein Teddy. Er durfte ja nicht mit auf den Treck. Im Haus war alles, was nicht niet - und nagelfest war, geplündert. Nach einigen Tagen stürmt eine Horde russischer Soldaten unser Haus. Die Haustür wurde aufgebrochen und alles im Haus durchwühlt. Das ging dann so täglich weiter. Alkohol und Mädchen wurden gesucht.
Wir sind dann immer, wenn die Russen zur Haustür reinkamen, hinten durchs Fenster gesprungen und nach unten auf die Wiese gelaufen. Unterm Fenster lag ein Strohballen zum Abspringen. Wenn die Meute weg war, konnten wir wieder ins Haus.
Auf die Dauer war das aber keine Lösung. Wir zogen in das Haus einer Freundin unserer
Mutter. Unsern ganzen Hausstand, auch die Möbel trugen wir in dieses Haus. Im Erdgeschoss befand sich eine Apotheke. Immer wieder fragten die Russen hier nach Wodka. Es war doch nichts zu holen. Aber einige enttäuschte Russen steckten deshalb dieses Haus in Brand. Die Kommandantur brauchte nun einen Schuldigen. Ein Sowjetsoldat kam nicht in Frage. Wenn das trotzdem jemand behauptete, wurde er verprügelt.
Ich kam zum Glück als Täter nicht in den Verdacht, weil ich als Viehtreiber gen Osten unterwegs war. Oft wurden große Viehherden durchs Dorf getrieben. Diese russischen Viehtreiber saßen hoch zu Ross und kidnappten sich Kinder für ihren Viehtransport. Diese Kinder waren dann für immer verschollen. So erging es mir mal auf der Rummelsburger Straße. Ein Soldat zu Pferd wollte mich mitnehmen, ich rannte, so schnell ich konnte, über unser Gehöft zur Wiese. Ein Reiter ist ja schneller, als ein laufendes Kind, aber dadurch, dass ich durch die Scheune lief, vorne rein und hinten raus, entkam ich ihm.
Einmal versuchten sie auf die gleiche Weise auch Schweine zusammenzutreiben. Das war
lustig anzusehen. Die Tiere liefen hin und her, aber nicht vorwärts. Nach einer Stunde waren wir noch keinen Zentimeter vom Fleck weg. Also wurden sie auf Lastautos geladen.
Ein anderes Mal hatte ich aber nicht so ein Glück und musste mit dem Viehtrieb mit. 200 Kühe waren zu begleiten. Das war zu der Zeit, als das Haus abgefackelt wurde, in dem wir zuletzt wohnten. Nach 12 Kilometern in Bütow konnte ich in einem unbewachten Augenblick unter einer Brücke mich verstecken. Als der Transport dann vorbei war, trat ich meinen Heimweg an. Bevor ich ins Dorf kam, sah ich schon aus einiger Entfernung zwei übriggebliebene Schornsteine in den Himmel ragen, umgeben von einer weißen Rauchfahne. "Das kann nur Tante und Onkel Stielow`s Haus sein", dachte ich. Und so war es auch. Die Hausbesitzer, Mama`s Freundin und ihr Mann wurden mit einer Kutsche zur Kommandantur gebracht und dort eingesperrt. Auch Mama und Schwesterchen Margot kamen dort in den Keller und noch eine Familie. Onkel Stielow hatte im ersten Weltkrieg ein Bein verloren, ging also mit Holzprothese. Weil er nicht flink genug war, packten die Russen ihn und warfen ihn buchstäblich mit Schwung auf den Wagen.
Es wurde schon dunkel, als ich ins Dorf kam. Wo sollte ich nun bleiben? Also ging ich
wieder in unser damals dauernd durchstöbertes Haus, um dort zu übernachten. Das war zwar unheimlich, aber ich hatte ja keine Wahl.
Am andern Tag wurden Stielow`s und die Anderen nach langen Verhören entlassen. Hätten sie aus Jemandem ein Schuldgeständnis erpressen können, wäre der erschossen worden. Diese Prozedur wurde mir also erspart.
Wo Stielow`s unterkamen, weiß ich nicht mehr. Wir mussten nun wieder in unser Haus zurück. Die Möbel aus unserm Haus waren bei Stielow`s verbrannt. Mama ging zur Kommandantur und bekam einen Erlaubnisschein, mit dem sie sich aus anderen Häusern, in die die Bewohner nicht, oder noch nicht zurückgekehrt waren, mit brauchbaren Gegenständen eindecken konnte.
Für uns Deutsche gab es zum Beispiel kein Schweinefleisch, einmal die Woche Rindfleisch. Ein Brot war die Wochenration für uns drei. Dafür mussten wir uns täglich zum Arbeitseinsatz melden. Deutsche und russische Soldaten mussten wir beerdigen. Tote Kühe und Schweine lagen herum, die unter die Erde mussten. Die Bahnstrecke zwischen Bütow und Rummelsburg wurde demontiert. Unsere Aufgabe war es, die Schienen ab zu schrauben und aufzustapeln. Das war harte Arbeit für die Frauen und uns Kinder.
