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Im Dezember 1945 wurde unser Vater in den Volkssturm einberufen, und ich wurde vom Internat nach Hause geholt. Hier angekommen, stand unser Ackerwagen schon in der Scheune, umgebaut zu einem Leiterwagen, um möglichst viel Hausrat aufladen zu können. Als Verdeck diente unser großer Linoleumteppich aus unserer Wohnstube. Karl war als Kind schon ein Bastler; und so hatte er unsern Leiterwagen in einen zünftigen Planwagen verwandelt. Die ganze Nacht war ich mit der Bahn unterwegs gewesen, weil die Anschlusszüge auf den Umsteigebahnhöfen sehr unregelmäßig kamen. Es mussten die Sonderzüge immer erst durchgelassen werden, die gen Westen fuhren. So legte ich mich erst mal ins Bett und schlief auch gleich ein. Aus dem tiefsten Schlaf herausgerissen hörte ich die Stimme unserer Mama wie aus weiter Ferne: „Helmutchen! Helmutchen! Komm runter!“ Ich lag im ersten Stock und hörte ein russisches Flugzeug über unserm Hof kreisen . Wir rannten in den Keller, Karl und Margot kauerten in der Ecke hinter der Räucherkammer, und da hörten wir auch schon den Einschlag des Geschosses, das unsern Stall getroffen hatte.
Eines Tages stand ich auf unserem ziemlich hoch gelegenen Kleefeld neben Lublow`s Haus am Abhang, der zur Straße führt, als eine Kolonne mit Zivilisten vorbeimarschierte. Da – auf einmal erkannte ich unsern Papa in der Menge. Ich rannte gleich hinunter, um mit ihm sprechen. Er gehörte zu dieser Volkssturmtruppe, die an der Neuhüttener Straße einen Schützengraben ausheben mußten. Übernachten sollten sie dann in den beiden Lehmhäusern, die im vergangenen Herbst fertiggestellt waren, nur aus Lehm gebaut. Unser Papa durfte aber zu Hause schlafen diese eine Nacht. Am nächsten Tag marschierten sie auch schon weiter. Seitdem erreichte uns kein Lebenszeichen mehr von ihm. Eine Nachforschung beim Roten Kreuz blieb ergebnislos.
Es kamen ununterbrochen Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen durchgezogen die auch schon mal auf unserm Hof rasteten. Wir wären am liebsten mitgezogen; denn man hörte schon das Artilleriefeuer wie ein Gewitter immer näherkommen. Aber das war verboten. Wir hatten zu warten, bis der Räumungsbefehl ausgerufen wurde. Und der kam nicht, obwohl die Knallerei immer lauter wurde. In unserm Haus war eine lettische Familie mit zwei Kindern untergebracht, die ein eigenes Lastauto besaß. Der Mann war Offizier, trug auch eine Uniform, gehörte aber anscheinend nicht zur deutschen Wehrmacht. Orselinsch hießen sie. Die waren schon längst weitergezogen, als die Front immer näher rückte. Und dieser Herr Orselinsch hatte uns angeboten, uns mit seinem Auto mitzunehmen nach Westdeutschland. Er hatte so etwas wie Diplomatenschutz, so dass er uns durch alle Kontrollen hindurch gekriegt hätte.
Wir warteten also auf das Klirren der Flugscharen oder ähnlichem Gerät, das überall aufgehängt war und angeschlagen werden sollte, wenn wir anspannen dürfen. Es war 23:00 Uhr im Februar 1945. Jemand ging zum Ortsgruppenleiter Dabels, der zu entscheiden hatte, wann das Dorf geräumt werden muss. Und wo war unser Herr Dabels? Über alle Berge! Klammheimlich war er mit seinem Auto oder Trecker abgehauen, damit die Pferdewagen ihm nicht den Weg versperren konnten. Ich spannte nun aber schnell unser Pferd vor den Wagen und los ging es in die Nacht Richtung Danzig. Hinterpommern war angeblich schon umzingelt.
