Mehlan schaute der Polizeistreife nach und versuchte wie immer, einen Blick auf die Gesichter der Streifenwagenbesatzung zu erhaschen. Er war etwas zu spät aus der Tür seines Elternhauses getreten und somit konnte er nur noch das Heck des Geländewagens sehen. Gesichter anzusehen war mehr als ein Hobby von Mehlan und seinen Freunden. Durch das Betrachten der Gesichter der Polizeistreifen, konnten sie sich davon überzeugen, es hier mit richtigen Menschen zu tun zu haben. Richtige Menschen, so wie Mehlan, Muhammad, Ali und Mustafa, richtige Menschen, so wie alle Menschen hier, inmitten dieser Unmöglichkeit. Dieser Unmöglichkeit mit Namen Israel. Israel, eine Unmöglichkeit mit dem Namen eines Biblischen Volkes, welches hier nicht die Heimat hatte, wie sich die Moderatoren, in von Mehlan und seinen Freunden regelmäßig geschauten Fernsehsendern, immer beeilten zu versichern. Er hatte sich noch nie die Mühe gemacht, nachzudenken was Heimat genau bedeutete und was es bedeutete, wenn es Menschen gäbe, die hier lebten obwohl ihre Heimat ganz wo anders sein sollte. Er machte sich auch nicht die Mühe nachzudenken, woher diese Männer und Frauen eigentlich kämen, wenn sie überhaupt irgendwoher kämen. Für ihn war es schon klar, dass er selber mit diesen Menschen nichts gemeinsam haben konnte. Davon konnte er sich jeden Tag von Neuem überzeugen. Mehrmals am Tag, wenn man es ganz genau nahm. Mehrmals am Tag fuhren diese Polizeistreifen durch die Strasse in der er mit seiner Familie und den anderen aus der Gemeinde lebte. Ihm war es sofort aufgefallen, dass die Besatzung meist aus zwei Israelis bestand, wobei der eine scheinbar immer eine Frau war, jedenfalls war es sehr oft der Fall. Frauen und Männer in einem Streifenwagen? Er konnte nicht genau sagen, was ihn daran störte. Nur, in seiner Familie war es so nicht denkbar, wo er meist mit seinen Brüdern und Cousins und die Schwestern mit den Cousinen, unter sich blieben. Das war beim Essen so und auch bei fast allen Familienfeiern. Israelis ! Was waren eigentlich Israelis? „Israelis sind vor langen Jahren in unser Land eingefallen und haben unsere Ölbäume gefällt und große Städte auf unseren Feldern gebaut. Israelis haben unseren Propheten verspottet und unsere Moscheen geschändet. Israelis sind die Ausgeburt der Hölle und ich sage Dir, sie werden in der Hölle schmoren“ Sein Großvater hatte sich immer sehr ereifert, wenn er über die alten Zeiten sprach. Mehlan konnte sich noch gut an die glänzenden Augen des Alten erinnern. Mehlan wollte mehr über die Israelis wissen, traute sich aber nicht seinen Großvater zu unterbrechen, wenn dieser sich in seinen Eifer steigerte. Mehlan fragte sich immer, warum diese Fremden in seinem Land den Ton angaben und sich nicht wie Gäste benahmen, wie es eigentlich hätte sein sollen. Diese Gäste benamen sich wie Hausherren. Und dass sie Herren waren, das konnte er jeden Tag aufs Neue merken. Jeden Tag, den er sich außerhalb seiner kleinen Gemeinde in dieser Stadt mitten in Israel, dieser Unmöglichkeit Israel aufhielt. Leute wie er Mehlan, hielten sich nicht allzu oft außerhalb auf. Der größte Teil seines an Höhepunkten armen Tagesablaufs spielte sich innerhalb der „Vier Wände“ seines Elternhauses ab. Die Anderen wohnten ganz in der Nähe, in der Israelischen Stadt mit Name „Pardess Hanna“, nicht weit von der Israelischen Hafenstadt Haifa entfernt. Dass es hier in dieser kernisraelischen Stadt überhaupt noch Araber, wie Mehlans Familie, gab lag daran, dass sein Großvater damals bei den früheren Besatzern arbeitete, damals im Jahre 48, dem Jahr der Staatsgründung des Judenstaates Israel. Sein Großvater der bis zu seinem Tode vor ein paar Jahren, immer auf diese Unmöglichkeit geschimpft hatte. „Machmout, was machst du denn hier in Pardess ? Heute ist doch keine Schule und überhaupt, was treibt dich hierher?