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Unsere Eltern


Inhaltsverzeichnis


Seite 9 Meine Kindheit
Seite 17 Flucht und Vertreibung
Seite 32 Neue Heimat




Meine Kindheit


Im pommerschen Winter wurde ich am 21.12.1931 in Tangen, Kreis Bütow geboren. Zu der Zeit hatten meine Eltern den Grundstein für eine Existenz in Großtuchen schon gelegt, wo meine Eltern, unsere Oma mütterlicherseits, mein Bruder Helmut und ich im Frühjahr 1932 eine vorläufige Wohnung bezogen. Unser neu erbautes Haus war erst im Sommer beziehbar. Im September 1934 kam noch ein Schwesterchen dazu, unsere Margot.
Stallgebäude und Scheune waren schon vorhanden. In der "Futterküche" musste noch ein Steinbackofen eingebaut und an den Schornstein angeschlossen werden. Das war der Raum, in dem jeden zweiten Tag ein Zentner Kartoffeln für die Schweine gedämpft wurde. Auch diente er uns als Waschküche. Die Wäsche wurde auch in diesem großen Kessel gekocht, und am Schlachttag bereiteten unsere Eltern mit Hilfe eines Schlachters (Onkel Hermann) Fleisch und Wurst zu. - Direkt am Haus wurde ein großer Garten angelegt. Daran schloss sich ein Kleefeld für Gänse, ein Obstgarten mit ca. 12 Apfelbäumen und schätzungsweise 2000 qm Boden für die Frühkartoffeln. Haus und Garten lagen etwas erhöht, Acker und Obstplantage hatten ziemliches Gefälle bis an die Wiese, an der ein kleiner Fluss, die Kamenz, vorbei floß.
Dazu hatten meine Eltern zwölfeinhalb Hektar Land, einschließlich Wiesen gekauft. Das zu bearbeiten war zu damaliger Zeit für ein Ehepaar mit Kindern eine Herausforderung, aber auch ein Privileg während der großen Arbeitslosigkeit bzw. Wirtschaftskrise. In der Ernte halfen uns Tagelöhner. Wenn es viel zu tun gab, packte Papa`s Vater mit an. Mit 70 Jahren konnte er noch gut die Sense schwingen; Mähmaschinen hatten wir nicht.
Mit dem nachträglichen Ausbau des Dachgeschosses hatten wir ein sehr gemütliches mit modernem Kachelofen ausgestattetes Zimmer, in dem ich mich wohlfühlte. Drei Betten und ein Kinderbett wurden darin aufgestellt. Das Kinderbett war für Margot. Mit Helmut musste ich mir das dritte Erwachsenenbett teilen. Zum Einschlafen legte er sich immer ins Ehebett, und wenn die Eltern dann hochkamen, trugen sie ihn zu mir rüber.

v.l.n.r. Karl, Margot, Helmut

Als Helmut dann nach seiner Schulentlassung nach Köslin in die Lehrerbildungsanstalt ging, hatte jeder ein Bett für sich. Die Oma hatte ein Zimmer im Erdgeschoss. Sie musste uns betreuen, war sehr gutmütig. Um sie zu entlasten, ging ich, wenn auch sehr ungern, einen Steinwurf von uns entfernt, in den Kindergarten.


Als wäre es gestern gewesen - mein erster Schultag nach Ostern 1938. Eine große Zuckertüte hatten nur vier Kinder unserer Klasse. Sie beschenkten uns, die so eine nicht bekommen hatten. Schon siebzehn Monate später verloren wir unsern Klassenlehrer. Er wurde Soldat und fiel im Krieg gegen Polen. Fräulein Schwichtenberg war dann unsere Lehrerin. Als sie eines Tages zu uns auf den Hof kam, erschrak ich, ohne einen Grund zu haben. Sie kam zu uns, um sich im Garten ein paar Beeren zu pflücken.
Schon als sechsjähriger Junge hatte ich die Aufgabe, unsere Gänse zu hüten. Je größer sie wurden, um so schneller musste ich laufen, um sie auf unserm Kleefeld, das nicht eingezäunt war, zu halten. So 30 bis 33 Gänse wurden jedes Jahr großgezogen. Ein wenig Ruhe hatte ich, wenn sie dann satt waren. Ich kletterte auf den Ahorn- und Kastanienbäumen herum, oder lernte Gedichte auswendig für die Schule. Als ich acht Jahre alt war, durfte ich die Kühe auf unserer zwei Hektar großen abgeernteten Wiese hüten. Mein Hund, ein kleiner Mischling, war immer flink dabei. Sein Nachtquartier war die Scheune, wo unsere zwei Katzen ihr Jagdrevier hatten. Wir hatten ein Pferd, fünf Kühe, drei Schafe, einige Schweine, ca. 50 Hühner und 30 Gänse. Auf dem Feld gab es auch stets Arbeit für mich. Im Frühjahr und im Herbst war Mist streuen angesagt, was mich absolut nicht erfreute. Dagegen hatte ich viel Freude am Umgang mit der Sense, obwohl das sehr schwer zu erlernen war. Im Juni war die erste Heuernte. Die zwei ha. Gras wurden mit der Sense gemäht, das Gras wurde mehrmals mit der Harke gewendet. Zum Heu Einfahren wurde der Ackerwagen so um die Hälfte verlängert. Mit der Heugabel, doppelt so groß wie eine Mistgabel, wurde das trockene Heu auf den Wagen geladen und hoch gepackt. Ein Baum, schön glatt geputzt, wurde längs rüber gelegt und mit einer Leine festgezurrt, damit nichts verloren ging, und unser Polizist nichts zu beanstanden hatte. Er war sehr streng und auch pingelig, unser Herr Wachtmeister Anklam. Eine Begebenheit, die hier eigentlich nicht reinpasst, aber unsern Schupo charakterisiert: Weil ich beim Heil Hitler - Gruß den rechten Arm nicht ausreichend in Augenhöhe ausgestreckt hatte, mußte ich zurück laufen und dann an ihm vorbei mit vorgeschriebener Haltung grüßen.