So fuhren wir zwei oder drei Tage im Trott. Der Treck wurde gestoppt, wir sollten ganz an die Seite mit unseren Fuhrwerken, was aber nicht so einfach ist, wenn nach vorne und nach hinten wenig Platz ist. Unser Wagen stand noch zu weit auf der Straße. Das Militär mit Autos und Panzern, das auf dem Rückzug war, sollten wir durchlassen. Da griff ein Soldat die Zügel unseres Pferdes, das Pferd scheute, wie immer bei fremden Personen und wir landeten im Graben. Dabei brach eine Runge. Nun hatten wir Pause und Zeit zur Reparatur. Unser Schmied Herr Röske stand drei Wagen hinter uns. Der hatte Werkzeug mit und machte unsern Wagen wieder flott. Wir kamen nicht mehr weit. Unsere Wehrmacht hatte uns ja den Sowjets überlassen. So fuhren wir über einen Feldweg bis wir an einen Waldrand kamen. Ehe wir uns versahen, waren auch schon die Russen da. Unser „Fuchs“ war ein gutes Reitpferd. Das spannte uns ein Russe gleich aus und ritt mit ihm davon. Unsere Mama nahm ein Köfferchen mit Wertsachen, und so traten wir unsern Heimweg an in eisigem Winter. Wir kamen über verlassene Gehöfte, wo die Kühe im Stall brüllten, weil sie Hunger und Durst hatten und nicht gemolken wurden. Mama hat eine Kuh gemolken und uns die Milch aufgekocht. In der Küche stand ein großer Trog mit gut hoch gegangenem Brotteig. Daraus hat sie ein Brot im Elektroofen gebacken. Es kam noch eine Familie hinzu, und so haben wir uns alle schön satt gegessen.
Zu Hause angekommen, war zum Essen auch genug da. Teddy, unser kleiner Hund, hatte das Haus bewacht. Der freute sich riesig über unsere Rückkehr.
Nach einigen Tagen mussten alle Männer und Frauen über 16 zur Kommandantur ins Dorf kommen, um sich registrieren zu lassen. Mama sagte zu mir: „Du bist ja erst 14, du kannst hierbleiben und auf die Kartoffeln aufpassen, dass sie nicht überkochen und ging dann mit meinen beiden Geschwistern ins Dorf. Als sie wiederkamen – die Kartoffeln waren wahrscheinlich übergekocht, weil ich gerade das Feuer im Herd geschürt hatte – war ich natürlich weg. Man hatte mich abgeschleppt und mit vielen alten Männern in ein Haus gesperrt im Dorf. Mama hatte noch versucht, mich rauszubekommen; aber es half nichts. Wir mussten auf ein Lastauto steigen und wurden nach Bütow transportiert. Von dort ging es zu Fuß in endlosen Kolonnen nach Graudenz. Als wir über die Weichselbrücke gingen, hörte ich sagen, dass es jetzt aussichtslos sei, zu fliehen. Die Brücke wurde wohl ständig bewacht. Bis dahin war aber auch keine Möglichkeit zu entkommen. An beiden Seiten der Kolonne gingen bewaffnete Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett und mit Polizeihunden. Dabei waren wir doch nie Soldat gewesen. Irgendwo hatten wir mal in einer Scheune übernachtet. Dort fand ich einen Haufen Getreidekörner. Davon stopfte ich mir die Taschen voll. Wenn ich Hunger oder Durst verspürte, nahm ich einige Körner in den Mund, und mir ging es wieder besser.
In Graudenz mussten wir zu viert oder zu sechst lange schwere Masten tragen. Ich war für mein Alter schon ziemlich lang gewachsen, wahrscheinlich waren manche von den alten Männern kleiner als ich. Ich drohte unter dieser Last fast zusammenzubrechen. Da schrie mich von hinten einer an: „Wirst du wohl grade gehen, du junger Bengel!“
Eine andere Beschäftigung in Graudenz war für mich sehr einträglich. Wir mussten auf dem Bahnhof russische Uniformen verladen. Ich, wenn nicht gerade ein Wachmann neben mir stand, habe immer in diese Taschen gefasst. Und was war da meistens drin? Zigarettenstummel oder gar loser Tabak und Streichhölzer. Das Zeug habe ich regelrecht gehamstert, obwohl ich Nichtraucher war. Unser Tagesproviant bestand aus 300 g Gerstenbrot morgens, einer Konservenbüchse voll dünner Linsensuppe mittags und einer Büchse voll Zuckerwasser am Abend. Für eine Hand voll Tabak kriegte ich eine halbe Brotration eingetauscht. Einmal ging es mir wirklich schlecht. Ich blieb auf meinem Platz liegen ( wir schliefen auf dem Fußboden ). Mit dem Gewehrkolben wurde ich hoch gejagt.