“ Mehlan hatte die unscheinbare Gestalt sofort erkannt, die drüben an der Bushaltestelle scheinbar unbeteiligt in einer israelischen Zeitung blätterte und irgendein bisschen unauffällig tat. An dieser Bushaltestelle schräg gegenüber seinem Elternhaus, etwa hundert Meter die geteerte Straße hinab. Mehlan war mehr so aus Neugierde die Straße hinab geschlendert und war erfreut den früheren Klassenkameraden zu sehen. Der etwas jüngere und wahrscheinlich auch einen Kopf kleinere Machmoud schien ihn, Mehlan, nicht zu erkennen oder erkennen zu wollen. „Machmoud was ist mit dir los, erkennst du mich nicht mehr, was ist los, was machst du hier ?“ Mehlan konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie beide zusammen eingeschult wurden und zunächst gute Freunde wurden. Allerdings hatten die Brüder von Machmoud einige Zeit ziemlichen Ärger mit den israelischen Behörden bekommen, was dazu führte, dass sie einige Mal eingesperrt wurden und dann irgendwann nicht mehr auftauchten. Machmoud hatte behauptet, sie würden in Kairo auf dem Bau arbeiten. Dann irgendwann, so vor fünf Jahren, sagte ihm Machmoud, dass er und seine Mutter nach Gaza ziehen würden. Der Vater von Machmoud war schon früh verstorben. Und jetzt auf einmal stand dieser alte Freund so plötzlich vor ihm und schien ihn nicht mehr erkennen zu wollen. Mehlan war etwa dreissig Meter weit entfernt von Machmoud, als dieser ihn ansah und es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Die Israelis hatten immer , wenn sie durch das „Araberviertel“ der Stadt fuhren, den spielenden Kindern zugewinkt, was diese aber nicht zu erwidern wagten, weil solches ihnen von den größeren Brüdern verboten wurde. Es kam schon mal vor, dass es Backpfeifen hagelte, wenn einer der „Großen“ das sah. „Sie sollen in der Hölle schmoren. Sie sind die Ausgeburt der Hölle. Schande über sie. Sie haben uns das Land geraubt und es kommt der Tag an dem wir sie in das Meer zurücktreiben, aus dem sie gekrochen kamen.“ So oder so ähnlich, wurden ihm seine Fragen beantwortet. Seine Fragen über die Israelis, denen er auf Schritt und Tritt begegnete, wenn er sich vom Haus entfernte. Und über die er doch nichts zu wissen schien. Er hatte früher immer davon geträumt, selber zu einer Polizeitruppe zu gehen, um selber mit einer jungen Israeli auf Streife zu fahren. Seine Brüder hatten ihm aber schon sehr früh klar gemacht, dass obwohl er und seine Familie israelische Ausweispapiere besaßen, ein Job bei der Polizei nicht infrage käme. Die nehmen keine Araber. Keine Chance. Brauchst du gar nicht drüber nachzudenken, du Träumer . Mach dein Abitur und dann kannst du studieren, in Kairo oder in Paris. Hier in Israel hast du keine Möglichkeit.“ In einem Jahr wäre es soweit. Er hätte seinen Abschluss und dann würde er weitersehen, so hatte es sich Mehlan auf jeden Fall vorgenommen. Und jetzt auf einmal Machmoud an der Bushaltestelle mit einem Sprengstoffgürtel um die Brust geschnallt. Sein Freund Machmoud, der nur etwa achtzig Kilometer entfernt wohnte und den er schon fünf Jahre nicht mehr gesehen hatte, weil es diesen scheinbar in eine ganz andere Welt verschlagen hatte. Er hatte sofort erkannt, was los war. Er hatte sich gewundert, dass Machmoud trotz der Hitze eine Art Anorak trug und diesen auch noch zugeknöpft hatte. Heute am Freitag inmitten des Rahmadan, bei Bullenhitze, war ein alter Freund hier aufgetaucht und trotz der Tatsache, dass er schwitzte, zog er den Anorak nicht aus. Und sein Freund Machmoud war früher nicht so dick, wie es jetzt schien. Als Machmoud ihn ansah, wobei Mehlan nicht sagen konnte ob der ihn erkannte, schien es ihm