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„Paris“

1.
Nach zehn Stunden Fahrt fühlte er sich sehr allein. Die fremde, kalte Luft strömte
durch das offene Fenster und roch anders, verheißungsvoll. Die Grenze zu Frankreich
war schon hinter ihm und die herannahenden Lichter kündigten die erste
Mautstation an. Jetzt war sein Auto, ein schwarzer, noch recht neuer Alfa Romeo,
seine einziger Bekannter. Er glitt seit Stunden über die Autobahn und wurde immer
grauer und schmutziger.
Seine hübsche Wohnung war leer, die fette Katze versorgt und die Raten der
Einbauküche werden automatisch abgebucht.
Er hatte fünf Jahre studiert, schnell eine gute Stelle bekommen und verdiente
überdurchschnittlich. Jetzt war sein Körper vollständig entwickelt und begann ganz
langsam mit der Zellmutation, vergas ab und an eine bereits zerstörte, verbrauchte
Lebenseinheit zu ersetzen. Jetzt begann der Prozess, der in spätestens 50 Jahren zum
Tod führen würde. Die Körperfrucht war ausgereift und würde den Spätsommer über
zu faulen beginnen. Glücklich die Früchte, die vorher aufgefressen werden.
In Hamburg war es niemals Sommer. Es gibt Länder, in denen niemals Schnee fällt,
nein, es gibt Länder in denen es niemals unter 10 Grad ist. Schnee ist ja eigentlich
etwas Schönes. Aber Schnee, richtigen Schnee, tagelange Flockengestöber, Eiszapfen
und sauberes Weiß, hatte er in Hamburg schon seit seiner Kindheit nicht mehr
gesehen. Die Autos verdreckten und entjungferten alles ohne an die Kinder zu
denken. Aus Kristallteppichen wurden braune Matschlachen, vermischt mit dem
Streusalz, das schneller als Frau Holle schütteln konnte erst kleine Löcher in den
Zuckerguss brannte, den Schnee dann kaltblütig auflöste und ihn in giftiges
Schmutzwasser verwandelte, dass dann in die Unterwelt floss.
Aber man muss ja nicht in Hamburg bleiben. Man kann ja einfach ins Flugzeug
steigen und nach drei Stunden ist man in der besseren Welt, im Tui-Land oder in
Neckermannstadt. Dann gehört man einfach dazu, lernt ein paar Worte spanisch oder
griechisch, ist sonnendurchflutet und kann stundenlang sitzen und sich animieren
lassen. Die Deutschen sind ohnehin die besseren Südländer.
2.
Die Sonne erhob sich blau hinter der Mattscheibe seines Computers. Man konnte
hören wie die Prozessoren ihre Arbeit bereitwillig verrichteten, wie Milliarden von
Einsen und Nullen, von Strom an und Strom aus durch die Platinen und Spulen
sausten bevor die lustige Windowsoberfläche sich leuchtend materialisierte. Dann
konnte er sich einloggen, in den Markt, der von Träumen –unerreichbar- nur so
wimmelte –seine Welt- geordnet und berechenbar.
Suchfunktion: 18-30 Jahre/ Raum: 50km-> Hamburg/ weiblich; keine sehr
speziellen Suchkriterien.
Es war nach Mitternacht, wochentags, noch sechseinhalb Stunden, bis der Wecker
ihn in das herannahende Tagesgeschehen werfen sollte. Er schrie ihn morgens an.
Dröhnend wanden sich die schrecklichen Töne durch sein Ohr, in das, welches nicht
auf dem Kissen lag, direkt in sein Kleinhirn. Alle unbewussten Gedanken, Alpsüchte,
Sehnträume zerstoben ins Nichts. Da war sie dann wieder, die Welt, schön und
grausam wie eh und je und kümmerte sich nicht darum, ob er teilnehmen werde am
Geschehen oder nicht. Aber er musste ja. Es gab keine Alternative außer dem Tod,
und die war keine. Dafür war er viel zu feig. Er tat das, was notwendig war, bis sich
der Abend auf sein Viertel, auf sein Haus, auf seine kleine Wohnung legte und er
wieder allein mit sich selbst war.