Jeden Morgen wurden wir draußen gezählt, und jeden Morgen waren Leute gestorben. Als es hier nichts mehr zu tun gab, wurden wir weiter getrieben. Es ging nach Danzig. So kamen wir wieder auf die Westseite der Weichsel. Die Landkarte hatte ich gut im Gedächtnis, und so reifte in mir der Entschluss, zu fliehen, wenn irgend wie möglich. In Danzig bekam jeder ein Bett im Narviklager. Dafür waren hier aber schrecklich viele Wanzen, die einen ganz schön quälen konnten. Wir wurden zwar wöchentlich entlaust, der Kopf wurde kahl geschoren, aber die Wanzen steckten in den Matratzen und kamen nachts auf unsere Haut.
Hier in Danzig gingen wir täglich in die Tschichau - Werft, um die Maschinen abzumontieren. Eines Tages auf dem Rückweg zum Lager, wir gingen ja in Reih´ und Glied, kam eine Frau auf mich zugelaufen und schenkte mir ein großes Stück braunen Zucker, so groß wie ein Kohlkopf. Ich hatte es mir kaum unter den Arm geklemmt, da sprang mich einer von hinten an, entriss mir das Stück und verschwand wieder nach hinten in die Menge. Auf so eine Attacke war ich nicht vorbereitet. Sonst hätte ich das unter meinem Mantel versteckt. Ich trug den Mantel meines Vaters, den er nur zu besonderen Anlässen anzog..
Nun war ich schon 6 Wochen in Haft. Wir arbeiteten in einer anderen Halle, die ich noch nicht kannte. Ich fragte den Wachmann nach einer Toilette, und der schickte mich irgendwo hinter eine spanische Wand. Aber ich suchte doch eine Toilette und kam in einen anderen Raum und noch einen, und da entdeckte ich ganz unten am Erdboden in der Wand ein Loch, so groß, dass ich gerade so durch schlüpfen konnte. Und da stand ich auch schon auf der Straße. Eine Frau sprach mich auf deutsch an und zeigte mir den Weg nach Karthaus. Der Kreis Karthaus war der Nachbarkreis von unserm Kreis Bütow. Unser Dorf Großtuchen lag nur drei Kilometer von der damaligen Grenze entfernt.
„Die Büchse um deinen Bauch musst du aber abnehmen. Da sieht doch jeder, dass du aus dem Lager kommst! Und mit dem schicken Mantel siehst Du aus wie ein Durchreisender. So wirst du wieder eingefangen. Du musst unauffällig des Weges gehen wie ein Hiesiger.“ Das leuchtete mir ein. Ich gab ihr die Büchse, die ich nun auch nicht mehr brauchte, in die das Essen eingefüllt wurde, und aus der ich die dünne Linsensuppe und abends das Zuckerwasser trank. Einen Löffel, hatte ich gar nicht. Und ich gab ihr den wertvollen Mantel meines Vaters.
Am Abend ging ich auf ein Gehöft, um nach einer Schlafunterkunft zu suchen. Ein Mann kam mir entgegen. Er sprach deutsch mit polnischem Akzent. Er gab mir was zum Essen und zum Trinken, und ich durfte in der Scheune schlafen. Am zweiten Tag, ich war in Jamen angelangt, wurde ich von zwei jungen Männern angehalten. Sie waren in Zivilkleidung, hatten aber eine Armbinde, die sie als Miliz ausweisen sollte. Die brachten mich schnurstracks auf eine Försterei.