Unser Getreide wurde ebenfalls ohne Maschinen nur mit der Sense gemäht.Das sogenannte Abraffen und Ablegen von Hand nach dem Mähen zu kleinen Garben war auch meine Aufgabe. Unsere Mutter hat die Garben dann mit Strohbüscheln zusammengebunden. Zum Schluss wurden die Garben zu Stiegen aufgestellt. Beim Einfahren und im Winter beim Dreschen mit der Dreschmaschine waren mein Bruder Helmut und ich auch unentbehrlich. Beim Ernten der Kartoffeln musste ich, wenn ein Korb voll war, die Kartoffeln in die Säcke schütten. Es blieben aber noch einige Kartoffeln im Boden zurück, die erst beim Pflügen zum Vorschein kamen und von mir dann aufgelesen wurden. Das bedeutete für mich, den ganzen Tag hinter dem Pflug her rennen, weil gerade Ferien waren. Später dann nur nachmittags. Die letzte Ernte im Jahr war die Wruckenernte. Wrucken werden an die Kühe verfüttert und wachsen auch auf leichtem Boden. Mancher kennt sie vielleicht unter dem Begriff "Steckrüben". Es sind gelbliche Kohlrüben. Sie werden so groß und schwer, dass das Beladen für mein damaliges Alter schon an Schwerstarbeit grenzte, dazu noch manchmal im eiskalten Schneegestöber. Die Rüben waren kalt, nass und glitschig, aber sie mussten noch vor dem ersten Frost eingemietet werden. Dazu hoben wir eine 80 cm tiefe längliche Grube mit Spaten und Schaufel aus. Die gefüllten Mieten wurden mit Stroh und Erde abgedeckt, so daß der Inhalt nicht erfrieren konnte. Nicht immer hatte ich Spaß bei der Arbeit; denn darnach waren noch die Schulaufgaben zu erledigen. So blieb mir nur der Sonntagnachmittag als Freizeit. Bei schönem Wetter waren wir, mein Schulkamerad Erwin Labuhn und ich natürlich in Wald und Feld unterwegs. Wir sammelten Heidelbeeren, Brombeeren, Himbeeren und Walderdbeeren für unsern persönlichen Genuss. Einmal kamen wir mit sechs Kilogramm. Steinpilzen nach Hause. Erwin`s Hemd diente uns als Tragebeutel.
Die Winterfreuden durften wir auch schon mal mit unseren größeren Brüdern erleben. Nach der ersten Schneeschmelze wurden von der Kamenz die Wiesen überschwemmt, und beim nächsten Frost hatten wir dann riesige Eisflächen entlang des Baches, prima zum Schlittschuhlaufen und Eishockey spielen. Einmal kamen wir in eine gefährliche Situation, die wir als Kinder meisterlich bewältigten: Erwin`s älterer Bruder Kurt geriet auf der Kamenz als Schlittschuhläufer zwischen zwei übereinander aufgetürmte Eisschollen und rutschte ins eisige Wasser. Ein Herauskommen aus eigener Kraft war ausgeschlossen. Wir bildeten mit unseren selbst angefertigten Hockystöcken eine Kette und retteten ihn so aus seiner mißlichen Lage. Es war inzwischen 18:00 Uhr und dunkel geworden, als wir uns auf den ca. 1,5 km langen Heimweg machten.
Auch das Laufen auf Skiern war ein liebgewordener Sport. Wer von uns konnte sich schon Skier leisten? Ich hatte ein Meter lange Faßdauben (Tonnenbretter), unten mit geschmolzener Stearinkerze gewachst und oben einen breiten Riemen als Schlaufe aufgenagelt, wo ich meine Füße reinstecken konnte. Mit Bändern wurde die Schlaufe nach hinten an den Füßen festgebunden. Mit solchen Dingern sind wir im wahrsten Sinne des Wortes die Berge runter gebrettert. Schnee hatten wir meistens genug, manchmal sogar eher zu viel. Eines Morgens war unsere Haustür zugeschneit. Einige Kinder kamen nicht zur Schule, weil ihr Weg so verweht war, dass sie nicht durchkamen. Wegen extremer Kälte wurde die Schule dann geschlossen.
Geschlossen wurde sie später noch aus einem anderen Grunde. Deutsche Soldaten waren in unserer Schule untergebracht, die von dort aus an die Ostfront gebracht wurden. Im Herbst 1944 hatten wir eine seltsame Einquartierung auf unserem Hof. Soldaten in deutscher Uniform mit Pelzmützen kamen auf ihren Panjewagen angereist, gezogen von kleinen Pferden, den Panjepferden, sprachen aber nicht deutsch. Es waren Letten, die auf deutscher Seite gegen Rußland gekämpft hatten, nun aber gen Westen ziehen durften.
Bald darnach zogen Flüchtlingstrecks, Pferdewagen aus Ostpreußen durch unser Dorf. Das waren die ersten Vorzeichen auch für unser Schicksal, das Flucht und Vertreibung hieß.


Flucht und Vertreibung



Im Februar 1945 war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für uns am Nullpunkt angelangt. Die endlosen Trecks, die durch unser Dorf zogen, verhießen nichts Gutes. So sehen wohl Zigeunerwagen aus, dachte ich. Aus dem Wald holte ich Buchenzweige und schnitzte sie zu Bögen für meinen Zigeunerwagen. Unser Vater war zum Volkssturm eingezogen worden. Eines Tages zog seine Truppe durch unser Dorf, um auch bei uns Schützengräben zu schaufeln. Für 20 Minuten durfte er uns besuchen. Dass dies unsere letzte Begegnung sein sollte, war mir nicht bewusst. "Wo wollt ihr denn hin?", sagte er, als er meinen Zigeunerwagen in der Scheune sah. Der verlängerte Erntewagen mit einigen Bügeln überspannt und Teppichen darüber befestigt sollte uns als Fluchtfahrzeug dienen. Erst auf Befehl von oben durften wir den Hof verlassen. So konnte das Vieh bis zuletzt noch von uns versorgt werden. Es gab auch noch viel zu tun. Unser einziges Pferd, wir nannten es Fuchs, musste noch zum Hufbeschlag; denn bei Schnee und vereister Straße waren griffige Eisen unter den Hufen lebensnotwendig.
Die Front kam immer näher. Wir hörten schon das Donnern der Kanonen, am Abend war der Himmel hell erleuchtet. Vermutlich brannte die 29 km von uns entfernte Stadt Rummelsburg schon lichterloh. Es herrschte eine gedrückte Stimmung, Angst ging um. Der überdachte Wagen war schwer beladen. Ein Sack voll selbstgebackenem Brot, ein Sack voll geräucherter Wurst aus unserer Hausschlachtung, Geräucherter Schinken, Speck, Mehl, Zucker, Essgeschirr, Bekleidung, Federbetten usw. hatten wir verladen. Das runde Dach mit den Teppichen und dem großen Teppich aus Linoleum darüber versprach Schutz vor Kälte und Schnee. Wenn nur unser Pferd nicht stürzt, war mein ständiger Gedanke. Es sind immer wieder Pferde gestürzt und Wagenräder gebrochen. Am Wegesrand standen weinende Frauen und schreiende Kinder. Vor lauter Stress verspürten wir keinerlei Müdigkeit, obwohl wir, wenn es bergauf ging, nebenher liefen und sogar noch mit schoben.