Er vertrieb sich die Zeit dann vor dem Schlafen am Bildschirm, eingeklinkt ins
Internet, mit Milliarden Anderen; vor dem leuchtenden Fenster in das Spiegelbild
einer bestimmten Erde.
Er suchte ... nach dem Gegenteil von Einsamkeit, einsam in seinem hübschen
Apartment, welches zurechtgemacht auf Besuch wartete, der nicht kommen wollte.
Da waren so viele einsame Frauenherzen. Eines war für ihn bestimmt.
3.
Das Radio fing keinen deutschen Sender mehr ein. Er war ängstlich, trotzdem müde.
Seine Mundwinkel starr, die Lider zu schwer um weiterzufahren. Er steuerte die
nächste Raststätte an.
Während er an den Regalen und Auslagen des Schnellrestaurants vorbeiging, fand er
sich zu dick. Es herrschte reger Betrieb. Er war hoffnungsvoll sein schlechtes
Körperempfinden noch in wenigen Stunden loszuwerden und nahm sich einen
kleinen Teller, den er am Salatbuffet zärtlich mit Pflanzen belegte, kein Dressing, nur
Essig und Öl, dann ein französisches Wasser, danach ein Espresso ohne Zucker. Er
verspürte Lust zu rauchen, obwohl er vor fünf Jahren damit aufgehört hatte und es
ihm gar nicht mal besonders schwergefallen war. Er spülte den Cafégeschmack mit
Wasser runter und das Verlangen war bis auf weiteres verschwunden. Da saßen sie
herum und starrten in ihre Tassen, auf ihre Teller. Es gab nur ein Pärchen, dass sich
gegenüber saß. Aber sie sprachen nicht miteinander. Alle anderen waren allein. Wie
er. Aber nicht mehr lange. Nein. Bald würde er zu den Menschen aus den Filmen
gehören. Er würde lächeln, spielen, küssen und neue Häuser gemeinsam einrichten.
Und seine Katze würde eine Diät machen müssen.
Er hatte unter der Armen geschwitzt und ärgerte sich so sehr darüber, als ob er
das selbst verursacht hätte.
Als er hinaus in die Kälte trat, fühlte er sich für einen langen Moment sehr verwegen.
Inkognito stieg er in seine alte, verrostete Karre, gekonnt das deutsche
Nummernschild außer Acht lassend und fuhr schneller an als gewöhnlich. Er war ja
so ausgeflippt, so verrückt. Es würde sich alles in Nichts auflösen, und während er
feststellte nur noch rund 350 km entfernt zu sein und ihm 4 Stunden Restfahrzeit
realistisch erschienen, verblasste der Geruch nach Schweiß und der zuckrige
Leichengeschmack von einer Nacht mit Litern CocaCola und Pizzafett in den Poren
seiner grauen Haut zu einer vom Gegenwind zerblasenen Rauchwolke. Die Kamera,
die den Film einfing, in dem er sich jetzt selbst spielen sah, fuhr noch kilometerlang
mit, bevor die Gedanken, die nach seinem Hausflur rochen ihn wieder beherrschten.
4.
Wie immer schaute er sich erst die Profile der Frauen an, die online waren. Auch bei
seinem Lieblingsanbieter immer wieder unbekannte Namen, vielmehr „Nick’s“; die
wahrhaftigen Namen all dieser Menschen werden nicht preisgegeben. Es ist schon
seltsam jemanden zu finden, der seinen richtigen Namen angibt und weiblich ist, als
ob sich die Männer blutrünstig, speichelsabbernd gleich ein Telphonbuch schnappen
würden um diejenige ausfindig zu machen, den Jagdpfeil in die Adresse gebohrt,
sogleich sich auf die Suche nach dem Opfer machend, um sie zu vergewaltigen.