Nun war ich wieder gefangen, wenn auch etwas zivilisierter. Im Bett waren keine Wanzen. Ob meine Kleider auf der Försterei entlaust wurden, weiß ich gar nicht. Ins Haus durfte ich so wie so nicht. Es war schon im Monat Mai. Mein Bett stand auf dem Heuboden, auf dem auch das Bett des Sohnes dieser Leute stand. Der hatte mich zu bewachen. Wenn er abends auf die Jagd ging, musste er mich mitschleifen. Wenn er zu seinem Freund in der Nachbarschaft ging, saß ich als sein Gefangener neben ihm. Ich musste mit den Waldarbeitern in den Wald gehen und mit der großen Blattsäge Bäume fällen. Meine Arme waren aber so schwach, dass die mich wieder zum Förster zurück brachten. Dort musste ich dann auf dem Hofe Holz hacken.
Ich war längst unterernährt. Auch bei diesen Leuten bekam ich nie Fleisch zu essen, auch keine Butter aufs Brot. Während sie mir das Mittagessen immer vor die Tür brachten, durfte ich an meinem Geburtstag zum Mittag zwar nicht gerade mit am Tisch, so doch in der Küche gemeinsam mit der Familie essen. Sogar ein winzig kleines Stück Rindfleisch hatten sie mir auf den Teller gelegt. Das aß ich ganz zuletzt. Der Förster belehrte mich und meinte, das Fleisch müsse ich zuerst essen, damit der Magen es besser verwerten kann.
Am nächsten Tag aß ich wieder draußen, und Fleisch gab es auch nicht mehr. Dagegen eine große Schüssel mit Kartoffeln und Buttermilch dazu. Sie machten sich schon über mich lustig, wegen der großen Mengen, die ich verdrückte.
Das Holz war alles kleingehackt und zum Trocknen aufgestapelt. So bekam ich eine neue Betätigung, ich musste Kühe hüten. Einen Hund gaben sie mir nicht mit. Hier am Wald entlang kamen fast täglich Flüchtlinge vorbei, die ich nach ihrem Heimatort fragte. Und wenn welche kamen, die durch Großtuchen gingen, bat ich sie, meiner Mutter Bescheid zu sagen, wo ich bin.
Nur konnte ich nie wissen, ob diese Leute so weit durchkommen. Deshalb ergriff ich eines Tages vom Heuboden (meiner Schlafstätte) aus, nachdem Adam, des Försters Sohn fest schnarchte, die Flucht, begleitet von einem mörderischen Hundegebell. Es gab mehrere Hunde auf diesem Hof. Aber unser Adam schlief bombenfest. Vorsichtigerweise bin ich nie durch Ortschaften gegangen, sondern immer außen rum. Vor allem bin ich im großen Bogen um die damals 10 000 Einwohner große Stadt Bütow gegangen. Das nächste Dorf, das jetzt vor mir lag, war Damsdorf, das letzte vor Großtuchen, also unser Nachbardorf. Weshalb ich hier durchgegangen bin und nicht außen rum, weiß ich heute nicht mehr. Ich erschrak. „Stoy! Renzi dagori!“ hallte es durch die Gasse. Zwei Polizisten liefen auf mich zu und nahmen mich fest. Sie sperrten mich im Spritzenhaus ein. Es war noch dunkel. Am Morgen, so um acht Uhr wurde ich dem Bürgermeister vorgeführt. Der saß mit seiner Familie am Frühstückstisch. Ich sagte, dass ich von der Försterei aus Jamen käme und zu meiner Mutter ins nächste Dorf wolle. Ein Telefongespräch mit dem Förster ergab, dass meine Angaben richtig waren, und ich durfte nach Hause gehen.