so, als würde sein Blick ihn flehendlich anschauen, mit der Bitte endlich zu verschwinden. Mehlan hatte sich umgedreht und überlegte. Es hatte sicherlich keinen Zweck zu Machmoud zu gehen und diesen irgendwie anzusprechen und ihn nach seinem Gürtel zu fragen. Andersrum konnte er auch nicht alles geschehen lassen und einfach weggehen, was sicherlich das Einfachste wäre. Bloß was tun? Das Einzige was möglich wäre, wäre die Polizei anzurufen. Die Israelische Polizei, die soeben noch ihre Präsenz hier in der Strasse gezeigt hatte, jetzt aber nicht mehr zu sehen war. Er ging zurück zum Haus und dachte angestrengt nach, wie viel Zeit ihm noch bliebe, bis der Bus kommen würde. Der Bus von Pardess nach Haifa. Etwa zwanzig Minuten. Der währe wahrscheinlich voller Menschen die zum Einkaufen nach Haifa wollen, an diesem Freitagmorgen. Auch Araber fuhren zum Einkaufen nach Haifa, auch an Freitagen und natürlich auch im Ramadan. Dass es Machmoud gelegen war den Bus zu nehmen, war Mehlan sofort klar. Gab es doch kein leichteres Ziel als einen Linienbus in Israel für Märtyrer. Und dass Machmoud auf dem Weg war ein solcher zu werden war ja wohl offensichtlich. Sein Machmoud ein Gotteskrieger, wer hätte so was gedacht? „Wer ist da, melden Sie sich! Mit wem spreche ich? Nennen Sie Ihren Namen und sagen Sie den Grund des Anrufes und legen Sie nicht auf!“ Die Dame an der anderen Seite der Strippe, hörte sich sehr herrisch an als Mehlan die Polizei-Notrufnummer gewählt hatte. „Ich heiße Mehlan und rufe aus der Siedlung Pardess Hanna an und draußen steht ein Attentäter an einer Bushaltestelle, den ich kenne und der trägt einen Sprengstoffgürtel um die Brust geschnallt, Sie müssen sofort kommen, Bitte !“ Er hatte sein bestes Hivritt, das umgangssprachliche Hebräisch heraus gekramt, das er schon seit Kindertagen beherrschte, aber in der letzten Zeit kaum gesprochen hatte. „Bleiben Sie wo Sie sind und rühren sich nicht von der Stelle, wir kümmern uns darum!“ Gar nicht freundlich dachte Mehlan, als er erneut aus der Haustür trat, um noch mal zu Bushaltestelle zu gehen. Vielleicht könnte er ja mit Machmoud ins Gespräch kommen. Dieser saß noch einsam und schwitzend an der gleichen Stelle und schien noch mehr zu schwitzen als zuvor. Er schien auch jetzt noch keine Notiz von Mehlan nehmen zu wollen. Der winkte dem schweigsam dasitzenden Machmoud zu und dachte grade darüber nach, wie er ihn ansprechen sollte als er die Streife sah, die mit ziemlicher Eile die Strasse hinab kam und auf der anderen Straßenseite anhielt. Mehlan versuchte Machmoud und die beiden im Blick zu behalten, die gerade aus dem Geländefahrzeug stiegen und ihre Koppel gerade rückten. „He du da, auf den Boden mit dir und du da, rühr dich nicht von der Stelle.“ Die Polizistin hatte sich Machmoud genähert und der junge Polizist, der am Steuer gesessen hatte war auf Mehlan zugekommen und gab diesem unmissverständlich zu verstehen, dass er sich auf den Boden legen sollte. Als Mehlan nicht sofort dieser Aufforderung nachkam zog er einen Schlagstock aus irgendeinem Teil seiner Uniform. Mehlan wunderte sich, dass der Polizist mit ihm Arabisch sprach, obwohl er ja ganz gut Hivritt verstand, wie er ja schon am Telefon klar gemacht hatte. Der Schlag war fürchterlich, der ihn auf den jungen Polizisten warf und ihm die Sinne raubte. „Schau dir an, was ihr angerichtet habt, ihr Verbrecher, schau es dir ganz genau an. Das hier ist dein Freund Machmoud oder das was von ihm übrig ist und das war mal eine junge Polizistin, fünf Jahre älter als du, du Lump! Schau dir die Bilder ganz genau an “ Der Polizeioffizier, dem er jetzt gegenüber saß und der eine ganze Reihe von Fotos vor ihm ausgebreitet hatte, schien ziemlich erschüttert zu sein, jedenfalls