Seine Auswahlkriterien waren jeden Tag anders: Nur die, die ein Photo
eingescannt hatten, die einen bestimmten Abschluss erreicht hatten oder deren
Interessen und Geschmäcker mit den seinen vereinbar schienen. Wie auch immer er
sich entschied, er hatte dabei immer eine mögliche Begegnung, eine eventuelle
Beziehung vor Augen. Im Laufe der Zeit hatte sich ein Raster, eine komplizierte
Matrize in seinem Kopf entwickelt mit der er glaubte aus den Tausenden von Frauen,
die Eine zu finden.
Wenn der Server nicht überlastet war, ging das Verschicken der Nachrichten
schnell. Wenn nicht, quälte er sich, wartend, den Magen übersäuert und immer die
Hand an der Coke über die Zeit, bis sich ein neues Fenster öffnen konnte und ihm das
System meldete:
„Nachricht erfolgreich versendet.“
Bald sollte es eine neue Technologie geben, die das Internet noch schneller, noch
leistungsfähiger machen sollte.
Die meisten schrieben nicht einmal zurück, geschweige denn, dass er es schaffte
jemand in ein wirkliches Gespräch zu führen.
„Hi, komme aus Hamburg-Centrum und fand Deinen Steckbrief sehr interessant.
Was machst Du beruflich?“.
Er hackte immer viel zu fest auf die RETURN-Taste, als würde das, wie beim Flipper,
die Nachricht schneller durch das Labyrinth kugeln. Manchmal kam es auch vor, dass
erst nach Tagen geantwortet wurde.
Eine Frau, die in einer größeren Stadt wohnte und wirklich nur ein mittelmäßiges
Photo auf Ihrer Seite platziert hatte, erhielt im Schnitt 15 Nachrichten pro Tag und
noch mal 10 mal so viel, wenn Sie gerade online war. Das war ungerecht. Er wurde
einfach weggeklickt. So einfach ist das. Man konnte seine Gedanken einfach löschen,
ohne sie gelesen zu haben. Manche schrieben, dass sie nur antworten würden, wenn
sich die Männer auch einen besonderen Text einfallen ließen. Wie ein Wettbewerb.
Doch letztendlich entschied doch nur das Photo, oder? Er hatte es mit vielen
verschieden versucht.
Oft hatte er darüber nachgedacht, und das ist doch so einfach, in ein Café oder eine
Bar zu gehen und einfach dem Schicksal, dem Zufall die Führung zu übergeben. Eine
zierliche, junge Frau mit roten Backen, von der Kälte draußen, würde durch die Tür
treten. Überall Stimmen, Gespräche, Musik, die Geräusche der Cafémaschine,
Wärme, leicht beschlagene Scheiben, Regen, Regenschirme, die Stille hinter den
Glasscheiben kurz unterbrochen durch das Öffnen der Tür, ein Linienbus brummt
vorbei. Die Tür schließt. Die reine Seele würde sich einen Platz an einem kleinen
runden Tisch suchen, wie in den Pariser Cafés und warten, warten auf ihre
Verabredung, die nicht kommt, die natürlich nicht kommt. Die sie einfach vergessen
hat, diese blutdurchtränkte Haut, die unruhigen Augen, die sichere Führung ihrer
Hände und die Intelligenz mit der sie die Menschen in der Welt außerhalb der
Wärme beobachtet. Und es riecht nach Vanille, nach konzentriertem Sommer,
Blumenkonzentrat sozusagen.
Und dann täte sie es, nachdem sie natürlich eine halbe Stunde gewartet hätte.
Denn wer könnte schon glauben, dass man so jemand absichtlich dort sitzen lassen
würde.