Die Männer, die nicht in den Krieg ziehen mussten, wurden jetzt von den Russen verschleppt. So erging es auch unserm Bruder Helmut im Alter von 14 Jahren.Von März bis September hatten wir kein Lebenszeichen von ihm erhalten.Täglich gingen einzelne totkranke Männer durch unser Dorf, aber unsere waren nicht dabei, unser Bruder oder Papa.
Eines Tages wurden in unserer Scheune annähernd 200 deutsche Kriegsgefangene untergebracht. Hier lagen auch noch Steckrüben als Viehfutter herum. Darüber machten sich die hungrigen Männer verständlicherweise her. Ich stand in der Nähe einer Luke zur Scheune und wurde gefragt, ob wir noch mehr davon hätten. Wir hatten. - In einer Miete im Garten waren noch genug davon. Ich holte eine Kiepe voll Rüben und wollte sie durch die Luke reichen. Da richtete ein Russe seine Maschinenpistole auf mich. Ich schrie aus Leibeskräften, der Gefangenentransportleiter ging dazwischen und vereitelte diesen Erschießungsakt. Er sprach deutsch, kam in unsere Küche und spendierte ein Abendessen für uns, dazu schenkte er uns noch eine Flasche Wodka.
Die ersten drei Monate waren für uns, besonders für die Frauen eine schreckliche Zeit. Eine Frau z. B. die nicht bereit war, auf das Verlangen eines Russen einzugehen, wurde von ihm kurzerhand erschossen.
"Der nächste Winter kommt bestimmt", sagte ich mir mit meinen 13 Jahren auf dem Buckel. Also zog ich los mit meinem zweirädrigen Karren, um aus dem Wald Brennholz zu holen. Ca. 12 Festmeter Brennholz fuhr ich ein und zerkleinerte auch schon etwas davon.
Wir haben ein Kartoffelfeld bestellt, es im Sommer bearbeitet und im Herbst abgeerntet. Über 20 Zentner Roggen haben wir geerntet von dem Feld, das unser Vater im Herbst bestellt hatte. Mit der Sense haben wir es gemäht, zu Garben gebunden und zum Trocknen in Stiegen schräg gegeneinander aufgestellt. Ein polnischer Nachbar hat es uns dann mit seinem Pferdewagen nach Hause gefahren. Das meiste Getreide blieb aber am Halm stehen. Keiner war zuständig dafür. Er lieh uns eine von Hand zu betreibende Dreschmaschine. Zwei Kurbeln, die an beiden Enden der Walze angebracht waren, wurden von zwei Personen, die sich also gegenüberstanden, betrieben. Ich habe einige Tage an dieser Kurbel gestanden. Das war Knochenarbeit, kann ich nur sagen. Jetzt konnte der Winter kommen, wir hatten gut vorgesorgt. Froh waren wir und stolz auf unsern Lebensmut.
Da kam ein kleiner Mann mit großem Hut auf unsern Hof und verkündete: "Das alles gehört ab heute mir", zog ein Dokument aus seiner Tasche, auf dem das angeblich bestätigt war, was wir aber gar nicht lesen konnten, weil keiner von uns polnische Schrift lesen konnte. Wir waren also mit einem Federstrich enteignet, und unsere hochgeschätzten Wintervorräte waren von jetzt ab für uns unerreichbar. Ab sofort waren wir in unserem Hause Untermieter im Oberstübchen.
An unseren mit Muskelkraft gedroschenen Roggen, den wir bis dahin in unserer Wassermühle mahlen ließen, konnten wir nicht ran kommen. Das war unserer Mama zu viel. Sie beschwerte sich beim Bürgermeister und bekam Recht. Ein entsprechendes Schreiben überreichte sie dem Fürsten. Das wiederum löste bei unserem jetzigen Hauseigentümer Ärger aus. Unsere Küche durften wir nicht mehr benutzen, beschimpft wurden wir laufend, auch von seinen beiden Brüdern, die auch in unserm Dorf wohnten. "Ihr deutschen Verbrecher" war noch ein harmloses Wort. Als ich mal was dagegen sagen wollte, hat er mich getreten und mich mit der Sense zur Strafe auf die Wiese geschickt, um dort Gras zu mähen für seine Kuh, die er mitgebracht hatte. Er selbst war die Faulheit in Person. Wie wir später erfuhren, soll er sich auch nicht lange gehalten haben auf unserm Hof.
An unseren Lebensmittelvorrat kamen wir zwar nicht mehr ran, wurden dafür aber von unserem Ernährer versorgt, ähnlich wie im Hotel.