Wenn wir zur Rast einen Futterplatz für unser Pferd suchten, boten sich die verlassenen Pferdeställe als Herberge an. Unser Pferd war auf seinem Schlafplatz angebunden, daneben sollte ein fremdes Pferd untergebracht werden. Dagegen protestierte meine Mutter. Sie kannte die Launen unseres Pferdes und warnte den Halter des anderen Pferdes: "Unser Fuchs könnte ausschlagen". Es kam, wie es kommen musste. Das andere Pferd wurde von unserem erschlagen. Zum Glück hatten wir Zeugen, die bestätigen konnten, dass meine Mama auf diese Gefahr hingewiesen hatte.
Von diesem Schrecken kaum erholt, hatte der Stress und die Aufregung uns voll im Griff. Unser Pferd wurde wieder angespannt; und es ging weiter in Richtung Danzig, begleitet von immer lauter werdendem Kanonendonner. Nach einigen Kilometern Stopp and Go hörten wir das Rasseln der russischen Panzerketten. Das Militär, das darnach kam, hatte uns in kürzester Zeit vollkommen ausgeplündert. Uns blieb nur noch das nackte Leben. Wir mussten uns damit abfinden, ohne Pferd und Wagen zurückgehen zu müssen. Wir brauchten wohl für den Nachhauseweg drei Tage Fußmarsch, immer auf den Bahnschienen entlang. Einmal konnten wir uns nicht verlaufen, und zum Andern waren wir nicht so von Überfällen durch die Russen gefährdet.
Vor unserm Haus angekommen, empfing uns freudestrahlend unser treuer Hund, mein Teddy. Er durfte ja nicht mit auf den Treck. Im Haus war alles, was nicht niet - und nagelfest war, geplündert. Nach einigen Tagen, eines Nacht`s, stürmt eine Horde russischer Soldaten unser Haus. Die Haustür wurde aufgebrochen und alles im Haus durchwühlt. Das ging dann so täglich weiter. Alkohol und Mädchen wurden gesucht.
Wir sind dann immer, wenn die Russen zur Haustür reinkamen, hinten durchs Fenster - ein paar Strohballen lagen unterm Fenster zum Raus - springen - nach unten auf die Wiese gelaufen. Wenn die Meute weg war, konnten wir wieder ins Haus.
Auf die Dauer war das aber keine Lösung. Wir zogen in das Haus einer Freundin unserer
Mutter. Unsern ganzen Hausstand, auch die Möbel trugen wir in dieses Haus. Im Erdgeschoss befand sich eine Apotheke. Immer wieder fragten die Russen hier nach Wodka. Es war doch nichts zu holen. Aber einige enttäuschte Russen steckten deshalb dieses Haus in Brand. Die Kommandantur brauchte nun einen Schuldigen. Ein Sowjetsoldat kam nicht in Frage. Wenn das trotzdem jemand behauptete, wurde er verprügelt.
Ich kam zum Glück als Täter nicht in den Verdacht, weil ich als Viehtreiber gen Osten unterwegs war. Oft wurden große Vieherden durchs Dorf getrieben, die irgendwo erbeutet wurden. Diese russischen Viehtreiber saßen hoch zu Ross und kidnappten sich Kinder für ihren Viehtransport. Diese Kinder waren dann für immer verschollen. So erging es mir mal auf der Rummelsburger Straße. Ein Soldat zu Pferd wollte mich mitnehmen, ich rannte, so schnell ich konnte, über unser Gehöft zur Wiese. Ein Reiter ist ja schneller, als ein laufendes Kind, aber dadurch, daß ich durch die Scheune lief, vorne rein und hinten raus, entkam ich ihm.
Einmal versuchten sie auf die gleiche Weise auch Schweine zusammenzutreiben. Das war
lustig anzusehen. Die Tiere liefen hin und her, aber nicht vorwärts. Nach einer Stunde waren wir noch keinen Zentimeter vom Fleck weg. Also wurden sie auf Lastautos geladen.
Ein anderes Mal hatte ich aber nicht so ein Glück und musste mit dem Viehtrieb mit. 200 Kühe waren zu begleiten. Das war zu der Zeit, als das Haus abgefackelt wurde, in dem wir zuletzt wohnten. Nach 12 Kilometern in Bütow konnte ich in einem unbewachten Augenblick unter einer Brücke mich verstecken. Als der Transport dann vorbei war, trat ich meinen Heimweg an. - Bevor ich ins Dorf kam, sah ich schon aus einiger Entfernung zwei übriggebliebene Schornsteine in den Himmel ragen, umgeben von einer weißen Rauchfahne. "Das kann nur Tante und Onkel Stielow`s Haus sein", dachte ich. Und so war es auch. Die Hausbesitzer, Mama`s Freundin und ihr Mann wurden mit einer Kutsche zur Kommandantur gebracht und dort eingesperrt. Auch Mama und Schwesterchen Margot kamen dort in den Keller und noch eine Familie. Onkel Stielow hatte im ersten Weltkrieg ein Bein verloren, ging also mit Holzprothese. Weil er nicht flink genug war, packten die Russen ihn und warfen ihn buchstäblich mit Schwung auf den Wagen.
Es wurde schon dunkel, als ich ins Dorf kam. Wo sollte ich nun bleiben? Also ging ich
wieder in unser damals dauernd durchstöbertes Haus, um dort zu übernachten. Das war zwar unheimlich, aber ich hatte ja keine Wahl.
Am andern Tag wurden Stielow`s und die Anderen nach langen Verhören entlassen. Hätten sie aus Jemandem ein Schuldgeständnis erpressen können, wäre der erschossen worden. Diese Prozedur wurde mir also erspart.
Wo Stielow`s unterkamen, weiß ich nicht mehr. Wir mussten nun wieder in unser Haus zurück. Die Möbel aus unserm Haus waren bei Stielow`s verbrannt. Mama ging zur Kommandantur und bekam einen Erlaubnisschein, mit dem sie sich aus anderen Häusern, in die die Bewohner nicht, oder noch nicht zurückgekehrt waren, mit brauchbaren Gegenständen eindecken konnte.