Es ist ihm sicherlich etwas dazwischen gekommen, denkt sie, bis sie anruft. Die
Nummer auf einem kleinen Zettel vor sich und es lange klingeln lässt und
währenddessen, unbewusst zuerst, ihn anblickt.
Zwischen ihm und ihr ist ein Vakuum entstanden. Er weiß, dass sie ihn will. Sie weiß,
dass er sie begehrt. Nur in dieser Sekunde wissen sie es und in der nächsten wird die
Tür aufgeschoben und in den Raum platzt das Geräusch der Straße und die Kälte und
frische Luft, die den Zigarettenqualm nach Außen zieht. Und sie erinnern sich nicht
mehr.
Während seiner Reise durch die Nacht stellte er sie sich vor. Sie sähe aus, wie die
Frau aus dem Café in seinem Traum und die Angst wich einer freudigen Betäubung.
Ob sie Kinder mag? Ob sie gerne Rock-Musik hört. An Sex dachte er nicht, nur an ihr
Gesicht und wie sein Atem war.
5.
Sie hatte ihm geschrieben. Ein Nick, an den er sicherlich keine Nachricht verschickt
hatte. Ein Klick und er war auf ihrer Seite....kein Photo, aber ein Gedicht anstatt einer
ausführlichen Beschreibung. Ein paar Eckdaten (1,72/62/27/halblanges braunes
Haar, Sommersprossen).
Er war sich sicher, dass sie hübsch war. Warum konnte er sich nicht erklären.
Sie hatte ihm geschrieben, aus seiner Stadt, ohne Angabe ihres Namens, eines Berufs
oder sonst irgendetwas. Er war sich sicher, dass sie ein wunderschönes Lächeln
haben musste. Es interessierte ihn überhaupt nicht welchen Beruf sie hatte. Was war
denn tatsächlich von Bedeutung? Wann kann man sich in einen anderen Mensch
verlieben? Wenn er dieselbe Musik mag, die gleichen Filme gesehen hat? Wenn er
auch gerne nach Italien fährt und auch mit dem Rauchen aufgehört hat? Wenn man
sich bei seinem Anblick nach sexueller Vereinigung sehnt?
„Du hast schöne Augen. Ich würde Dich gerne kennenlernen! Liebe Grüße mit
Hoffnung auf Antwort.“
Seine Augen waren nicht schön. Es kam ihm vor als würde er in fremden Nachrichten
lesen. Ein Versehen. Das war nicht an ihn gerichtet.
„Du bestimmt auch“, schrieb er auf der Stelle zurück.
Danach hatte er keine Lust mehr. Sie würde sicherlich nicht mehr heute antworten.
Wenn überhaupt. Er checkte seine E-Mails. Nur Werbung. Seltsame Werbung.
Die Tatsache, dass ihm jemand geschrieben hatte, beschäftigte ihn so sehr, dass er
nicht gut einschlafen konnte. Er sah viel zu lange fern und sank dann betäubt und
vollgelullt in ein tiefes Schwarz.
Am nächsten Morgen, beim Duschen, beschloss er den Wasserhahn am Schluss auf
Kalt zu stellen. Danach war er ein wenig stolz. Er war so neugierig, ob sie
zurückgeschrieben hätte, dass er den Computer nochmal einschaltete bevor er aus
der Wohnung musste. Seine fette Katze versuchte ihm auf den Schoß zu springen und
schaffte es beim zweiten Anlauf verwunderlicherweise.
Sie hatte zurückgeschrieben:
„Leider habe ich kein Photo, aber meine Augen sind schön. Würdest Du sie gerne
sehen?“
Mein Gott. Das waren ja nur drei Sätze. Aber sie sollten sein Leben verändern.