Vor unserer Hofauffahrt angekommen, sah ich Margot vor dem Hause stehen. Sie rannte auf mich zu. Hinter mir sprang einer vom Fahrrad und hielt mich am Arm fest: „Wer wird denn hier ausreißen? Du kommst sofort zurück!“ Es war Adam, des Försters Sohn. Der muss wohl gleich nach dem Anruf losgefahren sein. Eine Stunde ungefähr war ich gegangen von Damsdorf bis hier. Nun sollte ich nicht mal die paar Schritte bis zum Haus gehen dürfen. Margot lief wieder ins Haus, um Mama zu holen. Wie ich mich verhalten hatte in diesem Moment, weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich laut geweint; denn der ehemalige Briefträger, Herr Kowalke, der zufällig vorbei kam, ( Er hatte im ersten Weltkrieg einen Arm verloren, musste deshalb nicht zu den Soldaten und wurde auch nicht von den Russen verschleppt ) schrie laut: „Du siehst doch, dass das Kind zu seiner Mutter will!“ Der Rest dieser Szene ist aus meiner Erinnerung verschwunden.
Herr Kowalke ging dann mit Mama und Adam zum Bürgermeister in unser Dorf . Dort wurde beraten und entschieden, dass ich wieder zurück nach Jamen gehen müsse. Meine Mutter könnte einen Antrag auf Entlassung stellen, und man würde mich spätestens zu unserer Ausreise aus Polen nach Großtuchen bringen.
Die Flüchtlinge, denen ich immer meine Adresse mitgegeben hatte, waren auch stets in mein Elternhaus gekommen, um meiner Mutter die Nachricht zu überbringen. Dadurch wusste sie schon meinen Aufenthaltsort. Sie hatte auch versucht, mich zu besuchen, bekam aber keinen Passierschein für den Nachbarkreis Karthaus.
Im Oktober kam meine Mutter nach Jamen, und wir wurden mit Pferd und Wagen nach Großtuchen gebracht. Das war ein Tag vor unserer Ausreise.
Diese ganze Aktion war angeblich inoffiziell. Meine Mutter wurde gebeten, mich bis zur Ausreise zu verstecken. Keiner im Dorf sollte merken, dass sie noch einen vierzehnjährigen Sohn hat. Deshalb wurde ich auch erst am Tag vor unserer Auswanderung abgeholt. Manch einer im Dorf hätte noch womöglich versucht, mich als billige Arbeitskraft festzuhalten, und Mama und Margot und Karl hätten ohne mich nach Deutschland ziehen müssen. Ich musste diese Nacht in einem Hause außerhalb des Dorfes nämlich bei Labuhns schlafen.
Am andern Morgen ging es mit einem Pferdewagen außen ums Dorf herum zur nächsten Bahnstation nach Bütow. Der Großtuchener Bahnhof war stillgelegt. Bei Labuhns stieg ich dann dazu. Der Zug fuhr bis Greifswald. Unsere Mama fuhr mit uns nach Berlin zur Familie Rach. In dieser Familie war sie in ihrer Jugend als Dienstmädchen tätig gewesen. " Die hatten aber keinen Platz für uns, und so mussten wir uns doch in ein Flüchtlingslager begeben. Wir kamen nach Bad Sulza, und von dort aus wurden wir auf die Dörfer verteilt.
Zweite Fluchtetappe
Am 7.Dezember 1947 sollte ein Skilehrgang für die evangelische Jugend in Oberhof beginnen. Das lag 45 km vor der Zonengrenze. Urlaub hatte ich noch nie bekommen in den zwei Jahren, in denen wir in Thüringen waren. Also nahm ich Urlaub für diese Skifreizeit mit der festen Absicht, von da aus abzuhauen, den Prospekt von diesem Jugendheim im Harz in der Tasche.