Für uns Deutsche gab es zum Beispiel kein Schweinefleisch, einmal die Woche Rindfleisch. Ein Brot war die Wochenration für uns drei. Dafür mussten wir uns täglich zum Arbeitseinsatz melden. Deutsche und russische Soldaten mussten wir beerdigen. Tote Kühe und Schweine lagen herum, die unter die Erde mussten. Die Bahnstrecke zwischen Bütow und Rummelsburg wurde demontiert. Unsere Aufgabe war es, die Schienen ab zu schrauben und aufzustapeln. Das war harte Arbeit für die Frauen und uns Kinder.
Die Männer, die nicht in den Krieg ziehen mussten, wurden jetzt von den Russen verschleppt. So erging es auch unserm Bruder Helmut im Alter von 14 Jahren.Von März bis September hatten wir kein Lebenszeichen von ihm erhalten.Täglich gingen einzelne totkranke Männer durch unser Dorf, aber unsere waren nicht dabei, unser Bruder oder Papa.
Eines Tages wurden in unserer Scheune annähernd 200 deutsche Kriegsgefangene untergebracht. Hier lagen auch noch Steckrüben als Viehfutter herum. Darüber machten sich die hungrigen Männer verständlicherweise her. Ich stand in der Nähe einer Luke zur Scheune und wurde gefragt, ob wir noch mehr davon hätten. Wir hatten. - In einer Miete im Garten waren noch genug davon. Ich holte eine Kiepe voll Rüben und wollte sie durch die Luke reichen. Da richtete ein Russe seine Maschinenpistole auf mich. Ich schrie aus Leibeskräften, der Gefangenentransportleiter ging dazwischen und vereitelte diesen Erschießungsakt. Er sprach deutsch, kam in unsere Küche und spendierte ein Abendessen für uns, dazu schenkte er uns noch eine Flasche Wodka.
Die ersten drei Monate waren für uns, besonders für die Frauen eine schreckliche Zeit. Eine Frau z. B. die nicht bereit war, auf das Verlangen eines Russen einzugehen, wurde von ihm kurzerhand erschossen.
"Der nächste Winter kommt bestimmt", sagte ich mir mit meinen 13 Jahren auf dem Buckel. Also zog ich los mit meinem zweirädrigen Karren, um aus dem Wald Brennholz zu holen. Ca. 12 Festmeter Brennholz fuhr ich ein und zerkleinerte auch schon etwas davon.
Wir haben ein Kartoffelfeld bestellt, es im Sommer bearbeitet und im Herbst abgeerntet. Über 20 Zentner Roggen haben wir geerntet von dem Feld, das unser Vater im Herbst bestellt hatte. Mit der Sense haben wir es gemäht, zu Garben gebunden und zum Trocknen in Stiegen schräg gegeneinander aufgestellt. Ein polnischer Nachbar hat es uns dann mit seinem Pferdewagen nach Hause gefahren. Das meiste Getreide blieb aber am Halm stehen. Keiner war zuständig dafür. Er lieh uns eine von Hand zu betreibende Dreschmaschine. Zwei Kurbeln, die an beiden Enden der Walze angebracht waren, wurden von zwei Personen, die sich also gegenüberstanden, betrieben. Ich habe einige Tage an dieser Kurbel gestanden. Das war Knochenarbeit, kann ich nur sagen. Jetzt konnte der Winter kommen, wir hatten gut vorgesorgt. Froh waren wir und stolz auf unsern Lebensmut.
Da kam ein kleiner Mann mit großem Hut auf unsern Hof und verkündete: "Das alles gehört ab heute mir", zog ein Dokument aus seiner Tasche, auf dem das angeblich bestätigt war, was wir aber gar nicht lesen konnten, weil keiner von uns polnische Schrift lesen konnte. Wir waren also mit einem Federstrich enteignet, und unsere hochgeschätzten Wintervorräte waren von jetzt ab für uns unerreichbar. Ab sofort waren wir in unserem Hause Untermieter im Oberstübchen.
An unseren mit Muskelkraft gedroschenen Roggen,den wir bis dahin in unserer Wassermühle mahlen ließen, konnten wir nicht ran kommen. Das war unserer Mama zu viel. Sie beschwerte sich beim Bürgermeister und bekam Recht. Ein entsprechendes Schreiben überreichte sie dem Fürsten. Das wiederum löste bei unserem jetzigen Hauseigentümer Ärger aus. Unsere Küche durften wir nicht mehr benutzen, beschimpft wurden wir laufend, auch von seinen beiden Brüdern, die auch in unserm Dorf wohnten. "Ihr deutschen Verbrecher" war noch ein harmloses Wort. Als ich mal was dagegen sagen wollte, hat er mich getreten und mich mit der Sense zur Strafe auf die Wiese geschickt, um dort Gras zu mähen für seine Kuh, die er mitgebracht hatte. Er selbst war die Faulheit in Person. Wie wir später erfuhren, soll er sich auch nicht lange gehalten haben auf unserm Hof.
An unseren Lebensmittelvorrat kamen wir zwar nicht mehr ran, wurden dafür aber von unserem Ernährer versorgt, ähnlich wie im Hotel.
Im Spätherbst 1945 kam dann die Ausweisung. Das heißt, wenn wir die polnische Staatsbürgerschaft angenommen hätten, und wir Kinder in die polnische Schule dann gegangen wären, hätten wir bleiben können und vielleicht sogar unser Grundstück zurückbekommen.
Weil wir uns aber nicht einpolen lassen wollten, mussten wir mit dem nächsten Eisenbahntransport unsere Heimat verlassen. Mitnehmen durften wir nur soviel, wie wir tragen konnten. Ich trug einen Rucksack mit Broten. 200 Zloty und einige hundert Mark deutsches Geld waren mein persönliches Kapital, Geld, das ich zum größten Teil auf der Straße gefunden hatte. Mir war es unbegreiflich, dass deutsches Geld auf der Straße lag, war es doch noch bis zur Währungsreform gültig.
Ein polnischer Nachbar fuhr uns mit seinem Pferdewagen zum Bahnhof in Büto. Seine Frau gab uns auch noch ein Brot mit für die Reise. Ein Tag zuvor wurde unser Helmut freigelassen. Unsere Mutter durfte ihn von einer polnischen Familie abholen, die ihn ein halbes Jahr lang festgehalten hatte und ihn am Liebsten für immer als billige Arbeitskraft behalten hätte. Ohne ihn wären wir nicht ausgewandert.