Zwischen ihr und ihm war jetzt ein Faden. Er zog sich von ihr zu ihm. Durch die
schmutzigen, kleinen Straßen. Über klebrige Plätze, durch feine, ruhige Wohngebiete,
geschickt, jede größere Straße umgehend. Zog sich stramm an alten Ulmen und
kalten Straßenlaternen. Unauffällig über den Asphalt der Straßen bis zu ihm, in seine
Hand. Und er zog leicht daran. Sekunden später die Antwort. Rote Wolle läuft durch
seine hohle Hand. Die Verbindung nicht mehr zu kappen. Das Fließen freier
Sehnsucht in einem Leiter. Wenn die Telefonkabel wüssten, was sie da
transportieren?! Er konnte sich jetzt nicht entschließen was er zurückzuschreiben
könnte.
Von dieser charmanten Antwort an, traute er sich nicht mehr etwas Oberflächliches,
etwas Reales zu schreiben. Er brauchte einen ganzen Tag, um zu überlegen, was er
zurückschreiben könnte.
Nach der Arbeit ging er zum Friseur, kaufte sich ein viel zu teures Parfum.
Während der Computer hochfuhr, saß er ruhig davor und hörte Musik. Dieses Ding
entsprach schon lange nicht mehr den gängigen Standards. Wenn das Kabel hinten
nicht richtig drin saß, wurde der Bildschirm grün, es dauerte Ewigkeiten bis das
Desktop geladen wurde, die Programme installiert oder die neue Software
funktionstüchtig. Wenn man genau wusste, was nach dem nächste Mausklick
passieren sollte, ärgerte man sich maßlos über jede verschwendete Sekunde bis das
Ding das ausführte, was man wollte. Bald könnte er sich einen Neuen kaufen und
Windows 2000 installieren. Das einzige was er liebte, war das Geräusch des Modems.
Es klang so geheimnisvoll. Erst dieses Tuten. Dann das flackernde, grüne Licht. Und
dann dieses kryptische Klackern und Rauschen. Er war ein amerikanischer
Geheimagent und würde gleich den 80er Jahre Telefonhörer auf das graue Modem
legen und sich heimlich in das Pentagon einwählen, um die Illuminaten zu jagen oder
WarGames zu spielen.
Jetzt wusste, was er antworten würde. Und er war sich nur in diesem Moment sicher
keinen Fehler zu begehen. Schon zwei Stunden danach verfluchte er sich selbst. Wie
konnte er so bescheuert sein? Er hatte alles kaputt gemacht.
„Ich will DICH sehen! In Wirklichkeit. Wir sollten uns treffen, obwohl wir uns nicht
kennen. Das wäre spannend. Ein wirkliches Blind-Date“, schrieb er.
Das war viel zu schnell und vollkommener Quatsch. Er kannte sie ja überhaupt nicht.
Er hatte ja schon ein paar nette Chats und interessante Nachrichten ausgetauscht.
Aber sie war die erste, die ihm als Erste schrieb. Vielleicht wollte sie ihn nur
verarschen, war ein Fake, ein Mann, oder jemand, dem es einfach nur Spaß machte,
sich über die Ernsthaftigkeit mit der er hier auf Partnersuche ging, lustig zu machen.
Er wartete und lag, ohne das Gebrüll aus dem Fernsehgerät auf seinem Bett und eine
Kerze brannte. Es war so ruhig wie nie.
Er hatte sein Leben mit Fernsehen und Arbeiten verbracht, dachte er, so weit entfernt
kam es ihm vor, dass er so da lag, ohne müde zu sein, ohne Grund, einfach nur ruhig
sein und alles ausgeschaltet. Und da war er. Aber glücklich war er nicht. Zum ersten
Mal war da Angst.
Es gab nur ihn und dieses Fenster. Es war wie eine große Party, auf die man sich
lange vorbereitet, eine riesige Discothek, wo man den ganzen Abend zwischen
unzähligen Menschen verbringt und doch nicht gesehen wird. Und man kann sich
nicht entscheiden, im Kaufhaus zwischen diesem und jenem Kleidungsstück. Was
war in, was hip was jung und angesagt? Die Werbung hat uns doch gezeigt, was Wert
bedeutet. Wieviel war er wert?