In diesem Heim angekommen, wurde mir eröffnet, dass die Skifreizeit ausfällt, und hier nur der Gewerkschaftsbund tagt. Das war mir gerade recht. Es war schon am Abend; und wo sollte ich übernachten? Für mich gab es nur den Weg zur Grenze. Ich ging die ganze Nacht, überwiegend durch Waldgebiet im Eilmarsch. Im Kopf klopfte der Puls, ein Phänomen, das ich bisher nicht kannte; aber wahrscheinlich hatte ich so viel Stresshormone produziert, dass es mir ganz gut ging. Als es schon hell wurde, traf ich in einer kleinen Ortschaft einen Mann auf der Straße. Ich fragte ihn, in welchen größeren Ort diese Straße führt. Der Mann verdächtigte mich, flüchten zu wollen und beschimpfte mich laut und gehässig. Ich sei ein Feigling und hätte keine Lust zum Arbeiten. So ging ich aufs Geratewohl weiter und sah einige Hundert Meter abseits ein Gebäude, das ein Bahnhof sein könnte. Ich ging noch schneller. Jetzt sah ich schon die Schienen. Und das Haus war auch ein Bahnhofsgebäude. Im Wartesaal saßen einige Leute mit Gepäck. Eine Frau fragte mich, ob ich auch nach Ellrich wolle. Ich nickte. Ellrich war Grenz – und Endstation. „Wenn Sie auch über die Grenze wollen, können wir sie mitnehmen,“ sagte sie . „Wir kennen den Weg.“ In Ellrich stiegen wir aus. Ungefähr fünf oder sechs Personen waren wir. Meine Tasche war nicht schwer; aber diese Frau stöhnte über ihre schwere Last. Ich nahm ihr eine Tasche ab und wunderte mich über das Gewicht. Sie erklärte mir, da sei Essgeschirr drin, dass sie geerbt habe.
Zur nächsten Bahnstation nach Walkenried auf der Westseite fuhr keine Bahn. Keiner von uns hatte einen Passierschein. Wir mussten also schwarz über die Grenze kommen.
Einfach vom Bahnhof aus auf den Schienen entlang laufen, war nicht möglich. Man hätte sich verraten. Wir gingen durch unwegsames Gelände, ich hatte mir dabei nasse Füße geholt. Vor einem langen Tunnel angekommen, standen wir wieder auf den Schienen, auf denen wir nun entlang liefen. Es war dunkel im Tunnel. Nach einer Weile blitzten hinter uns Scheinwerfer auf, und wir rannten, was die Beine hergaben.
Ich mit meiner schweren Porzellantasche war den anderen Leuten weit voraus und erreichte schweißgebadet das Ende des Tunnels. Hier wurde ich von zwei englischen Soldaten in Empfang genommen und ins Bahnhofsgebäude von Walkenried gebracht. Obwohl ich nun doch wieder ein Gefangener war, empfand ich das keineswegs so. Eher als Befreiung. Das hatte mein Vater mir schon empfohlen, mich lieber von den Engländern oder Amerikanern gefangen nehmen zu lassen, als von den Russen, als er die eine Nacht vom Volkssturm beurlaubt war.
Hier im Bahnhofsgebäude wurde ich verhört. Man fragte nach Herkunft und Reiseziel. Dann wurden meine Taschen durchsucht. Jetzt wurde die Sache heikel. „Die Tasche gehört mir nicht,“ sagte ich. „So? Das sagen alle. Das ist ja das schönste Meißener Porzellan, das ich je gesehen habe!“ triumphierte der Kontrolleur. Meine Beteuerungen, dass die Besitzerin nicht so schnell laufen konnte und gleich kommen werde, hatte man mir anscheinend abgenommen; denn man ließ mich auf die Dame warten. Wie viel Stunden ich da so festgehalten wurde,weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kamen meine Weggenossen nicht aus dem Tunnel. Die Tasche wurde beschlagnahmt, man glaubte mir also, und ich durfte mir eine Fahrkarte lösen nach Bierbergen. Dort wohnte Onkel Gerhard, Tante Else und meine beiden Cousinen Irmchen und Edith. Hier nun gingen wir zum Tanze. Und wen treffe ich da? Einen ehemaligen LBA – Schüler namens Werner Hoffmann. Durch ihn erfuhr ich nun, wie es in der LBA weitergegangen war. Also. Sie wurden verlegt in die Lehrerbildungsanstalt in Treptow. Das war ein kleiner Ort in Pommern, in dem es noch keine Bombenangriffe gab. Und bevor die Sowjets Pommern einnahmen, wurden beide Schulen nach Kassel gebracht. In Kassel wurde die Schule von den Engländern aufgelöst, und jeder musste sehen, wo er bleibt. Für mich wäre das auf jeden Fall einfacher gewesen, als so eine Odyssee über Graudenz, Danzig und Oberhof.

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Tag der Veröffentlichung: 28.11.2010

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