Als wir in Bütow auf den Abtransport warteten, holten mich die Russen zum Straßekehren. Ich hatte große Angst, den Zug zu verpassen. Als ich mich einen Augenblick unbeobachtet fühlte, rannte ich zum Bahnsteig, wo es auch bald darauf losging. Der Zug war überfüllt und bummelte nur so vor sich hin.
Während eines Aufenthaltes auf dem Neustettiner Bahnhof wurden wir von Banditen in russischer Uniform überfallen und brutal ausgeplündert. Die zu allerletzt uns übriggebliebene Habe wurde uns nun auch noch abgenommen. Den Rucksack mit den Lebensmitteln konnten wir Gott sei Dank behalten. Ich mußte mit ansehen, wie so ein Kriegsverbrecher einem alten Mann die Schuhe von den Füßen riss. Mit einem scharfen Messer schnitt er ihm die Schnürsenkel auf und und verletzte ihm dabei die Beine.
In der damals so genannten toten Stadt Küstrin an der Oder kamen wir für etliche Tage in ein Internierungslager. Es war schon sehr kalt und geschneit hatte es auch. Jetzt hieß es durchhalten, nicht krank werden, um die Übersiedlung nach Deutschland noch zu erleben. In einer großen Halle waren wir untergebracht, die mit offenem Feuer beheizt wurde. Das war ein Qualm! Die Augen brannten und warm wurde es trotzdem nicht.
Vielleicht 200 m von dieser Halle entfernt stand ein verlassenes Haus. Dort zog unsere Mutter mit uns kurzentschlossen ein. Auf dem Hof gab es eine Wasserpumpe, Brennholz war auch vorhanden, so dass wir uns was kochen konnten. Mama putzte gründlich das ganze Haus, so dass wir uns drin wohlfühlen konnten. Wir mussten nur aufpassen, dass der Transport uns nicht zurückließ.
Inzwischen ging auch unser Brotvorrat zur Neige. Es kamen aber Händler in dieses Lager, die Brot für teures Geld verkauften. So wurde ich 200 Deutsche Reichsmark los für ein Zwei - Pfund - Kastenbrot, das obendrein sehr bitter schmeckte.
Endlich ging der Transport über die Oder. Nach neun Monaten sahen wir zum ersten Mal wieder elektrisches Licht. Wir kamen nach Vorpommern. In einem Kuhstall neben den Kühen mussten wir übernachten. Dort ging unsere Mutter für uns Brot betteln. Denn mein Geld brauchten wir noch für die Bahnfahrt nach Berlin. Wir verließen das Flüchtlingslager in Vorpommern und fuhren privat nach Berlin, wo wir Verwandte und Bekannte hatten. Die waren selbst ausgebombt und konnten uns nicht aufnehmen. Jeder bekam einen Löffel für den Anfang. Auf dem Wege zu Rach`s sahen wir nur zerstörte Häuser und Schutt an den Straßen. Obwohl unsere Mutter dort viele Jahre als Kindermädchen gearbeitet hatte, fand sie sich nicht zurecht. Die S - und U - Bahnen waren meist so überfüllt, dass wir mehrmals auseinander- gerissen wurden. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns wieder in ein Flüchtlingslager zu begeben. Von hier ging ein Transport nach Thüringen. Auf der Landkarte war Thüringen als amerikanische Zone eingezeichnet. Später hörten wir, dass die Russen dieses Land für einen Teil Berlins bekommen hatten.
Schließlich landeten wir Anfang Dezember in Bad Sulza in Thüringen, wieder für drei Wochen im Lager. Die Verpflegung war sehr gut. Zu Weihnachten bekam jeder einen Weihnachtsstollen. In der gut beheizten Baracke war es sehr gemütlich.

Neue Heimat



Anfang Januar 1946 waren wir endlich in unserer neuen Heimat angelangt, in Olbersleben in Thüringen. Eine 17 qm große Wohnung für vier Personen wurde uns zugewiesen. Das Zimmer war 12,5 qm groß, durch einen türlosen Durchgang kam man in eine Kammer, die 4,5qm groß war. Das Klo war auf dem Innenhof, zur Wasserpumpe mit einem Schwengel zum Pumpen mussten wir auf die andere Straßenseite gehen.
Eine Hungersnot geht kaum spurlos an einem Menschen vorüber. Aufgrund des üppigen fetten Essens bei wohlhabenden Thüringer Bauern bekamen wir folglich die Gelbsucht. Deshalb durften wir erst 13 Wochen später in die Schule gehen.
Vom Schulunterricht wurden wir auch befreit, wenn wir in der Landwirtschaft helfen mussten. Unsere Arbeit auf dem Felde oder auf dem Hofe z.B. beim Dreschen wurde mit Naturalien vergütet. Deshalb halfen wir gern in der Landwirtschaft aus. Außerdem durften wir nach der Getreideernte auf dem Stoppelfeld Ähren lesen. Das brachte noch mal ein paar Pfund Mehl, ebenso wenn man nach der Kartoffelernte hinter dem Pflug herging und die dann an die Oberfläche kommenden Kartoffeln einsammelte. Das nannten wir "Kartoffeln stoppeln". Die Lebensmittel wurden noch bis Mai 1958 rationiert.
Nach der Kartoffelernte im Jahre 1946 sah ich mich nach einer Lehrstelle um. Das Arbeitsamt konnte mir nichts anbieten. In einer Fabrik für Karosserie - und Wagenbau versuchte ich mein Glück. Hier war Einstellungsstop. Der Prokurist, bei dem ich mich vorstellte, sagte zu seinen Leuten: "So einen kräftigen Mann können wir doch nicht wieder wegschicken." So war ich nun ab dem 1.11.1946 Stellmacherlehrling. Im ersten Vierteljahr. musste ich mit noch drei anderen Lehrlingen auf dem Gelände Schnittholz aufstapeln. Für einen 15 - Jährigen war das Schwerstarbeit. Immerhin waren das vier Meter lange Bohlen,
60 cm breit und fünf bis zehn Zentimeter dick, die wir hoch stemmen mussten. Hundert Mitarbeiter waren in diesem Betrieb beschäftigt. Wir bauten Handwagen, Ackerwagen, Kutschen, Zirkuswagen und Lkw - Aufbauten. Daran betätigten sich Zimmerer, Stellmacher, Tischler, Drechsler, Dreher, Schmiede, Sattler und Lackierer. Wegen Energiemangel mussten wir auch nachts arbeiten,wenn wir tagsüber Stromsperre hatten.