Als er sich sicher war das Falsche geantwortet zu haben, sah er nach, ob sie
geschrieben hatte, obwohl er wusste, dass es nicht so war.
„Wo? ☺ “, war die lakonische Antwort.
Sein Herz begann zu rasen.
„In Paris? ☺, schrieb er und machte auch so ein Smiley dahinter.
Die nächste Nachricht kam sofort zurück. Die Farbe ihre Nicks änderte sich von rot
auf grün: Sie war online. Der Faden wurde zu einem weißen Schnellzugtunnel. Ein
Fensterchen sprang auf und erklärte ihm ein Angebot zum Live-Chat.
„Morgen zum Frühstück, auf der Rue La Fayette, im Café Échecs?“
„Das ware schön!“
Immer weiter entfernte er sich von sich selbst. Er hatte die Pünktchen auf dem „a“
vergessen.
„Ich meine das ernst! Morgen ist Samstag. Ich will Dich sehen.“, antwortete sie
sofort. Sie war eine schnelle Tipperin.
„In Paris?“
„Morgen.“
„Wann?“
Er glaubte nicht, was er schrieb. Er würde das nicht ernsthaft tun? Seine Finger
hatten ein Eigenleben entwickelt, sein Geist war taub. Er roch die Vanille in den
Straßen der Stadt der Liebe. Niemals war er in Paris. Niemals war er in Rom. Niemals
in Berlin. Die Urlaube verbracht in kleinen Orten am Strand, in Clubs und unter
bunten Sonnenschirmen.
Eine Nachricht wird eingegeben, stand am unteren Rand des Chatfensters.
Er wartete
„Ich habe sie noch nie gesehen, diese schöne Stadt. Ich will unter dem Eiffelturm
stehen und Japaner sehen, Zuckerwatte essen, mit der Métro fahren und
Französisch hören. Dich sehen im einzigen Café dessen Namen ich von einer
Postkarte kenne. Deine Stimme hören, die ich nicht kenne und mich vielleicht in Dich
verlieben. Komm! Bitte. Ich werde um neun Uhr morgen früh da sein und auf Dich
warten. Ich werde eine Blume auf meinem Tisch haben und Schokolade trinken mit
einem Hauch Vanille.“
Jetzt war er sich sicher. Vanille, Vanille. Süß, wie eine Droge legte sie sich auf seinen
Körper und strömte in die Lungen. Jede Pore trieb es aus, wie das Meer den Nebel an
der Küste. Unfähig nach diesen Sätzen zu zweifeln, zu fragen, zu bleiben.
„Vanille? Wie kommst Du auf Vanille. Ja, ich will so verrückt sein. Ich fahre.“,
schrieb er wie ein Automat.
Ihr Nick wechselte seine Farbe. Das Chatfenster meldete:
Ihr Chatpartner hat das System verlassen.
Sie antwortete nicht mehr. Er probierte es noch ein paar Mal mit:
„Ich meine das ernst!“, oder:
„Wirst Du auch wirklich da sein?“, aber es kam nichts zurück.
Er musste fahren oder bleiben. Er hatte ja soviel zu verlieren, soviel Nichts. Er durfte
das Niemandem erzählen. „Das Leben ist eine ewige Probe für eine Aufführung, die
niemals stattfindet“. Das war aus einem Film. „Sag niemals nie und nimmer Immer.“
Besser fand er: „Das Leben ist keine Probe. Die Aufführung hat bereits begonnen.
Schauspieler und Regisseur in einer Person.“ Dieser Gedanke gefiel ihm in diesem
Moment.
6.
Der Beschilderung „Centre“ folgend durch die Trabanten an den Autobahnen. Der
Duft einer nach einem Regenguss trocknenden Stadt drang durch den Spalt in der
leicht geöffneten Scheibe. Hier war es tatsächlich ein wenig wärmer als in Hamburg.