Im Spätherbst 1945 kam dann die Ausweisung. Das heißt, wenn wir die polnische Staatsbürgerschaft angenommen hätten, und wir Kinder in die polnische Schule dann gegangen wären, hätten wir bleiben können und vielleicht sogar unser Grundstück zurückbekommen.
Weil wir uns aber deutsch bleiben wollten, mussten wir mit dem nächsten Eisenbahntransport unsere Heimat verlassen. Mitnehmen durften wir nur soviel, wie wir tragen konnten. Ich trug einen Rucksack mit Broten. 200 Zloty und einige hundert Mark deutsches Geld waren mein persönliches Kapital, Geld, das ich zum größten Teil auf der Straße gefunden hatte. Mir war es unbegreiflich, dass deutsches Geld auf der Straße lag, war es doch noch bis zur Währungsreform gültig.
Ein polnischer Nachbar fuhr uns mit seinem Pferdewagen zum Bahnhof in Bütow. Seine Frau gab uns auch noch ein Brot mit für die Reise. Ein Tag zuvor wurde unser Helmut freigelassen. Unsere Mutter durfte ihn von einer polnischen Familie abholen, die ihn ein halbes Jahr lang festgehalten hatte und ihn am Liebsten für immer als billige Arbeitskraft behalten hätte. Ohne ihn wären wir nicht ausgewandert.
Als wir in Bütow auf den Abtransport warteten, holten mich die Russen zum Straße Kehren. Ich hatte große Angst, den Zug zu verpassen. Als ich mich einen Augenblick unbeobachtet fühlte, rannte ich zum Bahnsteig, wo es auch bald darauf losging. Der Zug war überfüllt und bummelte nur so vor sich hin.
Während eines Aufenthaltes auf dem Neustettiner Bahnhof wurden wir von Banditen in russischer Uniform überfallen und brutal ausgeplündert. Die zu allerletzt uns übriggebliebene Habe wurde uns nun auch noch abgenommen. Den Rucksack mit den Lebensmitteln konnten wir Gott sei Dank behalten. Ich musste mit ansehen, wie so ein Kriegsverbrecher einem alten Mann die Schuhe von den Füßen riss. Mit einem scharfen Messer schnitt er ihm die Schnürsenkel auf und und verletzte ihm dabei die Beine.
In der damals so genannten toten Stadt Küstrin an der Oder kamen wir für etliche Tage in ein Internierungslager. Es war schon sehr kalt und geschneit hatte es auch. Jetzt hieß es durchhalten, nicht krank werden, um die Übersiedlung nach Deutschland noch zu erleben. In einer großen Halle waren wir untergebracht, die mit offenem Feuer beheizt wurde. Das war ein Qualm! Die Augen brannten und warm wurde es trotzdem nicht.
Vielleicht 200 m von dieser Halle entfernt stand ein verlassenes Haus. Dort zog unsere Mutter mit uns kurzentschlossen ein. Auf dem Hof gab es eine Wasserpumpe, Brennholz war auch vorhanden, so dass wir uns was kochen konnten. Mama putzte gründlich das ganze Haus, so dass wir uns drin wohlfühlen konnten. Wir mussten nur aufpassen, dass der Transport uns nicht zurückließ.
Inzwischen ging auch unser Brotvorrat zur Neige. Es kamen aber Händler in dieses Lager, die Brot für teures Geld verkauften. So wurde ich 200 Deutsche Reichsmark los für ein Zwei - Pfund - Kastenbrot, das obendrein sehr bitter schmeckte.
Endlich ging der Transport über die Oder. Nach neun Monaten sahen wir zum ersten Mal wieder elektrisches Licht. Wir kamen nach Vorpommern. In einem Kuhstall neben den Kühen mussten wir übernachten. Dort ging unsere Mutter für uns Brot betteln. Denn mein Geld brauchten wir noch für die Bahnfahrt nach Berlin. Wir verließen das Flüchtlingslager in Vorpommern und fuhren privat nach Berlin, wo wir Verwandte und Bekannte hatten. Die aber waren selbst ausgebombt und konnten uns nicht aufnehmen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns wieder in ein Flüchtlingslager zu begeben. Von hier ging ein Transport nach Thüringen. Auf der Landkarte war Thüringen als amerikanische Zone eingezeichnet. Später hörten wir, dass die Russen dieses Land für einen Teil Berlins bekommen hatten.
Schließlich landeten wir Anfang Dezember in Bad Sulza in Thüringen, wieder für drei Wochen im Lager. Die Verpflegung war sehr gut. Zu Weihnachten bekam jeder einen Weihnachtsstollen. In der gut beheizten Baracke war es sehr gemütlich. Anfang Januar 1946 waren wir endlich in unserer neuen Heimat angelangt, in Olbersleben in Thüringen.
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2010
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