Die Eisenbahn fuhr nie pünktlich . Also musste ich sieben Kilometer täglich zur Arbeit gehen, auch bei Schnee und Eis.
Wir vier Lehrlinge mussten für die Gesellenprüfung jeder ein Wagenrad für eine Kutsche bauen. Das erforderte von uns Geschicklichkeit, um ein einheitliches Bild des Fahrzeugs zu erreichen. Wir bekamen die Note "gut". Im August 1949 war die Gesellenprüfung. Bis November 1949 wurden wir noch als Gesellen beschäftigt für 98 Pfennig die Stunde. Dann ging der Betrieb in den Konkurs und wurde bis zum Ende des Jahres abgewickelt.
Nun war ich also mit 18 Jahren schon zum ersten Mal arbeitslos.
Mein letzter Arbeitstag war aber auch ein Glückstag für mich. Zuhause in Olbersleben angekommen, wurde mir eine Arbeitsstelle in einem Wanderkino als Hilfsfilmvorführer angeboten. Schon am nächsten Tag ging es los. Der Kinobesitzer war gerade enteignet worden vom Ulbrichtregime. Nur sein Auto, das er schnell noch seiner Frau überschrieben hatte, war ihm geblieben.
Wir mussten in zwölf Dörfern Filme vorführen, später nur noch in sechs Ortschaften. Der Vorführapparat war eine große Theatermaschine, die wir zu zweit nach der Vorführung auseinanderbauen und in Kisten verpackt mit einem Opel P4 abtransportieren mussten. Eine Heizung war nicht in dem Auto, oder vielleicht funktionierte sie nicht. So war es gleich im ersten Winter manchmal ganz schön kalt da drin.
Das Filmvorführen hat mir Spaß gemacht. Wir hatten ja nur einen Apparat, so dass beim Spulenwechsel immer eine Pause entstand. Die Länge der Pause hing davon ab, wie schnell ich die Spulen wechseln konnte. Beim Einschalten wurde die Maschine mit einer Kurbel auf die Betriebsdrehzahl gebracht, zwei Elektroden erzeugten einen Lichtstrahl für den Bildwerfer. Eine feuergefährliche Aktion war das schon. Aber es ging immer alles gut, zum Glück. 60 Prozent unserer Filme mussten aus sozialistischen Ländern stammen. Die größten Besucherzahlen hatten wir aber mit den alten Filmen. Das muss den Behörden wohl ein Ärgernis gewesen sein. Und so wurde ohne Angabe von Gründen unser Lichtspielbetrieb Ende 1950 geschlossen.
Wieder war ich ohne Arbeit. Arbeitlosengeld gab es damals nicht. Unser Helmut war seit Dezember 1947 im Westen, und somit war ich der einzige Verdiener für uns drei. Also wieder aufs Arbeitsamt. Um mich erst mal einzuschüchtern, erklärte man mir, dass ich nur Aussicht auf eine spätere Arbeitsstelle hätte, wenn ich mich für drei Jahre verpflichten würde, im Erzbergwerk in Aue zu arbeiten. Dort förderten die Russen uranhaltiges Erz für ihre Atomindustrie. Ich wusste, dass die Kommunisten über Leichen gehen. Also hatte ich gar keine Wahl. Ich unterschrieb. In Zwickau in einer Kaserne sollte ich mich melden. Dieser Tag, der 19.Januar 1951 sollte mir unvergessen bleiben. Unzählige Männer strömten auf diese Kaserne zu, um sich registrieren und eine Unterkunft zuweisen zu lassen. Als ich nach sechs Stunden immer noch keine Bleibe hatte, bemühte ich mich selbst darum. Ich fuhr mit dem Bus einfach bis zur Endstation und fragte hier nach einem Zimmer für mich. Direkt neben der Haltestelle wurde ich von einer hier lebenden Familie freundlich aufgenommen. Vater und Sohn arbeiteten in dem Reichsbahnausbesserungswerk in Zwickau, und der andere Sohn war noch schulpflichtig, ging in die fünfte Klasse. Die Mutter kaufte für mich ein und bekam dafür meine Milch - und Lebensmittelkarten. Meine Gummistiefel waren jeden Tag abgewaschen. Ohne Gummistiefel konnte man den Bahnhof Oberschlema, auch Oberschlammbach genannt, gar nicht begehen. Die Reichsbahn stellte für jede Schicht drei Züge bereit. Ich fuhr mit dem Zug von Zwickau - Weißenborn bis zum Hauptbahnhof. Dort stand ein Schichtzug für uns bereit. Man konnte hier auch preiswertes Essen einnehmen mit Vorsuppe.
Wenn um sechs Uhr meine Schicht begann, musste ich um 3:45 Uhr aufstehen. Obwohl ich das Klingeln des Weckers nie hörte, war ich doch immer pünktlich im Schacht. Dafür sorgte nämlich die Frau des Hauses, wofür ich ihr heute noch dankbar bin.
Mit dem Förderkorb ging es 180 Meter in die Tiefe. Auf der Sohle hatten wir stets hohe Luftfeuchtigkeit bei 18 Grad Celsius. Die Hauer bohrten mit ihren Presslufthämmern zwei Meter tiefe Löcher in die harte Gesteinswand. Der Sprengmeister legte Sprengstoff hinein, verlegte die Zündschnur, und alle Kumpels mussten sich verkriechen, bis sie wieder einen großen Haufen Gesteinsmassen in die Hunte (Loren) schaufeln durften. 15 Hunte wurden zu einem Zug zusammengekoppelt. Das An - und Abkoppeln war meine Aufgabe.Weil der Zug streckenweise sehr schnell fuhr, so daß ich mit meinen Gummistiefeln nicht mitkam, hockte ich mich einfach auf die letzte Kupplung. Zwei Handgrubenlampen von je vier Kilo Gewicht hatte ich mitzuschleppen. Eine zum Ausleuchten des stockdunklen Stollens, die andere als Rücklicht für den Zug. Das war nicht leicht, so mit 16 Pfund Ballast acht Stunden lang im Schacht herumzulaufen. Ob ich das wohl drei Jahre ohne gesundheitliche Schäden durchhalten würde? Es kam anders, zum Glück. Wegen geringer Erzvorkommen wurde in diesem Schacht das Personal auf 30 Prozent reduziert. Als erster Bewerber trug ich mich auf der Entlassungsliste ein. Das war im vierten Monat als Bergmann.