tat er ziemlich erschüttert. Mehlan brauchte gar nicht so zu tun, er war erschüttert und zwar sehr erschüttert. Er war jetzt aus dem Militärkrankenhaus nach Tel Aviv verlegt worden, was er aber nicht wissen konnte. Jedenfalls wusste er nur, dass er ziemlich schwer verletzt wurde, als Machmoud den Sprengsatz gezündet hatte. Den Polizisten hatte es auch ziemlich übel erwischt. Er hatte genau wie er selber überlebt, war aber seltsamerweise übler dran als Mehlan. Übler dran, obwohl beide gleich weit vom Explosionsort gestanden hatten. „Ich habe gar nichts angestellt. Ich habe doch die Polizei angerufen und gemeldet, dass dort ein Attentäter ist und darauf hin ist der Wagen doch erst gekommen.“ Mehlan schaute den Polizisten, der sich als Major Levy vorgestellt hatte, ganz genau an und sah einen etwa vierzig Jahre alten drahtigen Kämpfertypen vor sich . Bestimmt Mossad. Mit denen ist nicht gut auszukommen, wie Mehlan wusste. So was wusste man, als arabischer Israeli. Und arabischer Israeli war Mehlan ja nun mal, mit seinen israelischen Dokumenten, wie sie an im Kernland wohnende Araber ausgegeben wurden. Kernland, wie es für Israelis hieß. Kerne verheißen Triebe und Blätter und Raumgewinn, weil sich aus Kernen immer ganze Pflanzen zu entwickeln pflegen. Und ganze Pflanzen brauchen Raum, mehr Raum als der Kern. „Das erzählst du uns jetzt die ganze Woche schon, du langweilst Bursche, lass dir mal etwas anderes einfallen!“ Levy war knallhart, wie Mehlan verspürte. Er selber hatte die Wahrheit gesagt, was aber Levy in seiner Härte nicht zu interessieren schien, sondern dieser war nur an der eigenen Härte interessiert. „Schon gut Major, der Bursche hat anscheinend die Wahrheit gesagt, so scheint es. Wir brauchen ihn nicht mehr und Sie können das Verhör hier abbrechen, Er kann gehen, sollte sich aber nicht zu weit aus seinem Dorf hinauswagen. Kann sein, dass wir ihn noch mal mit ein paar anderen Verdächtigen konfrontieren.“ Aus einer durch Vorhänge verdeckten Tür, war ein anderer drahtiger Israeli getreten und hatte sich an Levy gewandt. Kein Blick für Mehlan. „Hattest du mit Dank gerechnet, oder einer Belohnung von den Israelis, du Trottel ?“ Als er im Bus saß, der ihn nach Hause brachte, schien es als hätte ihm Machmoud diese Frage gestellt und auch gleich beantwortet: „Nein mein kleiner Trottel, diese Israelis müssen ins Meer gejagt werden, was werden deine Leute mit dir machen, wenn sie erfahren, dass du mit den Feinden kollaboriert hast?“ „Ich habe nicht kollaboriert, ich wollte nur ein Unglück verhindern und Gott hat es mich nicht verhindern lassen, warum auch immer!“ Mehlan schaute sich im Bus um und stellte fest, dass sich niemand um ihn zu kümmern schien . Alle waren ziemlich beschäftigt mit Lesen und aus dem Fenster starren. Machmoud war nicht zu sehen. Nirgendwo!
Im Frühjahr 2002 zerriss eine Bombe im israelischen, von Arabern bewohnten Dorf „Um el-Fachem“ einen israelischen Polizeibeamten und einen neunzehnjährigen Palästinenser aus dem Gazastreifen. Der Attentäter war vorher einem jungen Bewohner des Dorfes aufgefallen und der hatte sich entschlossen, um großes Unheil zu verhindern, eine Polizeistreife zu rufen. Israel bezahlt „Mehlan“ (Name geändert) weder eine Rente noch eine Entschädigung. Nach Monaten der Ermittlung wurde das Verfahren wegen Mittäterschaft gegen Mehlan eingestellt. Kein Israeli hat sich jemals bei Mehlan bedankt, der heute noch, trotz seiner schweren Behinderungen, sagt : „Ich würde es immer wieder tun .“
Antoine Susini © 2006
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meinem Freund Isaak und seiner ganz bezaubernden Frau Gabi in Pardess Hana gewidmet, die als Israelis die Politik ihrer Heimat auch nicht immer verstehen können