Die Sonne begann sich in dem Moment zu erheben, als er sie vor sich sah, die tausend
Häuser und den Turm, so klein und unscheinbar in weiter Ferne. Orange wurde aus
vollen Eimern ausgeleert und glitzerte nass ihm entgegen als wäre Atlantis aus dem
tiefen Meer emporgekommen. Er lächelte beim Anblick dieser fremden Stadt. Er war
nicht ängstlich. Ein unbeschreibliches Hochgefühl war in seiner Brust. Der
französische Oldiesender spielte „Ballade pour Adeline“ von Claydermann. Wie
kitschig.
Die Rue La Fayette war groß und prachtvoll. Wenig Autos, wenig Menschen zu dieser
Zeit, die Touristen schlafend in den Hotels. Er fuhr die Straße rauf und runter. Ein
Geschäft neben dem anderen. Die Schilder und Reklamen, die tausend
Weihnachtslichter noch im Nachtrhythmus der Zeitschaltuhr. Zweifel keimten in ihm
auf.
Müde, blass und aufgewühlt, schwitzend und mit zerknittertem Hemd.
Die Straße hinab, schon vergessen wo er das Auto abgestellt hatte, blies ihm eiskalter
Wind in seine braunen Augen.
Er fand das Café.
Er wartete bis neun.
Dann öffnete das Café.
Genau um neun.
Er wartete eine Stunde.
Eine Zeit, die wir einteilen könnten in 60 Minuten oder 3600 Sekunden oder die Zeit,
die man braucht um morgens aus dem Bett durch die Dusche ins Auto oder den Bus
zu kommen, oder die Zeit, die eine Musik-CD braucht um durchzulaufen, oder eine
Zeiteinheit, für die wir bezahlt werden für die Arbeit, die wir tun (der Protagonist
dieser Geschichte z.B. verdiente 37,80 DM die Stunde, brutto).
Keine Nummer, kein Zettel. Keine Nachricht. Kein Telephon.
Sie war nicht da!
Er hatte erkannt, dass sie nicht mehr kommen würde. Es konnte millionen Gründe
dafür geben. Ihm fiel kein einziger ein. Die Stadt der Liebe versank im Dreck.
Es roch nach Putzmittel im Café Échecs. Keine Francs dabei und Streit mit der
unfreundlichen Bedienung, die kein Englisch spricht.
„Ich habe nur deutsches Geld. Excusé moi!“
Er rennt davon. Die Straße hinauf oder herunter. Er weiß es auch nicht mehr. Die
Kälte durchbricht die Haut und lähmt die Lungen und das Herz. Wo ist das schwarze,
deutsche Auto? Wo ist die fette Katze? Wie hatte es noch mal in seinem Hausflur
gerochen?
Wieviel Kilometer bis Hamburg? Bald gab es DSL. Bald musste er sich schlafenlegen
und das Licht aus und das Fernsehgerät einschalten. Glasfaserkabel leiten schnell.
Der Neue ist doch ganz nett. Er war pünktlich auf der Arbeit und Zwiebeln auf der
Pizza schmecken gut. Der Dreck sammelt sich immer hinter dem Bett, egal wie gut du
aufpasst. Und Vanilleschoten schmecken bitter.
In Paris beginnt ein ganz normaler Samstagmorgen, an dem irgendein französischer
Fahrer Weisung bekommt ein schwarzes Auto mit deutschem Kennzeichen
abzuschleppen aus der Rue La Fayette auf den großen Parkplatz in der Rue Morgue.
Das Radio im Schlepper spielt irgendein ein altes, kitschiges Klavierstück von
Claydermann und der Franzose schaltet auf einen anderen Sender.
Es ist ein ganz normaler Samstagmorgen an dem irgendein Mensch irgendwo,
irgendwas fühlt, wie Milliarden andere auch.
Antoine Richard (2001)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

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