Nach vier Wochen Arbeitslosigkeit bekam ich eine Stelle in der Rechenmaschinenmontage der "Rheinmetall" in Sömmerda. Mein damaliger Chef in dem Wanderkino war hier auch gelandet und hatte ein gutes Wort für mich eingelegt. Hier hatte er früher seine Ausbildung genossen und war während des Krieges in diesem Betrieb als Einrichter tätig gewesen.
In den fünfziger Jahren versuchte die kasernierte Volkspolizei, eine verkappte Armee, uns Jüngere für ihren Dienst anzuwerben. Weil ich stets standhaft blieb, wurde mir als Schikane jedes Mal ein anderer Arbeitsplatz zugewiesen. Das störte mich aber keineswegs. Im Gegenteil. Das nahm ich gerne in Kauf, konnte ich dadurch doch bei abwechslungsreicher Tätigkeit mein Fachwissen erweitern und immer wieder neue Kollegen kennenlernen.
Im Jahre 1953 wurde die politische Lage immer dramatischer. Die Rheinmetall hatte Absatzschwierigkeiten, eine Massenentlassung begann. Mich erreichte die Kündigung, als ich mit einer verschleppten Rippenfellentzündung acht Wochen im Krankenhaus lag. Das war eigentlich nicht zulässig. Nach dem 17. Juni, dem von den Russen niedergeschlagenen Aufstand wurde ich wieder rehabilitiert und kam nach dreizehn Wochen Arbeitsunfähigkeit an meinen Arbeitsplatz zurück. Auch alle anderen Entlassenen durften wieder ihrer Arbeit nachgehen.
Im Auftrage der evangelischen Kirche gründeten wir einen Posaunenchor. Ich bekam eine Tuba, die mir natürlich nicht gehörte. Diese Instrumente wurden durch Spenden für die Kirche erworben. An Feiertagen spielten wir in der Kirche und an Geburtstagen älterer Leute. Als ein Dorfbewohner aus Gefangenschaft heimkam, konnten wir ihm und seinen Angehörigen mit unserm Bläserklang eine große Freude bereiten. Am evangelischen Kirchentag in Leipzig vom 7. - 11. 7. 1954 durfte ich mit meiner Tuba unter 2000 Bläsern dabei sein. Meine Freundin Ruth war auch mitgekommen. In dieser Zeit haben wir uns verlobt. Ruth wohnte im Nachbardorf Ellersleben, wo ihre Eltern einen gepachteten Hof bewirtschafteten, den die Eigentümer verlassen mussten, weil sie gezwungen waren, in den Westen zu gehen. Das wurde ihnen aber jetzt weggenommen. Innerhalb von drei Monaten sollten sie den Hof geräumt haben. Sie fanden in Niedertrebra eine Landwirtschaft, die sie kaufen konnten. Ein schwieriger langwieriger Umzug stand uns bevor, nachdem wir hier noch alles abernten konnten. Mit Bahn, Lastkraftwagen und Pferdefuhrwerken wurde der ganze Bestand rüber geschafft. Durch den Verkauf von Pferden, Kühen und Schweinen wurde der Kauf des neuen Hofes finanziert.
In diesem ganzen Umbruch hatten auch noch Ruth und ich zur Hochzeit eingeladen. Es wurde trotzdem eine gelungene Feier in gemütlicher Runde mit 40 Personen und kirchlichem Segen. Darnach wurde wieder in die Hände gespuckt (sprich: kräftig angepackt).
Bis Ende Oktober war ich noch in der Fabrik beschäftigt. Von Niedertrebra aus war mir der Weg zur Arbeitsstelle aber zu weit. Ich kündigte und begann im Dezember in Apolda in dem dortigen Karosseriebau, einer der wenigen noch verbliebenen Privatfirmen, bei kargem Lohn meinen Dienst. Interessante Arbeit macht viel Spaß, aber nicht satt, sagte ich mir und ging als Spitzendreher zur Konkurenz. Hier mußte ich Urlaub nehmen, weil es Materialbeschaffungsschwierigkeiten gab. Diese Zeit nutzte ich für die erneute Arbeitssuche und fand im Mähdrescherwerk, jetzt "Weimar - Werk" eine Stelle als Karosseriebauer. Ein Stellmacher wurde für diesen Job gesucht, und so war ich der richtige Mann dafür, konnte gleich trotz Einstellungsstopp am 28. 08. 1956 anfangen und bis zu meiner Pensionierung bleiben. "Sie schickt mir der Himmel", sagte der Abteilungsleiter und erklärte mir seine Probleme. Als Fachmann hatte ich nun täglich mit diesen vermeintlichen Problemen zu tun, die ich mit viel Spaß bei meiner Arbeit erledigen konnte. Bei seinem täglichen Durchgang durch die Produktionsstätten begrüßte mich der Abteilungsleiter mit Händedruck und bedankte sich bei mir für den reibungslosen Ablauf des Lkw. - Fahrerhaus - Ausbaues. Als der Telefonanruf über die Geburt unseres Sohnes Rüdiger am 14. Oktober in der Firma ankam, überbrachte er mir persönlich die Nachricht und gab mir den Rest des Tages frei.
Die Produktion der Fahrerhäuser ging zu Ende. Es wurde jetzt rund um die Uhr gearbeitet, bis alles ausgeliefert werden konnte. Die Umstellung auf die Produktion der O - Bus - Anhänger brachte wiederum Probleme mit sich. Die Schablonen für die Sitzgestelle musste ich inoffiziell außerhalb der Dienstzeit anfertigen. Vorher musste jeder Sitzplatz ausgemessen werden. Dem neuen Meister waren meine schöpferischen Fähigkeiten noch nicht bekannt. Die Materialbeschaffung war oft schwierig, so dass wir manchmal tagelang nicht weiterarbeiten konnten. Nach zwei Jahren musste auch diese Produktion eingestellt werden.
In einer anderen Halle liefen einige neue Drehautomaten zum Ausprobieren. Ich zeigte mich sehr interessiert, und im Handumdrehen war ich engagiert für zwei Jahre als Einrichter in der Automatendreherei. Das war eine interessante Beschäftigung für mich. Ab 1962 arbeitete ich wieder in meinem erlernten Beruf.
Nach einem Jahr im Vorrichtungsbau (das ist eine Einrichtung für serienmäßige Herstellung von Teilen) standen wir vor der Aufgabe, künftig Gießereimodelle herzustellen. Das war nun ein völlig neues Berufsbild für mich. In Abendkursen musste ich mich für diese Arbeit weiterbilden. In Fachkreisen bezeichnet man die Arbeit des Modellbauers für Gießereimodelle als eine schöpferische Tätigkeit. Meine langjährige Erfahrung im Metallgewerbe kam mir jetzt zugute bei der Herstellung von Metallmodellen. Muttermodelle werden meistens aus Holz gefertigt. Modelle für eine größere Stückzahl Abformungen und Abgüssen sind aus Stahl, Alu oder Epoxydharz zu fertigen. Diese schöpferische Tätigkeit verlangt außergewöhnliches Vorstellungsvermögen, geübtes Zeichnungslesen und auch fachliches Können. Deshalb zeigen Jugendliche für diesen Beruf kein Interesse. Insofern ist dieser Beruf vom Aussterben bedroht. Ohne Modelle kann man keine Gussteile fertigen. Also haben fünf meiner Kollegen den Modellbaubetrieb nach der Wende gekauft. Sie produzieren die kompliziertesten Modelle. Wenn ich so zweimal im Jahr dort hinkomme, ist die Freude im Betrieb groß.
Große Freude und viel Spaß haben wir in unserm Garten. Seit 1968 bearbeiten wir einen gepachteten Schrebergarten von 460 qm Fläche. Jeder Anfang ist schwer, sagt man; aber dieser Anfang war eine schwere Last. Müllhalde ist kaum übertrieben. Jeder Spatenstich brachte Glas, Porzellanteile oder Blechbüchsen hervor. 56 Handwagen voll Müll und Schutt fuhr ich zur ein Kilometer entfernten Halde.
Von der zu großen Laube musste ich laut Beschluss des Vorstandes 60 Prozent abreißen. Mit dem dadurch anfallenden Holz konnten wir sieben Monate lang unseren Kachelofen beheizen. In dem Garten stand ein großer Süßkirschbaum und Strom war auch in diesem Garten schon vorhanden, über Strommasten an die Laube geleitet, was die wenigsten Gärten damals hatten. Deshalb wollte Ruth nur diesen Garten.
Im Februar 1997 wurden alle Gärten in dieser Kolonie an das Stromnetz angeschlossen. Auch ich musste nun ebenfalls ein Erdkabel verlegen und am Zaun den Stromzählerkasten anbringen. Eine Sommerwasserleitung bekamen wir auch. Bis dahin konnte ich schon Wasser aus meinem eigenen Brunnen fördern, den ich mir im Jahre 1978 mit einem Handbohrer zwölf Meter tief gebaut hatte.
Die Wildkaninchen hatten großen Schaden angerichtet, was mich veranlasste, noch im ersten Jahr einen Zaun zu ziehen. Auch pflanzten wir gleich im ersten Jahr Rosen, Obstbäume und eine Ligusterhecke.
Für den Anstrich der Laube brauchte ich zehn Kilo Farbe und viel Geduld .Deshalb habe ich die Laube mit PVC - Platten verkleidet. Eine Veranda fehlte noch; denn ein wackelnder Tisch zur Kaffeezeit ist nicht so gut. Materialbeschaffung war stets ein Problem. Im Betrieb konnte jeder zwei Zentner Zement käuflich erwerben. Meine Kollegen bestellten auch jeder zwei Zentner, die ich noch dazu bekam. Einen Lkw voll Kies bekam ich geliefert, und das Werk konnte beginnen. Unser Sohn Rüdiger bediente die geliehene Mischmaschine. Mit dem Rest konnten wir noch den Fußboden in der Laube auszementieren. Die alte Diele war inzwischen morsch geworden. Das Laubendach haben wir mit neuen Schindeln versehen. So gab es an der Laube, die aus einem ausgedienten Eisenbahnwagen bestand, stets Reparaturarbeiten.
Die schweren Arbeiten, wie z. B. das Umgraben des Gartens und das Anlegen der Beete sind meine Beschäftigung. Ruth kümmert sich um das Säen, das Pflanzen und die Pflegearbeiten.
Als ich im Jahre 1956 in Weimar Arbeit bekam, dachte ich auch an einen Wohnungswechsel nach Weimar; aber Ruth konnte ich nicht überzeugen, bis wir eines Tages von einem Kollegen, der in Weimar eine schöne Neubauwohnung hatte, eingeladen wurden. Als wir wieder in unserer Einzimmerwohnung mit Küche waren, sagte Ruth zu mir: "Und morgen meldest du dich bei der Wohnungsbaugenossenschaft an!" Gesagt, getan. Ich war der 362. Bewerber auf der Liste. Nach dem Satzungsstatut mußten wir 3100.- Mark einzahlen und 300 Stunden körperliche Arbeit auf dem Bau leisten. Wo es etwas zu schaufeln gab, musste ich antreten und zwar nach meiner regulären Arbeitszeit, auch sonntags. So bekam ich 560 Stunden zusammen. Die 260 Stunden Arbeit, die ich zusätzlich über dem vorgeschriebenen Soll geleistet hatte, kamen mir insofern zugute, als ich bei der Wohnungszuteilung mir meine Wunschwohnung aussuchen durfte. Ich bekam eine im ersten Stock.
Am 07.02.1963 konnten wir bei 28 Grad Kälte in unsere 56 qm große Wohnung einziehen. Mit einem Kachelofen, zwei transportablen Öfen und zwei Gasheizkörpern konnten wir es uns schon recht gemütlich machen in unserem neuen Heim. Zunächst hatten die Räume nur einen Farbanstrich, weil die Wände zum Tapezieren noch zu feucht waren. Ums Haus herum waren noch keine Gehwege angelegt, die Kinder konnten nur mit Gummistiefeln raus gelassen werden. Jährlich musste jeder zehn Stunden zur Werterhaltung des Hauses und des Umfeldes arbeiten. Unsere Grünanlage habe ich immer mit der Sense gemäht. Seit 1990 wird das von einer Firma erledigt, die von uns dafür bezahlt wird.
Im Jahre 1994 wurde unser Haus saniert. Unsere Etagenheizung haben wir selbst finanziert. Außerdem haben wir unsere Wohnung vollkommen renoviert.
Nun wohnen wir in einer schönen modernen Wohnung, in der wir uns sehr wohlfühlen.


Auf der Rückseite mein Elternhaus, das ich bei meinem ersten Besuch nach dem Kriege fotografiert habe. Man sieht noch die behelfsmässig von mir reparierte Tür, die ein Sowjetsoldat mit seinem Stiefel zertreten hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2010

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